„Das sah nicht nach Frieden aus, im Gegenteil, das war der gewöhnliche Krieg, den ich schon lange kannte.“
(Wilhelm Genazino)
Über Nacht habe ich eine Erkältung ausgebrütet. Gestern fing es mit leichten Halsschmerzen an, heute kam ein trockener Husten dazu. Jeder tiefere Atemzug mündet in einen Hustenanfall. Wenn man im Minutentakt husten muss, schmerzt das irgendwann. Nicht nur die Bronchien tun weh, sondern wegen der dauernden Erschütterungen auch der Kopf. Dagegen ist kein Kraut gewachsen. Erfahrungsgemäß dauert so ein Husten bei mir zwei/drei Tage und klingt dann ab. Vorhin habe ich einen Coronatest rausgekramt, scheiterte aber an seiner Anwendung. Das war mir alles zu kompliziert heute. Vielleicht hilft mir U heute Abend, die in der Schule viel Routine mit diesen Tests erworben hat und die Technik im Schlaf beherrscht, wie man so sagt. Eigentlich muss ich auch gar nicht wissen, ob ich Corona habe, aber im Sinne der Um- und Mitwelt sollte ich es in Erfahrung bringen. Auch die Mitarbeiterin der Zahnarztpraxis bat mich um eine Abklärung, bevor ich bei ihnen auftauche.
Ich hätte gern den Tag verschlafen, was aber wegen des hartnäckigen Baulärms, der von allen Seiten auf mich eindrang, nicht möglich war. Auch Ohrenstöpsel halfen da wenig. Also griff ich nach dem Genazino-Roman, der mich nach wie vor fesselt. Die Zeitung, für die er nebenberuflich schreibt, schickt ihn abends zu Terminen. Abgehalfterte Schlagersänger treten in Möbelhäusern auf und er muss bis zum nächsten Morgen einen Bericht darüber abliefern. „Ich musste hinnehmen, dass Dummheit für Dumme unterhaltsam war.“ Durch solche inneren Kommentare, die natürlich in der Zeitung nicht auftauchen, legt er eine Distanz zwischen sich und solche Veranstaltungen und verhinderte, dass die Armseligkeit dieser Veranstaltungen auch zur Armseligkeit seines eigenen Lebens wurde. Immer wieder fragt er sich: „Warum war ich von diesen Menschen so sehr getrennt? Die Massenbeglückung schlug sich bei mir als leise Beklemmung nieder.“ Den Lehrling und gelegentlichen Zeitungsschreiber beschleicht der Verdacht, dass ein Zusammenhang zwischen der Vergangenheit des Naziterrors und der seichten Massenunterhaltung der Gegenwart bestehen könnte. Die „Massenbeglückung“ dient der Verdrängung von Verbrechen und Schuld.
Nach der zweiten (oder dritten?) Lektüre des Genazino-Romans „Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“ möchte ich noch einmal betonen, was für ein wunderbares Buch das ist, eines der besten von vielen guten Genazino-Büchern. Birgit Vanderbeke hat in ihrer Laudatio zum Fallada-Preis für Wilhelm Genazino über dieses Buch gesagt: „Zu einem Roman kommt er in diesem aufregenden Buch nicht, und ob er zu einer Frau gekommen ist, darüber könnte man streiten. Jedenfalls aber kommt der Augenblick, an einen eigenen Raum, eine Wohnung, zu denken.“
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Gestern Abend habe ich so etwas wie einen Kollaps erlitten. Das endlose Husten hatte den Puls in große Höhen gerieben, ich hatte etwas Fieber und dann sah ich zu allem Überfluss auch noch Teile der neuen Staffel von Babylon Berlin. Ein Depp und Ignorant, wer die Parallelen zwischen dem Klima in der sich auflösenden Weimarer Republik und unserer Gegenwart nicht wahrnimmt. Nicht nur im Osten des Landes, sondern auch sonst überall wird das Klima rauer und es kommt vermehrt zu körperlichen Angriffen auf Linke und andere „Abweichler“. Die gewaltgesättigten Szenen des Films versetzten mich jedenfalls in einen Zustand kaum gemilderter Panik. An den Rändern meines Bewusstseins haben sich Szenen ab- und angelagert, die aus ganz unterschiedlichen Kontexten stammen, deren gemeinsamer Nenner Gewalt ist. Terror – das ist das, was Angst macht. Das einzig wirksame Gegenmittel ist die Solidarität der Gegenkräfte, und die kann ich zur Zeit in nennenswertem und vor allem wirksamem Umfang nicht wahrnehmen. Im Gegenteil: alles ist auf dem Rückzug und in der Defensive. Von einer Hegemonie linker oder auch nur fortschrittlicher Kräfte kann jedenfalls keine Rede sein.
Gestern Abend geriet ich jedenfalls ins Straucheln und rettete mich auf allen Vieren kriechend ins Bett. Heute Morgen war eine gewisse Normalisierung eingetreten und ich konnte mit dem Rad zum Bäcker fahren.
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Am Nachbarhaus klingeln täglich irgendwelche Paketboten. Heute sah ich einen von ihnen vergeblich klingeln. Ungeduldig trat er von einem Bein aufs andere. Schließlich trat er in seinem Frust mehrmals mit dem Fuß gegen die Tür. Die für eine Lieferung vorgesehene Sekundenfrist war wahrscheinlich längst abgelaufen. Und sieht da, magisch öffnete sich die Tür, und der Mann konnte sich seiner Fracht entledigen. Ken Loach hat den Paketboten mit „Sorry we missed you“ ein filmisches Denkmal gesetzt. Ich sah diesen Film unlängst noch einmal in der Glotze und begriff noch einmal, dass sie die Woyzecks unserer Tage sind.
