112 | Von der „Trotzmacht des Geistes“ (Viktor Frankl)

„Und wie bekannt, sind die Dümmsten die Gefährlichsten, wenn sich nämlich, hatte ich ungeniert zu Gambetti gesagt, die Dummheit mit der Gemeinheit verschwägert.“

(Thomas Bernhard: Auslöschung)

Nach Tagen und Wochen, in denen es trüb und neblig war, scheint heute endlich mal wieder die Sonne. Das hat leider keinen Einfluss auf die sogenannte Sonntagsfrage. Die CDU liegt weit vorn, gefolgt von der AfD, die nach den aktuellen Prognosen die Zwanzig-Prozent-Hürde überspringen könnte. Mit Abstand folgen die Grünen und die SPD. Wenn es so weitergeht und sich die wirtschaftliche und soziale Lage nicht deutlich bessert, könnte bei den übernächsten Wahlen im Jahr 2029 die Stunde der AfD schlagen. Der Weltgeist trägt zur Zeit braun. Gestern hielt Frau Weidel auf dem AfD-Parteitag in Riesa eine Rede, die einen Vorgeschmack vermittelte von dem, was nach der Machtergreifung auf uns zukommen könnte. Ungehemmt ließ sie ihren faschistoiden Phantasien freien Lauf.

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Die Bilder aus Los Angeles ähneln denen aus Syrien, dem Libanon, Gaza und der Ukraine. Obwohl ich so etwas niemandem wünsche, entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass nun die Häuser wohlhabender Amerikaner niederbrennen. Trump hat den Schuldigen ausgemacht: der Gouverneur von Kalifornien, der der Demokratischen Partei angehört. Als hätte er das Feuer entfacht, Brände gelegt, die stürmischen Winde losgelassen, die Trockenheit erzeugt und das Löschwasser verknappt. Aber die Leute scheinen Trump, der behauptet hat, der Klimawandel sei eine Erfindung der Chinesen, um der amerikanischen Wirtschaft zu schaden, alles zu glauben. Hauptsache man erfährt, wer dahinter steckt und schuld an allem ist.

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Heute backe ich den ersten Apfelkuchen meines Lebens. Ich habe von U einen kleinen Klumpen Teig von einem Pizza-Teig abgezweigt bekommen. Ich habe Boskop-Äpfel geschält und in Schnitzen zerteilt, die ich auf dem Teig verteilt habe. Dann habe ich die Apfelstücke mit Rohrzucker, Rosinen und Ingwer bestreut und den Kuchen in den vorgeheizten Ofen geschoben. Jetzt duftet es in der ganzen Wohnung köstlich nach Äpfeln. Ich hoffe, der fertige Kuchen schmeckt so gut, wie es der Duft verheißt.

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„Warum ich als Schriftsteller nicht hochgekommen bin? Ich will es Ihnen sagen: Ich besaß zu wenig gesellschaftlichen Instinkt. Ich habe der Gesellschaft zuliebe zu wenig geschauspielert.“

(Robert Walser)

