„Es gab früher in Böhmen eine blühende Industrie, die eingegangen zu sein scheint: man nahm Kinder, schlitzte ihnen die Lippen auf, presste ihnen den Schädel zusammen und setzte sie Tag und Nacht in eine Kiste, um ihr Wachstum zu verhindern. Durch diese und ähnliche Behandlungen machte man aus ihnen sehr amüsante und höchst einträgliche Missgeburten. Um Genet zu machen, hat man ein subtileres Verfahren benutzt, aber das Ergebnis ist das gleiche: man hat ein Kind genommen und aus Gründen sozialen Nutzens eine Missgeburt daraus gemacht. Wenn wir in dieser Sache die wahren Schuldigen finden wollen, wenden wir uns am besten den anständigen Leuten zu und fragen sie, aus welcher merkwürdigen Grausamkeit heraus sie aus einem Kind ihren Prügelknaben gemacht haben.“
(Jean-Paul Sartre)
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„Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.“
(Max Horkheimer: Die Juden in Europa)
Jan Philipp Reemtsma hat ein sehr lesenswertes Nachwort zum Adorno-Text „Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute“ geschrieben, den der Suhrkamp-Verlag gerade noch einmal in einer neuen Ausgabe herausgebracht hat. Diesen hatte Adorno 1962 zunächst auf einer pädagogischen Konferenz vorgetragen, der Hessische Rundfunk hatte ihn aufgezeichnet und in zwei Teilen gesendet. Mir ist der Text zum ersten Mal in dem Suhrkampbändchen „Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft“, der 1971 erschienen ist, begegnet und lebensgeschichtlich bedeutsam geworden.
Reemtsma erinnert zunächst daran, dass Antisemitismus Teil eines Syndroms ist, was soviel besagen soll: Wer Juden hasst, hasst in der Regel auch Homosexuelle, Frauen, sozial Schwache, Schwarze und andere Minderheiten. Der autoritäre Charakter, dessen Studium sich die Kritische Theorie bereits in den USA zugewandt hatte, liefert die Disposition für dieses Konglomerat von Einstellungen. Diederich Heßling aus Heinrich Manns Roman „Der Untertan“ ist sein Prototyp. Er gedieh in Deutschland unterm Wilhelminismus vorzüglich, hier wurden die subjektiven Bedingungen der Möglichkeit des Nationalsozialismus geschaffen. Michael Hanekes film „Das weiße Band“ hat uns das noch einmal eindringlich vor Augen geführt. Später registrierte Adorno seine teilweise Erosion und Ersetzung durch das, was er den „manipulativen Charakter“ nannte. Mit der Erosion der traditionellen Familienstruktur, dem Schwund väterlicher Autorität und in einem emotionsarmen Umfeld entstehen eher „pathisch kalte, beziehungslose Typen“, der Sozialcharakter des technokratischen Zeitalters. Reemtsma erinnert daran, dass die antisemitische Propaganda vor allem ein Appell an das Unbewusste ist, „die Ausschaltung von Rationalität und der Bereitschaft, eine Botschaft an ihrem Realitätsgehalt zu messen, die ausschließliche Reizung von Affekten“. Leo Löwenthal hat das Vorgehen der rechten Demagogen als „ umgekehrte Psychoanalyse“ bezeichnet. Sie greifen Ressentiments und Affekte in der Form auf, in der sie sie vorfinden, statt sie einen Bearbeitungs- und Aufklärungsprozess zu unterziehen. Gegen die Mobilisierung von Affekten kann man nicht mit anderen Affektappellen ankämpfen: „Wer gegen Slogans auf Slogans setzt, bleibt in der Arena, die der, den man bekämpfen will, gewählt hat.“ Dieses Reklameartige ist mir neulich auf der Anti-AfD-Demonstration unangenehm aufgestoßen, wo man Plakate hochhielt, auf denen stand: „Nazis sind uncool“. Schlimmer noch die ständigen Verweise auf die numerische Überlegenheit der Gegendemonstranten: „Wir sind mehr!“, als wäre zahlenmäßige Stärke ein Beleg für Wahrheit. Ein einziger wahrhafter Menschen kann gegen Millionen Verblendete recht haben. Dann trifft man immer wieder auf die Annahme, die Leute wählten die AfD, weil sie über deren wahre Absichten nicht im Bilde seien. Sie wählen sie nicht trotz ihrer rechtsextremen Orientierung, sondern wegen dieser. Die traurige Wahrheit lautet: Die Antisemiten und Minderheiten-Hasser sind nach wie vor unter uns. Diese Gesellschaft bringt sie immer erneut hervor. Reemtsma kritisiert die vorherrschende Form der Bekämpfung des Antisemitismus heute: „Die Phrase, Antisemitismus habe in Deutschland ‚keinen Platz‘, ist von abgründiger Dummheit.“ Bestenfalls künde sie von der Verwandlung empfundener Hilflosigkeit und Ohnmacht in kindlichen Trotz: „Eine Art Mit-dem-Füßchen-Aufstampfen.“ Ebenfalls sei die ständige Rede vom „Nie wieder!“ dann eine Manifestation von Geistlosigkeit, wenn sie in dem Augenblick ertönt, „in dem es gerade wieder oder erneut geschieht“. Wenn man etwas sagen müsse, gebe es eine Pflicht, „nachzudenken und sich nicht der Dummheit und der Phrase gedankenlos und gleichzeitig mit selbsterbaulichem Tremolo zu überlassen“.
