113 | Carlo Levi pinkelt an Görings Haus

„ … als wären die Häuser auf der gefrorenen Oberfläche eines Sees errichtet worden …“

(Carlo Levi)

Bischöfin Mariann Budde hat in ihrer Predigt in der Kathedrale von Washington nach seiner Amtseinführung an Donald Trump appelliert: „Im Namen Gottes bitte ich Sie, sich der Menschen in unseren Land zu erbarmen, die jetzt Angst haben.“ Ich bewundere die couragierte Bischöfin sehr, habe aber Zweifel, ob der Appell angekommen ist. Auf der Klaviatur der Gefühle ist bei Trump die Taste, die für Moral und Mitgefühl zuständig ist, seit Langem schon defekt. Die Fähigkeit zum Erbarmen kann lebensgeschichtlich erworben werden, wie D.W. Winnicott gezeigt hat, und Donald Trump hat man diese bei Zeiten ausgetrieben und ihre Entwicklung behindert. Die Fähigkeit, uns in andere einfühlen, mit ihnen mitzufühlen und unser Verhältnis zu ihnen in richtiger Perspektive zu sehen, ist zwar in uns angelegt, aber sie bildet und formt sich vor allem in sehr frühen Erfahrungen. Besser oder schlechter eben. Bei Trump wurde sie offenbar sehr früh erstickt und durch die Fähigkeit des Geldmachens und Sich-Durchboxens ersetzt. Und wer Geld scheffeln will, muss sein Herz verschließen und sich alle weichen Regungen verbieten. Die Bischöfin hat also einen Taubstummendialog begonnen, der seinen Adressaten nicht erreicht hat. Dennoch war es richtig, das zu sagen, was sie gesagt hat. Es musste einfach gesagt werden. Ein Mitarbeiter Trumps regte an, die Bischöfin, deren Eltern aus Schweden stammen, abschieben zu lassen. Er selbst sagte, die Predigt sei nicht so aufregend gewesen und die Bischöfin eine „radikale linke Hardline Trump-Hasserin“. Damit war seine Ordnung der Dinge wiederhergestellt.

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Ich war nie ein begeisterter Wähler und wählte immer mit der berühmten geballten Faust in der Tasche. 1969, das Jahr, in dem ich Abitur machte, durfte ich noch nicht wählen. Aber wir besuchten dennoch Wahlveranstaltungen. Ich erinnere mich an ein völlig überfülltes Zelt, in dem Willy Brandt auftrat. Wir kamen nicht mehr rein, konnte aber dennoch, vor dem Eingang stehend, seine rauchige Stimme hören. Die letzte Zeit in der Schule saß ich neben Michael, der im „Aktionszentrum unabhängiger sozialistischer Schüler“ (AUSS) war und dem im September 1969 der Chef des Sicherheitsdienstes der NPD Klaus Kolley bei einer Demonstration gegen den Auftritt des NPD-Vorsitzenden von Thadden in Kassel eine Kugel durch den Arm geschossen hatte. Michael „agitierte“ mich in den Pausen und während der langweiligen Stunden und versorgte mich mit Flugblättern. Über ihn bezog ich mein erstes politisches Buch, das „Sexualität und Klassenkampf“ hieß und von Reimut Reiche stammte. 1972, ich war inzwischen Student, durfte ich zum ersten Mal wählen. Unterdessen war unsere Willy-Euphorie verflogen. Brandt hatte maßgeblich dazu beigetragen, dass Anfang des Jahres der sogenannte Radikalenerlass in Kraft getreten war, der verhindern sollte, das Leute wir wir in den öffentlichen Dienst gelangten. Was also tun? Ich habe mangels Alternativen dennoch SPD gewählt, aber mit der oben bereits erwähnten geballten Faust in der Tasche. Ich kann mich auch in der Folge an keine Bundestagswahl erinnern, bei der ich mit Begeisterung und ohne Vorbehalte irgendeine Partei gewählt hätte. Das betraf in den frühen Jahren die SPD, später die Grünen und die Linke. Wahlen, schrieb Sartre in einem Artikel aus dem Jahr 1973, sind „Idiotenfallen“. Dem stimme ich im Kern immer noch zu, auch wenn uns Sartres Thesen heute etwas fremd vorkommen. Sie stammen aus einer verflossenen Zeit, was sie aber nicht falsch macht. Dass sie uns fremd vorkommen, liegt an uns, nicht an Sartre.