Es ist an diesem Montagmorgen neblig und kühl, und ich beschließe, es mir im Bett bequem zu machen und zu lesen. Ich ziehe den rechten Teil des Vorhangs zum Balkon auf, baue eine Rückenlehne aus diversen Kissen, rücke mir die Nachttischlampe zurecht und hole das Buch von Karl-Markus Gauß aus dem Zimmer, in dem ich gestern Nachmittag zuletzt in ihm gelesen habe. Doch als ich nach all diesen Vorbereitungen endlich im Bett liege oder sitze – halb sitze ich, halb liege ich – schweift mein Blick nach draußen, zu dem Ausschnitt der Welt, den ich vom Bett aus sehen kann. Dazu gehört die Krone der letzten noch verbliebenen Eiche. Wegen der exponierten Position lassen sich dort gern Vögel nieder. Heute ist es eine Krähe, die hoch oben Platz nimmt und ihr Krächzen ertönen lässt. Dann sitzt sie einfach dort und schaut in die Welt. Aus einem Schornstein hinter ihr quillt weißer Rauch, der vom Wind wie Watte zerrupft und fortgeweht wird. Ich geriet in einen Dämmerzustand und fiel beinahe in den Schlaf zurück, aus dem ich kurz zuvor aufgetaucht war. Wohlig überließ ich mich diesem Zustand. Mit einer letzten Kraftanstrengung tastete ich nach dem Lichtschalter und löschte das Licht der Nachttischlampe. Irgendwann schlief ich tatsächlich noch einmal ein. Als ich später erwachte, ging ich in die Küche, klemmte die hölzerne Kaffeemühle zwischen die Knie, malte eine Handvoll Espresso-Bohnen, befüllte die Espressokanne und stelle sie auf die kleine Elektroplatte, die ich mir letztes Jahr nach dem Ende meines Gasherdes gekauft habe. Während der Kaffee allmählich hochblubberte, schnitt ich mir mit einem Brotmesser eine Scheibe Brot von einem Quark-Kartoffelbrot ab, das ich vor einiger Zeit entdeckt habe und das mir wegen seiner fluffigen Beschaffenheit und seines angenehmen Geschmacks zusagt. Auf die ausgeschaltete, aber noch heiße Platte setzte ich einen Topf mit Milch, die ich, wenn sie sich erwärmt hat, in einen Aufschäumer fülle und „masturbiere“, wie ich den Vorgang bei mir nenne. Anschießend gieße ich den Kaffee in einen Bol, darüber anschließend die aufgeschäumte Milch. Den Abschluss bildet eine Prise Kakao und arabisches Kaffee-Gewürz, die über den weißen Schaum gestreut werden. Zwischendrin muss ich seit meinem Herzkasper sechs oder sieben Tabletten aus ihren Blistern in ein Döschen drücken. Den Auftakt dieses elenden prophylaktischen Programms bildet ein Magenschutzmittel, das ich eine halbe Stunde vor dem Frühstück zu mir nehmen soll. Schließlich schalte ich das Radio ein, das auf Deutschlandfunk Kultur eingestellt ist. Harriet Bruce-Annan, die Gründerin von „African Angels“, erzählt heute von ihrer Arbeit mit Kindern in Ghanas Slums. Als Toilettenfrau in Deutschland hatte sie zuvor Spenden gesammelt, die sie zum Ankauf eines Kinderhauses in Ghana verwendete. Dann endlich nehme ich am Küchentisch Platz und beginne mit dem Frühstück. Währenddessen fällt mein Blick bereits ab und zu ins Arbeitszimmer und den auf dem Schreibtisch stehenden Laptop. Dorthin begebe ich mich mit dem Rest des Kaffees, klappe den Laptop auf und schaue, ob Mails eingegangen sind. Heute lädt ein weitläufiger Bekannter zu seinem Geburtstag ein. Jetzt öffne ich den Ordner „Tagebuch und Notizen“ und beginne mit meinen täglichen Fingerübungen. Wenn der Schreibprozess ins Stocken gerät oder der Rücken schmerzt, betrete ich den Balkon, um dort meine gymnastischen Übungen zu absolvieren. Heute sehe ich, dass unten vor dem Nachbarhaus auf dem Gehweg ein einzelner schwarzer Fingerhandschuh liegt, den ein Passant verloren haben muss. Da das Geländer, an dem ich mich festhalten muss, eiskalt ist, hole ich meinerseits Handschuhe herbei und beginne dann mit Kniebeugen. So ungefähr sieht er aus, der Vormittag eines kleinen Provinzschreibers, um das Wort „Schriftsteller“ zu vermeiden, das mir in meinem Fall allzu prätentiös erscheint. Obwohl es inzwischen auf Mittag zugeht, stehen die Zeiger der Kirchturmuhr auf zehn vor halb fünf. Trotzdem läutet die Glocke kurze Zeit später zum Mittag.