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„Komm, lass uns mal schauen, ob der botanische Garten schon geöffnet hat“, sagte mein Freund Michael, als ich ihn heute gegen Mittag auf dem Wochenmarkt traf. Wir gingen die hundertfünfzig Meter bis zur Pforte und stellten erfreut fest, dass die eiserne Tür offen stand. Die ersten Schritte im botanischen Garten in der neuen Saison sind immer etwas Besonderes, zumal bei so schönem Frühlingswetter wie heute. Wir fanden bald eine freie Bank, setzten uns und genossen die wärmende Sonne. Als wir nach einer Stunden wieder gingen, pflückten wir noch ein paar Bärlauchblätter. Der Bärlauch hat sich hier wild ausgebreitet und gehört nicht zum offiziellen Bestand, so dass man sich, ohne Schuldgefühle und in Maßen, bedienen kann und darf. Ich bestieg mein Rad, Michael ging zum Busbahnhof. Den botanischen Garten werden wir den Sommer über als gelegentlichen mittäglichen Treffpunkt beibehalten, vereinbarten wir.
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Vor dem Fenster zum Hof singt unermüdlich ein Rotkehlchen. Immer wieder staune ich über seine Ausdauer und die Variationsbreite seines Repertoires. Tagsüber wird sein Gesang vom städtischen Lärm übertönt, aber früh am Morgen und manchmal auch in der Abenddämmerung, wenn der Verkehrslärm nachlässt, kann man ihn ganz gut vernehmen. Manchmal setze ich mich auf den Balkon und höre ihm einfach nur zu. Und bin froh und gerührt, dass der kleine Vogel es mit uns aushält.
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Das Thema Vergessen nimmt immer breiteren Raum in meinem Leben ein. Heute stellte ich im Lebensmittelmarkt an der Kasse fest, dass ich vergessen hatte, mein Portemonnaie „nachzuladen“. Ich durfte meine Einkäufe im Einkaufswagen neben der Kasse stehen lassen und nach Hause radeln, um Geld zu holen. Andere Leute zahlen dann mit Karte, was ich aber mein Lebtag noch nicht gemacht habe und auch auf meine alten Tage nicht einreißen lassen will. Solange es noch Bargeld gibt, werde ich mich seiner bedienen und an dieser Zahlungsweise unbedingt festhalten. Mit dem Geld verschwindet der letzte sinnlich wahrnehmbare Bezug zur Wirklichkeit. Nicht umsonst haben die Kreditkarten die private Verschuldung vorangetrieben und den Leichtsinn gedeihen lassen. „Was soll‘s, ich zahl ja mit Karte!“ Das böse Erwachen kommt später. Nachdem die kleine Tochter eines Freundes mehrfach gesehen hatte, wie ihr Vater Geld aus dem Bankautomaten geholt hatte, verkündete sie eines Tages ihr Resümee: „Das Geld kommt aus der Wand!“ Heutigen Kindern erschließt sich die Welt als ein Universum des Konsums und der Einverleibung, ihre Bedürfnisstruktur wird auf den Modus mühelosen Genusses und prompter, umwegloser Befriedigung eingestellt. Wo können sie noch Erfahrungen machen, dass die Dinge aus Arbeit stammen und in ihre Herstellung menschliche Anstrengung eingeflossen ist? Sie erleben ihre Eltern nicht bei der Arbeit, allenfalls beim Klimpern auf der Tastatur oder beim Wischen über das Smartphone, was für ein Kind nicht als „Arbeit“ erkennbar ist.
