„Und selbst wenn wir noch keine Änderung sehen, müssen wir weitermachen; müssen wir widerstehen, wenn wir noch als Menschen leben, arbeiten und glücklich sein wollen. Im Bündnis mit dem System können wir das nicht mehr.“
(Herbert Marcuse, Berlin 1967)
Ein schreckliches Jahr geht seinem Ende entgegen. Wir neigen dazu, aus dem Umstand, dass es dieses Jahr schrecklich war, zu schließen, dass es nächstes Jahr besser werden müsse. Die Erfahrung lehrt, dass es immer noch schlimmer kommen kann. Hoffnung, hat uns der alte Ernst Bloch beigebracht, muss sich auf reale gesellschaftliche Tendenzen stützen, die ich leider nicht erkennen kann. Sensu Herbert Marcuse werden wir trotzdem „weitermachen“ müssen.
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Auf dem Weihnachtsmarkt in Magdeburg ist am Freitag Abend ein Auto, genauer gesagt: ein SUV, in eine Menschenmenge gefahren. Das Auto sei mindestens 400 Meter über den Weihnachtsmarkt und in die dort versammelten Menschen gerast. Die Behörden gehen von einem Anschlag aus. Am Morgen danach ist von fünf Toten und um die 200 Verletzten die Rede. Anfang Januar verstarb ein weiterer Mensch, so dass inzwischen sechs Todesopfer zu beklagen sind. Der Fahrer des Wagens wurde festgenommen und befindet sich in Untersuchungshaft. Es handelt sich bei dem Festgenommenen um einen 50-jährigen Mann, der aus Saudi-Arabien stammt und 2006 nach Deutschland eingewandert ist. Er verfügte über einen unbefristeten Aufenthaltstitel und soll als Psychiater und Psychotherapeut in einer Klinik des Maßregelvollzugs gearbeitet haben. Er galt den den Behörden bislang zwar als psychisch auffällig und querulatorisch, nicht aber als sogenannter Gefährder oder politisch-religiöser Extremist. Er lehnte das saudische System ab und war ein heftiger Kritiker des Islam. Am Tag nach der Tat tauchten Hinweise auf, dass der Mann in den sogenannten sozialen Netzwerken Sympathien für die AfD geäußert und vor einer Islamisierung Deutschlands gewarnt haben soll. Das wird die Vereinnahmung der Empörung über die Tat durch die Rechten schwieriger machen, aber sie werden schon einen Dreh finden. So genau wird da nicht differenziert. Der arabisch klingende Name des Täters lässt unmittelbar die inzwischen üblichen Reflexe einschnappen. Allem Anschein nach handelt es sich um einen sogenannten Einzeltäter, der nicht in extremistischen Strukturen eingebunden war. Am Samstag hat Kanzler Scholz Magdeburg besucht und bei der Gelegenheit von einer „wahnsinnigen Tat“ gesprochen. Mehr fällt ihm nicht ein! Diese Tat ist nicht wahnsinniger, als der Rest der Welt. Die sich seit Jahren ausbreitende schizoide Großwetterlage begünstigt kollektive und individuelle Regressionen auf archaische Spaltungsneigungen. Im einem Klima, das mit Spannungen und Ambivalenzen aufgeladen ist, gedeiht eine heimliche Katastrophenbereitschaft, die einen erschreckenden Mitnahmeeffekt erzeugt: In eine anomisch-abseitige Position gedrängte Zeitgenossen „haben einen Hass“, und würden am liebsten „alles in die Luft sprengen“. Trittbrettfahrer steigen auf den Zug der weltweit entflammten Paranoia auf und lassen sich durch sie zu irgendwelchen Wahnsinnstaten anregen. Die Welt, wie sie sich im Augenblick präsentiert, trieft aus allen Poren vor Blut und Gewalt. Die Opfer von Magdeburg entsprechen dem Pensum von Toten, das der russische Krieg in der Ukraine und der israelische in Gaza tagtäglich hervorrufen. Was ist ein einzelner Amokläufer gegen die großen Amokläufe der Staaten gegen ganze Völker! Wo sind unsere Empörung und unser Mitgefühl bei diesen von der russischen und israelischen Armee hervorgerufenen täglichen Hekatomben? Wir haben uns damit abgefunden, sind abgestumpft. Vielleicht ist unsere Fähigkeit zur Empörung nach Monaten und Jahren des Krieges erschöpft. Das Entsetzliche übersteigt unser Fassungs- und Verarbeitungsvermögen und wir wenden uns ab vom Übermaß des Grauens. Stefan Zweig hat dieses Phänomen in seinen letzten Lebensjahren beschrieben. Seine Texte zu diesem Thema sind 2023 in dem Insel-Buch „Die Kunst, ohne Sorgen zu leben“ erschienen. Ich habe das Bändchen 2023 für das Onlineportal „Telepolis“ unter der Überschrift „Der Krieg und die Normalisierung des Grauens“ besprochen.