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Eines länger zurückliegenden Tages klingelte meine Stiefmutter an meiner Gießener Haustür. Da ich keine Lust hatte, ihr zu begegnen und mir ihre Vorwürfe anzuhören, fertigte ich sie an der Gegensprechanlage ab. Sie habe etwas aus dem Nachlass meiner leiblichen Mutter mitgebracht, das sie mir übergeben wolle, sagte sie. Sie könne die Sachen in den Hausflur stellen, erwiderte ich und drückte den Türöffner. Später, als die Luft wieder rein war, fand ich neben der Eingangstür eine Kiste vor. Als ich sie öffnete und hineinsah, stieß ich auf die Kuckucksuhr, die meine Mutter in die Ehe mit meinem Vater eingebracht hatte. Sie hatte in unserem Kasseler Haus im Flur gehangen und wurde einem starren Ritual folgend alle paar Tage vom Vater aufgezogen. Neben der Kuckucksuhr befand sich der familiäre Züchtigungsort, wo uns Kindern bei entsprechenden Gelegenheiten „eine Tracht Prügel“ verabreicht wurde. Ich habe diese Züchtigungen in Folge 10 der DHP beschrieben und mag das jetzt nicht wiederholen. Dieser Tage dachte ich aus irgendeinem Grund an diese Uhr, die ich auf dem Speicher in ein mir zugewiesenes Kabuff verbannt hab, wo sie hoffentlich heute noch in ihrer Kiste ruht. Ich fragte mich, warum ich diese Uhr nicht in Betrieb genommen und aufgehängt habe. Man hätte sie ja nicht aufziehen und den Lärm über sich ergehen lassen müssen, den der Kuckuck zu jeder vollen Stunde erzeugt, wenn sich die Klappe öffnet und er aus seinem Versteck hervorschaut. Es ist die Zeugenschaft meiner Züchtigungen, die diese Uhr bei mir unmöglich gemacht und sie vergiftet hat. Während die Schläge mit dem Stock auf mein Hinterteil niedergingen, heftete sich mein Blick auf diese Uhr und die Gewichte, die an ihr hingen und das Uhrwerk antrieben. Davon einmal abgesehen macht eine solche Uhr nur in einem größeren Haus Sinn, in dem genug Platz ist und sie die Nachtruhe nicht stört. Sie gehört ursprünglich in Bauernhäuser im Schwarzwald und passt nicht in städtische Mietwohnungen. Deswegen ist sie aus dem Alltag so gut wie verschwunden. Ich könnte mal versuchen, sie an irgendeinen schrulligen Liebhaber zu verscherbeln. Sie ist bestimmt ihre einhundert Jahre alt, verfügt über ein scönes hölzernes Gehäuse und stammt aus einer Schwarzwälder Uhren-Manufaktur. Uli Stein hat mir bei einem seiner Besuche im Butzbacher Gefängnis mal erzählt, dass einer seiner Mitspieler bei der Frankfurter Eintracht ein Faible für alte Kuckucksuhren habe. Ich kann mich leider an den Namen nicht mehr erinnern.

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„Was hier stattfindet, ist die Wiedergeburt einer Dienstbotenklasse, die die Industrialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg abgeschafft hatte.“

(André Gorz: Kritik der ökonomischen Vernunft)

Seit einiger Zeit sind Fahrradkuriere in der Stadt unterwegs, die im Auftrag irgendeines Unternehmens in grünen und blauen Kisten Essen und andere Bestellungen ausliefern. Am Lenker ihrer Räder sind Navis angebracht, die ihnen den Weg zum Zielort weisen. Sie und die vielen anderen Paketboten sind die Sklaven der Dienstleistungsgesellschaft und ihrer Profiteure. André Gorz sprach, als er die Anfänge dieser Form von moderner Sklaverei beobachtete, von der „Südafrikanisierung“ der Gesellschaft. Als Gorz diesen Begriff prägte, war Nelson Mandela noch im Gefängnis und es herrschte in Südafrika ein rigoroses Apartheidregime. Schwarze Dienstboten putzten die Häuser der weißen Oberschicht, bereiteten ihr Essen zu und übernahmen die Erziehung und Betreuung ihrer Kinder. Die „Südafrikanisierung“ westlicher Gesellschaften werde solange weiter gehen, bis Roboter diese Dienstleistungen übernähmen und die Dienstboten überflüssig machten. Oder eine Revolution die Verhältnisse grundlegend umwälzte und Ausbeutung und Unterdrückung ein Ende setzte. Darauf hoffte André Gorz bis zuletzt. Im Jahr 2007 nahmen er und seine schwer kranke Frau Dorine sich gemeinsam das Leben. Gorz hat die Geschichte ihrer Liebe in seinem Buch „Brief an D.“ beschrieben. „Wir hatten dieselben Werte, ich meine dieselbe Auffassung dessen, was dem Leben Sinn verleiht oder ihm den Sinn zu rauben droht.“