Dazu ein Beispiel, das aus Wilhelm Genazinos frühem Roman „Die Ausschweifung“ stammt: In seiner Familie ist Herr Fuchs der einzige, der seine Schuhe noch zu einem richtigen Schuster bringt, zu Herrn Schober in der Petterweilstraße. „Ruth und Anna ließen ihre Schuhe schon lange in einer Schnellwerkstätte in einem Kaufhaus in der Stadt reparieren. Wenn sie ihre Schuhe abgegeben hatten, gingen sie einen Stock höher in die Cafeteria des Kaufhauses; dort trank Ruth ein Kännchen Kaffee und Anna schleckte ein Eis, und wenn sie sich am Ende den Mund abwischten, hatten ihre Schuhe neue Sohlen und Absätze. Herr Schober in der Petterweilstraße brauchte dazu in der Regel eine Woche. Aber es eilte ja nicht! Besonders Anna fand es toll, dass ihre Schuhe repariert wurden, während sie ein Eis aufleckte. Schon jetzt war das Kind in die Schnelligkeit verliebt.“ Diese Abstraktifizierungsschübe begünstigen die Verflüchtigung der Welt. Die sinnliche Dichte der Welt verschwindet zugunsten einer Welt der nullenden Nullen, in der Erfahrungen im emphatischen Sinn des Wortes nicht mehr zu machen zu sind. Eine Erfahrung besteht heute darin, wenn einem Mädchen von einer maskenhaft geschminkten Influencerin erklärt wird, durch den Kauf welcher Produkte sie ihr Gesicht in eine ebensolche Maske verwandeln kann. Eine Persönlichkeit zu besitzen, hieß es bereits in der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer und Adorno vor über einem halben Jahrhundert, bedeute kaum mehr etwas anderes als „blendend weiße Zähne und Freiheit von Achselschweiß und Emotionen.“ Längst sind die Masken ins Fleisch gewachsen und hinter den Masken stecken keine Gesichter mehr. Die Entfremdung wird dadurch vollendet und gleichzeitig auf eine pervertierte Form aufgehoben. Wenn sie nicht mehr erlebt wird, verliert die Rede von ihr ihr kritischen Sinn, und die Idee ihrer Aufhebung wird zu einer gänzlich abstrakten Utopie.
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Was von Marx auf jeden Fall bleiben wird, auch nachdem der Zusammenhang von Proletariat und Revolution zerrissen ist, ist seine Fassung des kategorischen Imperativs, die er in der 1844 erschienenen Einleitung zur „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ formuliert hat: Dass alle Verhältnisse umzuwerfen sind, „in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. Knapper und treffender kann man nicht sagen, worum es geht und auch weiterhin gehen wird. Auch ohne Proletariat und Arbeiterbewegungssozialismus.
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Vom Wohnzimmerfenster der Ferienwohnung, wo wir uns für den Beginn der Osterferien eingemietet haben, hat man einen freien Blick auf das Vogelhäuschen unten im Garten. Heute Morgen hat sich dort ein stattlicher Dompfaff niedergelassen und hält Hof. Er sitzt auf der Umrandung und schaut mit stoischer Gelassenheit in die Gegend. Gelegentlich kommen Meisen und Spatzen und picken hinter ihm vom Boden des Häuschens etwas auf. Von diesen kleinen Vögeln scheint er kaum Notiz zu nehmen, jedenfalls bringen sie ihn nicht aus der Ruhe. Ich habe mein Fernglas aus dem Rucksack geholt und ihn eine Weile betrachtet.
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Bei einem Anschlag in einer Moskauer Konzerthalle sind über 130 Menschen zu Tode gekommen und mehr als hundert weitere verletzt worden. Eine Unterabteilung des IS reklamiert die Tat für sich, aber Wladimir Putin weiß es besser: Die Spur führt nach Kiew. Er hält sich an das alte Schweizer Motto: „Ob Wilhelm Tell gelebt hat weiß man nicht. Aber dass er den Landvogt Geßler umgebracht hat, steht fest.“
Dieser Anschlag ist nur der letzte in einer langen Reihe seit 1999, seit Russland Tschetschenien mit Krieg überzogen hat. Erinnert sei zum Beispiel an die Geiselnahmen im Moskauer Dubrowka-Theater im Jahr 2002. Putin nutzte sie oft für den autoritären Umbau des Staates, so dass man gelegentlich vermutete, er selbst stecke hinter diesen Attacken. Eine eigenartige Ironie besteht darin, dass die islamistischen Angreifer, wenn es denn welche waren, den Besuchern eines Rockkonzerts genau das vorwerfen, was Putin dem Westen zum Vorwurf macht. Es scheinen stets ähnliche Motive, die die islamistischen Täter motivieren, ob beim Massaker in Pariser Bataclan 2015 oder beim Hamas-Angriff auf das Festival im israelischen Grenzland im Oktober 2023: Dekadenz, Sittenlosigkeit, Ausschweifung und Lasterhaftigkeit. Hier sind die Reihen zwischen Putinanhängern, Islamisten und bibeltreuen Christen, die Trump wählen, fest geschlossen. Scheußliche Allianzen.
