96 | Die (Noch-nicht-) Demokratie verteidigen!

„Seit den frühesten Tagen der Republik sind wir gespalten zwischen denen, die Demokratie für eine Regierungsform halten, die dem Einzelnen die Freiheit gewährt, nur an sich zu denken, und denen, die glauben, dass wir in einer Gemeinschaft leben und füreinander verantwortlich sind, dass die uns von der Demokratie geschenkte Freiheit die Verpflichtung mit sich bringt, denen zu helfen, die zu schwach oder zu krank oder zu arm sind, um sich selbst helfen zu können – ein Jahrhunderte währender Konflikt zwischen den Interessen des Gemeinwohls und dem Bedürfnis, die Rechte und Freiheiten des Einzelnen zu schützen.“

(Paul Auster)

Der Besuch in Kassel löste in mir Erinnerungen der unterschiedlichsten Art aus. Als wir auf dem Weg zum Theater die Königsstraße hinuntergingen, wurden wir mehrfach von Straßenbahnen überholt. Ich durfte mir als Schüler in den harten Wintermonaten eine Monatskarte für die Kasseler Straßenbahn kaufen und fuhr jeden Tag von Kirchditmold aus mit der Linie zwei in die Stadt zur Schule. Mein Vater sagte, wenn er ausnahmsweise mit der Straßenbahn zur Arbeit fuhr: „Ich nehme heute mal die Elektrische.“ Anfangs waren die Straßenbahnen noch gelb und die Züge bestanden aus mehreren Wagen. Man konnte und musste die Türen selbst öffnen, stieg auf das Trittbrett und sprang beim Aussteigen, wenn das Tempo langsam genug war, von dort auf die Straße. Dabei war es wichtig, dass man die Rest-Bewegung der Bahn einkalkulierte und ein Stück mitlief, sonst drohte man zu stürzen. Der Stromabnehmer, der auf dem Dach der Zugmaschine angebracht war, erzeugte manchmal, wenn er über die Oberleitung glitt, kleine Blitze. Vorn im ersten Wagen saß der Fahrer und drehte an einer Kurbel, mit der er die Geschwindigkeit der Bahn regulieren konnte. In den Wagen herrschten die Schaffner, die die Fahrscheine kontrollierten und verkauften. An den Gürteln ihrer Uniform-Hosen führten sie silberne Geldwechselmaschinen mit sich. Für jede Münzsorte gab es eine Röhre. In unglaublicher Geschwindigkeit betätigten die Schaffner diese Maschine, sortierten die eingenommenen Geldstücke ein und gaben den Fahrgästen das Wechselgeld zurück. In den ersten Jahren waren die Sitzbänke noch aus Holz. Für uns Schüler bot die Fahrt in der Straßenbahn Gelegenheit, die Hausaufgaben von mitfahrenden Klassenkameraden abzuschreiben. Dazu legte man den Schultasche auf die Knie und benutzte sie als Unterlage. In den Bahnen wurde von Männern geraucht, erst später wurden die Raucher von den Nichtrauchern getrennt. Frauen rauchten damals selten und schon gar nicht in der Öffentlichkeit oder auf der Straße. Noch später wurde das Rauchen in der Straßenbahn ganz verboten. Da waren die Bahnen schon blau und aus einem Stück, mit einem Gelenk in der Mitte und Sitzen aus Kunstleder, die von jugendlichen Vandalen gern aufgeschlitzt wurden. Interessant war für uns Jungen, dass auch die Mädchen mitfuhren, die benachbarte Mädchengymnasien besuchten. Da entstanden schüchterne und verstohlene Blickverhältnisse. Unter den Augen der Mitschüler war es riskant, aus der Deckung zu kommen und ein Gespräch zu wagen, wenn man nicht ohnehin zu ängstlich waren. Manchmal fuhren die Töchter des Schokoladenfabrikanten Sprengel mit, die in unserer Nachbarschaft wohnten und mit mir an der Musikakademie Unterricht erhielten. In der Bahn trauten wir uns nicht zu zeigen, dass wir uns kannten und ignorierten uns. In die jüngere der beiden Schwestern war ich eine Weile sogar verliebt. Sie hat nie davon erfahren. So war das damals – Mitte der 1960er Jahre. Eine lust- und sexualfeindliche Erziehung hatte Angst in unseren Körpern und Seelen verankert, von der wir uns erst befreien mussten. In der antiautoritäre Revolte haben wir das wenig später, so gut es ging, versucht. Für viele von uns war das ein extrem wichtiger Aspekt dieser Bewegung. Bernward Vesper hat das in seinem Roman „Die Reise“ so ausgedrückt: „Der Aufstand geschieht gegen diejenigen, die mich zur Sau gemacht haben, es ist kein blinder Hass, kein Drang, zurück ins Nirwana, vor die Geburt. Aber die Rebellion gegen die zwanzig Jahre im Elternhaus, gegen den Vater, die Manipulation, die Verführung, die Vergeudung der Jugend, der Begeisterung, des Elans, der Hoffnung – da ich begriffen habe, dass es einmalig, nicht wiederholbar ist. Ich weiß nicht, wann es dämmerte, aber ich weiß, dass es jetzt Tag ist und die Zeit der Klarstellung. Denn wie ich sind wir alle betrogen worden, um unsere Träume, um Liebe, Geist, Heiterkeit, ums Ficken, um Hasch und Trip (werden weiter alle betrogen).“ Einmal habe ich erlebt, wie ein Mann in der Straßenbahn einen epileptischen Anfall erlitt. Mehrere Mitfahrende bemühten sich um ihn und an der nächsten Haltestelle wurde er nach draußen getragen. Das Bild des mit Schaum vorm Mund am Boden liegenden und wild zuckenden Mannes hat mich lange verfolgt.

