93 | Grüne Sündenböcke

„Diese paranoide Realitätsverkennung bringt in der Tat eine rasche Spannungsentlastung. Was bisher ungreifbar und in einem selbst war, ist nun greifbar, sichtbar und draußen in der Welt. Indes ist mit solcher Entlastung immer Realitätsverkennung verknüpft.“

(Alexander Mitscherlich)

Es ist niederschmetternd zu sehen, wie die Neue Rechte sich linke Traditionen aneignet. Volker Weiß hat in seinem Buch „Die autoritäre Revolte“ bereits darauf hingewiesen, dass sie keine Hemmungen und Berührungsängste kennt und sich längst nicht mehr mehr nur aus dem Fundus der bekannten rechten Literatur bedient. Auch Antonio Gramsci, der von den italienischen Faschisten von 1929 bis 1935 eingekerkert wurde, wird in Dienst genommen und ausgeschlachtet. Er war neben Georg Lukács und Karl Korsch wohl der bedeutendste marxistische Denker der Zwischenkriegszeit und hat maßgeblich dazu beigetragen, den Marxismus aus seiner stalinistischen Erstarrung zu befreien. Der von dem Treffen im Landhaus Adlon bekannte Martin Sellner ist ein Verfechter einer von Gramsci beeinflussten Strategie der Eroberung der „kulturellen Hegemonie“. Gramsci war davon überzeugt: Die Macht erobere man vor allem durch Ideen, längst komme sie nicht mehr (nur) aus Gewehrläufen. Nur auf den ersten Blick habe sie ihren Sitz in den politischen Institutionen, sie habe sich verzweigt und sei molekular geworden. Sie habe von unseren Wünschen und Bedürfnissen Besitz ergriffen, sei bis in die Denk-, Gefühls- und Handlungsgewohnheiten vorgedrungen. Infolgedessen müsse eine revolutionäre Strategie auch diese Dimension umfassen und auch die Zivilgesellschaft und das Alltagsleben umkrempeln. Diese ließen sich nicht mit den herkömmlichen Methoden erobern, sondern verlangten ein verändertes Vorgehen. Kleine Subversionen im Alltagsleben, Veränderungen im Mikrobereich, auf der Ebene der Bedürfnisse und der Sprache. Das hat die Neue Rechte im Unterschied zur Linken begriffen. „Wir sind alle rechte Gramscianer bis zu einem gewissen Grad, in unserer Konzeption von Macht“, sagt Sellner. Die Rechte strebt die Vorherrschaft auf dem Gebiet der „Diskurse“ und „Narrative“ an und möchte das Feld des Denk- und Sagbaren abstecken und kontrollieren, während Linke insgeheim noch immer davon träumen, Telegraphenämter und Bahnhöfe zu besetzen und Regierungspaläste von Panzerkreuzern aus zu beschießen. Wie sagte Herbert Marcuse schon vor fünfzig Jahren: „Eine Theorie, welche die Praxis des Kapitalismus nicht eingeholt hat, kann schwerlich eine Praxis anleiten, die darauf abzielt, den Kapitalismus aufzuheben.“

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Bei der Siegesparade der Kansas City Chiefs nach der Heimkehr vom Super Bowl kam es zu einer Schießerei, bei der eine Frau getötet wurde und mehr als 20 weitere Menschen verletzt wurden, darunter mehrere Kinder. Es war bereits der 48. Amoklauf im noch jungen Jahr 2024. Man wundert sich nicht mehr, wenn man so eine Nachricht hört. Unnötig zu sagen, dass über die Motive des Täters nichts bekannt ist. Vielleicht war er Anhänger der anderen Mannschaft. Das wäre wenigstens der Ansatz einer Erklärung. Vielleicht verschafft uns das neue Buch von Paul Auster ein wenig Zugang zu dem waffenstarrenden Wahnsinn, der die USA im Griff hat. Es ist dieser Tage im Rowohlt-Verlag auf Deutsch erschienen und heißt „Bloodbath Nation“. Es ist ein knapp 100 Seiten langer Essay über die Geschichte des Waffentragens in den USA dessen Folgen für Kultur und Gesellschaft. Ich habe es noch nicht lesen können und werde nach meiner Lektüre darauf zurückkommen.

Ebenso wenig wundert man sich über die Nachricht, dass die Grünen ihren politischen Aschermittwoch, der im baden-württembergischen Biberach stattfinden sollte, nach wütenden Protesten sogenannter Landwirte absagen mussten. Scheiben eines Begleitfahrzeugs von Özdemir gingen zu Bruch, es flogen Steine und mehrere Polizisten wurden verletzt. Grünenpolitiker auf diese Weise zu attackieren, gehört inzwischen zur ländlichen Folklore. Wie wir neulich gesehen haben, allerdings nicht nur im Süden Deutschlands, sondern auch in Schleswig Holstein. Demnächst wird Hubert Aiwanger seinen Landkreis in Niederbayern stolz „grünenfrei“ melden, und sich anschließend darüber wundern, dass andere Menschen an dieser Formulierung Anstoß nehmen, wie an seinem antisemitischen Flugblatt aus der Schulzeit. Es geschieht etwas im Lande, es grummelt in den Eingeweiden des „Volkes“.

