83 | Fauchende Schwäne

„Die mächtigste Leidenschaft des 20. Jahrhunderts: die Sklaverei.“

(Albert Camus)

Mit der Verabschiedung des Sommers war ich etwas voreilig. Zum wiederholten Mal kehrte er  zurück. Heute ist zum Beispiel nochmal ein richtiger Sommertag, den ich ab Mittag an der Lahn verbringen werde. Das Wasser hat noch immer 19 Grad und lädt zum Schwimmen ein. Der Vorteil der Jahreszeit: Es ist kaum noch etwas los. Ich kann stundenlang auf dem Steg am Fluss sitzen, nach Eisvögeln Ausschau halten, meinen Gedanken nachhängen und lesen. Gestern tauchte einmal eine Studentin mit ein paar Blättern Papier in der Hand auf, setzte sich ein paar Minuten ins Gras der Uferböschung und versuchte, sich irgendetwas einzuprägen. Von einem Studium, für das man Sachen auswendig lernen muss, würde ich dringend abraten. Denken lernen und Zusammenhänge herstellen, nicht irgendwelche Zahlen und Fakten einpauken. Sie hatte offenbar keine Ruhe, stand bald wieder auf und ging. Ich stieg nun in den Fluss und schwamm eine Runde.

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Unter den Eisvögeln, die sich rund um unsere Badestelle aufhalten, hat sich ein Paar gebildet. Man sieht die beiden nur noch zusammen. Frühlingsgefühle im beginnenden Herbst. Gemeinsam flitzen in einem Abstand von zwei Metern hintereinander über den Fluss – rastlos von hier nach dort. Ständig rufen sie sich im Flug etwas zu. In totalem Kontrast zu dem Reiher, der reglos und stumm auf seinem Ast hockt – wie ein „Priester im Ornat“. So hat ihn Arnulf Conradi in seinem wunderbaren Buch „Zen und die Kunst der Vogelbeobachtung“ beschrieben. Die verliebten Eisvögel fliegen ganz dicht an ihm vorüber. Er denkt wahrscheinlich: „Was sind die bloß so hektisch, diese Eisvögel? Warum setzen sie sich nicht mal auf einen Ast und denken in aller Ruhe über ihr Eisvogel-Leben nach? Wahrscheinlich haben sie heute Morgen ihr Ritalin nicht genommen.“ Ursula musste leider zeitig nach Wetzlar aufbrechen, um an einem Elternabend mit den Eltern der vorige Woche neu eingeschulten Kinder teilzunehmen. Ich blieb noch eine Weile und las eine weitere Erzählung von Dieter Wellershoff. Ein Mann kümmert sich aufopferungsvoll um seine Frau, die mehr und mehr in Nebel einer Demenz verschwindet. Nachts geistert sie durchs Haus und zerbricht schon mal eine Milchflasche. „Vor dem Frühstück muss ich noch Milch kaufen, weil Hilda die Flasche zerbrochen hat. Sie besteht auf ihrem Müsli, etwas anderes isst sie nicht zum Frühstück. Einige Gewohnheiten halten sich in der unaufhaltsamen Zerstörung. Dazu gehört auch der Spaziergang, den wir nachmittags machen, sie an meinem Arm, mit kurzen, unsicheren Schritten. Die Gewohnheiten sind die Reste ihrer Person, der einzige Schutz gegen das völlige Verschwinden, das sie zu spüren scheint.“

Apropos Gewohnheiten. Eine von Westen her anrückende Kaltfront ist der Grund dafür, von meinen sommerlichen Gewohnheiten abzurücken und schon am Vormittag zur Lahn zu fahren, um noch einmal schwimmen zu gehen. Wer weiß, ob man es dieses Jahr noch einmal tun kann? Seit Mai war ich beinahe täglich an der Lahn, habe Stunde um Stunde lesend auf dem Steg gesessen, habe den Eisvögeln, den Reihern und den kleinen Fischen zugeschaut, bin schwimmen gegangen und abends müde und mehr oder weniger glücklich nach Hause geradelt. Jetzt beginnt die Jahreszeit der Spaziergänge und der Besuche auf dem Alten Friedhof. Die Eichhörnchen werden sich freuen. Noch habe ich eine kleine Kiste mit Walnüssen vom letzten Jahr. Bald gibt es neue. Ein holländischer Freund schrieb mir heute, dass in seinem Garten die Nüsse zu fallen beginnen.