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„Die einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie, wenn ich den Kantischen Ausdruck verwenden darf; die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen.“

(Theodor W. Adorno: Erziehung nach Auschwitz)

Der 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz lässt mich wieder einmal zu Primo Levis Bericht über seine Befreiung aus diesem Lager greifen. Vor einem Jahr bin ich ausführlich auf das Buch „Die Atempause“ eingegangen: DHP 92: Finsternis bedeckt die Erde. Auf der ersten Seite seines Romans heißt es: „Die erste russische Patrouille tauchte gegen Mittag des 27. Januar 1943 in Sichtweite des Lagers auf. Charles und ich entdeckten sie zuerst: Wir waren dabei, die Leiche Sómogyis, des ersten, der aus unserem Raum gestorben war, in das Massengrab zu transportieren. Wir kippten die Bahre auf dem zertretenen Schnee aus, denn da das Grab inzwischen voll war, gab es keine andere Begräbnismöglichkeit. Charles nahm die Mütze ab, um die Lebenden und die Toten zu grüßen. Es waren vier junge Soldaten zu Pferde; vorsichtig ritten sie mit erhobenen Maschinenpistolen die Straße entlang, die das Lager begrenzte. Als sie den Stacheldraht erreicht hatten, hielten sie an, um sich umzusehen, wechselten scheu ein paar Worte und blickten wieder, von einer seltsamen Befangenheit gebannt, auf die durcheinander liegenden Leichen, die zerstörten Baracken und auf uns wenige Lebende.“ So war das heute vor 80 Jahren. In Auschwitz sind mehr als eine Million Menschen ermordet worden. Die meisten von ihnen waren Juden, aber auch Sinti und Roma, Homosexuelle, Behinderte, Kriegsgefangene, Oppositionelle, Menschen, deren Leben die Nazis für „lebensunwert“ erklärt hatten, waren darunter. Gerade heute, wo alles in Vergessenheit zu geraten droht, ist es wichtig, die Erinnerung an Auschwitz wachzuhalten. Leider hat Imre Kertész recht behalten, als er bereits vor etlichen Jahren in sein Tagebuch eintrug: „Aus dem Sumpf des Unbewussten blubbert wie stinkende schweflige Lava der über viele Jahre im Zaum gehaltene Antisemitismus wieder hoch. … Meine Prophezeiung vor Jahrzehnten, dass die dritte Generation das Nazitum zurückbringen wird.“

Habe heute nochmal den Anfang der Verfilmung des Romans von Francesco Rosi angeschaut. Der Film heißt wie der Roman „Die Atempause“ und sei euch ans Herz gelegt. Es ist ein Beispiel dafür, dass Literaturverfilmungen gelingen können. Die Rolle Primo Levis wird von John Turturro grandios gespielt.

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Abends sah ich auf Arte die Verfilmung des Theaterstücks „Die Ermittlung“ von Peter Weiss, die mir derart unter die Haut ging, dass ich mich stundenlang schlaflos umher wälzte. Nach circa zwei Stunden war ich aus dem Film ausgestiegen und beschloss, mir den Rest am folgenden Tag, also heute, anzuschauen. Es ist ein gelungener Versuch des Regisseurs Rolf Peter Kahl, das dokumentarische Theaterstück von Peter Weiss über den Frankfurter Auschwitz-Prozess für das Theater aufzubereiten. Ein Zeuge nach dem anderen tritt nach vorn und berichtet von unsagbarem Grauen. Der Angeklagte Boger wird zur Konstruktion der nach ihm benannten „Boger-Schaukel“ befragt und erzählt mit einem gewissen Stolz von seiner Erfindung dieses perfiden Folter-Instruments. Die Angeklagten sitzen in einem Block neben der Bühne und beteuerten in der Mehrzahl, von nichts gewusst oder lediglich Befehle befolgt zu haben. Es herrschte eine Art „Verschwörung des Schweigens“ unter ihnen, eine Kumpanei von alten SS-Kameraden. „Normalungetüme“ hat Adorno diese Nazi-Täter genannt. Der Schriftsteller Horst Krüger nahm auf Einladung von Fritz Bauer vier Wochen lang als „stummer Zeuge“ und journalistischer Beobachter am Frankfurter Auschwitz-Prozess teil. Er hat seine Beobachtungen in seinem autobiographischen Buch „Das zerbrochene Haus. Eine Jugend in Deutschland“ (Hamburg 1976) festgehalten. Am ersten Prozesstag, dem er beiwohnte, fragte er in der Mittagspause einen Kollegen: „Und die Angeklagten? Wo sind denn die eigentlich?“ Er hatte im Gerichtssaal nur behäbige und harmlos wirkende Bürgergesichter wahrgenommen. Der Kollege klärt ihn auf, dass die Angeklagten direkt vor ihm säßen. Da begriff Horst Krüger, dass man sie nicht unterscheiden kann, dass sie sind wie alle. „Zweiundzwanzig Männer sind hier angeklagt, acht sind in Haft, vierzehn gegen Kaution in Freiheit, und alle sehen mit ganz wenigen Ausnahmen natürlich aus wie alle anderen, benehmen sich wie alle anderen, sind wohlgenährte, gut gekleidete Herren im gehobenen Alter: Akademiker, Ärzte, Kaufleute, Handwerker, Hausmeister, Bürger unserer neudeutschen Gesellschaft im Überfluss, freie Bundesbürger, die draußen ihr Auto vor dem Römer stehen haben und zur Verhandlung kommen wie ich. Da ist nichts zu unterscheiden.“ Die Massenmörder sind inzwischen wieder das, was sie vor den Massenmorden waren. Auffallend viele von ihnen arbeiteten als Buchhalter. „Bestand denn die ganze SS aus Buchhaltern“, fragt sich Horst Krüger irritiert. Der ehemalige Nazi ist kein zähnefletschendes Ungeheuer, sondern der nette Mann von gegenüber, der im Park seinen Hund ausführt und den Enkeln auf dem Rückweg vom Büro ein Eis mitbringt.