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„ … die so ideal imaginierte Demokratie ist die dem hemmungslosen Geldverdienen günstigste Staatsform.“

(Urs Widmer)

In den letzten Wochen und Monaten ist viel von Demokratie die Rede, und davon, dass sie gefährdet ist und verteidigt werden muss. Darüber wird meist vergessen, dass wahrhafte Demokratie etwas ist, das noch gar nicht existiert und erst herzustellen und zu erkämpfen ist. Dass sie nicht wirklich fertig und nur halb realisiert worden ist, gehört zu den Bedingungen ihrer neuerlichen Gefährdung. Wenn es stimmt, dass es nichts Schlimmeres gibt, als Revolutionen nicht zu Ende zu bringen, so gilt das auch für die Demokratie. Aus ihrer Unvollendetheit wachsen ihr ständig neue Feinde zu. Die in der Produktionssphäre fortexistierende Ausbeutung und Unterdrückung lassen Wut und Hass gedeihen, die vom bestehenden Herrschaftssystem auf Sündenböcke umgeleitet und als Ressentiment gegen die Demokratie gewendet werden, als wäre diese und nicht das Kapitalverhältnis schuld am Unglück. Statt gegen die Demokratie vorzugehen, sollten die um ihr Glück Betrogenen sich dafür einsetzen, dass Demokratie auf die Sphäre der Produktion und alle anderen Lebensbereiche ausgedehnt und endlich aus der halben eine ganze Demokratie wird. Bis dahin ist die Rede von der Demokratie zu Anteilen Betrug und soll die Leute einlullen. Die rechten Betrüger sammeln den Unmut und das Unbehagen der Leute an der unvollendeten Demokratie auf wenden sie gegen die Demokratie im Allgemeinen, die eigentlich eine prima Idee ist. Aber das Betrugsmanöver scheint noch immer zu funktionieren.

Um es noch einmal anders zu sagen: Der wahre Feind der Demokratie ist der Nihilismus des Geldes und des Konsums. Man schaue sie sich an, die somnambulen Digitaltrottel, die kichernd hinter ihren Geräten herlaufen, und denen alles andere am Arsch vorbeigeht. Dem Geld, das habe ich von Marx gelernt, ist alles egal, und in dem Maße, wie die Menschen dem Geld ähnlicher und zu regelrechten Geldsubjekten werden, grassiert die Gleichgültigkeit. Diese Gesellschaft organisiert das Leben ihrer Mitglieder nur noch als sinn- und ziellosen individualistischen Konkurrenzkampf aller gegen alle. Jeder hat Angst, auf der Strecke zu bleiben, absolviert unbezahlte Praktika, arbeitet, sofern er einen Arbeitsplatz hat, bis tief in die Nacht, identifiziert sich mit seiner Firma, die ihn bei nächster Gelegenheit feuern wird. Nach Feierabend „gönnt man sich etwas“, kauft Klamotten, die er gleich darauf wieder wegschmeißt, wirft irgendwelche Drogen ein, die die Stimmung aufhellen, surft stundenlang durchs Internet, wischt übers Tablet oder treibt Sport, um sich selbst zu optimieren und das Altern zu verhindern. Die berühmte und viel beschworene „westliche Wertegemeinschaft“ besteht bei Lichte besehen aus einem Zugleich von Traditionsverlust, Entwurzelung und konsumistischem Nihilismus.  Die Geflüchteten sollen sich, so wird immer wieder gefordert, an unsere Kultur und Werte anpassen. Dabei tun wir so, als läsen unsere Mitbürger massenweise die Buddenbrooks, hörten Bach-Fugen und betrachteten Bilder von Max Beckmann. Die Wirklichkeit besteht aus Smartphone-Wischen, läppischen Whatsapp-Nachrichten, dümmlichen TikTok-Videos, Oettinger-Bier, Marlboro Light, RTL 2 und Bild-Zeitung – wenn es dazu überhaupt noch reicht. Alles, was geblieben ist, ist eine wahrheitsvergessene, inhaltsleere Konsumkultur. Darüber wölbt sich in einigen Ländern Westeuropas noch ein halbwegs demokratischer politischer Überbau, der aber mehr und mehr erodiert und kaum mehr ist, als ein formales und die Menschen langweilendes Regelwerk. Der Stumpfsinn der digitalen Welt wird in den nächsten Jahren diese Residuen auch noch zunichte machen. Dann werden die von großen Konzernen gesponserten Influencer und Influencerinnen den Ton angeben und die Richtung vorgeben. Orwell war noch zu optimistisch, weil er sich die neuen digitalen Kontrollmöglichkeiten und Methoden der Verhaltenssteuerungen noch gar nicht vorstellen konnte.

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Vor einem Haus, in dem Sprachkurse für Geflüchtete stattfinden, stehen kleine Gruppen auf der Straße. Sie rauchen und freuen sich, sich für eine Weile in ihrer Muttersprache unterhalten zu können. Ein kleines Stück Heimat in der Fremde, eine Insel des Vertrauten inmitten des kompakt Unvertrauten.