Ermittler und Experten sind angesichts des Magdeburger Falls ratlos und stochern im Nebel. Keines der approbierten Deutungsmuster scheint zu passen. Ist es ein Fall von Terror oder doch eher als Amok einzuordnen? Bein einem Psychiater als Täter greift auch die Einordnung als „psychisch gestörter Einzeltäter“ nicht so ohne weiteres. Obwohl sich das nicht unbedingt ausschließt. Man kann durchaus Psychiater und psychisch gestört und gewaltbereit sein. Offensichtlich ist auf die hergebrachten Kategorien und Einteilungen kein Verlass mehr. Heutige Störungsbilder lassen sich in den überkommenen Klassifizierungen und Diagnosemanualen nicht mehr so ohne weiteres unterbringen. Lauter Puzzleteile, die sich zu keinem Gesamtbild zusammenfügen lassen. Was ist oder war mit diesen Unterscheidungen gewonnen, außer dass die Ordnungs- und Klassifizierungsbedürfnisse der Wissenschaft befriedigt werden, und wir sagen können: „Das ist es also!“? Früh hat Max Horkheimer auf den Entlastungscharakter solcher Erklärungsmuster hingewiesen: „Beim Gang durch ein Irrenhaus wird der schreckliche Eindruck, den der Laie von dem Tobsüchtigen empfängt, durch die sachliche Feststellung des Arztes beschwichtigt, dieser Patient befinde sich eben in einem ‚Erregungszustand‘. Durch die wissenschaftliche Einordnung wird der Schrecken über das Faktum gewissermaßen als unangebracht hingestellt. ‚Nun – es handelt sich eben um einen Erregungszustand‘.“
Ich habe mich vor beinahe zehn Jahren auf der Homepage des Georg Büchner-Clubs schon einmal zu den definitorischen Unsicherheiten geäußert: http://georg-buechner-club.de/content/artikel/von-orlando-bis-m-nchen-amok-oder-terror. Dann noch einmal im Jahr 2021 auf Telepolis unter demTitel: Würzburg: Amok oder Terror?
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Wenn ein Unglück eingetreten ist, tun alle so, als hätte es sich bei Einhaltung aller Sorgfaltspflichten und Vorschriften verhindern lassen und sei eine Folge von behördlichen Schlampereien und Unachtsamkeiten. Das ist aber eine Täuschung. Erst nach der Katastrophe scheint alles einer Logik zu folgen, die die ganze Zeit erkennbar auf sie zusteuerte. Im Nachhinein werden alle möglichen Lebensäußerungen zu Vorzeichen kommenden Unheils. Es sind aber in jedem Land Millionen solcher Prozesse und Reibungen im Gang, die sich nicht in einer tödlichen Zuspitzung entladen. Sollen Millionen von Zeitgenossen in Schutzhaft genommen werden, wenn sie sich auf irgendwelchen Plattformen mal abfällig oder wütend über den Staat geäußert und irgendwelche Drohungen gegen seine Repräsentanten ausgestoßen haben? Herbert Reul, der Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen hat, auf die Ereignisse von Magdeburg angesprochen, den Mut besessen offen zu sagen: „So etwas lässt sich nicht verhindern.“ Politiker reagieren auf Taten wie die von Magdeburg so panisch, weil sie annehmen, die Grundlagen des implizit zwischen Bürgern und Staat geschlossenen „Gesellschaftsvertrags“ gerieten ins Wanken. Im Kern basiert der auf einem Tauschgeschäft: Die Bürger verzichten auf die Anwendung von Gewalt und treten das Recht zur Ausübung von Gewalt an den Staat ab, im Gegenzug garantiert dieser Sicherheit und Frieden. Die Loyalität der Bürger ist gefährdet, wenn der Staat seine Seite des Kontrakts nicht einhalten kann. Dann bilden sich großflächig Unruhezustände aus, deren Potenzial dem Sog der Regression entrissen und in Richtung auf eine geschichtsangemessene, emanzipatorische Zukunft gewendet werden muss. Das beschreibt, sehr abstrakt und vage, die Aufgaben, die vor uns, den Linken, liegen. An ihrer Bewältigung dürfen wir nicht scheitern. Andernfalls werden wir Zeugen einer gespenstischen Selbstzerstörung der nachbürgerlichen Gesellschaft, von der wir möglicherweise alle als Opfer verschlungen werden. Ich halte das in Anbetracht unserer Lage leider für ziemlich wahrscheinlich.