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Dieser Tage sah ich im botanischen Garten den ersten Zitronenfalter des Jahres. Das ist für mich stets ein besonderes Ereignis, wenn ich diesen leuchtend gelben Schmetterling zum ersten Mal durch die Lüfte taumeln sehe. Als unverbesserlicher Romantiker würde ich sagen: Mein Herz machte einen Sprung!
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„Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLABLA, im Rücken die Ruinen von Europa. … Mein Ekel ist ein Privileg, beschirmt mit Mauer, Stacheldraht, Gefängnis. … Nieder mit dem Glück der Unterwerfung. Es lebe der Hass, die Verachtung, der Aufstand, der Tod.“
(Heiner Müller: Die Hamletmaschine)
Vom Edersee aus sind wir gestern am Nachmittag nach Kassel gefahren, um Heiner Müllers Stück „Die Hamletmaschine“ im Staatstheater Kassel anzuschauen. Wir hatten Karten vorbestellt, was sich als weise Entscheidung herausstellte, denn die Vorstellung war ausverkauft. Am Abend hätte man keine Karten mehr bekommen. Wir waren von der Inszenierung sehr beeindruckt. Noch am nächsten Morgen schwirrt uns der Kopf von der Fülle der Sinneseindrücke. Es war eine sogenannte Drei-Sparten-Inszenierung, das heißt eine Kooperation zwischen Schauspiel, Musiktheater und Ballett. Wenn man ein solches Stück sieht, sollte man seine Sinnbedürfnisse ziemlich zurücknehmen und sich an das dadaistische Motto der Talking Heads halten: „Stop Making Sense“. Dann wird alles ganz prima. Allein schon die drei Heiner Müller-Doubles rissen alles raus. Phasenweise ging es sehr laut und schrill zu, und die Fülle der Sinnesreize, die von allen Seiten über die Zuschauer hereinbrachen, war einfach zu groß. Ab und zu sah ich zu Hans Eichel hin, den ehemaligen Oberbürgermeister von Kassel, Hessischen Ministerpräsidenten und Bundesfinanzminister, der mit seiner Frau drei Reihen vor uns saß und sich bemühte, angesichts der Turbulenzen um ihn herum Haltung zu bewahren. Für seine 83 Jahre hielt er sich tapfer. Das Stück enthielt ja für einen alten Sozialdemokraten auch einiges an Provokationen. Die alte SPD war ein Hort der Respektabilitätskechtschaft, die auf den Versuch hinauslief, das Bürgertum in puncto Anstand auf der Über-Ich-Seite zu überholen. Wenn es bei Heiner Müller heißt: „Ich nehme Platz in meiner Scheiße, meinem Blut“, ist das für einen Sozi sicher harter Tobak. Aber wenn man aufsteht und das Theater vorzeitig verlässt, fällt das auch unangenehm auf. Also bleibt man geduldig hocken, was man in tausenden von Sitzungen und Parteigremien eingeübt hat.