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Die Süddeutsche Zeitung berichtet in ihrer heutigen Ausgabe (22. September 2023) vom Wahlkampf der Grünen in Bayern. Dort sind in zwei Wochen Landtagswahlen, und die Zeiten, wo der CSU die absolute Mehrheit garantiert war, sind lange vorbei. Deswegen wird mit harten Bandagen gekämpft. Söder hatte den Ton der Auseinandersetzung vorgegeben, als er verkündete: „Die Grünen passen mit ihrem Weltbild nicht zu Bayern.“ Die grüne „Miesmachpartei“ wolle den Leuten die Heizungen „rausreißen“, das Autofahren und das Fliegen und den Leberkas und am Ende auch noch das Bier verbieten. Die „Süddeutsche Zeitung“ hat die Spitzenkandidatin der Grünen Katharina Schulze durch die Bierzelte und Hallen begleitet. Die Stimmung ist erschreckend feindselig, mitunter herrscht eine Atmosphäre kaum gezügelter Mordlust. Idyll und Grauen sitzen sich am Biertisch gegenüber. Schulze wird ausgebuht, niedergebrüllt und -gepfiffen. Auf eine Bühne wird bei einem Wahlkampfauftritt der Grünen ein Stein geschleudert, der den Redner glücklicherweise verfehlt. Das ist mehr als politische Gegnerschaft, da ist viel Feindseligkeit und Hass im Spiel. Söder hatte ja mal mit den Grünen geliebäugelt, aber das ist länger her, nun setzt er ganz auf die Aiwanger-Karte und bläst mit diesem ins selbe Horn. Den „Freien Wählern“ hat die Flugblatt-Affäre nicht geschadet, sie haben seither um gut fünf Prozentpunkte zugelegt. Einem Rechtsradikalen fliegen die Herzen vieler Bayern zu. In Krisenzeiten wächst das Sündenbock-Bedürfnis der Leute und an der Grenze zum Anderen und Fremden wird die Differenzwahrnehmung verschärft. Die Rechte rückt ihnen Objekte zurecht, gegen die sich die akkumulierte Wut wenden kann: Migranten, Radfahrer, Klima-Aktivisten, Freunde des Genderns, Ökos und Grüne. Die sich ausbreitende Pogromatmosphäre ist erschreckend und zum Fürchten. Manchmal frage ich mich, wie man diese Stimmung wieder einfangen und in einen demokratischen Konsens einbinden kann.

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Am Steg kam „meine“ Schwanenfamilie vorbeigeschwommen. Die beiden im Frühjahr geschlüpften Jungtiere sind noch immer grau. Vielleicht wissen sie, dass sie von den Eltern in die Unabhängigkeit entlassen oder gestoßen werden, sobald ihr Gefieder weiß wird. So belassen sie es lieber noch beim Grau. Die beiden Alten schwammen dich an meine Beine heran und fauchten. Ich hatte einmal eine unangenehme Begegnung mit Schwänen und habe seitdem Respekt vor diesen großen Tieren, vor allem wenn sie Junge haben. Diesmal war es aber wohl eher eine fordernde Geste: „Hey Mensch, hast du nichts für uns dabei?“ Einen Moment hatte ich die Phantasie, dass Vater- oder Mutter-Schwan mir die Schnürsenkel aufziehen würde. Die Familie gründelte eine Weile um den Steg herum, dann zog sie weiter. Einmal kehrten sie noch zurück, als wollten sie ihrer Forderung nach etwas Fressbarem Nachdruck verleihen. Dann verschwanden sie hinter der nächsten Flussbiegung. Auf dem Heimweg sah ich sie noch einmal vom Rad aus, einen Kilometer weiter Richtung Gießen. Jetzt schienen sie jemand gefunden zu haben, der etwas Fressbares für sie dabei hatte. Auch heute gab es wieder das klare Herbstlicht, das ich schon seit Tagen bewundere. Es ist, als hätte der kräftige Wind alle Staub- und Schmutzpartikel aus der Luft entfernt.