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„Wer in der Kindheit zu wenig Zuneigung erfahren hat, tut sich oft ein Leben lang schwer, sich zu behaupten“, schreibt die Frauenzeitschrift „Brigitte“. Liebe und Zuneigung sind also der Treibstoff für ein erfolgreiches Leben und die Behauptung im sozialdarwinistischen Kampf um Status und Wohlstand. In unserer total verzweckten Welt braucht alles sein Um … zu und muss zu irgendetwas nutze sein. Etwas einfach so und um seiner selbst willen zu tun, geht nicht und darf nicht sei. Meine Vermutung: Manche Dinge bringen sich um ihre Wirkung, wenn man sie zweckorientiert als Mittel oder Werkzeug einsetzt. Es ist ein bisschen wie in Märchen, wo Rumpelstilzchen sich in der Luft zerreißt, sobald man ihn bei seinem Namen nennt. Auf dem Weg zum Alten Friedhof komme ich an einem Schild vorbei, auf dem ein sogenannter Coach mit dem Hinweis, man könne bei ihm unter anderem „Ego-Tuning“ betreiben, für seine Praxis wirbt. Wie manche Leute ihre Autos leistungsstärker und schneller machen lassen, kann man hier offenbar sein nicht konkurrenzfähiges Ich aufmöbeln lassen.
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„Des konnst du net mitnehma,
naa, des konnst du net mitnehma.
Frog amoi an Teife, frog an liabn Gott,
und der sogt – net mitnehma!“(Georg Ringsgwandl)
Am Heiligen Abend zogen am Nachmittag junge Frauen durch „meine“ Straße. Sie kamen offensichtlich von einem der Glühweinstände in der Innenstadt und hatten gehörig einen über den Durst getrunken, wie man so sagt. Sie bewegten sich in großen Amplituden durch die Straße und stützten sich gelegentlich an geparkten Autos ab. Das Schlimmste aber war, dass sie Karnevalsschlager grölten. Ich zog mich auf den Alten Friedhof zurück. Dort hatte auch dieses Jahr eine Gießener Kirchengemeinde zu einem Krippenspiel unter freiem Himmel geladen. Über mehrere Stationen wurde von Kindern und Jugendlichen die Weihnachtsgeschichte in Szene gesetzt, genauer gesagt: in Szenen. Ich schaute dem christlichen Treiben eine Weile zu und zog mich dann in ruhigere Regionen des Friedhofs zurück, wo ich meine mitgeführten Walnüsse an Eichhörnchen verfütterte. Bei meinem anschießenden Rundgang entdeckte ich einen Grabsteine, auf dem unter dem Namen des Verstorbenen seine diversen Titel und Ämter aufgeführt wurden. Dann stand da noch als krönender Abschluss: „Inhaber des Bundesverdienstkreuzes“. Solche Hoffahrt hätte der bayerische Musiker und Kabarettist Georg Ringsgwandl mit den Worten kommentiert: „Des kannst nit mitnehma“. In der einsetzenden Dämmerung ging ich nach Hause, wo ich zusammen mit U unser Weihnachtsmenü vorbereitete.