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„Heute morgen habe ich die Milch in einem anderen Geschäft als dem üblichen gekauft und mich dann dabei ertappt, dass ich mit der Milch an dem üblichen Geschäft schneller vorbeigehen wollte.“
(Peter Handke)
Vor ein paar Tagen habe ich dem öffentlichen Bücherschrank ein Suhrkamp-Bändchen von Peter Handke entnommen. Es ist ein Theaterstück namens „Der Ritt über den Bodensee“, das 1971 in Berlin in der Inszenierung von Claus Peymann uraufgeführt wurde und im selben Jahr als Band 509 der Edition Suhrkamp erschienen ist. Es geht mir jetzt gar nicht um den Inhalt des Stückes, den ich längst vergessen oder nie gekannt habe. Es geht um die Gestaltung des grünen Bändchens. Über dem Titel hat nämlich jemand mit Filzstift geschrieben: „Das Essen ist Fertig.“ Es folgen zwölf Ausrufezeichen und als letztes ein Fragezeichen. Ich wunderte mich darüber, dass dieser Jemand das Wort „fertig“ groß geschrieben hatte. Dieser Fehler steht in einem Kontrast zur ästhetischen Um- und Fortgestaltung des Buchumschlags, die ich sehr gelungen finde. Die hat etwas und verunstaltet das Buch nicht, sondern fügt ihm etwas hinzu, macht aus dem Cover ein Kunstwerk. Denn die zugefügten Buchstaben sind sehr gekonnt auf dem Umschlag verteilt und angeordnet. Schlägt man das Buch auf, stößt man auf der leer gebliebenen ersten Seite, dem sogenannten Schmutztitel, auf eine handgeschriebene Widmung. Die hat es in sich und lautet: „Ich hab dich zitiert, du Wichser!“ Es folgt eine für mich leider nicht entzifferbare Unterschrift. Unten rechts auf derselben Seite steht in vergleichsweise winziger Schrift „Ninja“ oder „Nunja sts.“ Da die Widmung wahrscheinlich nicht eine für Peter Handke ist, wird es sich um einen anderen hoffnungsvollen Nachwuchsschriftsteller gehandelt haben, der hier dem Zeitgeist entsprechend liebevoll als „Wichser“ tituliert wird. Vor meinem inneren Auge entsteht das Bild einer siebziger Jahre-Wohngemeinschaft, in der unser hoffnungsvoller Nachwuchsschriftsteller und Wichser lebt. Er hat das Handke-Bändchen mit der liebevollen Widmung soeben geschenkt bekommen und hat es auf seinem Schreibtisch liegen gelassen. Er hat sich gerade von diesem erhoben, um nach draußen zu gehen und eine zu rauchen, obwohl man damals noch ungeniert drinnen rauchen durfte. Wie dem auch sei, jedenfalls trifft ihn die Mitbewohnerin nicht an und schreibt ihre Wut darüber, dass er die Verabredung zum Essen vergessen hat, auf den Umschlag des Handke-Bändchens. Vielleicht erblickt sie auch in seinen Büchern eine Konkurrenz. Die Bücher ziehen in ihren Augen zu viele libidinöse Energien auf sich und hindern ihn daran, sich voll und ganz auf sie einzulassen. Sie empfindet den Büchern gegenüber so etwas wie Eifersucht. Vielleicht denkt sie, dass er die Literatur als Trennungshebel benutzt. Jetzt sieht die das grüne Handke-Buch auf seinem Tisch liegen und verziert den Umschlag mit dem Hinweis auf das fertige Essen und zwölf Ausrufezeichen, um ihr Recht auf Anwesenheit und Aufmerksamkeit zu reklamieren. Vielleicht habe ich jetzt den Interpretationsbogen auch überspannt. Ich habe zuletzt eigene schmerzhafte Erinnerungen einfließen lassen. Aber das ist ja alles erlaubt beim Verfassen von Texten wir diesem.
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Beim heutigen Gang durch die Fußgängerzone fiel mir ein großes Polizeiaufgebot auf. Kurz darauf trat sein Anlass in Erscheinung: Nancy Faeser ging drei Tage vor der Hessenwahl auf die Jagd nach Stimmen, an denen es ihr in erheblichem Umfang mangelt. Sie trug einen beigen Übergangs- oder Staubmantel und ein buntes Halstuch, das ihre Blässe übertünchen sollte. Ihr fehlendes Charisma sprang dennoch ins Auge. Ihre Berufung ins Kabinett war ein Zugeständnis an den linken Flügel der Partei, dem man sie zurechnete. Das geht auf ihre Arbeit im NSU-Untersuchungsausschuss in Hessen zurück, in dem sie gute Aufklärungsarbeit geleistet haben soll. All das ist länger her und kann man sich heute kaum noch vorstellen. Ab und zu blitzt von ihrem Engagement nochmal etwas durch, wenn sie eine randständige rechtsradikale Gruppierung verbietet und medienwirksame Durchsuchungen vornehmen lässt. Hier gilt es allerdings anzumerken, was Adorno in einem Vortrag aus dem Jahr 1959 sagte: „Ich betrachte das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potentiell bedrohlicher denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie.“ Was soviel besagen soll, dass der damals und heute aktuelle Rechtsradikalismus nicht so sehr das Produkt von fortexistierenden alten und neuen faschistischen Kadern war und ist, sondern sich in erster Linie dem Umstand verdankte, dass die gesellschaftlichen Voraussetzungen des Faschismus fortbestanden und immer noch fortbestehen. Gegen diese gälte es vorzugehen. Und nicht nur irgendwelche verschrateten Reichsbürger festnehmen zu lassen.
Umgeben von ihrer SPD-Entourage schritt Frau Faeser letzten Freitag die Einkaufsmeile ab. Als ihr Blick auf mich fiel, lächelte sie und sagte freundlich „Guten Tag“. Ich grüßte zurück. Meine Hirnantilope sprang zu einer Begegnung mit ihr im Butzbacher Gefängnis. Sie war damals Mitglied des Unterausschusses Justizvollzug des Hessischen Landtags und besuchte in dieser Funktion ab zu die hessischen Strafanstalten. Bei einem kurzen Gespräch zwischen ihr und dem Psychologischen Dienst wurde ich ihr vorgestellt. Da das beinahe zwanzig Jahre her ist, wird sie sich sicher nicht an diese Begegnung erinnern. Ihr freundlicher Gruß galt einem potenziellen Wähler. Am Abend zuvor hatte sie in einer Nachrichtensendung über die große Zahl noch unentschiedener Wählerinnen und Wähler gesprochen, auf die ihre Hoffnung setze, am Sonntag doch noch mindestens den zweiten Platz zu erobern. Auch Tarek Al-Wazir, der grüne Spitzenkandidat, ist mir als grünes Mitglied des gleichen Landtagsausschusses in Butzbach begegnet. Er saß sogar mal in meinem Büro. In ihren Anfängen interessierten sich die Grünen für Gefangene und die Lebenswirklichkeit in den Gefängnissen. Das ist lang her, heute ist davon nichts mehr, oder kaum noch etwas zu spüren.