Als ich über den Handball in den 1970er Jahren zum ersten Mal in die JVA Butzbach kam, zeigten mir Mitgefangene Stefan Baretzki, einen der SS-Schergen, der im Aschwitz-Prozess zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden war. Er besaß im Knast eine Art Prominentenstatus. Aus ihm gewährten Tagesausgängen kehrte er stets pünktlich zurück, um an der sogenannten Skat-Gruppe teilzunehmen, die eine Art Veteranen-Stammtisch „alter Kameraden“ war. Ein älterer Kollege aus dem Allgemeinen Vollzugsdienst sagte einmal zu mir, diese Skat-Gruppe sei die einzige Veranstaltung, zu der er den Teilnehmern gern die Zellentür aufschließe. Baretzki hat sich Ende der 1980er Jahre in der Haft das Leben genommen. Ich vermute eher aus Angst vor der drohenden Entlassung in eine ihm fremde Welt, als aus Einsicht in eine auf sich geladene und nicht wieder gut zu machende Schuld.

Bis zum 25 Februar hält Arte „Die Ermittlung“ in der Mediathek bereit: vier Stunden Film, inklusive anschließender Schlaflosigkeit. Aber es muss sein. Die Textvorlage von Peter Weiss ist im Suhrkamp-Verlag erschienen.

Drei der im Auschwitzprozess angeklagten und dann verurteilten Mörder verbüßten ihre Strafen in der JVA Schwalmstadt. Lutz Taufer ist ihnen dort begegnet und hat von den Umständen dieser Begegnung in seiner Autobiographie „Über Grenzen“ berichtet. Über die in Schwalmstadt einsitzenden Nazis gibt es übrigens einen erschütternden Dokumentarfilm von Ebbo Demant: „Drei deutsche Mörder. Aufzeichnungen über die Banalität des Bösen“ (1978/99). Demant hat Kaduk, Erber und Klehr in Schwalmstadt aufgesucht und mit ihnen gesprochen. Ich habe diesen Film in gewissen Abständen mit Butzbacher Gefangenen geschaut. Es ging dabei immer um den Kernsatz: „Ich habe nur meinen Dienst gemacht. Wo ich hingestellt werde, mache ich eben meinen Dienst.“ Schuldgefühle verknüpfen sich mit dem Gefühl, seine Pflicht nicht getan zu haben oder ungehorsam gewesen zu sein. Während wir eher sagen würden: Wenn schon Schuldgefühle, dann sollten die Leute Schuldgefühle haben, die die Inhaltes dessen, was ihnen befohlen wurde, nicht zuvor kritisch geprüft haben. Die 68er legten Wert auf die Entwicklung von Modellen des Ungehorsams: Junge Leute sollten in einer wahrhaft demokratischen Gesellschaft auch lernen, wie und unter welchen Bedingungen man den Gehorsam verweigern kann, ja muss.