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Heute, also am 27. Dezember, wird Hans-Jürgen Buchner, alias Haindling 80 Jahre alt. Benannt hat er sich und seine Band nach einem Dorf in der Gemeinde Geiselhöring im niederbayerischen Landkreis Straubing-Bogen. Er ist einer der zahlreichen bayerischen Musiker und Dichter, wie sie eigentlich nur dieser Landstrich in dieser Fülle und Qualität hervorbringt. Die Brüder Well gehören dazu, genau wie Georg Ringsgwandl, Konstantin Wecker, Fredl Fesl, Hans Söllner und viele andere. Gestern sah ich eine Dokumentation, die Buchners Lebensweg nachzeichnete. In einer Sequenz steht er an der Donau bei Vilshofen und sagt sinngemäß: „Das hier sind die letzten 70 Kilometer zwischen Straubing und Vilshofen, wo die Donau noch frei fließt. Ich setze mich für den Erhalt dieses Stückes frei fließender Donau ein, weil ich will, dass auch die folgenden Generationen noch einen frei fließenden Flusses erleben können, und nicht nur einen Kanal.“ Mein Lieblingsstück von Haindling heißt: „Er hod g’raucht“. Ein Mann, der am Ende seines Lebens angelangt ist, zieht Bilanz und sagt: „Ich hab wenigstens geraucht“.
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Bin über die Lahn in meine Lieblingsbäckerei geradelt. Ich mache es in der letzten Zeit eher selten, weil mir der Weg zu beschwerlich ist. Ich habe mir vorgenommen, meine Trägheit zu überwinden und es wieder öfter zu tun. Die tollen Backwaren sind allemal der Mühe wert. Am Tresen stand die Frau eines alten Handball-Freundes. Sie hat vor einiger Zeit einen Schlaganfall erlitten und kann sich nur noch unter Mühen und auf einen Stock gestützt fortbewegen. Ihr Anblick ist umso schmerzlicher, als sie einmal eine sehr schöne Frau gewesen ist. Da war sie wieder, die Furie des Verschwindens, von der wir alle zusehends erfasst werden. Ich hielt ihr die Tür auf und wünschte ihr ein gutes neues Jahr.
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Wer damit gerechnet hatte, die Knallerei an Silvester werde weniger werden, sieht sich getäuscht. Die Branche der pyrotechnischen Industrie rechnet 2024 mit einem deutlichen Anstieg der Verkaufszahlen. Rund 200 Millionen Euro geben die deutschen für Raketen und Böller aus, was einen Zuwachs von 15 Prozent im Vergleich zum Vorjahr bedeutet. Ein Wahnsinn, den man strikt verbieten müsste, nachdem alle Appelle an Vernunft und Einsicht sich als wirkungslos erwiesen haben. Die Leute sind einfach zu blöd und gegen jede Belehrung perfekt immunisiert. Seit dem Morgengrauen standen sie vor Läden Schlange, in denen Pyrotechnik verkauft wird.
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In einem New Yorker Gefängnis wurde ein schwarzer Häftling, dessen Hände auf dem Rücken gefesselt waren, von weißen Wärtern stundenlang verprügelt und getreten. Am nächsten Morgen wurde er in einem örtlichen Krankenhaus für tot erklärt. Die Tortur ist von der Körperkamera eines beteiligten Gefängniswärters aufgezeichnet worden und von der zuständigen Staatsanwältin für die Öffentlichkeit freigegeben worden. Solche Misshandlungen gehören in amerikanischen Haftanstalten offenbar zum Alltag – und sicher nicht nur dort. Unlängst wurden Misshandlungen in einem bayerischen Gefängnis publik. Derartige Gewalt ist in Gefängnissen endemisch. Wer „tolale Institutionen“ (Erving Goffman) am Leben erhält und betreibt, die die ihr ausgelieferten Menschen in ohnmächtige Insassen verwandeln, begünstigt solche Gewaltexzesse und wird mit ihnen leben müssen.