Die Grünen werden zum Sündenbock für alles erklärt, worüber sich die Leute aufregen. Politiker wie Söder, Aiwanger, Lindner und die AfDler beteiligen sich tatkräftig daran, die Grünen zum Abschuss freizugeben. Neben Cem Özdemir erwischte es am Aschermittwoch auch die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang, die auf dem Weg zu einer Veranstaltung bedrängt, beschimpft und beleidigt wurde. Es funktioniert nach einem klassischen Muster: Der Bote, der uns die schlechte Nachricht von den Folgen des Klimawandels überbringt, wird für die Botschaft verantwortlich gemacht und dafür bestraft. All die Umbauten und Veränderungen, die wir nun vorzunehmen haben, werden nicht etwa dem Raubbauverhältnis dieser Gesellschaft zur Natur angelastet, sondern den Grünen, die es thematisieren und seine Folgen bekämpfen wollen. Die Sache mit dem Sündenbock funktionierte wirklich, als noch religiöse Kraft dahinterstand. Man lud dem Ziegenbock die Sünden der Gemeinschaft auf, trieb ihn aus der Stadt hinaus und die Stadt war gereinigt. Geblieben ist davon in unseren nachreligiösen Zeiten nur der Hass auf den Teil der Gemeinschaft, dem die Schuld an irgendwelchen Missständen gegeben wird. Klassisch erfüllt „der Jude“ diese Funktion, heute bei uns „der Ausländer“. Alle Probleme werden sich in Luft auflösen, wenn die vielen Ausländer das Land verlassen haben. Die ins Kraut schießenden Deportationsphantasien der Rechten leben vom Phantasma der völkischen Reinheit und Homogenität. Angst, auch eingebildete, ist ein mächtiges politisches Werkzeug, und wem es gelingt, sie effizient zu bewirtschaften, ist dem gegenüber deutlich im Vorteil, der sich um sachliche Information und Aufklärung bemüht.

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Da hab ich mir etwas eingebrockt! Heute musste ich in die Arztpraxis, um mir ein mobiles EKG-Gerät auf die Brust kleben zu lassen. Dort bleibt es bis Morgen früh, und ich soll ein Protokoll über all meine Betätigungen führen, damit man später eine Erklärung für eventuelle Ausschläge finden kann. Für einen Ethnologen des Inlands wie mich sind solche Arztbesuche eigentlich Feldforschung und unersetzliche Empirie. Ein alter Mann setzte sich neben mich und begann ohne Umschweife auf mich einzureden „Gestern hab ich de Schorsch gesehe, und der sieht ganz erbärmlich aus. Es geht ihm richtig scheiße“, legte er los. Seine Frau sei vor Kurzem gestorben und er finde sich allein einfach nicht zurecht. Ich sah den Mann ein wenig erstaunt an, und irgendwann schnallte er, dass er mich mit jemandem verwechselte.  „Ei, du bist gar net de Karl? Ich dachte, du wärst de Karl“, stellte er verblüfft fest. Er entschuldigte sich für die Verwechslung, redete aber weiter ohne jede Distanz auf mich ein. Nun berichtete er von seiner Diabetes-Erkrankung und dass es ihm besser gehe, seit er eine Diät befolge und sich ein bisschen bewege. Außerdem sei er gerade wieder zum Vorsitzenden des örtlichen Schützenvereins gewählt worden. Das sei er jetzt schon seit fast zwanzig Jahren. In diesem Moment nahte eine Mitarbeiterin der Praxis und nahm mich mit in einen Behandlungsraum, um mir die Apparatur anzulegen. Als das Messgerät angeklebt worden war, musste ich auf dem Gang Platz nehmen, um auf ein Gespräch mit dem Arzt zu warten, der mir die Laborbefunde erläutern wollte. Alle Werte, die bei der Blutuntersuchung erhoben worden seien, seien bestens. Es gebe nichts zu beanstanden. Bei der Gelegenheit stellte er fest, dass die Tetanus-Impfung lange zurückliege und erneuert werden müsse. Ich machte meinen Arm frei und ließ die Impfung über mich ergehen. Morgen früh würde er das Resultat des Langzeit-EKGs mit mir besprechen und sich etwas mehr Zeit nehmen können. Ich möchte mit ihm über mein Joe-Biden-Schlurchen reden und fragen, ob dagegen irgendetwas zu machen ist. Bin gespannt, ob ihm da etwas einfällt. Mein Vater hätte zu Kneippschen Güssen und Wassertreten geraten. Wir hatten zu Hause, nicht weit von unserem Haus entfernt, eine solche Kneipp-Anlage, die mein Vater im Sommer abends oft aufsuchte und mich manchmal überredetet, ihn zu begleiten. Bei diesen Gelegenheiten brachte mir Vater manches bei, von dem ich heute noch zehre: Vogelstimmen, Pflanzen am Wegesrand, essbare Wildkräuter und dann vor allem Pilze.