Am Samstag auf dem Wochenmarkt stand der junge Bouffier mit Daniel Günther, dem Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein, an einem dieser mobilen Kaffeestände. In der Endphase des Wahlkampfs wird von allen Seiten alles in die Schlacht geworfen, dabei ist die Sache ja längst entschieden. In der Fußgängerzone demonstrierten junge Leute im Verbund mit den „Omas gegen rechts“ lautstark gegen die AfD, und verschafften dieser so eine Aufmerksamkeit, die sie sonst nicht gehabt hätte. Besser wäre es, man folgte dem Rat Karl Valentins: „Am besten, gar net erst ignorieren!“ In Wirklichkeit weiß ich nicht, was das Richtige ist, das in dieser Situation zu tun ist. Auch in Hessen werden, sagen die Prognosen, die Rechtsradikalen mit rund 15/16 Prozent in den Landtag einziehen – vor Jahren noch unvorstellbar. Was ist da geschehen, dass im ehemals roten Hessen so etwas möglich geworden ist? Antworten findet man am ehesten bei Didier Eribon.
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Wir Hessen dürfen heute – am 8. Oktober 2023 – wählen. Ich glaube, ich war der erste Wähler in meinem Wahllokal, das in einer Schule hier im Stadtteil eingerichtet wurde. Jedenfalls wirkten die Helferinnen und Helfer noch ein wenig verschlafen und hielten sich an ihre Kaffeebechern fest. Aus Mitleid und weil ich nicht möchte, dass sie vollends in der Bedeutungslosigkeit verschwindet, habe ich noch einmal die Linke gewählt. Gestern Abend war ich auf dem Wahlkampfabschluss der Linken hier in Gießen und lauschte einer Rednerin, die, wie ich später bei Wikipedia erfuhr, mit ihrer Frau in Frankfurt lebt. Die Kommunisten sind glücklicherweise auch nicht mehr das, was sie mal waren. Vielleicht hat auch das mich bewogen, ihnen noch einmal meine Stimme zu geben. Es ist angenehm, so früh an Sonntagmorgen ein Wahllokal aufzusuchen. Die meisten Leute liegen noch im Bett, decken gerade den Frühstückstisch oder gehen zum Bäcker, während unsereiner bereits seine staatsbürgerlichen Pflichten erledigt. Was für ein Jammer es wäre, wenn man das Wählen digitalisieren würde. Der Gang ins Wahllokal ist ja so etwas wie das Hochamt der Demokratie. Und dafür sind leibliche Anwesenheit, eine Kabine und Papier und Stift erforderlich. Ich sage das trotz aller Kritik an den nicht eingelösten Versprechen und der mangelhaften Umsetzung dieser Regierungsform. Wahrhafte Demokratie wäre erst herzustellen und verlangte nach einer anderen Gesellschafts- und vor allem Wirtschaftsordnung. Und selbst das Rudiment der Demokratie steht heute aus verschiedenen Richtungen unter Beschuss, ist gefährdet und muss gegen die Demokratie-Verächter verteidigt werden.
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„Aus der Verkürzung des Gedankens, die ein Mittel bei der Erhaltung des Lebens ist, wird es zum Schlüssel, eingepresste Bosheit loszulassen.“
(Max Horkheimer: Über das Vorurteil, 1961)
Der Ausgang der Landtagswahlen in Bayern und Hessen lehrt einen das Fürchten. In Bayern kommen die Rechtsparteien zusammen auf beinahe siebzig Prozent der Stimmen, in Hessen landet die AfD mit gut 18 Prozent auf Platz zwei. Die SPD bringt es hier noch auf 15,5 Prozent, in einem Bundesland, in dem sie in den 1960er Jahren regelmäßig die absolute Mehrheit erzielte. Und wie siegessicher ist Frau Faeser in diesem Wahljahr an- und aufgetreten? Wie kann man als sozialdemokratische Politikerin von Rang die Realität nur so verzerrt und falsch wahrnehmen? Ein Mangel an Realitätssinn- bei gleichzeitiger tiefer Verbeugung vor ihr – war allerdings in der Sozialdemokratie immer schon endemisch. Auch in Hessen bringen es die rechten Parteien – und die hessische CDU ist seit Alfred Dreggers Zeiten eine dezidiert rechte Partei – auf über 50 Prozent. Die Linke ist in beiden Landtagen nicht vertreten. Deutschland rückt weiter nach rechts.
Es ist eine alte Erfahrung: Wenn in einem Wahlkampf die Themen Zuwanderung, Kriminalität und innere Sicherheit stark thematisiert werden, kommt das immer den rechten Parteien zugute. Das ist ihr Stammland, in dem sie mit stromlinienförmigen Zuspitzungen und simplen Thesen punkten können: „Wir müssen die Zuwanderung begrenzen und Ausländer, die ohne Asylberechtigung im Land sind, wieder rausschmeißen.“ Dagegen hat es echte Aufklärung schwer, weil sie weiter ausholen muss und komplexe Zusammenhänge darstellen muss. Die politische Linke darf das „schwelend Unbewusste“ (Adorno) und die im Volk umgehenden Vorurteile nicht einfach in Dienst nehmen, wie es der rechte Populismus tut, sondern muss den steinigen Acker der Vorurteile bestellen. Sie hätte unbewusste Triebregungen, Konflikte, Neigungen und Tendenzen ins Bewusstsein zu heben und über sich aufzuklären. Und so etwas ist immer vergleichsweise anstrengend und manchmal auch schmerzhaft. Es ist eine alte Schwäche des aufklärerischen Ansatzes, dass er davon ausgeht, man müsse die Leute bloß mit der Wahrheit konfrontieren und schon ließen sie von ihren „falschen Meinungen“ ab. Vorurteile sind keine bloßen Fehlinformationen, sondern denktechnische Verhütungsmittel, die ihren Träger davor schützen, sich von der Wirklichkeit aus dem Konzept bringen zu lassen. Vorurteile sind gegen die Realität und Korrekturen durch sie perfekt abgeschottet. Vorurteilsbeladene Menschen sind immer bestrebt, ihre Meinung zu validieren. Dazu blenden sie störende Elemente einfach aus. Die Linken werden dann als diejenigen wahrgenommen, die immer wieder das Störende aus der Verdrängung hervorholen und thematisieren.
Wo sind die Kräfte, die diesen Trend nach rechts stoppen könnten und Hoffnung machen? Diese Gesellschaft und wir alle verhalten uns dem Rechtsruck und dem drohenden ökologischen Kollaps gegenüber wie jener Mann in Mathieu Kassovitz‘ Film „Hass“, der im obersten Stockwerk eines Hochhauses aus dem Fenster springt und, im freien Fall begriffen, bei jedem Stockwerk, an dem er vorbeifliegt, ausruft: „Bis hierhin ist es gut gegangen!“ Entscheidend, so der bittere Schlusssatz des Films, ist aber nicht der Flug, sondern die Landung.