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Gestern Mittag beschloss ich, mein Auto zu besteigen und ein wenig umherzufahren, um zu verhindern, dass die Batterie sich entleert. In ein paar Tagen wollen wir zum Edersee aufbrechen und da sollte es anspringen. Wie von einer geheimnisvollen Schnur gezogen, landete ich nach circa einer halben Stunden in Hohensolms. Der Ort war in dichten Nebel gehüllt, die Burg nicht sichtbar. Ich stellte mein Auto ab, griff zu den Walkingstöcken und ging in Richtung Großaltenstädten. Das Gehen fiel mir an diesem Tag ungewöhnlich leicht, und ich genoss das sehr. Es war nicht das übliche Schlurchen, sondern ein nahezu freies Ausschreiten. „Wenn es doch so bliebe“, dachte ich. Unten im Tal angekommen, „kam mir die Natur“, wie Büchner seinen Woyzeck sagen lässt. Ich schlug mein Wasser an einer Hecke ab. Plötzlich hörte ich ein merkwürdiges Grunzen und Schnauben. Offenbar hatte ich ein Wildschwein gestört, das auf der an die Hecke angrenzenden Wiese nach etwas Fressbarem gesucht hatte. Empört stieß es einen Grunzlaut aus und verschwand im Galopp im nahen Wald. Ich ging dann weiter. Raureif lag auf Gräsern und Ästen, alles wirkte wie mit Puder oder Mehl bestäubt. Der Schrei eines Bussards drang durch den Nebel. Obwohl ich Handschuhe trug, hatte ich von der Umklammerung der Stöcke eiskalte Hände. Sie begannen regelrecht zu schmerzen. An der Anglerhütte am Fischteich lehnte ich die Stöcke an einen Baum und steckte meine klammen Hände in die Hosentaschen. Nach fünf Minuten war die Wärme meiner Oberschenkel in die Finger übergegangen und ich konnte es wagen, die Handschuhe wieder anzuziehen, nach den Stöcken zu greifen und weiterzugehen. Durch den immer noch dichten Nebel fuhr ich nach Hause. In der Wohnung unter mir donnerte und röhrte ein Pressluftbohrer. Handwerker haben begonnen, dir Folgen eines Wasserschadens zu beheben. Wird Zeit, dass wir in die Stille des Kellerwaldes entfliehen. Hoffentlich wird am 31. Dezember nicht einfach die triste Vergangenheit nach vorn umgeklappt. Auf meinem beinahe zweistündigen Weg hatte ich ausreichend Zeit, meinen Gedanken nachzuhängen und über das nun zu Ende gehende Jahr nachzudenken. Mein körperlicher Verfall hat sich beschleunigt, eine Trendwende ist nicht in Sicht. Keine schönen Aussichten – neben allem anderen.
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„Chen Qingyang sagte: Der Mensch ist auf der Welt, um bis zu seinem Tod gedemütigt zu werden. Wer das einmal verstanden hat, ist in der Lage, alles mit Gelassenheit zu ertragen.“
(Wang Xiaobo: Das Goldene Zeitalter)
An Silvester fuhren wir gegen Mittag an den Edersee, der seit vielen Jahren unser Zufluchtsort aus dem Trubel und Lärm der Stadt ist. Gegen Mitternacht tranken wir mit den Wirtsleuten und einigen Nachbarn ein Glas Sekt und gingen dann zeitig zu Bett. Am Neujahrsmorgen pfiff der Wind ums Haus. Das neue Jahr begann stürmisch. Wir hörten im Radio ein paar Sätze aus Olaf Scholz‘ Neujahrsansprache, die pastoral und nichtssagend klangen. Sein Appell an den Gemeinsinn ist hilflos und weltfremd. Eine Gesellschaft, die massenweise Ethizide versprüht, darf sich nicht beklagen, wenn Moral und Mitgefühl absterben. Manchmal frage ich mich, in welcher Welt Leute wie Scholz eigentlich leben. Mein Freund Christian wohnt in Hamburg und sah neulich, wie Olaf Scholz nach dem Besuch einer Ausstellung zusammen mit seiner Frau auf die Straße trat. Die beiden waren umgeben von einem Pulk von Sicherheitsleuten, die sie vor der Welt und den Menschen schützen sollten. Wie sollen solche Politiker mitkriegen, was los ist im Land und was seine Bewohner umtreibt? Nichts dringt ungefiltert in die Blase vor, in die sich die Politiker wie in einen Kokon eingesponnen haben. Obendrein neigen nicht nur Autokraten dazu, sich mit Claqueuren zu umgeben, die ihnen ihre Großartigkeit spiegeln, ihnen sagen, was sie hören wollen und ihnen unbequeme Wahrheiten vom Leib halten. Es ist nicht anzunehmen, dass Saskia Esken dem Kanzler alle paar Tage sagt, wie es in Wahrheit um seine Siegeschancen bei den bevorstehenden Bundestagswahlen bestellt ist. So kann er seine Realitätsverweigerung ungestört weiter betreiben.„Gute Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit“, hat einst einer seiner Vorgänger, der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher, gesagt. Diesen Satz sollte man Olaf Scholz über seinen Schreibtisch hängen.