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Als ich gestern Nachmittag Richtung Innenstadt ging, war die Luft derart schlecht, dass es mir fast den Atem verschlug. Es war neblig, es regte sich kein Lufthauch, die Schornsteine qualmten und der Verkehr staute sich und stieß üble Abgase aus. Erst vorn im Park wurde die Lage etwas besser und man konnte wieder einigermaßen Luft holen. Heute las ich beim Frühstück in der Zeitung, dass die Luftverschmutzung europaweit immer noch zu hoch ist. Die für 2030 ins Auge gefassten Grenzwerte könnten beim jetzigen Stand der Dinge nicht erreicht werden. Im Moment weht der Wind, wenn er denn weht, in die andere Richtung. Trump und Konsorten planen eher einen Rückbau von Klimaschutzmaßnahmen als deren Ausbau. Solange die Luft auf ihren Golfplätzen gut ist, gibt es für sie keine Veranlassung, etwas für die Verbesserung der Luftqualität zu tun. Unter Asthma, Schlaganfällen und Herzerkrankungen leiden andere. In Anlehnung an Marie Antoinette könnten sie den betroffenen Menschen empfehlen: „Fahrt halt ans Meer, wenn euch hier die Luft zu schlecht ist!“

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Über den Pfützen auf dem Alten Friedhof lagen dünne, ein wenig milchige Eisschichten, die ich immer noch gern absichtlich zertrete, um das Geräusch zu hören, mit dem sie einbrechen. Die meisten waren allerdings bereits von anderen Leuten zertreten worden. Die Lust, das Eis krachen zu lassen, scheint weit verbreitet zu sein, vor allem bei Kindern. Es vermittelt ihnen ein im kindlichen Alter eher seltenes Gefühl der Wirkmächtigkeit. Heute sagte man: Es „empowert“ sie.

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(Christel Stroh)

Seit mein Kopf in der Röhre steckte, macht meine Hirnantilope keine Sprünge mehr. Wird Zeit, dass sie wieder auf Trab kommt. Hoffentlich haben die Magnetfelder und der Lärm sie nicht irritiert und dauerhaft in die Flucht geschlagen.

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Bevor die geplante Waffenruhe im sogenannten Gaza-Krieg in Kraft tritt, hat Israel noch einmal heftig zugeschlagen und damit demonstriert, wie ernst man dort die Waffenruhe nimmt. Der militärische Angriff Israels auf den Gazastreifen hat nach offiziellen Angaben mehr als 46.600 Menschen das Leben gekostet. Letzte Nacht sind noch einmal rund 100 Todesopfer dazu gekommen, und wieder traf es vor allem Frauen und Kinder. Wenn wirklich Frieden einkehren soll, könnte und müsste man unmittelbar nach einer getroffenen Vereinbarung mit dem Töten aufhören und würde nicht die letzten zeitlichen Spielräume als Lizenz zum Töten bereifen und nutzen. Mein politisches Gefühl sagt mir: Das kann nichts werden, das wird nicht lange Bestand haben.

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„… Man müsse den Dingen und den Verhältnissen die Kausalität entziehen, sagte er.“

(Horst Bienek; Bakunin, eine Invention)

Manchmal stößt man genau zur richtigen Zeit auf eine für einen wichtige Botschaft. Heute sah ich in der Programmzeitschrift, dass gegen Mittag auf 3sat eine Sendung mit dem Titel „Adler, Freud und Frankl – Auf der Suche nach der Seele“ gesendet wurde. Ich kenne alle drei, Victor Frankl von diesen Dreien allerdings am wenigsten. Ich wusste eigentlich nur, dass er das KZ überlebt hat, in das die Nazis ihn gesperrt hatten. Umso neugieriger war ich darauf, ihn kennenzulernen. Bei Freud steht das Schicksal der Triebe, vor allem der Sexualtriebe, im Zentrum, bei Adler der Minderwertigkeitskomplex und bei Frankl die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Lebens. Auch wenn die Lage aussichtslos scheint, muss man sein Leben nicht wegwerfen, sondern kann zum Sinn finden. Das ist Frankls eigene Erfahrung und seine, wenn man so will, therapeutische Botschaft. „Wo steht geschrieben, dass man nur ohne Angst etwas tun soll? Wer sagt einem denn, dass man nicht mit der Angst und trotz der Angst etwas tun soll? Das ist das Wesentliche. Ich nenne das die Trotzmacht des Geistes.“ Mit Hilfe des Geistes und des Intellekts können wir uns von körperlichen und seelischen Determinismen befreien und neue Wege beschreiten. Trotz der tatsächlich existierenden Maschinerie der Zwänge, in die wir eingespannt sind, existiert etwas Spiel für individuelle Entscheidungen, eine Marge für eigene Entscheidungen und Wahlen, die wir treffen können. Für einen von Angst geplagten Menschen wie mich ein Tritt in den verzagten Hintern und eine Ermutigung.