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„Verbringe nicht die Zeit mit dem Suche des Hindernisses, vielleicht ist keines da.“

(Franz Kafka)

In der „Kafka und ich“ betitelten Zugabe zur sechsteiligen Kafka-Serie, zu der Daniel Kehlmann das Drehbuch geschrieben hat, sagt er: „Kafka hat früh den Albtraum geschildert, in dem wir alle feststecken.“

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Es scheint im Land mal wieder eine Debatte über unsere Schulen geführt zu werden, die gestern Abend auch Lanz in seiner Talkshow aufgegriffen hat. Er hatte die Bildungsministerin von Schleswig-Holstein Karin Prien, Schulleiterin Anja Mundt-Backhaus aus Hannover, den Soziologen Aladin El-Mafaalani und den Theologen und Psychiater Manfred Lütz eingeladen. Die Hannoveraner Schulleiterin hat vor ein paar Wochen einen Brandbrief an die Stadt Hannover verfasst, in dem sie auf die dramatische Lage an ihrer Schule hingewiesen hat. Gewalt gehöre zum Alltag, es herrsche ein Klima der Verrohung und der Angst, das Lernen zunehmend unmöglich mache. El-Mafaalani berichtete von seinen Erfahrungen als Reisender in Sachen Bildung. So habe er unlängst eine Grundschule mit 150 Kindern besucht, die aus 50 verschiedenen Ländern stammten und 20 verschiedene Sprachen sprachen. Da bringe ganz neue Herausforderungen und auch Konflikte mit sich, mit denen die Schulen nicht gut genug umgehen könnten. Sie seien personell und von den pädagogischen Konzepten her auf dem Stand von vor zwanzig Jahren stehen geblieben und völlig überfordert. Mich haben vor allem die Diskussionsbeiträge von Manfred Lütz beeindruckt, der sich die Freiheit herausnahm, etwas grundsätzlicher zu werden. Zum Beispiel wies er darauf hin, dass, wo Angst herrscht, nicht gelernt werden kann. Schulen sollten und müssten geschützte Räume sein, in denen Kinder und Jugendliche in einer Atmosphäre der Sicherheit und weitgehenden Angstfreiheit ihre Lernprozesse durchlaufen können. Wenn diese elementare Voraussetzung nicht erfüllt sei, brauche man über alles andere nicht zu reden. Überhaupt empfinde er die Debatte als zu technisch verengt. Er brach bei Lanz eine Lanze für die Kunst, die einen ganz anderen Zugang zu den Konflikten und Themen ermögliche. Kunst eröffne eine Möglichkeit zu spüren, was human ist. „Man kann Werte sehen und hören in der Kunst“, trug er emphatisch vor und erzählte, dass Elke Heidenreich, als im Alter von 16 Jahren Michelangelos Pieta zum ersten Mal sah, in Tränen ausbrach. Lütz‘ Beiträge wirkte gerade deswegen erfrischend und anregend, weil sie ein wenig weltfremd und praxisfern waren, entfernt jedenfalls von der heute an Schulen üblichen Praxis. Wenn in vielen Elternhäusern aus oft nachvollziehbaren Gründen der Horizont verengt sei und die Frage nach dem Sinn des Lebens aufs Geldverdienen verkürzt werde, sei es Aufgabe der Schule, den Horizont zu weiten. Geldverdienen sei eine unabdingbare Notwendigkeit, aber könne nicht den Sinn des Lebens ausmachen. Gute Kunst weise darüber weit hinaus und eröffne neue und andere Zugänge zu existenziell wichtigen Fragen. Ich habe im Gefängnis mit meinen Kulturprojekten, vor allem auch mit dem Theater, eine ähnliche Erfahrung gemacht und unter dem Stichwort „Schlüsselerlebnisse“ an verschiedenen Stellen darüber geschrieben. Zum Beispiel im Jahr 2008 in der Wochenzeitung „der Freitag“ unter der Überschrift „Schlüsselerlebnisse – Ein Plädoyer für zweckfreie Kultur-Projekte. Nicht nur in Gefängnissen.“ Es sind Geschichten überraschender Wendungen in Biographien, die durch epiphanische künstlerische Erfahrungen ausgelöst wurden. „Schlüsselerlebnisse“ sind Gratisbeigaben von Aktivitäten, die kein „um … zu“ verfolgen, keinem ökonomischen Effizienz- oder pädagogisch-therapeutischen Nützlichkeits-Kalkül unterliegen. Ihr Zweck fällt mit ihrer Ausübung und der Befriedigung zusammen, die man bei ihrer Verrichtung empfindet – auch wenn sie Anstrengung und Mühe erfordern. Gerade das „macht“ manchmal etwas mit Menschen, was darauf verzichtet, etwas mit  ihnen „machen“ zu wollen.

Eins hat die Lanz-Sendung vom 4. April 2024 auch nochmal verdeutlicht: Dass es ein Fehler ist, voll und ganz auf das Pferd „Digitalisierung“ zu setzen und sich Wunderdinge von ihr zu erhoffen. In einigen nordeuropäischen Ländern, wo man auf diesem Gebiet zunächst weit vorgeprescht war, versucht man inzwischen, den Geist wieder in die Flasche zu bekommen und rudert zurück. Im GEW-Magazin Auswege habe ich im Jahr 2018 meine Kritik an der „Produktion des digitalen Menschen“ und der Digitalisierung der Schulen vorgetragen. Würde ich sie heute verfassen, würde sie noch etwas radikaler ausfallen.

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Was ist die Rolle der Eltern in diesem Kontext? Sie verblassen zu Statisten, deren womöglich noch vorhandene Erziehungsvorsätze zu einem bloßen „Wir möchte oder würden gern …“ schrumpfen. Selbst wenn sie vorhaben, auf die Entwicklung ihrer Kinder Einfluss zu nehmen, müssen sie bald erkennen, dass sie gegen die Übermacht anderer Instanzen nichts auszurichten vermögen. Irgendwann räumen sie das erzieherische Feld, setzen darauf, dass die Schule es schon richten wird. In Wahrheit überlassen sie ihre Kinder den Geräten und dem Markt, die sie in Beschlag nehmen und nach ihrem Bild formen. Die sogenannten sozialen Medien und Influencer üben einen größeren Einfluss auf die Heranwachsenden aus als Eltern und Lehrer.Viele heutige Eltern sind selbst norm- und orientierungslos und könnte, ihren Kindern, selbst wenn sie es wollten, keine Orientierung im spätkapitalistischen Dschungel bieten, von einem moralischen Kompass ganz zu schweigen. Die Eltern sind selbst Chips-Esser und Smartphone-Wischer. Obendrein kennen sich migrantische Eltern oft in dieser Kultur nicht aus und können ihren Kindern weder sprachlich noch normativ Hilfestellung und Orientierung gewähren. Die Zukunft ist, wie der Genosse Mao-Tse-Tung gesagt hat, glänzend. China ist übrigens in all diesen Belangen Vor- und Spitzenreiter und begreift den digitalen Horror als Verwirklichung des Kommunismus.