Was also tun? Mit Herbert Marcuse können wir eigentlich nur sagen: „Und selbst wenn wir noch keine Änderung sehen, müssen wir weitermachen; müssen wir widerstehen, wenn wir noch als Menschen leben, arbeiten und glücklich sein wollen. Im Bündnis mit dem System können wir das nicht mehr.“
Oder mit den Worten von A.L. Kennedy, die in ihrem jüngsten Buch „Der Kern der Dinge“ schreibt: „Ein hoffnungsvoller Pessimist zu sein, das ist die praktische Option und eine Lehre unterdrückter Gemeinschaften, die trotz allem überleben.“
Ich merke gerade, dass das, was ein Trost und eine Ermunterung sein sollte, eher an das Verhalten des Kindes erinnert, dass beim Betreten des dunklen Waldes zu pfeifen beginnt, um sich Mut zu machen und die Angst zu verscheuchen.
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Bei allem Verständnis und aller Sympathie für das angegriffene Israel war ich über eine Äußerung des israelischen Verteidigungsministers Gallant doch sehr befremdet, der auf einer Pressekonferenz zu den Angriffen auf Gaza sagte: „Wir kämpfen gegen menschliche Tiere“ Das ist die Sprache des Nationalsozialismus. Wenn man beginnt, Abweichler und Gegner außerhalb des Menschlichen und Sozialen zu situieren, ist Gefahr im Verzug. Das sollten eigentlich gerade die Israelis aus leidvollen Erfahrungen wissen und beherzigen. Semantisch wird so die Vernichtung und Ausmerzung vorbereitet. Als der inzwischen leider verstorbene israelische Schriftsteller Amos Oz im Jahr 2014 den ersten Siegfried Lenz-Preis erhielt, gab er der Süddeutschen Zeitung ein Interview, in dem er sagte: „Ich habe eine bestimmte Verantwortung für die Sprache. Wenn sie missbraucht wird, ist es meine Pflicht loszubrüllen. Ich reagiere wie ein Rauchmelder. Wenn Menschen als ‚unerwünschte Ausländer‘ bezeichnet werden oder als ‚Parasiten‘, muss ich Alarm schlagen. Denn eine enthumanisierte Sprache ist das erste Indiz für eine enthumanisierte Gesellschaft.“
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„Sie sind der Flut der Werbesprüche wehrlos preisgegeben und fühlen sich ausgestoßen, wenn man ihnen sagt, dass sie zur Konsumgesellschaft gehören. Man weckt in ihnen Wünsche, deren Erfüllung sie zu Mitgliedern dieser Gesellschaft machen könnte, wenn sie reich wären – Autos zum Beispiel. Gleichzeitig fehlen ihnen aber die Mittel dafür. Sie befinden sich in einem Zustand vollständiger Frustration.“
(Jean-Paul Sartre: Die Frustration der Jugend)
Ein letzter Tag am Steg? Das habe ich schon mehrfach befürchtet, und dann kam das schöne, spätsommerliche Wetter immer noch mal zurück. Der Falke, den ich das ganze Jahr über nicht gesehen hatte, stand rüttelnd über einer Wiese. Es ging ein heftiger Wind, der Blätter über den Fluss wehte und die Wasseroberfläche kräuselte. Der Wind kam aus Südwesten und war angenehm warm. Der ruhig dahinfließende Fluss ließ mich selbst zur Ruhe kommen. Die Grenze zwischen innen und außen wird durchlässig, so dass es zu dieser Osmose kommen kann. Die Sonne ermutigte mich, in den Fluss zu steigen, nur kurz, aber immerhin. Bei 14 Grad Wassertemperatur ist meine Schmerzgrenze erreicht, aber solange es draußen warm ist, geht es. Bevor die Kälte tiefer in mich eindringen konnte, kletterte ich wieder hinaus, trocknete mich ab und setzte mich in die Sonne. Mein Handtuch hing ich zum Trocknen über mein Fahrrad. Am gegenüberliegenden Ufer tollte ein junger Hund mit sichtlichem Vergnügen durch das flache Wasser. Eisvögel flogen vorüber und machten um den Hund einen respektvollen Bogen. Der war ihnen nicht ganz geheuer.
Beim Verlassen des Hauses war ich unserer Briefträgerin begegnet, die eine Büchersendung für mich aus ihrem Wagen nahm und mir in die Hand drückte. Zwei Mal hatte der Verlag vergeblich versucht, das Buch an mich auf den Weg zu bringen. Es sei beide Male von der Post zurückgekommen, obwohl es absolut richtig frankiert war, teilte mir der Verlag mit, um die Verzögerung zu erklären. Manchmal ist der Wurm drin, wie man so sagt. So hat es vier Wochen gedauert, bis das Buch „Zwei Sekunden brennende Luft“ der französischen Autorin Diaty Diallo, das im Berliner Verlag Assoziation A erschienen ist, mich erreichte. Nun holte ich es aus dem Rucksack und begann zu lesen. Schon nach wenigen Seiten hatte ich ein Déjà-vu-Erlebnis. Die Stimme, die hier zu mir sprach, hatte ich schon einmal gehört. 2005, als es in den französischen Vorstädten zu brennen begann, drang morgens die aufgeregte Stimme eines jungen Maghrebiners, aus dem Radio an mein Ohr, der den saturierten Bürgern wütend seine Anklage entgegenschleuderte: „Wir werden nicht gebraucht und von euch wie Dreck behandelt. Und jetzt regt ihr euch auf, dass eure Autos brennen!“ Die Stimme war mir fremd und vertraut zugleich.