Ein weiterer Zufall spielte mir ein Buch der Journalistin Carola Stern in die Hände, in dem ich auf eine ähnliche Thematik stieß. Im Brief einer Bekannten, die sie während eines gemeinsamen Aufenthalts in einer psychiatrischen Klinik kennengelernt hatte, las sie folgenden Satz: „‘Ich habe gelernt, dass wir unser ganzes Leben lang die Angst nicht verlieren werden, sondern lernen müssen, mit der Angst zu leben.‘ Das war für mich wie eine Offenbarung! Genauso ist es, dachte ich. Ich werde die Angst nicht loswerden, ich muss versuchen, mit ihr zu leben.“ (Carola Stern: Uns wirft nichts mehr um, aufgezeichnet von Thomas Schadt, Reinbek 2004)

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Der weltweit an die Macht drängende rechte Populismus bricht mit der bislang zumindest in der Theorie und Ideologie der westlichen Welt weitgehend akzeptierten Vorstellung vom Rechtsstaat. In seinem Kampf gegen absolutistische Willkür hatte das liberale Bürgertum gefordert, dass der Staat nicht tun kann, was er will, sondern in seinem Handeln an das Recht gebunden sei. Dem Bürgertum war im Interesse seiner Geschäfte daran gelegen, dass staatliches Handeln Regeln folgt und berechenbar ist. Im Zweifels- und Konfliktfall konnten die Bürger staatliche Handlungen auf ihre Rechtmäßigkeit von unabhängigen Gerichten überprüfen lassen. Gegenwärtig werden wir Zeugen einer merkwürdigen Refeudalisierung, die das Junktim von Kapitalismus und Demokratie zu zerstören droht. Macht und Reichtum ballen sich in den Händen kleiner oligarchischer Cliquen und Tech-Giganten, die keiner demokratischen Kontrolle unterliegen und sich den Versuchen, sie gewissen Regeln zu unterwerfen, immer erfolgreicher entziehen. Gerade erleben wird, die der reichste Mann der Welt seinen Reichtum und seine Meinungsmacht in politischen Einfluss umsetzt. Perspektivisch soll sich die Welt dem Willen und den Geschäftsinteressen einer handvoll von amerikanischen Tech-Konzernen unterordnen. Im nachsozialistischen Russland hat sich für diese Herrschaftsform der Begriff Oligarchie eingebürgert. Nun hält diese auch in den ehemals liberalen Demokratien Einzug. In Österreich hat der designierte Kanzler Herbert Kickl von der FPÖ unlängst – stellvertretend für alle anderen rechten Populisten – erklärt, das Recht habe der Politik zu folgen und nicht die Politik dem Recht. Kant würde sich im Grabe umdrehen, wenn er diese Abkehr von den Prinzipien der praktischen Vernunft erleben müsste. Kant vertrat den Standpunkt: Wenn die empirischen Menschen mit dem Sittengesetz wenig anfangen können, wenn ihr Handeln mit ihm wenig zu tun hat und seinen Maximen nicht folgt, dann spricht das gegen das, was sie tun, nicht gegen das, was sie tun sollten. Es ist nicht das Sittengesetz, das es zu ändern gilt, sondern das Handeln der Menschen. Die Abkehr von einer wertebasierten und an moralischen Normen orientierten Politik, wenn es sie denn überhaupt je gegeben hat, öffnet dem politischen Zynismus Tür und Tor. Gut ist, was dem Profit und der eigenen Nation nützt. Eine ständig kleiner werdende Gruppe von Superreichen nimmt sich das Recht heraus, über das Wohl und Wehe der Gesamtgesellschaft zu entscheiden. Die über gewisse Zeitstrecken funktionierende und auch halbwegs friedliche Koexistenz von Kapitalismus und Demokratie bröckelt. Der Kapitalismus beginnt, der Demokratie das Mark aus den Knochen zu saugen. Das Wertgesetz, Herzstück und Motor der kapitalistischen Durchsetzungsgeschichte, frisst sich durch alle Schichten des Gesellschaftsbaus und zehrt die Demokratie Takt für Takt auf. Die Subjekte nehmen nach der Abschaffung der bürgerlichen Kultur selber die Form der Warenlogik an. Die Folge ist eine moralische Verwilderung, die die warenförmigen Subjektivität bis an die Grenzen der heute aufscheinenden Barbarei vorantreibt. Am Ende dieses Prozesses steht eine durch und durch kapitalistische Gesellschaft, die sich als nicht lebbar und lebensfähig erweisen könnte. Wenn wir das erkennen, wird es allerdings zu spät sein.