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Ein 13-jähriger Junge soll am Mittwoch, den 3. April 2024, einen 31-jährigen Obdachlosen im Dortmunder Hafen erstochen haben. Der Junge handelte wohl aus einer Gruppe Gleichaltriger heraus, die die Tat gefilmt haben. Nach bisherigem Ermittlungsstand sei davon auszugehen, „dass die vier Festgenommenen zufällig am Hafen auf das Opfer trafen“, hieß es am Freitag. Die unter 14-Jährigen Tatverdächtigen, darunter wohl auch der Täter, wurden nach ihren Anhörungen aus dem Polizeigewahrsam entlassen. So eine Tat bleibt also, wie es scheint, für die Täter zunächst einmal folgenlos. Auch das ist Teil des nihilistischen Horrors, von dem wir umgeben sind. Ein echtes Kind dieser Zeit!

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Auf einmal ist es gespenstisch warm geworden. Anfang April klettert das Thermometer auf beinahe 30 Grad. Das Wasser der Lahn ist allerdings erst 10 Grad warm, wie ein Blick ins Internet mir gezeigt hat. Zum ersten Schwimmengehen ist es also noch deutlich zu kühl.

Eine Nachbarin tritt aus der Haustür. Sie hat sich eine Tasche umgehängt und will offenbar einkaufen gehen. Auf der Straße wird sie von einer freundlichen Mitbewohnerin, die gerade aus dem Auto ihres Mannes gestiegen ist, darauf hingewiesen, dass heute Sonntag ist und die Geschäfte geschlossen sind. „Ach, so etwas! Daran habe ich gar nicht gedacht“, ruft die alte Dame aus, die nach dem Tod ihres Mannes offenbar peu à peu in eine Demenz hineingleitet. Sie gehen gemeinsam ins Haus. Ich sehe in solchen Szenen in jüngster Zeit eine lebende Prophezeiung, also meine eigene Zukunft. Wann werde auch ich am Sonntagmorgen das Haus verlassen, um einkaufen zu gehen? Aus dem Spiegel starrt mich manchmal der Wahn- und Starrsinn des Alters an.

Auf dem Boden vor dem Balkon liegt eine tote Wespe. Ihr Körper ist leicht gekrümmt und die Flügel sind abgespreizt. Ich trage sie raus und werfe sie auf die Straße. Sie trudelt langsam nach unten. Alles scheint mir zur Zeit symbolisch. Auch weil ich mich zur Zeit mit Kafka beschäftige.

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Was hält eigentlich Gesellschaften zusammen, in denen man auf nackten Zwang verzichtet? Eine bis dato unbekannte Gleichförmigkeit des Verhaltens kommt zustande auf dem Wege der Verinnerlichung der äußeren Gewalt. Norbert Elias hat diesen Prozess als Verwandlung von Fremdzwängen in Selbstzwänge gefasst und beschrieben. Die Erwachsenen weisen durchschnittlich ein funktionale psychische Struktur auf, Realitätsprinzip und Identitätsprinzip sind gut synchronisiert. Sprachlose Zonen der Verhaltenssteuerung halten die Menschen bei der Stange. Aber: Es bildet sich ein Zugleich von Anpassung und Aggression, Fügsamkeit und Feindseligkeit heraus, eine konformistische Bösartigkeit: das Ressentiment des Beschädigten, der das Produkt von Reifung und Integration ist. Härte gegen sich selbst ist mit der Bereitschaft kontaminiert, gegen andere hart durchzugreifen, wenn diese sich nicht dieselbe Gewalt antun. Was man in sich selbst niederhält, setzt man aus sich heraus und verfolgt es an anderen. Fehlt bei Anpassungsleistungen ein Zuwachs an Bewusstsein und auch an Lust, so erhält sich eine archaische Matrix von Aggression unberührt unter der dichten, versteinerten Decke der Konformität. Die aus Versagungen rührende Aggressionsspannung ist gesellschaftlich nützlich und wird auf Sündenböcke umgeleitet. Der sich akkumulierende Unmut wird kanalisiert in Richtung auf Sündenböcke, deren Verfolgung Herrschaft noch einmal schont. Wird es uns eines Tages gelingen, aus diesem Kreislauf auszubrechen?