Der im Dienst „makellose“ Beamte preußischer Tradition hat sich dieses Lob oft genug unter jeder Regierung oder herrschenden „Gesinnung“ verdient. Loyale sind blind, das heißt sie tun ihre Pflicht. Die psychische Seite des preußisch-deutschen Beamtentums: Man befolgt die Befehle seines Dienstherrn, ohne zuvor zu prüfen, ob der Inhalt des Befehls oder der Anweisung auch rechtens und vernünftig ist. Treu und folgsam wird nicht mehr gedacht, sondern gehorcht. Während meiner Butzbacher Jahre bin ich immer wieder erschrocken über die Kontinuität von Faschismus und bürgerlicher Gesellschaft und die Nähe von Gefängnis und Lager. Wie der Faschismus am Ende der Weimarer Republik aus der bürgerlichen Ordnung hervorgewachsen war, so verschwand er nach 1945 wieder in dieser. Manchmal waren diese beiden Formen bürgerlicher Herrschaft kaum voneinander zu unterscheiden und verfilzten sich heillos miteinander. Manchmal ging ich durchs Gefängnis und hatte das Gefühl, durch eine Lagergasse zu gehen. Besonders deutlich spürbar war das bei meinen Besuchen in der „Absonderung“, den die Gefangenen „Bunker“ nannten. In den Anfangszeiten traf ich dort auf nackte Gefangene, die auf einer schäbigen, unbezogenen Schaumstoffmatratze kauerten oder lagen. Erst später erhielten die Gefangenen papierne Unterwäsche, mit der sie sich notdürftig bekleiden konnten. Als ich einmal einzuwenden wagte, ich könne und wolle nicht mit einem nackten Menschensprechen, bekam ich zu hören: “Hab dich nicht so!“

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Der schwarze Fingerhandschuh, von dem ich neulich erzählt habe, liegt noch immer unter meinem Balkon auf der Straße. Es sind inzwischen viele Autos über ihn gerollt und er ist fast schon nicht mehr als Handschuh erkennbar. Er ist Teil des Schmutzes geworden, der sich auf der Straße ansammelt und demnächst von einer Maschine zusammengekehrt und aufgesaugt werden wird. Ich wundere mich immer noch darüber, wie leicht Menschen verlorene Gegenstände aufgeben und abhaken. Man kauft sich halt ein Paar neue Handschuhe, was soll‘s? Wenn ich den Verlust eines Handschuhs bemerkt hätte, wäre ich die Strecke noch einmal abgefahren und hätte nach ihm gesucht. Im konsumistischen Zeitalter wird eine solche Verhaltensweise schnell als neurotisch abgetan und mit dem „analen Syndrom“ zusammengebracht. Zum konsumistischen Credo gehört, sich von liebgewordenen Dingen trennen zu können und sich öfter mal etwas Neues zu „gönnen“. Anders wären die riesigen Warenmengen nicht an die Menschen zu bringen und die ganze Profitproduktion geriete ins Stocken. Theodor W. Adorno hat sich früh mit der Wegwerfmentalität beschäftigt und zu bedenken gegeben: „… aber ohne Fixierung der Libido an Dinge wäre Tradition, ja Humanität selber kaum möglich. Eine Gesellschaft, die jenes Syndroms sich entledigt, um alle Dinge wie Konservenbüchsen wegzuwerfen, springt kaum anders mit den Menschen um.“ Diese Sätze stehen in einem Text aus dem Jahr 1955, der „Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie“ betitelt ist.

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In ganz Deutschland regt sich Protest gegen das Zusammengehen von CDU und AfD in puncto Migration und Asylpolitik. Am gestrigen Abend versammelten sich Tausende vor der CDU-Parteizentrale in Berlin und andernorts, um gegen Merz und sein Zusammengehen mit der AfD zu protestieren. Selbst Altkanzlerin Merkel kritisierte Merz für diese Kooperation. Es kommt etwas in Bewegung, das an die Proteste von vor einem Jahr erinnert, als publik wurde, was die Rechten am Lehnitzsee für „Remigrations“-Pläne ausgebrütet hatten. Heute Abend findet auch hier in unserem Provinzkaff eine „Mahnwache“ gegen den Pakt der CDU mit Rechtspopulisten und Faschisten statt.