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„Die Schande dieser Ordnung liegt nicht darin, dass es einigen besser, sondern dass es vielen schlecht geht, obgleich es allen gut gehen könnte. Nicht dass es Reiche, sondern dass es angesichts der menschlichen Fähigkeiten heute Arme gibt, spricht ihr das Urteil. Das zwingt zur Vergiftung des allgemeinen Bewusstseins durch die Lüge und treibt diese Ordnung zum Untergang.“

(Max Horkheimer: Dämmerung)

Etwas an der Reaktion einiger Fahrradaktivisten auf ihre Niederlage im Streit um den Gießener Verkehrsversuch hat mich unangenehm berührt. Man hat Namen und Adresse der Leute ins Netz gestellt, die gegen den Versuch geklagt und damit dessen Scheitern eingeleitet hatten. Man sollte niemandem die Wahrnehmung von Grundrechten vorwerfen. In einem Rechtsstaat hat jeder das Recht, gerichtlich prüfen zu lassen, ob staatliches oder behördliches Handeln rechtens ist. Und wenn das Gericht letztinstanzlich entschieden hat, haben alle Beteiligten den Richterspruch zu respektieren. Sonst geraten die Geschäftsgrundlagen unserer alltäglichen Lebensführung ins Rutschen.

In einem Rundbrief der Aktivisten sah ich neulich eine Luftaufnahme des Wohnhauses der Klägerin: „Wohnhaus Kläger*innen“, heißt es dort in politisch korrekter, gendergerechter Schreibweise. Ein Pfeil weist auf das Haus hin. Das sind rechte Methoden, derer sich die Linke nicht bedienen sollte. Ich kenne die Geschichte der Linken lange und gut genug, um zu wissen, dass das eine allzu optimistische Annahme ist. Sie ist voller Beispiele für Ressentiments und Intrigen, Verrat und Denunziation. Unterm Stalinismus war es erwünschtes Verhalten, stets „wachsam zu sein“ und jede kleinste Abweichung eines Nachbarn den Behörden anzuzeigen. Dennoch bleibe ich dabei: Gerade wir Linken sollten uns gewisser Methoden und Mittel nicht bedienen, denn wir wissen um den Zusammenhang von Mitteln und Zielen und dass die Anwendung gewisser Mittel das Ziel beschädigt. Man sollte zum Beispiel niemals Ressentiments und Missgunst schüren, wie es die Aktivisten tun, wenn sie darauf hinweisen, die Kläger lebten in einer „Luxusimmobilie mit vierfach verglasten Fenstern“. Nicht dass diese Leute in einer solchen Wohnung leben, ist ein Skandal, sondern dass es viele nicht tun und es sich nicht leisten können. Alle Menschen sollten über ausreichend Wohnraum verfügen und vor Lärm so gut wie möglich geschützt sein. Es gibt, wie Nietzsche wusste, so etwas wie einen Juckreiz unterdrückter Gefühle. Wenn einen als Linken Ressentiments anspringen, die aus dem Gefühl, zu kurz gekommen zu sein, stammen, sollte man, bevor man diesen Impulsen nachgibt, eine Pause der Besinnung einlegen. Niemals sollte man „gleiches Unrecht für alle!“ fordern und anderen ihr Glück missgönnen. Wenn man jemandem vorwirft, er lebe in einer geräumigen Wohnung mit vierfach verglasten Fenstern, schürt man das Ressentiment des Beschädigten und schäbige Rachegelüste. Die Verdächtigung anderer ist fester Bestandteil des Verhaltensrepertoires des autoritären Charakters. Er verfügt über eine feine Witterung von kleinsten Zeichen der Differenz. Ein Kommunismus, der Staaten bilden will, zieht solche Charaktere an. Das einzige Gegengift gegen die Rachsucht, die aus dem Ressentiment aufsteigen kann, ist Mitgefühl und Sensibilität für besondere Umstände. Einfühlungsvermögen ist kein bürgerliches Relikt, sondern eine Kardinaltugend der Veränderung und der aus ihr hervorgehenden freien Gesellschaft. Ohne sie verkäme die neue Gesellschaft zu einer schlechten Kopie der alten, und alle Übel der Klassengesellschaft würden sich gesteigert reproduzieren. Viele von uns haben zu zögern gelernt, bevor sie sich als links oder sozialistisch bezeichnen. Was bleibt nach all den Katastrophen und Enttäuschungen der letzten einhundert Jahre von diesen Begriffen noch übrig? Das Kriterium dafür, ob eine politische Gruppierung links und freiheitlich-sozialistisch ist, besteht darin, ob sie lebensbejahend ist, der Entfaltung menschlicher Fähigkeiten, menschlichen Glücks und des Friedens dient. Menschen an den Pranger zu stellen und sie in Angst und Schrecken zu versetzen, gehört zum Arsenal des Faschismus und hat mit linker Politik nichts zu tun, oder sollte doch mit dieser nichts zu tun haben.