Erzählt wird von Diallo die Geschichte einer Clique junger Leute aus den Pariser Vororten, den Banlieus. Sie sind immer „im Rudel unterwegs“ und sprechen untereinander ein eigenartiges Rotwelsch, das nur ihresgleichen versteht. Manchmal wird auch gar nicht gesprochen, sondern Musik gehört und gemacht, die im Leben der Jugendlichen – und so auch in diesem Roman – eine große Rolle spielt. Im Anhang des Buches findet sich eine Liste der Songs, die im Roman gehört werden. Man hängt rum, die Kids drehen eine Runde mit dem Moped um den Block, sie spielen mit dem Gas und bringen die Dinger an den Kipppunkt, bis sie sich aufrichten: „Eine Parade der Wut.“ Die großen Brüder drehen dieselben Runden mit dem Auto, man hört gemeinsam übers Handy oder Bluetooth-Boxen Musik, zieht einen durch und wartet wie bei Beckett darauf, dass etwas geschieht. Am Wochenende ist irgendwo immer eine Party, meist in einer Tiefgarage, auf einem Parkdeck, am liebsten im Untergrund. Manchmal auch weit oben, auf Dächern. Eine Jugend im Ghetto, aus dem kein gangbarer Weg herausführt, jedenfalls kein legaler. Und dann erscheinen mit grausamer Regelmäßigkeit die staatlichen Quälgeister in Gestalt der Polizei, die einen manchmal drei Mal am Tag den Pass abverlangt, das heißt schikaniert. Wo mehr als zwei Jugendliche zusammenstehen, umgibt sie für die Polizei ein Klima des Verdachts. Ein Wort gibt das andere, Beleidigungen fliegen hin und her, manchmal auch Knüppel und Fäuste. Und gelegentlich wird geschossen, und ein junger Schwarzer oder Araber bleibt am Ort des Scharmützels tot zurück. So abstrakt und universell der Verdacht auf Seiten der Polizei, so diffus und indifferent ist die negative Leidenschaft bei den Jugendlichen. „Ich habe Hass“, sagt einer von ihnen im Roman. Der Hass ist ohne Gegenstand und hat keinen Sinn. Er ist das subjektive Korrelat der Herausbildung dessen, was Thomas Pynchon „das System“ genannt hat. Wir leben in einer durch eine alles umspannende Superstruktur total vernetzten Welt, einem sich selbst steuernden, gesichtslosen System, das er eben als „System“ oder „Die Firma“ bezeichnet oder mit dem pluralischen Personalpronomen „Sie“ zu benennen versucht. Anonyme systemische Abläufe sind an die Stelle verantwortlicher und mächtiger Personen und Gruppen getreten, die man bekämpfen könnte. „Sie“, das ist eine Institution, so ungreifbar und total wie das Gericht aus Kafkas Roman „Der Prozeß“.
Die wertabstrakte Militanz, die uns an den Krawallen so erschreckt, quittiert auch den Umstand, dass den jungen Leuten der Weg zur Produktion und damit zu traditionellen Formen des Klassenkampfes versperrt ist. Sie können nicht streiken und Fabriken besetzen, weil sie keine Arbeit haben. Sie sind die Überzähligen, die Herausgefallenen, das, was die Ökonomen in ihrem zynischen Jargon Surplus-Bevölkerung nennen. Wir erleben das Wiederauftauchen „gefährlicher Klassen“, die für die Zeit der Herausbildung der kapitalistischen Produktionsweise charakteristisch waren. Konnten damals entwurzelte, plebejische Massen und unterbürgerliche Schichten noch nicht über den Modus der Lohnarbeit integriert werden, so heute die aus dem Arbeitsmarkt Herausgefallenen und Überzähligen nicht mehr. Für ihre Revolten hat sich der Begriff „Riots“ ausgebildet.
Die jüngere französischen Geschichte ist voll solcher Ereignisse, die seit dem Jahr 2005 immer wieder großflächige Unruhen ausgelöst haben. Man kann beinahe von einem Muster sprechen, das sich herausgebildet hat: Die Polizei erschießt aus nichtigem oder gar keinem Anlass einen Jugendlichen mit einem migrantischen Hintergrund, in der folgenden Nacht brennen Autos und öffentliche Gebäude. Man sieht Jugendliche, die auf Polizisten losgehen und Polizisten, die auf Jugendliche losgehen. Molotowcocktails werden geworfen, Gummigeschosse und Tränengasgranaten abgefeuert, Geschäfte geplündert. Das geht so einige Tage und vor allem Nächte lang, bis die Revolte in sich zusammenfällt und rauchende Trümmer und blutige Köpfe hinterlässt. Das wiederholt sich in Frankreich in trauriger Regelmäßigkeit alle paar Jahre. Das letzte Mal war der Anlass der Tod eines 17-jährigen arabischstämmigen Jugendlichen namens Nahel am 27. Juni 2023 bei einer Verkehrskontrolle.
Im Roman trifft es Samy, einen aus der Clique von Astor, der von der Polizei erschossen wird. Die Gründe dafür müssen die Freunde und Angehörigen des Opfers selbst herausfinden. Meist ist es ein dumpfer Rassismus, der in der französischen Polizei endemisch ist. Die anderen müssen weiterleben, es ist eine ganze Gemeinschaft, die Schmerzen hat. Das ganze Viertel trifft sich bei der „Pyramide“ über den Parkdecks zu einer ganz besonderen Trauerfeier, mit Musik und selbst hergestellten Speisen. Es endet mit einem surrealistischen Feuerwerk, das man auch als Wetterleuchten eines kommenden Aufstands deuten kann.
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Heute Nacht erwachte ich von Heulen eines Martinshorns. Dachte ich, bis ich merkte, dass das Martinshorn in meinem Kopf und meinem Körper heulte. Das permanente Sirenengeheul in der Stadt hatte sich in einen inneren vegetativen Daueralarm verwandelt, in eine Art Sirenen-Tinnitus, eine akustische Halluzination. Es dauerte eine ganze Weile, bis das Geräusch abklang und ich wieder in den Schlaf fand. Ein Blick ins etymologische Wörterbuch ist oft hilfreich. Das Wort „Lärm“ leitet sich vom italienischen Ausruf „all’arma“ ab, der soviel bedeutete wie: „Zu den Waffen!“ Auch wir Heutigen werden durch Lärm zu den Waffen gerufen, alarmiert, aber zu welchen Waffen sollen wir greifen und gegen wen sie kehren? Gegen den universellen Lärm unserer Tage gibt es keine Waffen, keine wirksame Gegenwehr. Wir sind ihm schutzlos ausgeliefert. Er frisst sich in die Körper und macht uns auf mannigfache Weise krank. Ähnliche Erfahrungen machte die erste Generation von Fabrikarbeitern, die vom Lärm und Rhythmus bis in die Betten verfolgt wurden. Das Stampfen der Maschinen war selbst dort noch in ihren Köpfen. Stille gab und gibt es nur als Taubheit.
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Dieser September war der wärmste seit es Temperaturaufzeichnungen gibt. Dieser Rekord wird voraussichtlich bis zum nächsten Jahr Bestand haben. Es geht immer so weiter, nichts ändert sich.