Die Eichels wohnten in Kassel-Kirchditmold in unserer Nachbarschaft, und unsere Väter waren im weiteren Sinn Kollegen gewesen. Hans war zehn Jahre älter, gehörte also einer anderen Alterskohorte an und hatte andere Freunde. Als ich aufs Gymnasium ging, war er bereits Lehrer und unterrichtete an einer Schule, die er auch als Schüler bereits besucht hatte. Als ich nach Studium und Promotion eine Weile ratlos war, wie es weitergehen könnte, sagte meine Stiefmutter gelegentlich: „Geh doch mal zum Hans und frag ihn, ob er nicht etwas für dich tun kann.“ Ich habe das natürlich nicht getan, sondern zunächst einmal meine Arbeitslosigkeit als eine Form der verlängerten Pubertät begriffen und genossen. Dann ging ich ins Butzbacher Gefängnis und blieb dort über dreißig Jahre. Bei meinen Bemühungen, dort eine feste Anstellung zu erhalten, schaltete sich der damalige Hessische Justizminister Rupert von Plottnitz unterstützend ein, den ein gemeinsamer Freund auf meinen Fall aufmerksam gemacht hatte. Als ich von Plottnitz Jahre später mal im Licher Schwimmbad traf, bedankte ich mich für seine Hilfe, an die er sich natürlich nicht mehr erinnern konnte. Wir hockten gemeinsam auf der Liegewiese und sprachen lange über die Entwicklung des Strafvollzugs in Hessen und der JVA Butzbach, die er wenig später auch mal besuchte.
Apropos: Anlässlich des Kästnerschen Sich-Durchwurschtelns im Dritten Reich stellt Tobias Lehmkuhl die Frage: Ist diese Haltung noch innere Emigration oder doch schon Kollaboration? Unter Bedingungen des Faschismus spitzen sich bestimmte Fragen, die sich in gemilderter Form auch unter Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft stellen, zu. Eine Frage die über den Biographien von uns allen stehen könnte, die wir als Linke oder Revolutionäre in der bürgerlichen Gesellschaft leben: Welche Kompromisse muss man eingehen, wie weit kann man sich einlassen auf die Spielregeln dieser Gesellschaft? „Wann ist man klug? Wann schlau? Wann vernünftig? Und wann ein Verräter?“, fragte der DDR-Dissident Jürgen Fuchs.
In der Nacht nach dem Theaterbesuch träumte ich vom Theater. Im Gießener Stadttheater stieß ich auf eine Versammlung des Ensembles. Roman war nach einer Fritz Bauer-Vorstellung auf dem Heimweg von Rechtsradikalen angegriffen worden. Unter einem Auge hatte er ein veritables Veilchen davongetragen. „Ich bin diesmal noch mit einem blauen Auge davongekommen“, versuchte er zu scherzen. Es wurde hitzig darüber diskutiert, wie sich das Theater und seine Akteure angesichts der Faschisierungsprozesse verhalten solle und müsse. Im Traum schoss Vieles zusammen: der Theaterbesuch vom Vortag, die Lektüre der Kästner-Biographie von Lehmkuhl, in der ja genau das ständig Thema ist, das Fritz Bauer-Stück, das vom Kampf eines verzweifelten Antifaschisten gegen die personelle Kontinuität von Nationalsozialismus und bürgerlicher Gesellschaft der Bundesrepublik. Kurz vor unserer Reise hierher hatte ich Karten für das Stück „Der Staat gegen Fritz Bauer“ besorgt, das ich Ende April mit einem Freund anschauen will. In der Versammlung im Traum war allen Beteiligten klar, dass die Lage ernst und bedrohlich ist und dass wir etwas tun müssen. Man fragte mich nach meiner Einschätzung, und ich erinnerte an Kästners Appell, den rollen Schneeball zu zertreten und nicht zu warten, bis dieser sich zu einer Lawine entwickelt hat, von der wir am Ende alle verschlungen werden. Ich erwachte mit heftig pochendem Herzen und einer spürbaren Beklemmung. Kurz gesagt: mit Angst.
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Bei einem Brandanschlag in Solingen ist eine vierköpfige Familie ums Leben gekommen, neun weitere Menschen wurden mit Verletzungen in Krankenhäuser eingeliefert. Die, wie es heißt, türkischstämmige muslimische Familie war erst vor Kurzem aus Bulgarien nach Deutschland gekommen. Die Eltern waren 28 und 29 Jahre, ihre Kinder drei Jahre und fünf Monate alt. Vor anderthalb Jahren war in dem Altbau mit hölzernem Treppenhaus schon einmal ein Brand gelegt worden, der gelöscht werden konnte. Ein Täter konnte damals nicht ermittelt werden.
In Solingen waren im Mai 1993 fünf türkischstämmige Frauen und Mädchen gestorben, nachdem Rechtsextreme ihr Haus in Brand gesteckt hatten. Laut Wuppertaler Staatsanwalt gebe im aktuellen Fall keine Anhaltspunkte für ein „fremdenfeindliches Motiv“. Man gehe von einem „kriminellen Hintergrund“ aus. So hieß es bei den NSU-Morden schon einmal. Äußerste Skepsis scheint deshalb geboten.