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Auf einer Anti-Trump-Demonstration in Washington wurde die Forderung erhoben, Trump nach Deutschland abzuschieben. Er selbst hat angekündigt, am Tag nach seiner Amtsübernahme mit der massenhaften Abschiebung von Migranten ohne gültige Aufenthaltspapiere zu beginnen. Er will direkt nach der Amtseinführung circa 100 Dekrete unterzeichnen.

In der Nacht auf Sonntag ist die Plattform TikTok vom Netz gegangen. Gestern sah ich haufenweise verzweifelte US-Teenies, die sich fragten, wie sie ohne TikTok weiterleben könnten. Wie sollen sie ab Sonntag ihre innere Leere füllen und ihre Zeit totschlagen? Wahrscheinlich würde es Suizide geben, ginge TikTok dauerhaft offline. Die chinesischen Eigentümer setzen nun auf Donald Trump, der versprochen hat, mit ihnen an einer Lösung für die Wiederherstellung TikToks zu arbeiten. Trump weiß, dass er seinen Wahlsieg auch der Verblödungsmaschine TikTok zu verdanken hat. Jeder zweite Amerikaner nutzt diese Plattform, die sie mit Lügen und Falschmeldungen versorgt und ihnen die Welt erklärt.

Bis zum letzten Moment vor dem Inkrafttreten der Waffenruhe am Sonntag bombardierten die israelischen Streitkräfte den Gazastreifen und töten Menschen. Kein gutes Omen.

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Am Sonntag unternahm ich bei strahlendem Sonnenschein meinen ersten Ausflug an die Lahn in diesem Jahr. Am Rübsamensteg stellte ich mein Rad ab und ging zu Fuß weiter. Das Wetter hatte viele Menschen aus ihren Wohnungen gelockt, aber an der Lahn verliefen sie sich. Auf zwei Bäumen rechts des Uferwegs saßen dicht gedrängt Krähen und erzählten sich was. Ein Hund stand am Fuß der Bäume und starrte nach oben, wo für ihn unerreichbar die Vögel saßen. Am Badesteg trieb ich ein wenig Gymnastik und schaute dann eine Weile einfach so auf den langsam dahin fließenden Fluss. Einen Eisvogel, den zu sehen ich gehofft hatte, bekam ich nicht zu Gesicht. Ich trat dann den Rückweg an. Unterwegs setzte ich mich auf einen am Weg liegenden Baumstamm und blinzelte in die Sonne. Die Übungen der letzten Wochen haben meine Gehfähigkeit ein wenig verbessert. Wenn ich konzentriert gehe, die Füße hebe und die Knie strecke, kann ich mich einigermaßen bewegen. Aber es strengt mich alles viel mehr an als früher. Die Leichtigkeit ist dahin. Meine Freunde Trin und Hans-Jürgen, die ich unterwegs traf, berichteten, dass letzte Nacht ein junger Mann nach einer dieser schwachsinnigen Challenges in der Lahn vermisst werde. Bis tief in die Nacht hinein hätten Rettungskräfte nach ihm gesucht. Wie die Sache ausgegangen ist, wussten die beiden, die an der Lahn wohnen, nicht. Auf meinem weiteren Rückweg begegnete mir U, die erst ihren Mittagsschlaf halten wollte und mich deswegen nicht begleitet hatte. Sie war guter Dinge, auch noch ein paar Sonnenstrahlen zu erhaschen.

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„Wahrscheinlich gilt in der Liebesbegegnung die befriedigte Eigenliebe viel weniger als die Wiederaufwärmung jenes Blicks, aus dem man sein Urvertrauen gewann.“

(Botho Strauß)