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Wie kommt es zum rätselhaften Phänomen der „freiwilligen Knechtschaft“, über das Etienne de La Boe͏̈tie schon im 16. Jahrhundert nachdachte? Meine Antwort wäre: Das Über-Ich ist verinnerlichter Staat, und der Staat ist externalisiertes Über-Ich. Diese Verzahnung von innen und außen birgt des Rätsels Lösung und erklärt die Langlebigkeit von Herrschaftsverhältnissen. 400 Jahre nach Boe͏̈tie ging Erich Fromm derselben Frage nach und kommt zum Ergebnis: „Das Verhältnis zwischen Über-Ich und Autorität ist also kompliziert. Einmal ist das Über-Ich die verinnerlichte Autorität und die Autorität das personifizierte Über-Ich, zum anderen schafft das Zusammenspiel beider die freiwillige Fügsamkeit und Unterwerfung, welche die gesellschaftliche Praxis in einem so erstaunlichen Maße kennzeichnen.“

Es scheint dieses Zusammenspiel auch noch im Stadium des Zerfalls zu geben, als Zugleich von zerfallenden, gewissermaßen „abfaulenden“ äußeren Strukturen und sich auflösenden psychischen Strukturen. Wir werden Zeugen einer umfassenden Desintegration, die sowohl gesellschaftliche, als auch psychische Strukturen erfasst. Auf diese Desynchronisation von Selbst- und Fremdzwang reagiert Herrschaft in der Regel mit Gewalt – mit einer Militarisierung der inneren Sicherheit. Neuerdings werden die nachlassenden Loyalitäten der Bürger durch digitale Kontrolltechniken ersetzt. Wo kein funktionierendes Über-Ich mehr ist, werden Kameras installiert, die Regelverletzungen und Gesetzesverstöße registrieren und dokumentieren. Ob das ohne den „inneren Gerichtshof“ des Gewissens funktionieren und eine Gesellschaft auf Dauer zusammenhalten kann, ist allerdings fraglich.

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„Auf Mitleid durfte man hier nicht hoffen, sogar das Grüßen ist abgeschafft.“

(Franz Kafka. Amerika)

Wer sich heute in seinem Handeln noch an Normen und Werten orientiert, droht zu einem „Idioten der Ehrlichkeit“ zu werden, wie Wilhelm Genazino das vor vielen Jahren in seinem Roman „Fremde Kämpfe“ bereits treffend formulierte. Deutlich besser fahren jene Leute, die die Erfüllung von Normforderungen auf jenes Minimum reduzieren, das gerade noch vor strafrechtlicher Verfolgung schützt und jede Möglichkeit der geschickten Bereicherung für sich zu nutzen verstehen. Ich kann das täglich vor unserer Haustür beobachten. Um dort parken zu dürfen, muss man eine Parkerlaubnis erwerben, entweder in Form eines Anwohner-Parkausweises, den die Stadt gegen die Entrichtung einer entsprechenden Gebühr jeweils für ein Jahr ausstellt, oder eines Parkscheins, den man aus einem Automaten ziehen kann, nachdem man einen gewissen Geldbetrag eingeworfen hat. Die Einhaltung dieser Regeln wurde bis vor einiger Zeit von der sogenannten Ordnungspolizei überwacht, die regelmäßig durch die innerstädtischen Straßen patrouillierte und Parksünder mit einem Knöllchen versah. Offenbar hat die Stadt keine Geld mehr für diese Polizeikräfte, und man hat infolgedessen die regelmäßigen Kontrollgänge eingestellt. Nun sollte man Regeln und gesetzliche Vorschriften auch dann befolgen, wenn deren Einhaltung nicht auf Schritt und Tritt kontrolliert wird. Man kann nicht hinter jeden Bürger einen Polizisten stellen, sondern muss sich darauf verlassen können, dass Gesetze und Regeln auch dann befolgen, wenn keine äußere Kontrollinstanz in Sicht ist. Das nannte man früher in Anlehnung an Kant moralisches Handeln. Nach Kant sollte man sich stetig fragen, ob ich wollen kann, dass alle so handeln wie ich jetzt. Die Anforderungen des Sittengesetzes nannte Kant „kategorischen Imperativ“. Es heißt Imperativ, weil es die Form eines Befehls hat, und es heißt kategorisch, weil dieser Befehl nicht etwa nur unter bestimmten Bedingungen, sondern unbedingt und ohne Ausnahme gilt. Kant hätte sich eine Erosion der Moral und des Sittengesetzes nicht vorstellen können und wollen. Es war für ihn das Gesetz der Vernunft selbst und stand außer Frage. Wenn die Menschen in ihrem Alltagshandeln mit dem Sittengesetz wenig anfangen können, ist es nicht das Sittengesetz, sondern das Verhalten der Menschen, das es zu ändern gilt.

Die Menschen besitzen ohne Zweifel die Fähigkeit, vernünftig zu werden und zu handeln, aber sie müssen Bedingungen vorfinden, die es ihnen ermöglichen, vernünftig zu werden. Kinder brauchen Erwachsene, die es ihnen vorleben und an deren Beispiel sie soziales Verhalten lernen können. Und sie können diese in Kindheit und Jugend erworbene Fähigkeit auch wieder verlernen, wenn deise von außen keine hinreichende Stützung erfährt. Und genau das geschieht unter unseren Augen. Ich kann von meinem Balkon aus verfolgen, wie die Zahlungsmoral verfällt, seit die Stadt die Entrichtung der Parkgebühren nicht mehr kontrolliert und Verstöße nicht ahndet. Nur Leute vom Land, die sich in der Stadt nicht auskennen, oder eben „Idioten der Ehrlichkeit“ lösen noch einen Parkschein. Die meisten parken, ohne Geld dafür zu entrichten, und tun das oft wochen- oder monatelang. So verbreiten sich unsoziales Verhalten und Unmoral. Normen, deren Einhaltung nicht kontrolliert wird und die von außen keine Stützung erfahren, erodieren und lösen sich auf. Das gilt leider nicht nur für das vergleichsweise harmlose Beispiel der Parkgebühren in meiner Straße, sondern für das soziale Verhalten insgesamt. Wenn mir auf meinen Streifzügen durch die sogenannte Wirklichkeit Eltern mit Kindern begegnen, frage ich mich immer öfter: Was sollen diese Eltern ihren Kindern beibringen? Eltern, die zwar räumlich mit ihren Kindern zusammen sind, aber permanent ihr Smartphone in der Hand halten, dem ihre ganze Aufmerksamkeit gilt. Kleinfamilien als bloße Whatsapp-Gruppen. Konsum ist nihilistisch und bringt keine Ideen hervor. Was sollen solche Eltern ihren Kindern vermitteln? Wie soll der kulturelle Transfer funktionieren? Wie sollen solche Leute ihrem Nachwuchs Recht, Moral, Anstand, Rücksichtnahme und Respekt vor den Anderen beibringen? Kein Wunder, dass viele junge Leute nicht mehr wissen, was „sich gehört“ und nur noch tun, „was sie wollen“ und „was Spaß bringt“.