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Obwohl ich Alexej Nawalny wegen der extrem nationalistischen und rechten Töne, die er zumindest in der Vergangenheit angeschlagen hat, als er beispielsweise gegen Einwanderer aus dem Kaukasus rassistisch agitierte, nicht sonderlich geschätzt habe und er mir letztlich immer fremd geblieben ist, hat mich die Nachricht von seinem Tod berührt. Ich ziehe den Hut vor dem Mut und der Konsequenz dieses Mannes, so selbstmörderisch mir sein Verhalten auch erscheint. „Ich habe kein Rückgrat zum Zerschlagen“, lässt Brecht Herrn Keuner antworten, als seine Schüler ihn nach seinem Rückgrat fragen, nachdem er sich der Gewalt gegenüber listig-larvierend und nicht protestantisch-gradlinig verhalten hatte. Etwas von Brechts Ruchlosigkeit und Listigkeit im Umgang mit der Gewalt hätte Nawalny und seiner Sache nicht geschadet. So aber hat er sich einen Anti-Putin verwandelt. Wenn man etwas verbissen bekämpft, läuft man Gefahr, sich ihm anzuähneln. Aber das sagt sich aus der Ferne so leicht. Und: Wer bin ich, dass ich mir anmaße, Herrn Nawalny Ratschläge zu erteilen. Und dann auch noch post mortem.

In Russland gingen an vielen Orten Menschen auf die Straße, um ihre Trauer auszudrücken. Der Staat reagierte wie üblich mit Repression: Mehr als 300 Menschen sollen festgenommen worden sein. Etwas anderes fällt den Machthabern nicht ein.

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Heute Morgen habe ich zum ersten Mal in diesem Jahr bewusst das Frühkonzert der Vögel wahrgenommen. Den Anfang machte ein Rotkehlchen, dann stimmten zwei Amseln mit ein. Spatzen und Meisen bildeten den Chor, der die Solisten begleitete. Das Gurren der Tauben und das Krächzen der Krähen ist ja das ganze Jahr über zu hören und gehören gewissermaßen zum städtischen Grundrauschen.

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In den letzten Tagen habe ich die Autobiographie von Aleksandar Tišma gelesen, die 2021 unter dem Titel „Erinnere dich ewig“ bei Schöffling & Co. erschienen ist. Ich habe Tišma auf Empfehlung meines Freundes Lothar Baier zu lesen begonnen, als „Das Buch Blam“ auf Deutsch erschienen war. Lothar hatte Tišma in Paris besucht und kennengelernt, wo dieser unter beengten und ärmlichen Verhältnissen bei seiner Cousine wohnte. Lothar war von den Texten und der bescheidenen Art Tišmas sehr beeindruckt. Sie waren beide Männer der eher leisen Töne und erkannten sich schnell als „Brüder im Geiste“. Die Übersetzungen von Tišmas Büchern in verschiedene europäische Sprachen verhalfen ihm zu einem Auskommen und befreiten sein Leben von den existenziellen Sorgen, von denen es zuvor geprägt war. Aleksandar Tišma starb im Jahr 2003 in seiner Heimatstadt Novi Sad, Lothar Baier setzte seinem Leben ein Jahr später in Montreal ein Ende. Beide sind inzwischen weitgehend in Vergessenheit geraten und hätten es verdient, wiederentdeckt und gelesen zu werden.

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Die kubanische Künstlerin Tania Bruguera wollte in Berlin gemeinsam mit anderen 100 Stunden am Stück aus Hannah Arendts Hauptwerk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ lesen. Mit dem Publikum wollte sie angesichts der heutigen Weltlage über Macht, Gewalt, Politik und Wahrheit diskutieren. Doch die Veranstaltung wurde von propalästinensischen Protesten und antisemitischen Hasstiraden gestört – bis die Künstlerin abbrach. Jetzt ermittelt die Polizei.