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„Seine Trauer um Sarah und das Leben, das sie gemeinsam hätten führen können, verhärtete sich zu einer Rachezeremonie nach Art der Krieger vergangener Zeiten.“
(E. L. Doctorow)
Habe endlich Doctorows Roman „Ragtime“ aus dem Jahr 1975 weiter und zu Ende gelesen. Nachdem es eine ganze Weile um Emma Goldman und Harry Houdini ging, steht nun der schwarze Jazz-Pianist Coalhouse Walker im Mittelpunkt des kollageartig aufgebauten Roman, dessen verschiedene Handlungsstränge im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts angesiedelt sind. Schon die Namensgebung dieser Figur macht den Bezug auf Kleists Erzählung „Michael Kohlhaas“ deutlich, man kann vielleicht sagen: Es handelt sich bei „Ragtime“ um eine amerikanische Version des „Michael Kohlhaas“. Auch Coalhouse Walker widerfährt ein Unrecht. Sein gerade vom Band gegangener Ford T wird von weißen Feuerwehrleuten demoliert und verschandelt. Und wie Kohlhaas um seine Pferde, kämpft Coalhouse nun vergeblich darum, dass ihm sein Wagen in seiner ursprünglichen Gestalt zurückgegeben wird. Wie beim Kohlhaas spitzt sich die Lage zu und eskaliert in einem sich entgrenzenden Rachefeldzug. Als schließlich seine Braut Sarah totgeprügelt wird, als sie dem US-Vizepräsidenten auf seiner Wahlkampftour eine Petition überreichen will, wird Coalhouse zum brandschatzenden Desperado – wie sein brandenburgischer Ahne. Am Ende wird er von der Gewalt verschlungen. Die wahren Schuldigen und die Verhältnisse, die die Gewalt verursacht haben, bleiben ungeschoren. Der jüngere Bruder Coalhouse setzt den Kampf seines Bruders fort. Er geht nach Mexico und mischt sich in die dortige Revolution ein. Er trifft Emiliano Zapata und sagt ihm: „Ich kann Bomben basteln und Geschütze und Gewehre reparieren. Ich weiß, wie man etwas in die Luft jagt.“ Schließlich wird auch er getötet, am gleichen Ort, am dem ein paar Jahre später Zapata aus dem Hinterhalt zusammengeschossen werden sollte.
Gegen Ende begegnen wir noch einmal Emma Goldman, die im Zusammenhang mit den Coalhouse-Unruhen in Gewahrsam genommen wird. Immer wenn in jenen Jahren irgendwo in den USA irgendwelche Tumulte oder Streiks ausbrachen, nahm man die Anarchistin Emma Goldman prophylaktisch fest. Sie war die personifizierte Revolution. Nun saß sie mit einem jungen Polizisten im Streifenwagen. „Sie werden es mir nicht glauben, sagte sie zu ihm, aber ich freue mich auf eine Weile Knast. Das ist der einzige Ort, wo ich einmal zum Ausruhen komme.“ Schließlich entledigte man sich ihrer, indem man sie per Schiff nach Russland verfrachtete. Als Emma Goldman Anfang 1919, aus den USA ausgewiesen, in Russland eintrifft, beschreibt sie ihre Stimmung so: „Am achtundzwanzigsten Tag unserer Reise standen wir nunmehr an der Schwelle Sowjetrusslands. Mein Herz klopfte in Erwartung und glühender Hoffnung.“ Als sie das Land wieder verlässt, trägt sie in ihr Tagebuch ein: „Im Zug. 1. Dezember 1921. Meine Träume zerstört, mein Glaube gebrochen, mein Herz ein Stein. ‚Matuschka Rossija‘ blutend aus tausend Wunden, ihre Erde bedeckt mit Toten. Ich klammerte mich an den Griff der vereisten Fensterscheibe, biss die Zähne zusammen und unterdrückte ein Schluchzen.“
Das Buch ist durch seine montageartige Konstruktion nicht ganz einfach zu lesen, aber die Mühe lohnt sich: Es ist ein tolles und radikales Buch, das ich euch vorbehaltlos zur Lektüre empfehlen kann. Übrigens wurde der Roman 1981 von Miloš Forman (unter demselben Titel: „Ragtime“) verfilmt.