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Als wir gestern Nachmittag zum Badesteg des „Männerbadevereins von 1836“ kamen, trafen wir dort zwei splitternackte junge Frauen an. Sie hatten offenbar, vom schönen Wetter ermuntert, spontan ein Bad im Fluss genommen und ließen sich nun auf dem Steg sitzend von der Sonne trocknen. Sie hätten, wie sie zur Erklärung ihres Nacktseins vorbrachten, weder Badesachen noch Handtücher dabei. „Das stellen sich viele Männer unter einem Männerbadeverein vor“, sagte ich, und ein gemeinsames Lachen entspannte die Situation. Die beiden jungen Frauen merkten, dass wir mit der Situation unkompliziert umgingen und bewegten sich ganz unbefangen. Sie unterhielten sich, zogen ganz gemächlich ihre Klamotten an und verabschiedeten sich. Da die beiden einen wunderschönen Anblick boten, rang ich um eine angemessene Haltung. Ich wollte weder ostentativ wegsehen, noch sie nach Art eines lüsternen alten Satyrs anstarren. Ich fühlte mich an eine Geschichte von Italo Calvino erinnert, die „Der nackte Busen“ heißt. Herr Palomar geht einen Strand entlang und trifft auf eine junge Frau, die im Sand liegt und sich mit nacktem Busen sonnt. Herr Palomar ist von der Situation überfordert und ringt um die richtige Haltung gegenüber dem nackten Busen und seiner Besitzerin. Auf der Suche nach einem angemessenen Umgang mit dem entblößten Busen gehe er so oft an der Frau vorüber, dass es ihr irgendwann zu viel wird, sie sich etwas überwirft und wutschnaubend davon geht. Eine wunderbare, sehr humorvolle Geschichte, die ich euch zur Lektüre empfehle. Sie ist in dem Band mit Geschichten von Italo Calvino enthalten, der „Herr Palomar“ heißt und 1985 bei Hanser erschienen ist.

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Die Firma, die die Fernwärme verlegt, ist heute Morgen in Bataillonsstärke angerückt. Das ganze Haus ist voller Handwerker und entsprechendem Lärm. Die alten Gasthermen werden ausgebaut und verschrottet, obwohl sie andernorts sicher noch gebraucht und sehnlichst erwartet würden. Man könnte hier im Haus heute einen starken CDU- oder AfD-Wahlspot drehen: Monteure mit Habeck-Masken dringen ins Haus ein und reißen die Gasthermen raus.