Ich muss sagen: Ich verstehe die Welt nicht mehr. Was ist da los, dass man die Lesung eines Textes unmöglich macht, den eine 1933 aus Deutschland emigrierte Jüdin nach dem Zweiten Weltkrieg und der Niederwerfung des Nationalsozialismus geschrieben hat? Es handelt sich um eine Analyse der Geschichte und Funktionsweise totalitärer Herrschaftsformen, die leider nichts an Aktualität eingebüßt hat. Die Sabotage der Lesung erfolgte ja offenkundig von Leuten, die sich als zur Linken gehörig begreifen. Wenn sich dort das Differenzierungsvermögen derart zurückbildet, ist das dramatisch und lässt nichts Gutes erwarten. Demnächst werden Lesungen von Texten von Heinrich Heine nicht zugelassen, weil man ihn für die Politik Israels in Gaza verantwortlich macht.

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Vor drei Wochen, als auch hier in Gießen nach den Correctiv-Enthüllungen Massen von Menschen gegen Rechts protestierten, hatte ich die Frage gestellt: „Was wird aus einem solchen Protest? Ist es ein einmaliges Ereignis, was bleibt davon? Lässt sich etwas davon verstetigen? Wie viele der Demonstranten vom Samstag werden in ein paar Wochen dabei sein, wenn sich die Morde von Hanau jähren? Zur Erinnerung: Am 19. Februar 2020 tötete dort ein 43-jähriger Rechtsradikaler und Rassist zehn Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund. Seitdem findet in Gießen am Jahrestag der Morde eine Demonstration statt – selten mit mehr als eintausend Teilnehmern.“

Die gestrige Demo zum vierten Jahrestag des Massakers von Hanau untertraf die Erwartungen der Veranstalter, wenn man so sagen darf, bei Weitem. Statt der erwarteten 5.000 Menschen versammelten sich rund 700 Menschen, also die Leute, die bei solchen Demos immer dabei sind. Dafür war sie politisch korrekter: Es war von „migrantisch gelesenen Menschen“ die Rede, und es wurde peinlich darauf geachtet, dass alles immer korrekt gegendert wurde. Es war eine universitär  geprägte Demonstration, was ihr sichtlich und hörbar nicht gut getan hat. Nachdem Leute aus der linken-propalästinensischen Szene auf einem Transparent Israel wegen seines Vorgehens im Gazastreifen mit dem Hanau-Attentäter verglichen hatten, zog der Vertreter der jüdischen Gemeinde seinen für die Abschlusskundgebung geplanten Redebeitrag zurück, und die Veranstaltung endete mit einem Eklat.

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In den letzten Tagen habe ich in ARD und ZDF zwei beeindruckende Dokumentarfilme aus der Ukraine und über den von Russland entfesselten Krieg gesehen. „20 Tage in Mariopol“ zeigt den Überlebenskampf der Menschen in dieser belagerten Stadt und vor allem das Leid der Zivilbevölkerung, die gezwungen ist, unter permanentem Beschuss zu leben. Der zweite Film „White Angel – Das Ende von Marinka“ zeigt den Alltag von Rettungssanitätern in der Ostukraine, die rund um die Uhr damit beschäftigt sind, Menschen aus zerstörten Häusern zu retten und zu evakuieren. Beide Filme haben mir den Krieg in seiner ganzen Scheußlichkeit und Brutalität vor Augen geführt und ihn gleichsam aus der Abstraktion der nüchternen Berichterstattung gerissen. Er ist mir unter die Haut getrieben worden. Zu sehen, wie Menschen sich an die letzten Reste ihres bisherigen Lebens klammern und sich gleichwohl davon losreißen müssen, hat mich sehr erschüttert und mir manchmal Tränen in die Augen getrieben.

Als man den russischen Außenminister Lawrow auf die Bilder einer bombardierten Geburtsklinik in  Mariopol ansprach, erwiderte er lakonisch, es handele sich um gestellte Bilder, auf denen man gekaufte Schauspieler zu sehen bekäme. Was für ein Schurke und verlogener Zyniker!

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Nun ist es amtlich, oder zumindest halbamtlich: Ich leide, wie ich bereits vermutet hatte, unter „Polyneuropathie“. Mein neuer Hausarzt hat sich heute Zeit genommen und meine Beine und Füße einigen Tests unterzogen. Halbamtlich deswegen, weil er möchte, dass ich einen Neurologen aufsuche, um den Befund zu bestätigen. Was man dagegen tun kann? Man kann so dies und das probieren, zum Beispiel soll ich meine Füße in warmen Linsen baden. Das allein sagt schon alles. Man kann den Verlauf möglicherweise durch solche Mätzchen ein bisschen verlangsamen, stoppen kann man ihn nicht – und heilen schon gar nicht. Aber wenn das Fortschreiten ein wenig verlangsamt werden könnte, wäre ja schon etwas gewonnen.