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Seit der grauenvollen Attacke der Hamas auf Israel wird ein Großteil der Aufmerksamkeit, die zuvor auf die Ukraine gerichtet war, von dort abgezogen. Man bemerkt das ganz drastisch am Aufbau der Nachrichtensendungen. Die Ukraine und der dort mit unverminderter Härte geführte russische Krieg rutschen immer mehr ans Ende und den Rand der Berichterstattung. Seit Tagen frage ich mich, ob das nicht die Mission der Hamas-Leute ist. Mission kommt von lateinisch „mittere“, und das heißt schicken, senden. Wer ist der Absender? Der, der davon profitiert? Russland profitiert zweifellos, einfach deswegen, weil die weltweite Aufmerksamkeit von ihm als Aggressor abgezogen wird. Im Aufmerksamkeitsschatten kann man weiter wüten und morden. „Die Bösen“, die Hauptschurken sind auf einmal andere. Russland profitiert aber auch ganz handfest, weil der neue Krieg dazu führt, dass, wie Bernhard-Henry Lévy in der Süddeutschen Zeitung vom 13. Oktober geschrieben hat, ein „Teil der wertvollen militärischen Ressourcen, die eigentlich für die Ukraine reserviert waren“, nun für Israel bereitgestellt werden müssen. Lévi erinnert daran, dass der russische Außenminister Lawrow vor Monaten den Hamas-Führer Ismail Hanija mit großem Pomp in Moskau empfangen hat und vermutet, dass bei dieser Gelegenheit die Eröffnung einer „zweiten Front“ besprochen und geplant wurde. Was mir weiter auffällt, dass eine Argumentation wiederkehrt, die wir aus dem Kontext des Ukraine-Kriegs kennen. Die Gräueltaten der Hamas werden in gewissen Milieus als Notwehr und legitimer Widerstand gegen die Besatzung und den Imperialismus Israels gedeutet, wie man auch Putins Überfall auf die Ukraine als Notwehr gegen die Expansion der NATO und eine angebliche Faschisierung der Ukraine gedeutet hat und bis heute deutet. Wie die NATO-Osterweiterung keine Rechtfertigung für das Massaker von Butscha liefert, so das vom Staat Israel in den letzten Jahrzehnten begangene Unrecht an den Palästinensern keine für das Hamas-Gemetzel vom 7. Oktober.
Der israelische Schriftsteller und Friedensaktivist David Grossman war am Mittwochabend in den „Tagesthemen“ zu sehen. Zutiefst verzweifelt und sehr klar beschrieb er seine Situation und die seiner Landsleute. Wie kann man überhaupt noch Kinder erziehen, wenn man diese Bilder gesehen hat. Was sagt man ihnen? „Wer möchte in einer Realität leben, die solche Monstrositäten zulässt?“ Und doch lebe man in dieser Realität und müsse wissen, wo sein Platz sei. In der FAZ ist ein längerer Beitrag von ihm erschienen, in dem Grossman wiederholt, was man nicht müde werden sollte zu betonen: „Die Gräueltaten dieser Tage sind nicht Israel zuzuschreiben. Sie gehen aufs Konto der Hamas. Wohl ist die Besatzung ein Verbrechen, aber Hunderte von Zivilisten zu überwältigen, Kinder, Eltern, Alte und Kranke, und dann von einem zum anderen zu gehen und sie kaltblütig zu erschießen – das ist ein viel schwereres Verbrechen. Auch in der Hierarchie des Bösen gibt es eine Rangordnung, gibt es vom gesunden Menschenverstand und vom natürlichen Gefühl zu unterscheidende Schweregrade.“
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Ich habe in den letzten Jahren, genauer: seit dem Auftauchen von Pegida in Dresden vor fast zehn Jahren, viel über die Figur des Fremden und seine Funktion als Sündenbock nachgedacht und geschrieben. Auch dann, wenn man die realen Probleme mit der massenhaften Migration zur Kenntnis nimmt – und die muss man zur Kenntnis nehmen – bleibt es dennoch wahr: Der Fremde ist seit jeher der Sündenbock, der für alle möglichen gesellschaftlichen Missstände verantwortlich gemacht wird .
Der Soziologe Stephan Lessenich hat ebenfalls zeitig darauf hingewiesen, dass der grassierende Fremdenhass unbewusst von einer verschobenen Wut auf die permanenten Veränderungen und Flexibilitätszumutungen gespeist wird, denen die Menschen in unserer Gesellschaft ausgesetzt sind. „Der Fremde ändert etwas. Der Fremde bringt Veränderung – und es ist nicht der Andere oder das spezifisch Andersartige, was den Kern unseres Unbehagens ausmacht, unseres Befremdens gegenüber dem Fremden. Sondern die Veränderung an und für sich. Der Fremde symbolisiert die Veränderung, er führt sie uns vor Augen, er verkörpert sie geradezu. Er hat sich, indem er von irgendwo fortging und hierherkam, selbst verändert.“ Die Menschen sollen flexibel, mobil und offen für ständige Veränderungen sein. Wir alle sollen zu „Unternehmern unseres Selbst“ werden, die bereit sein müssen, ihre Zelte jederzeit abzubrechen und ständig in Bewegung zu bleiben. Das Credo des Kapitalismus ist die permanente Innovation, er ist seinem Wesen nach auf ständige Expansion, Veränderung und Überschreitung angewiesen. Ein Kapitalismus ohne Wachstum ist eine grüne Illusion. Wer den expansionistischen Drang des Kapitals still stellen will, muss das Wertgesetz außer Kraft setzen, das heißt, den Kapitalismus überwinden und durch eine solidarische Ökonomie ersetzen.
Wer würde diese hier dem Kapitalismus und dem Geld zugeschriebenen Züge und Verhaltensorientierungen überzeugender verkörpern und eindrucksvoller repräsentieren als der Flüchtende, die Geflüchtete? Bei Lessenich heißt es weiter: „Der Flüchtling und die Geflüchtete stehen für die Signatur unserer Zeit: für Mobilität und den Zwang zur Bewegung, für das Ende der Behaglichkeit und den Sprung ins kalte Wasser, für die Nötigung zur Risikobereitschaft und die Möglichkeit des – im Zweifel existentiellen – Scheiterns. Mit Flüchtenden und Geflüchteten kommt die Veränderung zu uns, kommt die Welt des Wandels zu uns nach Haus – und die Gesellschaft der Bewegung und Beweglichkeit, der Flexibilität und Aktivität zu sich selbst. … Und sie projiziert ihren Unmut ob der von ihr geforderten permanenten Veränderungsbereitschaft nicht auf die Apologeten der gesellschaftlichen Mobilmachung, sondern auf die Protagonisten der erzwungenen Mobilität. Die Ablehnung der Flüchtenden ist die Ablehnung des Flüchtigen: Eine hilflose Rebellion gegen den Verlust der Welt, wie wir sie kannten, und gegen die uns aufgezwungene Veränderung.“
Noch einmal mit meinen Worten: Die Flüchtlinge und Migranten, deren massenhafte Ankunft viele erschreckt und ängstigt, sind der falsche Adressat des Protests, ein klassischer Sündenbock. In Oskar Negts autobiographischem Buch „Überlebensglück“ heißt es: „Der Fremdenhass lebt von der Täuschung, dass die Gesellschaft gesund und krisenfrei gemacht sei, wenn der letzte Ausländer das Land verlassen hat.“ Die Flüchtenden befinden sich auf einer endlosen Reise ohne sichere Ankunft; da, wo sie herkommen, kann man nicht leben, dort, wo sie gelandet sind, will man sie nicht haben und können sie nicht bleiben. Sie verkörpern die Flüchtigkeit und Flüssigkeit unserer Gegenwart. Im Schicksal der Migranten könnten wir uns und unsere Zukunft als deterritorialisierte, bindungslose und entwurzelte Nomaden erkennen. Über kurz oder lang werden wir alle zu „überflüssigen Menschen“ und zu Bewohnern von „transit-points“. Die Flüchtenden sind eine lebende Prophezeiung; möglicherweise ist das eine der verschwiegenen Quellen der Wut, die sie auf sich ziehen.