Es scheint eine soziologische Gesetzmäßigkeit zu geben, die man vielleicht so formulieren kann: Zerfallsprozesse werden, wenn sie einmal begonnen haben und man ihnen nicht rechtzeitig und energisch Einhalt gebietet, irgendwann unumkehrbar. Sie fressen sich durch alle Schichten des Gesellschaftsbaus hindurch und führen schließlich zum Untergang einer bestimmten Gesellschaftsformation. Wir wissen vom großen Historiker Theodor Mommsen, dass nach dem Untergang Roms Jahrzehnte vergingen, bis die Römer begriffen, dass sie untergegangen waren. Uns scheint es heute nicht anders zu ergehen. Wir gehen unter und begreifen es nicht.

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Seit der Vorstellung der Kriminalstatistik für das Jahr 2023 ist landauf-landab wieder einmal von „kriminellen Ausländern“ und „kriminellen Jugendlichen“, gern auch in der Kombination von „kriminellen ausländischen Jugendlichen“ die Rede. Die Statistik hat einen recht deutlichen Anstieg der Ausländer- (plus 13,5 %), Jugend- (plus 5,5) und Gewaltkriminalität (plus 8,6) ergeben. Mich haben diese Zahlen nicht überrascht, sie decken sich mit meiner Wahrnehmung und meiner sicher lücken- und laienhaften Empirie. Erst gestern Nachmittag erlebte ich einen Polizeieinsatz in der Fußgängerzone gegen Ladendiebe, die ihrer Festnahme hartnäckigen Widerstand entgegensetzten und erst von einem massiven Polizeiaufgebot überwältigt werden konnten. Es ging dabei recht lautstark zu. Werfen wir einen nüchternen soziologischen Blick auf die Zahlen und das, was sie – wie lückenhaft auch immer – abbilden. Kriminell wird man nicht, weil man einen Migrationshintergrund aufweist, sondern viele vor allem junge Migranten in eine soziale Lage geraten, die die Entstehung von Kriminalität begünstigt. Sentimentalität ist im Umgang mit Straftätern und Kriminalität schädlich und versperrt den Zugang zu möglichen Lösungsstrategien. Sie nutzt weder den Straftätern noch der Gesellschaft, die auf sie reagieren muss. Wir müssen uns also fragen: Wie ist die Lage der Migranten? Welche kriminogenen (das heißt die Entstehung von Kriminalität begünstigenden) Faktoren bringt sie mit sich? Speziell: Wie ist die Lage zugewanderter junger Männer? Was an ihrer Lage begünstigt die Begehung von Straftaten? Ich nenne nur ein paar Stichworte: Viele junge Migranten leben im Zustand einer permanenten Frustration: Sie werden tagein-tagaus mit Bildern des Luxus vollgestopft und gleichzeitig verfügen sie nicht über die Mittel, um die Gegenstände auf legalem Weg erwerben zu können. Sie sehen all die Dinge, die sie gern besäße, aber sie sind durch Schaufensterglas von ihnen getrennt und finanziell weit außerhalb ihrer Möglichkeiten. Deutschland erscheint als ein Land, in dem es alles gibt, aber nicht für sie und Ihresgleichen. Und schließlich sollten wir fragen: Was kann die aufnehmende Gesellschaft tun, um diese Risiken zu verringern? Wie könnte ein vernünftiger Weg zwischen der Scylla der Bagatellisierung und der Charybdis der Panikmache aussehen? Vor allem dürfen wir die mit der Migration verbundenen Kriminalitätsrisiken nicht ignorieren, weil dieses Ausblenden von der politischen Rechten gnadenlos ausgeschlachtet wird. Die jungen Migranten sind oft ohne feste Bindungen, üben keine berufliche oder auch nur regelmäßige Tätigkeit aus und leben in Quartieren, wie sie mit Menschen zusammen kommen, die der Begehung von Straftaten indifferent oder gar wohlwollend gegenüberstehen. Frauen sind in ihren Umfeldern eher selten, auch ihre häufig versittlichende Wirkung auf junge Männer entfällt also. All das begünstigt Kriminalität. Das beste Antidot wären Bindungen und eine Einbindung in die Gesellschaft. Beides lässt sich nicht verordnen und ist schwer zu machen. Wohl oder übel werden wir trotz der martialischen Rhetorik von Innenministerin Faeser: „Wer sich nicht an die Regeln hält, muss gehen!“, mit weiter steigenden Zahlen im Bereich von Kriminalität leben müssen und auch mit denen, die sie verüben. Wenn Tausende junger Männer ins Land kommen, die in der angedeuteten sozialen Lage sind, steigt die Kriminalität. Alles andere wäre ein Wunder. Der herrschenden Politik fällt wie üblich nichts anderes ein, als die Ursachen für solche Entwicklungen bestehen zu lassen und ihre Folgen repressiv zu bekämpfen.