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An einem Wuppertaler Gymnasium hat ein 17-jähriger Schüler am Donnerstag, dem 22. Februar 2024, auf Mitschüler mit mehreren Stichwaffen eingestochen und fünf von ihnen verletzt, zwei davon schwer. Er wurde von einem Lehrer überwältigt, nachdem er sich selbst mehrere Stiche in die Brust versetzt hatte. Das Motiv der Tat ist unklar. Der Täter soll sich in einer psychischen Krise befunden haben. Die Polizei stuft das Geschehen als Amoktat ein. In den nächsten Tagen soll die Schule mit Psychologen geflutet werden, die das Geschehen mit den Schülerinnen und Schülern aufarbeiten sollen. Die Tat wird voraussichtlich in die Rubrik „Psychisch gestörte Einzeltäter“ eingeordnet werden.

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„Es fällt mir schwer zu beurteilen, welchen Sinn mein Schreiben hat. Wahrscheinlich nur denselben, den das zwangsläufige Knabbern einer Maus hat, um ihre Zähne abzuwetzen.“

(Georgi Demidow)

Als ich Georgi Demidows Bericht über seine Einlieferung in ein sowjetisches Gefängnis im Jahr 1937 zu lesen begann, konnte ich noch nicht ahnen, welche Aktualität diese Lektüre durch den Tod Alexei Nawalnys bekommen würde. Die Verhältnisse, die die Hauptfigur in Demidows Roman in der stalinistischen Sowjetunion antraf, scheinen im Kern unverändert geblieben zu sein. Irina Rastorgueva schreibt in ihrem Nachwort: „Heute regieren die Nachfahren der Henker das Land, und die Grundsätze  des Strafsystems im heutigen Russland unterscheiden sich nicht wesentlich von denen der Sowjetunion – Verhaftungen aus weit hergeholten Gründen, nächtliche Durchsuchungen, überfüllte und stickige Haftzellen, Folter, unfaire Verfahren ohne das Widerspiel von Anklage und Verteidigung und Verurteilungen ohne Rücksicht auf die Unschuld der Verurteilten.“ Und auch der Krieg, mit dem Russland seit zwei Jahren die Ukraine überzieht, hat seine Ursachen in derselben Geschichte. Nach der Lektüre von Demidows Buch begreift man besser, worum es im Kampf der Ukrainer letztlich geht und was auf dem Spiel steht .

Jemand musste Belokrinitskij denunziert und verleumdet haben, „denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet“. Ähnlich wie Kafkas „Der Prozess“ beginnt auch der Roman „Fone Kwas oder Der Idiot“ von Georgi Demidow mit der Verhaftung des Ingenieurs Rafail Lwowitsch Belokrinitskij durch zwei Mirarbeiter des sowjetischen NKWD. Er wird in ein Auto gestoßen und in ein Gefängnis transportiert. Die Fenster der Zellen waren mit Eisenplatten abgedeckt, so dass der Insassen selbst der Blick auf den Himmel verwehrt war. Die Treppenaugen waren auf jeder Etage mit Netzen überspannt, um den Häftlingen noch den Sprung in den Tod zu verwehren. Mauerecken waren mit Filz beklebt, um zu verhindern, dass Gefangene sich die Schädel daran einrennen können. Die Zellen waren derart überbelegt, dass die Häftlinge „wie Sardinen in einer Blechdose gestapelt waren“ und sich im Schlaf nicht umdrehen konnten, ohne einander zu wecken. Neuankömmlinge bekamen den Platz neben oder auf dem Toilettenkübel zugewiesen und rückten dann im Laufe der Zeit näher ans Fenster heran, wo man wenigstens ein wenig Luft zum Atmen bekommen konnte. Nervös und angespannt warten die Häftlinge darauf, dass sie zum Verhör geholt werden, was oft nachts oder am frühen Morgen geschieht. Erfahrene Häftlinge versorgen die Neuankömmlinge mit nützlichen Tipps, wie man diese Verhöre überstehen und abkürzen kann. Auch Belokrinitskij erhält solche Beratung durch einen mit inhaftierten Staatsanwalt und einen Arzt, die es gut mit ihm meinen. Da niemand irgendwelche Straftaten begangen und wirkliche Schuld auf sich geladen hat, geht es darum, irgendwelche Geschichten zu erfinden, die die NKWD-Mitarbeiter zufrieden stellen. „Das Ziel der Verhöre ist nicht, die Wahrheit herauszufinden, sondern nur, vom Angeklagten ein volles Geständnis der ihm auferlegten Schuld zu erhalten.“ Auf dem Weg dorthin werden Folter, Schläge und Schlafentzug eingesetzt. Die Geständnisse führen zum Abtransport in ein Straflager, das aus der Perspektive der überfüllten Zelle als „das gelobte Land“ erscheint, oder in den Keller zur prompten Erschießung. 