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„Wir werden als mehrere geboren, und wir sterben als ein einziger.“
(Valéry)
Gestern Abend sah ich ich in einem der dritten Programme unter dem Titel „Wie Tina Turner nach Niedertrebra kam“ eine Dokumentation über Amateurbands in der DDR. Holger Oley, der Sänger der Band „Die Art“, erzählt von der Geschichte dieser Leipziger Band, die sich ursprünglich „Die Zucht“ nannte. Unter diesem Namen durften sie allerdings nicht auftreten. Die Anspielung auf die realen Verhältnisse war den Behörden, die die Auftritte der Bands zu genehmigen hatten, zu drastisch. Im Hause des Erhängten spricht man nicht vom Strick, soll in unsere Fall heißen: Da, wo Zucht und Ordnung herrschen, darf von Zucht nicht gesprochen werden. „Zucht“ wurde „sozialistische Erziehung“ genannt und galt als proletarische Tugend. Holger besuchte eine Vorzeigeschule, die gleichzeitig als Kaderschmiede für den Parteinachwuchs diente. Dort gab es auch eine Art von vormilitärischer Ausbildung, die seinem Empfinden vollkommen zuwiderlief. „Da bin ich aus der Spur gesprungen“, sagt er. Er verweigerte den Griff zum Gewehr und flog in der elften Klasse von der Schule. Von einer diffusen „Sehnsucht nach allem“ erfasst, begab er sich auf eine Suchbewegung nach dem, was für ihn das Richtige wäre. Er wurde zunächst Hilfsarbeiter, dann machte er eine Ausbildung zum Drucker. Eines Tages wurde er von den Walzen erfasst und in die Maschine hineingezogen – wie Chaplin in seinem Film „Moderne Zeiten“. Er wurde schwer verletzt herausgezogen und erkannte während der Genesung das Symbolische dieses Unfalls. Er fand nun seine eigene selbst gezogene Spur – in die und in der Musik. Nach dem Ende der Band „Die Art“ schloss er sich verschiedenen anderen Combos an. Noch heute, also mit Mitte 60, tritt der gelegentlich auf und singt von der Sehnsucht nach Weite und Offenheit. Wer etwas vom ursprünglichen, rebellischen Impetus der Rockmusik erfahren will, schaue sich diesen Film an. Der trat hier in der DDR viel deutlicher hervor, als im vergleichsweise lockeren und konsumorientierten Westen. Hier konnte man die erstbeste Musikalienhandlung betreten und sich alle Instrumente und elektronischen Gräte kaufen, in der DDR musste das Meiste selbst hergestellt und zusammengebastelt und -geschraubt werden. Alle Musiker und Musikerinnen, die im Film zu sehen sind, üben die ganze Woche über ganz normale Berufe aus, sind Maurer, Drucker, Verkäuferinnen.
Das Motiv des Aus-der-Spur-Springens ist mir wohl vertraut. Auch ich wurde auf eine Spur gesetzt und musste aus ihr herausspringen, wenn ich meinen eigenen Weg finden wollte. Aber, was heißt schon „mein eigener Weg“? Was daran ist wirklich „eigen“ und keine gesellschaftliche Schablone? Noch in der Rebellion bleiben wir an das gebunden, gegen das wir rebellieren. Man zwängt uns sofort nach der Geburt in eine Persönlichkeit hinein, wie jene Kinder, die man in verschiedenen Kulturen in Vasen hineinpresste, um ihr Wachstum zu verhindern und einträgliche Krüppel herzustellen. Wir alle werden gezwungen, Andere zu werden, werden verbogen und verfälscht. Wir werden jenes andere, „brave Kind“, das unsere Eltern und die Gesellschaft in uns sehen wollen. Irgendwann müssen wir uns aufrappeln, die eisernen Korsetts, das alte todmüde Handeln sprengen und die Vampire, die uns aussaugen, in die Flucht schlagen. „Die Vampire“, sagt Sartre, „haben ein denkwürdiges Blutbad angerichtet, sie haben die Hoffnung vernichtet; wir müssen wieder zu Atem kommen, uns eine Zeitlang totstellen und dann aufstehen, die Leichenhalle verlassen, ganz von vorn anfangen, eine neue Hoffnung erfinden, zu leben versuchen.“
Von solchen Befreiungsversuchen erzählt der Film „Wie Tina Turner nach Niedertrebra kam“, den die Mediathek des MDR noch bereit hält.