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Imre Kertész schreibt in seinem Buch „Der Betrachter – Aufzeichnungen 1991 – 2001“ über seinen Landsmann Sándor Márai, der sich irgendwann eine Pistole kaufte und schließlich auch von ihr Gebrauch machte: „Das pure physische Grauen: Der Ekel vor den modernen Todesfabriken, die am Ende des Lebens auf den Menschen warten, gibt ihm die Kraft zu einer würdigeren Selbstvernichtung.“ Ich kann eine bereits vor Jahren ausgesprochene Empfehlung nur wiederholen: Lest die Tagebücher Sándor Márais von 1984 bis zu seinem Suizid 1989, die im Piper-Verlag zu einem erschwinglichen Preis erhältlich sind. Imre Kertész war sich nicht sicher, ob er den Weg von Márai einschlagen würde und formulierte im Anschluss an das obige Zitat etwas vage: „Die Frage – meine Frage ist, ja, ob ich wohl einst … usw. Ihm mit Demut entgegentreten oder mit Demut erwarten? Usw.“

Imre Kertész starb am 31. März 2016 in Budapest.

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„Welch eine Qual, sich die Fingernägel der rechten Hand zu schneiden!“

(Anton Tschechow)

Gestern wurde ich wieder einmal über die Hinfälligkeit meines Körpers belehrt. Ich wollte bei U einen am Boden liegenden Kippschalter betätigen, ging in die Knie, verlor das Gleichgewicht und kippte nach vorn um. Das wäre nicht weiter schlimm gewesen, wenn ich dabei nicht mit dem Kopf gegen die Rippe eines Heizkörpers gestoßen wäre. Als ich mich wieder aufrichtete und meinen Schädel betastete, merkte ich, dass ich blutete. Aus der Beule, die sich schnell bildete, trat ein wenig Blut aus. Ich setzte mich erschrocken aufs Sofa, presste ein Papiertaschentuch gegen die Stelle. Plötzlich musste ich weinen, wie ein Kind, das sich beim Herumtollen gestoßen hat. Ur weinte ich nicht, weil ich mir weh getan hatte, sondern aus Verzweiflung darüber, dass ich mehr und mehr die Kontrolle über meinen Körper verliere. U kam, nahm die Situation sensibel wahr und versuchte, mich zu trösten. Nach einer Weile gelang es ihr auch. „Du solltest mehr Gymnastik treiben“, sagte sie nach einer Weile des Mitgefühls und hatte völlig recht. Sie war gestern aus Istanbul zurückgekommen und fragte mich nach einem Buch von Orhan Pamuk, das „Museum der Unschuld“ heißt. Sie hatte dieses von Pamuk in der Nähe des Taksim-Platzes tatsächlich eingerichtete Museum besuchen wollen, aber es war wegen des Opferfestes geschlossen. Nun möchte sie wenigstens diesen Roman lesen, der von einer unglücklichen Liebe erzählt. Gegenstände, die in der Beziehung eine Rolle spielten, hat Pamuk in dem Museum gesammelt und ausgestellt.

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Eine wunderbare Reaktion auf Volker Wissings Drohung, er werde, um die Klimaziele seines Verkehrsministeriums nicht weiter ständig zu reißen, demnächst Fahrverbote an Wochenenden in Erwägung ziehen, wäre doch, wenn alle anderen sagten: „Prima Idee, da freuen wir uns drauf.“ Ich jedenfalls habe die autofreien Tage in den frühen 1970er Jahren noch in guter Erinnerung, als wir mit unserer Wohngemeinschaft vorn auf der ansonsten viel befahrenen Kreuzung Fußball gespielt haben. Wer noch einen Geruch von den besseren Möglichkeiten in der Nase hat, die damals aufblitzten, den werden die Drohungen Wissings nicht schrecken. Umso betrüblicher sind die empörten Reaktionen, die nun landauf-landab zu hören sind. Sogar von den Grünen, die sich offenbar jedes utopische Vermögen ausgetrieben haben und sich eine Welt ohne Automobile nicht mehr vorstellen können.

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Am Samstag, dem 13. April 2024, hat sich im Australischen Sydney ein klassischer Amoklauf ereignet, also mit einem Messer als Waffe. Ein Man stach in einem Einkaufszentrum auf Kunden ein und tötete sechs Menschen. Dann wurde er, nachdem er der Aufforderung, das Messer niederzulegen, nicht Folge geleistet hatte, von einer Polizistin angeschossen. Wenig später erlag der Mann seinen Verletzungen. Identität und Motiv des Mannes liegen noch im Dunkeln. Die Behörden schließen beim derzeitigen Erkenntnisstand einen politischen und/oder terroristischen Hintergrund aus. Mit Messern ausgeführte Attentate haben seit einiger Zeit Konjunktur. Ich habe mich im Jahr 2021 auf der Online-Plattform „Telepolis“ unter der Überschrift „Amok oder Terror?“ auch zum Thema Messerattacken geäußert. Dort schrieb ich unter anderem:

„In gewisser Weise kommt der Amok in jüngster Zeit auf seine Ursprünge zurück, die im südostasiatischen Raum liegen. Dort besaß der Amoklauf den Status eines kulturellen Musters, einer Ventilsitte, wie man es in der Ethnologie nennt. Ventilsitten fungieren als sozialpsychologische Schleusen, durch die Gesellschaften den Spannungs- und Panikpegel des Gesellschaftskörpers und ihrer Mitglieder regulieren. Wer einen nicht zu verkraftenden Gesichtsverlust, eine außerordentliche Kränkung, ein schweres Trauma erlitten hat, dem stellte zum Beispiel die malaiische Kultur den Ausweg zur Verfügung, nach einer Phase des sozialen Rückzugs und ‚Brütens‘ mit dem Ruf ‚Amok! Amok!‘ und ‚verdunkeltem Blick‘ auf die Straße zu stürzen und mit seinem Dolch auf jeden einzustechen, der seinen Weg kreuzt.“