Demidows Roman ist weitgehend autobiographisch und speist sich von den Erfahrungen, die er während seiner eigenen jahrelangen Lagerhaft machen musste. Seine Manuskripte wurden noch 1980 im Rahmen einer Haussuchung beschlagnahmt. Demidow starb 1987 in dem Bewusstsein, dass alles, was er je geschrieben hatte, vernichtet und auf immer verloren sei. Seiner Tochter gelang es nach 1989,  seine Manuskripte zurück zu bekommen. 1990 wurde Demidow zum ersten Mal veröffentlicht. Mit „Fone Kwas oder Der Idiot“ ist bei Galiani nun endlich auch ein erstes Buch von ihm auf Deutsch erschienen – in der famosen Übersetzung von Irina Rastorgueva und Thomas Martin. „Fone Kwas“ ist übrigens jiddisch und heißt soviel wie: Einfaltspinsel oder Idiot.

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Heute vor 125 Jahren wurde Erich Kästner in Dresden geboren. Seitdem ich seinen Roman „Fabian“ gelesen habe – später dann auch nochmal in der Neuausgabe unter dem Titel: „Der Gang vor die Hunde“ – verehre ich ihn sehr. Vorher dachte ich ein wenig dünkelhaft: „Der Kästner ist ein harmloser Kinderbuch-Autor“. Mit seiner Entscheidung, während der NS-Zeit nicht zu emigrieren, sondern in Deutschland zu bleiben, hat er gewiss nicht den einfacheren Weg gewählt, sondern einen voller Widersprüche und mit ständigen äußeren und inneren Konflikten. Seinen Hinweis darauf, dass man drohende Diktaturen zeitig bekämpfen muss und nicht warten darf, bis aus einem rollenden Schneeball eine Lawine geworden ist und sie fest im Sattel sitzen, habe ich in den letzten Monaten so oft zitiert, dass ich mir das hier und heute verkneife. Aber eigentlich kann man diesen Hinweis gar nicht oft genug wiederholen. Wer ihn nochmal lesen möchte, findet ihn eingangs von Teil 90 der DHP.

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Heute, am 24. Februar, vor zwei Jahren marschierte Russland in der Ukraine ein und begann ein schreckliches Morden und Zerstörungswerk. „Wenn man versteht, dass Putins Krieg mit der Ukraine nur das Präludium für eine Umorganisation der ganzen Welt ist, dann sollte man sich lieber nicht entspannt zurücklehnen“, mahnt der große russische Schriftsteller Viktor Jerofejew den mehr und mehr ermüdenden Westen.  Jerofejews Mahnungen sollte man nicht leichtfertig abtun. Er hatte schon im Jahr 2015, kurz nach der Okkupation der Krim, gesagt: „Das Interesse Putins wird sein, eine positive Entwicklung zu verhindern – er wird die Ukraine nicht in Ruhe lassen.“

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Vor ein paar Tagen sah und hörte ich die erste Kranich-Formation gen Norden ziehen. Ihre schrillen Schreie durchdrangen für Momente den städtischen Lärm, und die Blicke etlicher Passanten wandten sich dem Himmel zu. Wer die V-Formation der Vögel ausgemacht hatte, verharrte ein paar Momente und träumte sich dem Frühling entgegen.

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Im gestrigen Polizeiruf 110 aus Rostock mit dem Titel „Diebe“ hatte Christian Lindner eine tragende und auf ihn zugeschnittene Nebenrolle. Er spielte den smarten und betrügerischen Finanzberater Schopp. Die Ähnlichkeit mit Lindner war verblüffend, und ich bin mir sicher, dass der Regie das bei der Besetzung der Rolle bewusst war.

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Ein kleiner Junge geht an der Hand seines Vaters über den Seltersweg. Sie kommen an den Punks vorbei, die wie immer mit ihren Hunden, lauter Musik und Bierdosen auf dem Boden hocken. Der Kleine ist sichtlich irritiert und fragt: „Papa, was sind das für Leute?“ „Das sind Leute, die auf die schiefe Bahn gekommen sind“, erklärt der Vater ganz im Stile meine Vaters in den 1950er Jahren. „Was ist das: eine schiefe Bahn?“, fragt der Junge weiter. „Die haben in der Schule nicht aufgepasst und nicht auf ihre Eltern gehört. Deswegen finden sie keine Arbeit und betteln“, fährt der Vater mit seiner Moralisierung fort. Ob es ihm auf diesem Weg gelingt, dem Jungen eine plausible Welterklärung zu liefern und einen tragfähiges Über-Ich zu verpassen, wage ich zu bezweifeln. Der Junge wird sich bei Zeiten woanders seine Orientierung suchen müssen, die seines Vaters passt nicht mehr so richtig auf die heutigen Verhältnisse. Ein kleiner Junge schaut zu seinem Vater auf und nimmt dessen allzu schlichten Weltdeutungen für bare Münze. Eines Tages wird er zu zweifeln beginnen. Hoffentlich gerät er bei seiner späteren Suche nach komplexeren Antworten an vernünftige Ratgeber und nicht an populistische Rattenfänger.