In der Kiste mit der Kuckucksuhr befanden sich auch einige Kindheitsfotos vor mir. Wenn ich mir die Kinderfotos anschaue, die von mir existieren, kann ich gut erkennen, dass meine Kindheit in die Zeit vor dem Tod meiner Mutter und die danach zerfällt. Vorher sieht man ein fröhliches Kind, das erwartungsvoll in die Kamera und die Welt schaut, danach einen immer dicker werdenden Trauerkloß. Selbst auf den Fotos von Geburtstagen geht etwas zutiefst Melancholisches von diesem Kind aus, das neben den brennende Kerzen sitzt und skeptisch in die Kamera blickt, obwohl man es aufgefordert haben wird, fröhlich zu sein. Der Tod der Mutter hat dem Leben dieses Kindes einen Riss verpasst. Das Leben ist zurückgewichen und hatte das Kind ratlos zurückgelassen. Das Ur-Vertrauen war zerstört und würde sich auch später trotz großer Anstrengungen nicht wiederherstellen lassen. Die Liebe der Mutter war seine Daseinsberechtigung gewesen, nun lag es wie ein Fisch auf dem Trockenen und japste nach Luft. Das Kind wusste nicht mehr, warum es existiert. Was von diesem Kind lebt eigentlich noch in dem alten Mann, der inzwischen aus ihm geworden ist? Dass ich überhaupt noch lebe, ist wohl dem Umstand zu verdanken, dass es diese beiden Teile und Phasen der Kindheit gab. Gäbe es nur das Verlassensein, hätte mich eine lähmende Traurigkeit verschlungen, die man Depression nennt. Ich kann aber offenbar auf einen namenlosen Fundus guter Erfahrungen aus der Zeit vor dem Riss zurückgreifen, der mir das Leben gerettet hat – oder was man so nennt. Ich muss über meine Mutter mal so etwas wie Glück kennengelernt haben, das dann aber bald verloren ging. Das machte mir ein „unglückliches Bewusstsein“, wie Hegel das genannt hat. Dieses prägt meinen Bezug zur Welt und zu den Menschen. Über allem flattert die „Furie des Verschwindens“ und eines jeder Zeit möglichen Unglücks. Das bildet mein Lebensgrundgefühl.

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Trumps neue Amtszeit beginnt, wie angekündigt, mit einer Flut von Dekreten. Er setzte die Unterzeichnung groß in Szene und unterschrieb seine Dekrete im Minutentakt und in einer voll besetzten Arena. Die Stifte, mit denen er sie unterzeichnet hatte, warf er anschließend in die jubelnde Menge. Die Leute rissen sich um die Stifte. Die USA verlassen erneut das Pariser Klimaabkommen und kündigen ihre Mitgliedschaft in der Weltgesundheitsorganisation WHO. Das seien lediglich Instrumente, um die USA „abzuzocken“. Trump rief an der Grenze zu Mexiko den Notstand aus und schickte die Armee dorthin, um die Immigration zu stoppen. Er rettete TikTok und begnadigte eintausendfünfhundert Straftäter, die wegen des Angriffs auf das US-Kapitol am 6. Januar 2021 verurteilt worden waren. Er verfügte weiterhin, dass eine Vielzahl von unter seinem Vorgänger erlassene Dekrete aufgehoben werden, darunter viele Maßnahmen zum Schutz von Umwelt, Klima und Diversität. So etwas ist in Trumps Augen Unfug und behindert lediglich die amerikanische Wirtschaft. Also: Schluss mit diesem Schwuchtelkram! Kuba wird wieder auf die sogenannte Terrorliste gesetzt und weiterhin mit Sanktionen belegt. Trump unterzeichnete außerdem eine Anordnung zur Vollstreckung der Todesstrafe. Kurzum: ein populistisches Sofortprogramm, das deutlich macht, wohin die Reise in den nächsten Jahren gehen soll. Die Amtseinführung war eine schauderhafte Veranstaltung, auf der sich die geladenen Gäste darin überboten, sich an Trump anzuwanzen. Ich sah die Übertragung mit einer Mischung aus Schauder, Panik und Gelächter. Ich fürchte, das Lachen wird mir und uns schnell vergehen. Das verging mir schon, als ich sah, wie Elon Musk in seiner typisch ungelenken Art den sogenannten Hitlergruß präsentierte. Heute Morgen hörte ich eine Reportage über die Lage an der amerikanisch-mexikanischen Grenze. Lauter verzweifelte Menschen mit Kind und Kegel und gepackten Koffern erlebten, dass ihre Termine, die für heute vereinbart waren, abgesagt worden sind. „Mir fehlen die Worte. Jetzt stehen wir hier und kommen nicht rein, stehen quasi vor der verschlossenen Türe. Wir sind alle im Schock. Wir können es noch gar nicht glauben“, hörte ich einen Familienvater sagen. Diese Schilderungen ließen meine Hirnantilope zum Roman von Jean Malaquais „Planet ohne Visum“ springen, in dem der Autor die Situation der Flüchtlinge 1942 in Marseille schildert und von deren Nöten und Verzweiflung spricht. Ich habe über diesen in der Edition Nautilus erschienenen Roman in der DHP 64 geschrieben: „Die Normalisierung des Grauens“, und ihn euch dringend zur Lektüre empfohlen. Diese Empfehlung sei hiermit erneuert.