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Heute saß ich inmitten blühender Fliederbüsche auf dem Alten Friedhof, fütterte die Eichhörnchen mit Nüssen und las in Eugen Ruges Buch „Pompeji“. Die Handlung des Roman ist in der Zeit rund um den Ausbruch des Vesuvs im Jahr 79 nach Christi Geburt angesiedelt, aber eigentlich geht es um Katastrophenstimmungen und Untergangsszenarien der Gegenwart. Aus dieser Spannung bezieht der Roman seinen eigenartigen Reiz. Gerade las ich von den Konflikten in einer vulkanologischen Gemeinschaft, die wegen des befürchteten Ausbruchs des Vesuvs am Meer eine neue Siedlung ins Leben rufen will. Man streitet sich über den Konsum von Fliegenpilz-Sud und den Plan, den allgemeinen Vegetarismus einzuführen und das Geld abzuschaffen.

Als nur noch eine Walnuss übrig war, gesellte sich ein Rotkehlchen zu mir, und ich teilte die letzte Nuss mit ihm. Ich freute mich außerordentlich über die Nähe des kleinen Vogels und das Vertrauen, das er mir entgegenbrachte. Auf dem Weg nach Hause brach ich am Straßenrand ein paar Fliederzweige, die ich U mitbrachte. Heute Abend fahren wir nach Lich, um im Kino Traumstern den Film „Morgen ist auch noch ein Tag“ von Paola Cortellesi anzuschauen, der an die Tradition des neorealistisches Kinos der Nachkriegszeit anknüpft und deswegen in Schwarz-Weiß gedreht ist. „Morgen ist auch noch ein Tag“ spielt im Mai des Jahres 1946, im Vorfeld der Wahlen und des Referendums über die Staatsform, das in Italien im Sommer abgehalten wurde. Wo die Zuschauer am Ende eine private Lösung von Delias Konflikten erwarten, verblüffen sie und der Film mit einer politisch-gesellschaftlichen Wendung, über die hier nur verraten werden soll, dass der Film mit einem starken Plädoyer für die Wahrnehmung des Wahlrechts endet.

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Statt darauf zu dringen, dass im Verkehrsbereich eine deutliche Minderung klimaschädlicher Emissionen erfolgt, ist man auf die Erpressung von Minister Wissing, Fahrverbote auszusprechen, eingegangen und hat kurzerhand das Klimaschutzgesetz geändert. Nun müssen die Klimaziele nicht mehr in jedem Sektor eingehalten werden, sondern Überschreitungen in einem Sektor können durch andere ausgeglichen werden, die die Vorgaben erfüllen. Es soll nur noch die Gesamtbilanz zählen, und die fällt wegen der schwächelnden Konjunktur eher positiv aus. Das wird als Freibrief verstanden, alles beim Alten belassen zu können. So kann das nichts werden mit einem wirksamen Klimaschutz. Wie war das bei Kant: Wenn die Menschen in ihrem alltäglichen Handeln die Vorgaben des Sittengesetzes ignorieren, spricht das gegen das, was sie tun, nicht gegen das, was gemäß des Gesetzes geschehen sollte! Es ist keinesfalls das Gesetz, das es zu ändern gilt, sofern es vernunftgemäß ist. Und das trifft im Falle der Klimaschutzvorgaben allemal zu. Das Klima-Abkommen von Paris, wonach die Erderwärmung auf unter zwei und möglichst auf 1,5 Grad begrenzt werden soll, ist nach seiner Ratifizierung durch den Bundestag gemäß Artikel 59 des Grundgesetzes unmittelbar geltendes Bundesrecht. Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Umstand in seinem Klimabeschluss vom März 2021 noch einmal nachdrücklich bekräftigt: „Das Abkommen ist verbindlich; dagegen zu verstoßen, ist verboten.“

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Auf Arte ist eine vierteilige Geschichte des Antisemitismus zu sehen, vom religiösen Antijudaismus bis zum rassistisch motivierten Antisemitismus der neueren Zeit. Eindringlich wird uns vor Augen geführt, dass Antisemitismus immer dann grassiert, wenn die Welt sich in einer Schieflage befindet und aus den Fugen geraten ist. Besonders gefährdet sind Gesellschaften, die sich in einer Krise befinden oder in eine Periode forcierten Wandels eingetreten sind, der die Menschen überfordert. In solchen Zeiten wächst das Sündenbock-Bedürfnis ins Unermessliche. Das Urbild des Sündenbocks ist und bleibt „der Jude“, der natürlich eine Erfindung der Antisemiten ist. Für diese Grundthese des Films liefert unsere Gegenwart traurige Beispiele. Die Arte-Mediathek bietet den Film bis August an. Man muss sich etwas Zeit nehmen, aber es ist Aufklärung im besten Sinne und lohnt sich allemal.

Erschreckend war für mich zu sehen, dass es auch Ende der 1920er Jahre in Deutschland Massendemonstrationen gegen den heraufziehenden Faschismus und den sich ausbreitenden Antisemitismus gegeben hat. Die Leute sind dann 1933 entweder umgefallen, haben den Machtantritt der Nazis begrüßt, oder ihm doch passiv beigewohnt und ihn über sich ergehen lassen. Hoffentlich wird später über die Massenproteste gegen Rechts von Anfang des Jahres 2024 nicht ähnlich berichtet werden müssen. Wenn es hart auf hart kommt, droht auch der zeitgenössische modische und „hilflose Antifaschismus“ (W. F. Haug) in sich zusammenzufallen. Er wird keiner ernsthaften Belastungsprobe standhalten, auch weil er sich über die Ursachen des Faschismus nicht im Klaren ist.