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„Leider kann man sich nicht immer schlagen; von Zeit zu Zeit muss man schon Frieden schließen. Für die Friedenszeit hat die Gesellschaft in ihrer Weisheit, wenn ich so sagen darf, professionelle Böse geschaffen. Diese ‚bösen Menschen‘ sind für die guten Menschen ebenso notwendig, wie die Bordellmädchen für die anständigen Frauen: sie sind Fixationsabszesse; wie viele friedliche, abgeklärte, beruhigte Gewissen kommen auf einen einzigen Sadisten? Deshalb wird ihr Nachwuchs überwacht. Sie müssen wirklich böse von Geburt an sein und ohne Hoffnung auf Änderung. Daher wählt man vorzugsweise Menschen aus, mit denen die anständigen Mitglieder der Gemeinschaft keinerlei wechselseitige Beziehung unterhalten, damit diese Bösen nicht auf die Idee kommen können, es uns mit gleicher Münze heimzuzahlen und von uns zu denken, was wir von ihnen denken.“

(Jean-Paul Sartre. Saint Genet, Komödiant und Märtyrer)

Gut, dass es sie gibt: die Außenseiter, Grenzgänger und Regelverletzer. Gäbe es sie nicht, sie müssten erfunden werden. Sie dienen der Gesellschaft als Blitzableiter und Container für alle möglichen Bedrohtheits- und Unsicherheitsgefühle. Vor allem die Fremden und Verbrecher dienen uns als Sündenböcke, denen wir aufladen, was anderenfalls die Gesellschaft zu zerreißen drohte. Sie nehmen all die Schuld- und unterschwelligen Hassgefühle, die unterdrückte Wut der Angepassten auf sich und entsorgen sie in unterirdischen Kammern, wie es mit dem CO2 geschieht oder demnächst geschehen soll.

Das Sündenbockbedürfnis der „anständigen Leute“ ist nicht zu allen Zeiten gleich vehement. Wenn es ihnen leidlich gut geht und sie sich keine großen Sorgen um ihr tägliches Auskommen machen müssen, kommt es beinahe zur Ruhe. Sie benötigen dann keine Objekte, auf die sie ihre Malaise verschieben können. Ein gut ausgebauter und intakter Sozialstaat, der es nicht zulässt, dass Menschen aus der Gesellschaft herausfallen, ist die beste Vorsorge gegen Minderheitenhatz. Ganz verschwinden wird es indes nie, denn es ist keine Gesellschaft denkbar, die gänzlich ohne Verdrängung und Verzichtsleistungen auskommt. Überall dort, wo verdrängt werden muss, werden wir in in unterschiedlichsten Verdünnungen auch auf das Bedürfnis stoßen, andere für die auferlegten Versagungen verantwortlich zu machen und sich an ihnen schadlos zu halten. „Die da, die grenzen sich nicht so ein wie ich“, lautet das meist unausgesprochene Motto dieses Ressentiments. Wenn also das Suchen nach einem Sündenbock ein stets vorhandenes und nie gänzlich zu tilgendes Phänomen darstellt, gibt es doch gesellschaftlichen Umstände, die es gefährlich anwachsen lassen. Es sind dies Phasen der gesellschaftlichen Umbrüche, der wirtschaftlichen  Depression und sozialen Krisen. An der Schwelle zur vierten industriellen Revolution treten wir in eine solche umfassende Krise ein. Die erste basierte auf Eisen und Kohle, die zweite auf der Elektrizität und der Fließproduktion, die dritte auf der Computerisierung. Die jetzt einsetzende vierte industrielle Revolution besteht im Übergang zur automatisierten Produktion und dem Einsatz von Robotern. Sie umfasst nicht nur den Sektor der Produktion, sondern auch den Innenbau der Menschen. Diese werden genötigt, sich weitgehend zu flexibilisieren und eine immer nur provisorische und fragmentarische Identität auszubilden. Sie sollen keine festen Bindungen mehr eingehen, sondern sich auf mehr oder weniger nomadische Existenzweisen und ständig sich wandelnde Lebens- und Arbeitsbedingungen vorbereiten. Das fällt nicht allen Menschen leicht, viele wünschen sich alte Gewissheiten und stationäre Lebensverhältnisse zurück. Ihre Fähigkeit, Veränderungen verarbeiten zu können, ist erschöpft, sie wollen, dass sich endlich nichts mehr ändert und alles so bleibt wie es ist, oder sogar wieder so wird, wie es mal war. Das scheint der subjektive Nährboden für den rechten Populismus zu sein. Und für die Spaltung der Gesellschaft in Gruppen und Schichten, die für Veränderungen offen und bereit sind und von ihnen profitieren, und solche, die genug davon haben und durch die ökonomisch und sozial verlieren. Bei letzterer Gruppe ist das Bedürfnis nach Sündenböcken besonders virulent. Die Fremden und Migranten symbolisieren all das Fremde, was neu ist und ängstigt. Gegen sie sollen Grenzen hochgezogen und ihr Zuzug eingeschränkt werden. Die Grünen gelten als die politische Kraft, die den Wandel vorantreibt, deswegen konzentriert sich der Hass vieler auf sie. Seit Monaten werden ihre Repräsentanten überall, wo sie auftreten, ausgebuht, niedergebrüllt, beschimpft und beleidigt. Die Wut entlädt sich klassisch gegen den Boten, der die unangenehme Botschaft überbringt, in diesem Fall die von der Notwendigkeit des ökologischen Umbaus und des Verzichts auf manche liebgewordene Gewohnheit. Die Grünen sind der Sündenbock, auf den die kollektive Malaise verschoben werden kann. Er ist das beste Gefäß für alle möglichen Bedrohtheits- und Unsicherheitsgefühle und ein probates Mittel, dessen klassengespaltene Herrschaftskulturen sich zwecks systemkonformer Entschärfung von Konflikten bedienen. Das Sündenbockbedürfnis wird erst zur Ruhe kommen, wenn den Menschen durch die herrschenden Lebens- und Arbeitsverhältnisse weniger Bosheit eingepresst wird.