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Zur „Mahnwache gegen den politischen Dammbruch“ erschienen circa 4.000 Menschen. Der Platz rund um die Stadtkirche war gerammelt voll. Viele selbst gemalte Transparente wurden in den Nachthimmel gereckt. Auf den meisten stand „Nie wieder ist jetzt!“. Es ist eine arge linke Unsitte, dass von jeder Organisation und Initiative, die zu einer Veranstaltung aufgerufen haben, ein Vertreter oder eine Vertreterin eine Rede halten darf. Das waren im gestrigen Fall eine ganze Menge, von den unvermeidlichen „Omas gegen Rechts“, dem DGB, dem Ausländerbeirat bis zum Stadtschülerrat. Statt sich auf einen Redner zu einigen, der etwas von der in Rede stehenden Sache versteht und vor allem die Kunst der freien Rede beherrscht, treten lauter Laiendarsteller auf die Bühne und langweilen die versammelten Menschen mit Platitüden und mehr oder weniger abgeleierten Parolen. Vieles klingt, wie der alte Bloch gesagt hätte, nach Papier. Es wurde dennoch nach jedem Redebeitrag brav applaudiert, wohl eher, um die Hände aufzuwärmen als aus Begeisterung über das Gehörte. Warum sagt nicht mal einer oder eine etwas Überraschendes und Unerwartetes, etwas, das einen aufhorchen lässt und zum Nachdenken bringt? Klaus Theweleit hat darauf aufmerksam gemacht, dass es bedeutsam ist, in welcher Sprache über politische Themen gesprochen wird und welche Metaphern dabei verwendet werden. Das gilt nicht nur für die Rechten, die im Kontext der Migration von Zustrom, Wellen, Fluten, Schwemme, Ansturm und so weiter sprechen. Diese Begriffe legen nahe, dass wir uns dagegen schützen, zur Wehr setzen, Dämme errichten müssen, sonst gehen wir unter, werden wir überschwemmt, überflutet. Die Verwendung von bestimmten Metaphern sagt wenig über die solcherart Bezeichneten, aber viel über die Körpergeheimnisse, unbewussten Phantasien, Wünsche und Ängste derer aus, die sie verwenden. Wer oder was droht da überflutet, überschwemmt zu werden? Wogegen werden Grenzzäune, Dämme und Barrieren errichtet? Klaus Theweleit hat aus den schriftlichen Hinterlassenschaften der Freikorpsmänner der frühen 1920er Jahre ein Psychogramm des Faschisten und des Faschismus herausgelesen. Fast alles, was Theweleit dort gefunden und in seinem zweibändigen Buch „Männerphantasien“ beschrieben hat, finden wir nun auch bei den zeitgenössischen Rassisten und Ausländerfeinden wieder. Aber eben nicht nur bei diesen, sondern auch in den Bildern und Metaphern, die in der medialen Berichterstattung über die Völkerwanderung der Armen verwendet werden. Die Dämme und Begrenzungen, die eingeführt werden, um „die Ausländerflut“ zu stoppen, werden auch gegen das eigene Unbewusste errichtet. Die Bedrohung, die man im anderen zu sehen glaubt, ist ursprünglich im eigenen Inneren zu finden. Der gefürchtete Fremde ist die Verkörperung dessen, was wir auf dem Weg ins Erwachsenenalter verdrängen mussten und das uns in der Folge fremd geworden ist. Die Begegnung mit ihm löst Angst aus und es muss durch allerhand Abwehrmaßnahmen in Schach gehalten werden. „Äußeres weist innen auf Verschüttetes“, hat der Schweizer Schriftsteller Reto Hänny diesen Mechanismus einmal treffend beschrieben. Dieselbe Aufmerksamkeit sollten wir auch gegenüber der Sprache aufbringen, die in der Linken im Schwange ist. Was verraten Brandmauern, Dämme und Zuzugsbegrenzungen, die auch hier errichtet und gefordert werden, über das Gesellschaftsbild und die Gefühlslage derer, die sich für links halten? Was mir gestern ebenfalls auffiel, ist die Naivität, mit der von der „Mitte der Gesellschaft“ gesprochen wird und welche Hoffnungen auf diese gesetzt werden. Der Faschismus ist nicht von den Rändern her über die Gesellschaft gekommen, sondern entsprang und entspringt noch immer der Mitte der Gesellschaft, der Normalität der bürgerlichen Lebensordnung. „Nur wer zu nichts Bürgerlichem taugt, taugt auch nicht zum Faschisten“, wurde Peter Brückner nicht müde zu betonen. Linke tun häufig so, als seien Nazis Monster, die sich an abstoßenden Zeichen und Besonderheiten zu erkennen geben. Ich erinnere an die Irritation Horst Krügers, als er im Gerichtssaal des Auschwitzprozesses die Angeklagte von den Zuschauern nicht zu unterscheiden vermochte. Was waren das für Leute, die das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte geplant und durchgeführt hatten? Im Rahmen der Nürnberger Prozesse wurden internationale Gutachter zu Rate gezogen, die die psychische Konstitution der Angeklagten untersuchen sollten. Man vermutete, dass sie massive psychopathologische Befunde aufdecken würden. Diese Erwartungen wurden enttäuscht: „Aus unseren Befunden müssen wir nicht nur schließen, dass solche Personen weder krank noch einzigartig sind, sondern auch, dass wir sie heute in jedem anderen Land der Erde antreffen würden.“ Es fanden sich bei den meisten Nazi-Tätern keinerlei klinische Auffälligkeiten, sie waren stinknormal. Primo Levi brauchte, um zu dem gleichen Ergebnis zu kommen, keine aufwendigen Tests, ihm genügten seine Erfahrungen als Häftling in Auschwitz: „Es gibt die Ungeheuer, aber sie sind zu wenig, als dass sie wirklich gefährlich werden könnten. Wer gefährlicher ist, das sind die normalen Menschen.“