Der Einbruch der Zukunft in die Gegenwart eröffnet den Menschen nicht nur Chancen, sondern verunsichert sie auch. In ihrer Frankfurter Poetik-Vorlesung hat Christa Wolf postuliert, wir müssten lernen, „Freude aus Verunsicherung zu ziehen“, und diesen Imperativ sogleich mit der skeptischen Frage verbunden: „Wer hat uns das je beigebracht?“
In Gestalt des Fremden treffen wir auf den abgewiesenen Teil unseres Selbst, begegnen unserem „verfemten Teil“, wie Georges Bataille es ausgedrückt hat. Indem man sich gegen die Anwesenheit der Fremden wendet, wehrt man zugleich das ab, was in einem selbst fremd und bedrohlich ist. Vieles ist uns auf dem Weg ins Erwachsenenalter und durch die mehr oder weniger erzwungene Anpassung an die Eltern fremd geworden und wanderte in die Verdrängung. Klaus Theweleit hat das mal so ausgedrückt: Indem wir „brave Kinder“ wurden, ließen wir die Eltern in uns wachsen statt des eigenen Selbst. Aus dieser trüben und den wenigsten Menschen bewussten Quelle speist sich psychodynamisch die Feindschaft gegen die Fremden. In Gestalt des Fremden und Migranten kann man des abgewiesenen Teils des eigenen Selbst habhaft werden und ihn erneut verwerfen. Der Migrant ist in den Wutbürgern anwesend in Gestalt ihrer unterdrückten Wünsche. Seine Bekämpfung dient der Nachverdrängung. Hätten wir einen kleinen und von Freundlichkeit getragenen Grenzverkehr mit dem dunklen Teil unseres eigenen Selbst, könnten wir uns auch mit den Fremden, den „Dunklen“, friedlich arrangieren. Damit würden die Probleme der Integration sich nicht in Luft auflösen, aber es wären leichter Lösungen zu finden, mit denen alle leben und auskommen könnten. Voraussetzung für all das wäre, dass wir der Demontage des Sozialstaats Einhalt gebieten und Solidarität an die Stelle des entfesselten Konkurrenzkampfes setzen. Es gilt, gesellschaftliche Verhältnisse herzustellen, in denen der Mensch dem Menschen kein Wolf mehr und Freundlichkeit der vorherrschende Kommunikationsstil ist. Das würde langfristig den Nährboden austrocknen, auf dem die Feindseligkeit gegen die Fremden und der Hass gedeihen. Die Menschen des kapitalistischen Zeitalters sind gezwungen, in einem Universum permanenter Verteidigung und Aggression zu leben und werden von der Angst umgetrieben, aus der Gesellschaft, ja aus der Welt herauszufallen und einen sozialen Tod zu sterben. Das lässt sie böse, gemein und feindselig werden. Frieden hat, wie wir gesehen haben, viele Facetten, und das macht ihn mit Brechts Worten „zum Einfachen, das schwer zu machen ist“.
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Gestern hörte ich auf dem Weg in den botanischen Garten die ersten Kraniche auf ihrem langen Weg in den Süden. Viele Menschen blieben stehen, wandten den Blick gen Himmel, um die Quelle des Geschreis auszumachen. Die Kraniche wirkten noch ein wenig unsicher und desorientiert. Sie kreisten über der Stadt, als müssten sie erst noch besprechen, wie es weitergeht. Es war nicht die übliche V-Formation, sondern ein amorpher Haufen von Vögeln, der um sich und in sich selbst kreiste. Vielleicht hat aber auch irgendetwas anderes ihre Orientierung durcheinander gebracht. Zum Beispiel der Flugverkehr, der hier im Einzugsgebiet des Frankfurter Flughafens stark zugenommen hat. Irgendwann hörte ich die Vögel nicht mehr. Sie hatten ihren Flug Richtung Wetterau fortgesetzt, wo sie, wie ich mal gehört habe, rund um große Teiche einen Zwischenstopp einlegen und übernachten.