Das neue Jahr begann, wie das alte endete: mit einer Amokfahrt. In New Orleans raste ein 42-jähriger Amerikaner, Ex-Soldat und IS-Sympathisant mit einem Pickup in die Menge, die im French Quarter feierte, tötete 15 Menschen und verletzte zahlreiche andere. SUV‘s und Pickups sind monströse Gefährte, die immer öfter zu Waffen mutieren und sich gegen ihre Schöpfer richten. Sie werden mehr und mehr zu Instrumenten der Realisierung homizidaler Absichten. Die panzerartigen Fahrzeuge schleudern Menschen in die Luft und schieben die Leiber der Getöteten und Verletzten vor sich her. In Montenegro eröffnete ein Mann das Feuer in einem Restaurant und tötete zwölf Menschen. Vor dem Trump-Hotel in Las Vegas explodierte ein von Elon Musk hergestellter Cybertruck und tötete seinen Fahrer. Auch er war ein ehemaliger Soldat und Trump-Anhänger. Polymorphe, diffundierende Gewalt und Amok werden zur Signatur unseres Zeitalters. Niemand begreift mehr irgendwas, nichts ergibt einen Sinn, alles ist unfixiert und flüchtig, die Unübersichtlichkeit grassiert. Die Welt, die wir kennen oder kannten, gerät aus den Fugen. John Berger hat in seinem fulminanten Essay „Gegen die große Niederlage der Welt“ ein berühmtes Triptychon von Hieronymus Bosch interpretiert, das anfangs des 16. Jahrhunderts entstand. Er erblickte in dessen „Hölle“ betitelten rechten Teil eine merkwürdige Vorwegnahme des geistigen und kulturellen Klimas, „das sich dank der Globalisierung und der neuen ökonomischen Ordnung am Ende des Jahrhunderts über unsere Welt stülpt.“ Prophetisch sei dieses Bild nicht so sehr wegen der verwendeten Symbole und der vielen Details – so quälend und grotesk sie auch sein mögen –, sondern „wegen des Raumes seiner Hölle. Wir finden in ihr keinen Horizont. Es gibt keine Kontinuität zwischen den Handlungen, keine Pausen, keine Wege, keine Muster, keine Vergangenheit und keine Zukunft. Überall Überraschungen und Übersteigerungen, aber sie führen zu nichts. Nichts fließt, alles stockt. Als befände sich der Raum im Delirium.“
Auch hierzulande war die Bilanz der Silvesternacht grauenhaft. Fünf Menschen kamen durch Einsatz von Pyrotechnik ums Leben, die Krankenhäuser konnten sich vor Verletzten kaum retten, Einsatzkräfte wurden massiv angegriffen. Aus Osteuropa importierte sogenannte Kugelbomben entfalteten vielerorts eine verheerende Wirkung. In Bad Wildungen beschwerte sich ein Mann bei jungen Männern über in seine Richtung abgeschossene Raketen und landete mit schweren durch Schläge und Tritte hervorgerufenen Verletzungen in der Notaufnahme.
Ich saß am Fenster und schaute zu, wie die Schneeflocken niedersanken. Im Nu war alles schneebedeckt. Aus dem Radio erklang Klaviermusik von Chopin. Am nächsten Tag hatte ich Geburtstag. Wie konnte ich es zulassen, 74 Jahre alt zu werden? Hat man mich anästhesiert? Mit knirschenden Schritten stapften wir durch den Schnee, ein in den letzten Jahren selten gewordenes Vergnügen. Ich träumte in der Nacht zu meinem Geburtstag, ich hätte ein Theaterstück mit dem Titel „Zerwürfnis“ geschrieben, das in einem Theater aufgeführt werden sollte. Mein alter Freund Abdul würde Regie führen und Christian Fries die Hauptrolle spielen. Beide waren in Butzbach häufig zu Gast und haben den Gefangenen unvergessliche Momente beschert. Gemeinsam fuhren wir im Traum in einem Auto zum Ort der Aufführung.