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Die fortschreitende Einschränkung meiner Beweglichkeit lässt mich übellaunig und griesgrämig werden. Dagegen muss ich dringend etwas unternehmen, denn sonst werde ich für andere, vor allem auch für U, ungenießbar. Wie die berüchtigten arthritischen alten Männer, die ihre notorisch schlechte Laune an der Umgebung auslassen. Doch, wie soll ich das anstellen? Noch träume ich davon, dass ich eines Morgens erwache und alles wieder so ist wie früher. Gleichzeitig weiß ich, dass das vollkommen unrealistisch ist. Wahrscheinlich ist, dass es immer schlimmer wird und mir „auf Erden nicht zu helfen“ ist, wie Kleist vor seinem Selbstmord sagte. Noch bleibt mir eine gewisse geistige Beweglichkeit. Wenn auch die irgendwann schwindet, weiß ich nicht, was ich tun sollte oder tun würde. Mir bliebe dann nur der Griff zum Strick oder zu Pentobarbital, doch woher soll ich das nehmen?
Draußen heulen unablässig die Sirenen – auch am Ostermontag. Der äußere Nebel verlängert sich ins Innere, trübt alles ein und erzeugt Melancholie.
Damit diese Folge nicht so trostlos ausklingt: Gestern auf dem Alten Friedhof sagte ein kleiner Junge, der offenbar vergeblich nach dem Osterhasen Ausschau gehalten hatte, zu seinen Eltern: „Wahrscheinlich ruht er sich aus, damit er morgen zu uns kommen kann.“
Ein alter Mann sagte zu seiner Frau: „Die Bäume sind auch alt.“ Das war wohl als Trost gemeint.
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Kants Mutter notiert in ihrer Hausbibel: „Anno 1724 d. 22ten April Sonnabends des Morgens um 5 Uhr ist mein Sohn Emanuel an diese Welt geboren.“ Kant hält auch für mich eine wichtige Botschaft bereit: Dass gegenwärtig die Idee einer grundlegenden Veränderung der Gesellschaft nicht viele Anhänger findet, spricht nicht gegen den Wahrheitsgehalt dieser Idee. Man sollte an politischen Zielen auch dann festhalten, wenn die Aussichten auf ihre Realisierung nicht rosig sind. Resignation und Verzweiflung haben noch nie jemandem genützt und sind laut Kant nicht erlaubt.
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Der FAZ vom 27. März entnehme ich, dass 91 Prozent der Deutschen zwischen 18 und 40 Jahren Influencern folgen, für jeden zweiten sind sie Vorbilder. Jeder Dritte in dieser Altersgruppe wird von Influencern in der politischen Meinung, dem Verhalten, der Geldanlage beeinflusst. So das Ergebnis einer Umfrage des Instituts für Management und Wirtschaftsforschung für die Unternehmensberatung Baulig. Fast die Hälfte der Influencer verdient mit ihrem Account Geld, aber nur vier Prozent können davon leben. In Umfragen nennt dennoch etwa jeder fünfte Jugendliche Influencer als Traumberuf.
Influencer: Das ist Entfremdung als Beruf, wobei die Entfremdung eigentlich keine mehr ist. Diesen Zustand nannte der französische Philosoph Henri Lefebvre „Entfremdung zweiten Grades“. Den Menschen kommt noch das Bewusstsein ihrer Entfremdung abhanden und sie erleben ihre Entfremdung als ihre intimste Leidenschaft. Sie macht ihnen jedenfalls kein „unglückliches Bewusstsein“ mehr, worauf man früher als Revolutionär setzen konnte.
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Eine meiner Lieblingsgeschichten von Kafka, dessen 100. Todestag dieser Tage groß begangen wird, ist die folgende, und zwar deswegen, weil sie in Pillenform den ganzen Kafka mit all seinen Wirkstoffen enthält:
„Es war sehr früh am Morgen, die Straßen rein und leer, ich ging zum Bahnhof. Als ich eine Turmuhr mit meiner verglich, sah ich, dass es schon viel später war, als ich geglaubt hatte, ich musste mich sehr beeilen, der Schrecken über diese Entdeckung ließ mich im Weg unsicher werden, ich kannte mich in dieser Stadt noch nicht sehr gut aus, glücklicherweise war ein Schutzmann in der Nähe, ich lief zu ihm und fragte ihn atemlos nach dem Weg. Er lächelte und sagte: ‚Von mir willst du den Weg erfahren?‘ ‚Ja‘, sagte ich, ‚da ich ihn selbst nicht finden kann.‘ ‚Gibs auf, gibs auf‘, sagte er und wandte sich mit großem Schwunge ab, so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollen.“
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