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„Wenn es uns nur gelänge, den Sinn für Humor, besonders die Fähigkeit, über sich selbst zu lachen, in Kapseln oder Pillen zu pressen und diese Pillen überall zu verteilen, um ganze Völker gegen Fanatismus zu immunisieren – hätten wir dafür nicht den Nobelpreis für Medizin verdient?“
(Amos Oz)
Slavoj Žižek hat zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse am Dienstagabend (17. Oktober) für mehr Menschlichkeit auf beiden Seiten des Krieges im Nahen Osten geworben und damit Tumulte im Saal ausgelöst und für Protest gesorgt. „Ich verurteile den Angriff der Hamas auf die Israelis ohne Wenn und Aber. Ich gebe Israel auch das Recht, sich zu verteidigen und die Bedrohung zu zerstören“, setzte Žižek an. Sobald man aber den Hintergrund analysiere, gerate man in Verdacht, den Terrorismus unterstützen zu wollen, fuhr er fort. „Was ist das für ein Analyseverbot?“, fragte Žižek und setzte hinzu: „Wir müssen in der Situation auch Millionen von Palästinensern erwähnen.“ Diese lebten seit Jahrzehnten in einem schwer erträglichen „Schwebezustand“. „Die Palästinenser werden nur als Problem behandelt, der Staat zeigt ihnen keine positive Rolle auf“, sagte er. „Es kann im Nahen Osten keinen Frieden geben, ohne eine Lösung der Palästinenserfrage.“ Der von Žižek erwähnte Schwebezustand gehört zu den Bedingungen der Möglichkeit des Terrors der Hamas. Wenn man so etwas nicht mehr aussprechen darf, ohne gewissermaßen aus der Gemeinschaft der Rechtschaffenen und Demokraten ausgebürgert zu werden, können wir das Denken gleich ganz unter Verbot stellen und wären dann nicht besser als jene Diktatoren und autokratischen Herrscher, die wir mit Recht kritisieren. Wer Ambiguität nicht aushält und Eindeutigkeit anstrebt, ist mental auf dem Weg in eine Diktatur, die alles, was sich dem Eindeutigkeitsgebot nicht fügt, abschneidet und unter Verbot stellt. Ambivalenztoleranz ist eine Grundvoraussetzung des Denkens und eine Kardinaltugend der Demokratie. Der inzwischen leider verstorbene israelische Schriftsteller Amos Oz hat im Jahr 2002 in Tübingen Vorlesungen gehalten, die unter dem Titel „Wie man Fanatiker kuriert“ (2004) und später noch einmal unter den Titel „Liebe Fanatiker“ (2018) im Suhrkampverlag erschienen sind. Dort heißt es: „In meinem Roman ‚Panther im Keller‘ habe ich beschrieben, welche Erfahtungen mich dazu gebracht haben, plötzlich zu entdecken, dass alles zwei Seiten hat. Es gibt Auseinandersetzungen, die sich nicht in eine Schwarz-Weiß-Schema pressen lassen. … Das Kind in ‚Panther im Keller‘, der Erzähler, ist zu Beginn der Geschichte ein fanatischer Zionist, vollkommen von dem Gefühl gefangen genommen, gerecht zu sein, entdeckt aber innerhalb von zwei Wochen zu seinem grenzenlosen Erstaunen, dass es in der Welt Dinge gibt, die man auf diese oder auf jene, auch gänzlich verschiedene Weise betrachten kann.“ In unseren mit Fanatismus gesättigten Zeiten seien diese Bücher von Amos Oz uns allen zur Lektüre empfohlen. Sie sind eine Schule der Empathie und des Unterscheidungsvermögens, dem einzigen wirksamen Gegengift gegen jede Art von Fanatismus. Man lernt zum Beispiel, dass es keine einfachen Antworten auf schwierige Fragen gibt und nicht alle Palästinenser islamistische Fundamentalisten und Terroristen sind. Auch der Psychoanalytiker Irvin D. Yalom hat das Lesen von Romanen als Antidot gegen Gewalt und Grausamkeit empfohlen, „weil man mit Hilfe der Bücher die Welt aus der Sicht eines anderen wahrzunehmen lernt“.
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Aufgewachsen bin ich mit Sätzen meines Vaters wie: „Schade um jeden Juden, der davongekommen ist.“ Wenn Hans Rosenthal im Fernsehen auftauchte, wurde das Gerät umgehend ausgeschaltet. Als einmal Daniel Cohn-Bendit in den Nachrichten erwähnt wurde, kommentierte er das mit den Worten: „An diesem rothaarigen Judenlümmel kannst du sehen, warum man die Juden Jahrhunderte lang verfolgte hat.“ Als man in der Schule einen jüdischen Mitschüler neben mich setzte, erwog mein Vater beim Rektor zu intervenieren. Es kam dann nicht mehr dazu, weil Till es vorzog, auf eine andere Schule zu wechseln. Mein Vater maßte sich an, „den Juden“ an gewissen körperlichen und habituellen Eigenschaften erkennen zu können. Eine runde Brille, dunkle Haare und eine gebogene Nase reichten aus, um jemanden als „Juden“ und damit als „nicht zu uns gehörend“ zu identifizieren.
Immer wieder erläuterte mein Vater uns Kindern sein nationalsozialistisches Weltbild, das den sogenannten Zusammenbruch unbeschadet überstanden hatte, anhand von Naturvorgängen. Einmal zeigte er uns im Garten einen Apfelbaum, an dem sich eine Efeupflanze empor rankte. „Seht ihr den Efeu dort? Er ist ein Schmarotzer und entzieht dem Apfelbaum seinen Saft. Er ist für die Bäume, was der Jude für den deutschen Volkskörper ist. Man muss ihn ausmerzen, um den Baum zu retten, der uns mit seinen herrlichen Äpfeln versorgt.“ Auch Katzen galten als undeutsch und irgendwie asiatisch. Sie schleichen ums Haus, lassen sich nicht dressieren und machen, was sie wollen. Während der Hund beim Menschen bleibt, auf ihn hört und wie ein Inspektor nach dem Rechten sieht. Er ist zu etwas nutze, während die Katzen einfach so da sind. Einzig als lebende Mausefallen seien sie zu gebrauchen. Aber auch darauf sei kein Verlass.
All diese frühen Indoktrinationen sind im seelischen Untergrund immer noch wirksam. Darauf hat Tilman Moser vor vielen Jahren hingewiesen. Wie durch ein Steigrohr steigen sie gelegentlich auf, mischen sich in aktuelle Bezüge ein und färben die Wahrnehmung. Das Denken und Fühlen vieler Zeitgenossen über Migranten und Geflüchtete ist von solchen frühen Prägungen beeinflusst. Sie entziehen sich dem Bewusstsein und sind gerade darum umso wirksamer. Manches hat sich gesetzt in der Schulzeit, wurde zugeschüttet, vergessen, in Träumen umgearbeitet, in neue Formen gegossen. Aber der Schichtenaufbau der Seele bleibt. Es bildet sich ein scheinbar tolerantes, demokratisiertes Erwachsenenbewusstsein, aber das steuert nicht die Geruchszellen, die ihren Betrieb aufnehmen, wenn eine ausländische Familie bei der Bahnfahrt das Abteil füllt. Der Rassismus sitzt im Kinderkörper, meldet sich gelegentlich an unerwarteten Stellen und überschwemmt das Erwachsenenbewusstsein mit seinen uralten Ängsten. Bestimmte Nachrichten oder Bilder bohren längst verschüttete Schichten unseres Bewusstsein oder Unbewussten an, die sich dann wie ein Verstärker an die gegenwärtig gesehenen Bilder anschließen oder sich über sie schieben. Wer mit diesen Dimensionen nicht rechnet, wird die Phänomene, die uns zur Zeit wieder einmal umtreiben und mit Sorge erfüllen, nicht begreifen und ihnen nicht Paroli bieten können. Der Judenhass war und ist bis heute Teil der deutschen Mentalität, die unter allerhand eingetretenen Veränderungen offenbar immer noch bereit liegt und jederzeit abrufbar und aktualisierbar ist. Ich empfinde die Auseinandersetzung mit dem Faschismus, auch mit diesem mikroskopischen Faschismus, dem „Faschismus weit unterhalb des Kopfes“ (Peter Brückner), als lebenslange Aufgabe und Verpflichtung. Zur Zeit muss sich diese Pflicht als Solidarität mit den Bewohnern Israels und unseren jüdischen Mitbürgern hierzulande äußern.
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