Ursula hat begonnen, mir „Eva Luna“ von Isabel Allende vorzulesen. Ein typisches Allende-Buch – voller Deftigkeit, Liebe und Gewalt. Ich las während der Tage zwei Bücher, die mir Freunde geschenkt haben. „Das Goldene Zeitalter“ vom chinesischen Autor Wang Xiaobo und „Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer“ vom Österreicher Karl-Markus Gauß. Beide Bücher sind auf ganz verschiedene Weise toll und ich kann sie euch zur Lektüre empfehlen.
Es schneite tagelang, dann schlug das Wetter um, und über Nacht war der ganze Schnee getaut. Nach einer Woche in der Stille fuhren wir zurück in die Lärmhölle. Das erste, was ich in Gießen hörte, nachdem ich die Autotür geöffnet hatte, war ein jaulendes Martinshorn.
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Nach einer für mich inzwischen doch recht mühseligen Fahrt mit dem Rad über die Lahn zu meinem Lieblingsbäcker in der Vorstadt stieß ich an der Tür auf das Schild: Wir haben vom 1.1.25 bis zum 13.1.2025 Betriebsferien. Unverrichteter Dinge radelte ich durch den Nieselregen in die Stadt zurück und kaufte mein Brot woanders.
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„Man kann gar nicht so viel fressen, wie man kotzen möchte.“
(Max Liebermann)
Gleich zu Jahresbeginn hat Donald Trump einige Katzen aus dem Sack gelassen und äußerte unverblümt imperiale Gelüste. Er möchte Grönland, den Panama-Kanal und am liebsten auch Kanada den USA und damit seinem eigenen Einflussbereich einverleiben. Was die Grönländer, die Panamesen und Kanadier dazu sagen, scheint ihn nicht zu interessieren. Notfalls könne man die Annektionen auch mit militärischer Gewalt erzwingen, ließ Trump verlauten. Sie seien für die nationale Sicherheit der USA nun einmal nötig. Was soll man Putin noch entgegenhalten, wenn der mächtigste Mann der westlichen Welt solche imperialistischen Pläne schmiedet und sich fremdes Territorium unter den Nagel reißen möchte? Jeder nimmt sich, wonach ihn gelüstet. Wer könnte den entfesselten Wahnsinn stoppen? Trumps neuer Spezi und Deregulierungsbeauftragter Elon Musk bezeichnet Olaf Scholz als „inkompetenten Narr“ und fordert die Deutschen auf, die AfD zu wählen. Diese Partei sei Deutschlands letzte Rettung. Musk trägt das Seine dazu bei, dass sich unter unseren Augen eine schlagkräftige populistische Internationale entwickelt. Er trifft sich mit Giorgia Meloni und spricht auf X mit Alice Weidel. Sie verkündete bei dieser Gelegenheit, Hitler sei „Kommunist“ gewesen. Das ist nicht nur schlicht falsch, sondern auch eine Verhöhnung all der Kommunisten, die Hitler umgebracht oder in Konzentrationslager gesperrt hat. Mark Zuckerberg erkennt die Zeichen der Zeit und schwenkt ins Trump-Musk-Lager ein. Er kündigt an, in Zukunft bei Instagram und Facebook auf die Unterscheidung von Lüge und Wahrheit endgültig zu verzichten und den sogenannten Fakten-Check abzuchaffen. Victor Orban ist schon lange auf Linie, nun wechselt auch in Österreich die Mehrheit und das Land kippt ins ultrarechte Lager. Es ist, als hätten die rechten Populisten den Wahlsieg Trumps als Fanal genommen, um zum Generalangriff auf die schwächelnden liberalen Demokratien zu blasen. Die Rechten sind in der Offensive, die Demokraten befinden sich in der Defensive und wirken hilf- und planlos, linke Kräfte sind erst gar nicht in Sicht.
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„Der Traum ist aus.“
(Rio Reiser)
Wenn Rio Reiser im August 1996 nicht gestorben wäre, wäre er am 9. Januar 2025 75 Jahre alt geworden. Anlässlich seines 70. Geburtstags wurde seine Verwandlung in ein bundesrepublikanisches Kulturgut offiziell vollzogen. Der Heinrichplatz in Berlin wurde am 15. April 2021 in Rio-Reiser-Platz umbenannt. Ob ihm diese Form der Anerkennung gefallen hätte, darf bezweifelt werden. Ein Teil von ihm war auf Anerkennung erpicht, ein anderer fühlte sich ganz wohl im Abseits. Diese Ambivalenz kennen viele von uns. Ich auch.
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