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Marianne Faithfull ist im Alter von 78 Jahren gestorben. Ich habe sie allein schon für ihren Song „The Ballad of Lucy Jordan“ gemocht. Wenn sie nur diesen einen Song geschrieben hätte, hätte sie das Ihre getan, aber es gibt noch andere, zum Beispiel „Working Class Hero“. Lucy Jordan ist eine weiße Vorstadtamerikanerin, die an der sterilen Normalität ihres Lebens verzweifelt. Ihr Ehemann ist zur Arbeit gefahren, sie liegt in ihrem Haus auf dem Sofa, langweilt sich und träumt von einem anderen Leben. Schließlich klettert sie aufs Dach, um sich hinabzustürzen, wird dann aber von einem Mann, „der ihr die Hand reicht“ gerettet und in einem „langen, weißen Wagen“ in eine psychiatrische Klinik gebracht. Das Ende ist für verschiedene Interpretationen offen, was den Song wirklich groß macht. Für mich war es immer ein Lied über einen möglichen Amoklauf. Wäre Lucy Jordan ein Mann, griffe sie zum Colt oder zum Gewehr, ginge in den nächsten Supermarkt und schösse dort wahllos auf Passanten und Kunden, bis sie selbst erschossen würde. So aber wird die Wut in der inneren Watte stumpf und sie landet in der psychiatrischen Klinik. Marianne Faithfull war eine sehr schöne, geheimnisvolle Frau. Sie war eine Weile mit Mick Jagger zusammen. Sie schenkte ihm den Roman „Meister und Margarita“ von Michail Bulgakow, der ihn zu dem Song „Sympathy For The Devil“ inspiriert haben soll. Dann trennten sie sich. Sie stürzte ab, begann zu trinken und konsumierte Heroin. Wie das manchmal so ist. Dann berappelte sie sich und kehrte zurück. Das Album „Broken English“ gilt als Meilenstein der alternativen weiblichen Rockgeschichte. Im Alter wurde sie von diversen Krankheiten heimgesucht, unter anderem von einer beinahe tödlich verlaufenen Covid-Erkrankung. Danach konnte sie nicht mehr singen.

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„Wäre doch das offenkundige Elend am Kriegsende länger erhalten geblieben, statt sich erneut in die verdammte Tüchtigkeit zu verkriechen, in der erneut Mordgedanken entstehen …“

(Herbert Achternbusch)

Die ganze letzte Woche habe ich mich mit Carlo Levis gerade auf Deutsch im C.H. Beck-Verlag erschienenem Buch „Die doppelte Nacht“ beschäftigt. Seit ich vor Jahren endlich sein Buch „Christus kam nur bis Eboli“ gelesen habe, schätze ich Levi sehr. In diesem Buch schildert er die Zeit, die er Mitte der 1930er Jahre – von den Faschisten in die Verbannung geschickt – in einem Dorf in den Bergen hinter Salerno verbrachte. Er kam aus dem industriellen Norden in den Mezzogiorno, in eine archaische Welt von Bauern, Hirten und Banditen. Die große Zeit der Räuber, die hier Briganten hießen, war gerade erst vorüber und bei den Leuten noch sehr lebendig. Die Briganten waren die Racheengel der armen Leute und genossen deren Sympathien. Am Eingang seines Dorfes konnte man die Pfähle sehen, auf denen die Handlanger der Obrigkeit die Köpfe von getöteten Briganten aufgespießt hatten, damit sie noch als Tote als abschreckendes Beispiel dienten. Schnell lernte er die Menschen lieben, und sie ihn, und als er nach einer Weile begnadigt wurde, verließ er diese Gegend mit einer gewissen Wehmut. Der 1902 in eine assimilierte und recht wohlhabenden jüdische Familie hineingeborene Carlo Levi ist ein vielseitiger Mensch gewesen: Schriftsteller, Maler, Arzt und nicht zuletzt Ethnologe und engagierter Linker und Antifaschist. Linker nicht in einem parteipolitisch und dogmatisch verengten, sondern in einem weiten, offenen Sinn, mit einem anarchisch-künstlerischen Einschlag, der ihn vor Vereinnahmung und Dogmatismus jeglicher Art schützte.