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Man kommt mit dem Kommentieren von Gewalttaten kaum nach. Bei einer Messerattacke in einem Park in Aschaffenburg sind nach ersten Erkenntnissen der Polizei zwei Personen getötet worden. Bei ihnen handelt es sich um einen zwei Jahre alten Jungen, marokkanischer Abstammung und einen 41-jährigen Deutschen, der offenbar eingreifen und den Jungen schützen wollte. Drei weitere Menschen wurden schwer verletzt. Darunter ein zweijähriges, syrisches Mädchen. Der Täter soll ein 28-jähriger Afghane sein und im November 2022 nach Deutschland eingereist sein. Anfang 2023 stellte er einen Asylantrag. Er sei bereits mehrfach auffällig geworden und gilt als psychisch krank. Nach Angaben des bayerischen Innenministers Herrmann war er nach aggressiven Akten schon mehrfach in Gewahrsam und psychiatrischer Behandlung. Nach Angaben der Ermittlungsbehörden hat der mutmaßliche Täter „unvermittelt und gezielt“ eine Kindergartengruppe mit einem Küchenmesser attackiert. Er konnte kurze Zeit später festgenommen werden.

Georges Devereux sprach in seinem bahnbrechenden Buch „Normal und anormal“, das 1982 im Suhrkamp-Verlag erschienen ist, von „Modellen des Fehlverhaltens“, die sich in der Folge solcher Ereignisse herausbilden. Aus diesem Fundus können tatgeneigte Menschen sich bedienen. Es ist, als würde die Gesellschaft sagen: „Wir raten dir ab, aber wenn du es dennoch tun willst oder musst, kannst du es so und so machen.“ Automobil und Messer scheinen wegen ihrer allgemeinen Verfügbarkeit die zur Zeit bevorzugten Waffen zu sein. Ein Küchenmesser, wie es in Aschaffenburg zum Einsatz gekommen ist, ist überall erhältlich und von jedem leicht zu handhaben. Messer sind deswegen, wie der Göttinger Soziologe Wolfgang Sofsky mit bitterer Ironie bemerkte, „die demokratische Waffe par excellence“. Allerdings begrenzt das Messer als Waffe auch die Zahl der potenziellen Opfer. Es werden bei einer Messerattacke selten mehr als zwei oder drei Menschen getötet. Für die „Lumpenproletarer der Aufmerksamkeitsökonomie“, wie Georg Franck die Verlierer des „mentalen Kapitalismus“ genannt hat, sind Messer die probaten Mittel, um sich Geltung und Aufmerksamkeit zu verschaffen. Leider scheint es deshalb so zu sein, dass eine Messerattacke andere nach sich zieht. Jeder Bericht über eine durchgeführte Messerattacke macht gewissermaßen Werbung für dieses Delikt und sorgt für seine weitere Verbreitung. In Zeiten wie den unseren ist mit medialer Zurückhaltung allerdings nicht zu rechnen. Im Wahlkampf weist jeder allen anderen die Schuld zu, und die Parteien überbieten sich mit martialischen Parolen und Ankündigungen, hart durchgreifen zu wollen. Besonnenheit hat gegenwärtig keine Chance. Innere Sicherheit ist seit eh und je die Domäne der politischen Rechten, und so ist damit zu rechnen, dass die Taten der letzten Zeit AfD und CDU zugute kommen.

Im „Lower Class Magazine“ hat sich Kristian Stemmler, auch unter Rückgriff auf ältere Texte von mir, zu den aktuellen amokartigen Taten von Magdeburg und Aschaffenburg treffend und angemessen geäußert: https://lowerclassmag.com/2025/01/22/das-kapital-laeuft-amok/

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„An die Stelle der Hoffnung auf das Proletariat muss die Hoffnung auf den Menschen treten. Der Proletarier war bisher die Gegenfigur zum Bürger, dem alles Menschliche durch seine Eigentums- und Profitinteressen verbarrikadiert war. In den Marxschen Begriffen stimmt etwas nicht. Man muss herausfinden, was das ist. Das soll aber nicht heißen, dass man die Brücken hinter sich abbricht. Es handelt sich darum, die vorhandene Theorie auszubauen.“

Auf diese Thesen von Friedrich Pollock aus dem Jahr 1941 werde ich demnächst noch einmal zurückkommen. Sie enthalten etwas, über das ich mir mehr Klarheit verschaffen muss.

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