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Hab den heutigen Mittag an der Lahn verbracht. Ich saß am Ufer auf einer Bank und schaute auf den ruhig dahinfließenden Fluss. Das ließ mich selbst innerlich ruhig werden. Schwäne rauschten mit dem charakteristischen Singen ihres Flügelschlags heran und landeten auf dem Wasser. Nach und nach fanden sich zwölf bis fünfzehn Schwäne ein, die intensiv Körperpflege betrieben. Sie schlugen mit den Flügeln aufs Wasser und putzten mit den Schnäbeln ihr Gefieder. Bei den Jungschwänen war das Federkleid noch eher grau. Erst im Laufe des Jahres wird es ganz weiß werden. Zwischendurch gab es kleinere Scharmützel, in denen es, soweit ich das beurteilen konnte, um Revierkämpfe und um Paarungsrechte ging. Manchmal erhoben sich einzelne Tiere unter großen Mühen in die Luft, flogen ein paar hundert Meter den Fluss hinab und landeten dann dort. Ab und zu gaben einzelne Tiere ohne erkennbaren Anlass fast knurrende Geräusche von sich. Irgendwann wurde es mir zu kühl und ich ging weiter. Unterhalb von meiner sommerlichen Badestelle setzte ich auf einen Baumstamm und las ein paar Seiten in dem spannenden Buch von Eva Illouz, das „Undemokratische Emotionen“ heißt und in dem es um den rechten Populismus geht, der weltweit auf dem Vormarsch ist. Über weite Strecken bezieht sie sich auf Erfahrungen in Israel, wo sie zumindest phasenweise lebt. Gerade vor dem Hintergrund des Gaza-Konfliktes ist das Buch sehr aufschlussreich, das natürlich vorher geschrieben wurde. Am Rübsamensteg hatte ich mein Rad abgestellt, das ich nun bestieg, um nach Hause zu radeln.

So ungefähr war das heute mit mir. Mit Schrecken erlebe ich den Schwund meiner Bewegungsfähigkeit, der aber offenbar nicht aufzuhalten ist. Ich werde mir in den nächsten Tagen einen Neurologen suchen und mir einen Termin geben lassen, der, wenn ich Glück habe, noch in diesem Jahr zustande kommt. Meine eigenartige Erkrankung wird dann einen Namen bekommen, das ist wahrscheinlich alles. Keine rosigen Aussichten.

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Der russische Präsident hat in seiner gestrigen Rede zur Lage der Nation das Land aufgefordert, nicht nur die Produktion von Panzern und Granaten zu steigern, sondern sich auch bei der Erzeugung von Kindern, also neuer Soldaten und Arbeitskräfte, mehr ins Zeug zu legen. Das sind Töne, die uns Deutschen aus unserer Geschichte wohl vertraut sind. Im Wilhelminischen Deutschland war es üblich, dass eine Hebamme das neugeborene Kind an den Füßen hochhielt, ihm einen Schlag auf den Hintern verpasste und ausrief: „Es ist ein strammer Junge, er trägt schon den Tornister auf dem Rücken!“