Als eine literarisch-ethnologische Studie würde ich denn auch sein Buch „Die doppelte Nacht“ bezeichnen. Doppelt ist die Nacht, weil auf die des Nationalsozialismus die seiner Verdrängung folgte. Die Asche von Auschwitz legte sich auf Deutschland und seine Bewohner. Alle Idyllen, die er unterwegs sah, logen und waren lediglich „der Tumormarker des Verdrängten“, wie Thomas Hettche treffend formuliert hat. „Faust und Hitler“ war übrigens ein alternativer Titel für das Deutschlandbuch, den Levi eine Weile in Erwägung gezogen hatte. Auf Einladung seines deutschen Verlages absolvierte Levi in der Vorweihnachtszeit des Jahres 1958 eine Deutschlandreise, die ihn von München über Augsburg, Ulm, Schwäbisch Hall und Tübingen nach Berlin führt. Ein deutsches Ehepaar, das er in München kennengelernt hatte, nahm ihn in seinem Auto mit Richtung Stuttgart. Levi bestand auf einem Abstecher nach Dachau, als er diesen Ortsnamen auf einem Hinweisschild an der Autobahn las. Er wollte seinen ermordeten Brüdern und Schwestern und Genossen seine Referenz erweisen. „Als wollte selbst das Wetter ein Bild heraufbeschwören, das in unseren Köpfen von der Geschichte festgeschrieben worden ist, wird der graue Himmel auf einen Schlag schwarz, es erhebt sich ein eisiger Wind, und wir werden von einem tosenden Schneesturm umfangen. … Wir gehen an einer Mauer entlang, die sich scheinbar ins Unendliche erstreckt und durch deren Öffnungen wir Baracken erkennen können. Es ist Dachau.“ Das Lager war nicht etwa menschenleer, sondern von Vertriebenen aus Schlesien bevölkert, die hier vorübergehend Aufnahme gefunden hatten. Levi interessierte sich für ihr Schicksal und unterhielt sich eine Weile mit ihnen. Dann fuhren sie weiter Richtung Augsburg, wo er die Fuggerei besichtigte. Verlagsangelegenheiten führten ihn nach Stuttgart. Dort notiert er: „Diese Einöde geschäftiger, arbeitsamer, pedantischer, ausdauernder Menschen, die ihren Blick so starr auf den Gegenstand ihrer Arbeit oder auf das Geld, deren Gegenstück und Sinnbild, gerichtet haben, dass sie nicht zurückblicken, nicht nach rechts oder links sehen können, beinahe heroisch in ihrer Eingeschränktheit, in einem Land, das ohne Seele oder Wurzeln wiederaufgebaut wurde, angefüllt mit Gebäuden, die aus Abscheu vor ihrem anonymen Aussehen eigentlich einstürzen müssten und die kein Fluss je narzisstisch spiegeln könnte …“

Die letzte und wichtigste Station der Reise ist Berlin. Levi fliegt von Stuttgart aus und landet in Tempelhof. Er bezieht ein Zimmer in einem Hotel in Charlottenburg. Auf dem Nachttisch liegt eine Willkommenskarte und Stückchen Schokolade für ihn. Am nächsten Morgen beginnt er mit der Erkundung der Stadt. Ihrem erblühenden Wohlstand wohnt, wie ihm scheint, etwas etwas Melancholisches und Düsteres inne, „als sei er auf einer Leerstelle oder den Knochen der Toten errichtet worden“. Levis Blick auf die deutschen Verhältnisse ist und bleibt skeptisch. Er traut dem Frieden und den glitzernden Fassaden nicht. Tagelang pendelt er mit öffentlichen Verkehrsmitteln ruhelos zwischen West- und Ostberlin hin und her und durchstreift die beiden Teile Berlins, die noch nicht durch eine Mauer getrennt sind. Jeder der beiden Teile hat jeweils das gewählt und kultiviert, was dem anderen fehlt und was er in der Folge von sich gewiesen hat. Levi besucht Theater und Museen und ist fasziniert von der Statue der Nofretete. „Diese Königin stammt aus der fernsten Antike und hat ein Gesicht von heute.“ Sie kündet ihm von einer Revolution, die die Knechtschaft der Frauen beenden wird. Das Berlin-Kapitel ist von einer erstaunlichen Aktualität und Hellsichtigkeit. Seine Lektüre kann uns Hinweise auf die Genese bis in die Gegenwart fortwirkender Konflikte und Konstellationen geben. Im Spiegel der Vergangenheit können wir unsere Gegenwart klarer erkennen. Zum Schluss und vielleicht auch als Höhepunkt seines Berlinbesuchs klettert er nachts in die Ruine eines Hauses, das einmal das prächtige Haus von Hermann Göring gewesen ist. Plötzlich überkommt es ihn und er pinkelt gegen die Mauer. „Ich tat das ganz automatisch, ohne jeglichen Hintergedanken: Aber noch im selben Moment wurde mir klar, dass Charlie Chaplin als Charlot mit seiner unvermeidlichen politischen Intuition sicherlich genau das Gleiche mit voller Absicht getan hätte.“ Am folgenden Tag verließ Levi das graue, kälteklirrende Berlin und kehrte nach Rom zurück, wo bereits die Mandelbäume blühten und die ersten Bienen summten. Gerade heute, da sich erneut Finsternis über Deutschland breitzumachen droht, ist Carlo Levis Reisebericht eine bedeutsame Lektüre.

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An einer Schule für Erwachsenenbildung im Schwedischen Örebro hat sich ein Amoklauf ereignet. Am 4. Februar 2025 drang gegen Mittag ein Mann in das Schulgebäude ein und eröffnete das Feuer auf Schülerinnen und Schüler. Mindestens zehn Menschen starben, circa fünfzehn weitere wurden verletzt. Der mutmaßliche Täter soll sich unter den Toten befinden. Er sei der Polizei bisher unbekannt gewesen. Man gehe davon aus, dass er alleine handelte und dass die Tat keinen terroristischen Hintergrund aufweise. Die Suche nach dem Motiv wird sich schwierig gestalten, wie fast immer nach amokartigen Verbrechen. Örebro liegt etwa 200 Kilometer westlich der schwedischen Hauptstadt Stockholm. Bisher ist Schweden zwar nicht von Gewalttaten, aber von solchen Amoktaten – im Unterschied zum Nachbarland Finnland – verschont geblieben und steht deswegen vor einem Rätsel. Über die Frage, warum Schulen so häufig Tatorte solcher Verbrechen werden, habe ich seit dem Massaker am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt häufig nachgedacht, zum Beispiel im ersten Band meiner „Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus“, der unter dem Titel „Zwischen Amok und Alzheimer“ erschienen ist, und in dem Band „ … damit mich kein Mensch mehr vergisst“ aus dem Jahr 2010. Schulen sind häufig das Epizentrum der Kränkungen, die die Täter erfahren haben und die sich in ihrem Leben aneinanderreihen. Am „Tag der Rache“ suchen deswegen oft ihre ehemaligen Schulen auf und halten sich dort schadlos für die Summe ihrer erlittenen Demütigungen.

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Zu meiner Verwunderung werden im Wahlkampf noch immer Plakate aufgehängt. Auf dem Weg in meine Lieblingsbäckerei jenseits der Lahn kam ich an etlichen vorüber. Die Grünen setzen ganz auf Habeck: „Zuversicht – Ein Mensch. Ein Wort.“ heißt es inhaltsschwer auf einem der Plakate. Ich dachte im ersten Moment, es handele sich um Ingo Zamperoni, der für die Grünen wirbt. Die Linke plakatiert Jan van Aken mit dem Apothekersatz „Wir haben was gegen Armut“. Ich hoffe, der Apotheker van Aken empfiehlt eine Dosis Klassenkampf. Auch Olaf Scholz begegnete mir auf einem Plakat, auf dem er erstaunlich ernst in die Kamera blickt: „Mehr für dich. Besser für Deutschland.“ Bezeichnenderweise in diese Reihenfolge. Friedrich Merz-Plakate blieben mir erspart. Wahrscheinlich wurden sie nach der Kollaboration zwischen CDU und AfD abgerissen und nicht wieder neu aufgehängt. Insgesamt eine Ansammlung von Platitüden, die keine Lust auf Wahlteilnahme und das angebotene Personal macht. In der Fußgängerzone wollte mir ein junger Mann das Wahlprogramm der Linken in die Hand drücken. Als ich die Annahme verweigerte und sagte: „Das heißt, Eulen nach Athen zu tragen“, schaute er mich etwas ratlos an, dachte eine Weile nach und fragte dann: „Das heißt, du wählst uns?“ „Ich habe es vor“, antwortete ich und ging weiter. Der junge Mann strahlte und war es zufrieden.

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