Wir befinden uns nun für die nächste Zeit in einer Art Interregnum:  Mein Gasherd ist ab heute unbrauchbar, aber der Elektroherd ist noch nicht angeschlossen und funktionsfähig. Es muss erst ein Starkstrom-Anschluss gelegt werden. Ich habe mir vor ein paar Tagen eine kleine elektrische Reisekochplatte gekauft, auf der ich mir nun einstweilen Ravioli und Dosensuppen aufwärmen werde. Vielleicht bekomme ich auch einen Griesbrei hin, was eins meiner Leibgerichte ist. Prompt spingt meine Hirnantilope zu einer Episode aus einem Roman von Wilhelm Genazino. In einer Frankfurter Vorortbahn ruft der Schaffner die nächste Haltstelle aus: „Nächster Halt Griesheim.“ Da ruft ein Kind in den Wagen: „Nächster Halt Grießbrei.“ Ringsum erhob sich Gelächter.

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Die Hausbesitzerin wollte, dass nach dem Einbau der Fernwärme das Gas ganz aus dem Haus verschwindet, also auch unsere alten Gasherde. Mein Freund Jürgen, dem ich davon erzählt hatte, kommt viel auf Baustellen herum. Irgendwo stieß er auf einen ausgebauten und herrenlosen Elektroherd, und nahm ihn für mich schon mal vorsorglich in Besitz. Er verstaute ihn einstweilen in einem Schuppen auf seinem Grundstück an der Lahn. Als der Termin mit der Fernwärme-Umstellung näher rückte, lud er ihn eines Septembersonntags auf seinen Fahrradanhänger und brachte ihn mir vorbei. „Ich bin froh, dass er jetzt nicht mehr bei mir rumsteht. Ich hätte mir sonst Sorgen gemacht, dass demnächst ‚Schnee auf Ceran‘ fällt“, sagte er und outete sich damit als jemand, der Torsten Sträter zur Kenntnis nimmt. Der ist ein ziemlich belesener Typ und hatte sich auf David Guterson und dessen 1994 erschienenen Roman „Schnee, der auf Zedern fällt“ bezogen. Das Ruhrgebiet bringt immer wieder erstaunliche Komiker hervor, was vermutlich am spezifischen Humor liegt, der sich unter den Arbeitern des Ruhrgebiets entwickelt hat. Bestimmte Lebenssituationen kann man nur mit Humor halbwegs ertragen. Jürgen von Manger stammte aus Herne und war in seiner Gestalt des Adolf Tegtmeier zu unseren Schülerzeiten eine bekannter Ruhrgebietshumorist, den wir nachzuahmen versuchten.

Gestern nun hatte die Hausbesitzerin einen Elektriker beauftragt, meinen Herd einzubauen, der in der Küche bereit stand. Mit dieser Firma hatte schon ihr Vater zusammengearbeitet. Man stammt aus dem gleichen Ort und kennt sich seit Generationen. Die Schwierigkeit bestand darin, den neuen Herd in eine Arbeitsplatte einzupassen, in die noch der Gasherd eingepasst war. Jeder andere hätte gesagt: „Das muss alles raus, wir bauen Ihnen eine neue Arbeitsplatte ein.“ Nicht so unsere beiden. „Wir sind noch richtige Handwerker, wir tauschen nicht bloß Teile aus“, sagten sie. Sie vergrößerten die Öffnung in der Platte unter Einsatz einer Stichsäge und einer Feile und fügten dann die Herdplatte ein. Nach einer Stunde saß der Herd an seiner Stelle und funktionierte wunderbar. Dem Älteren der beiden Handwerker war aufgefallen, dass die Schublade, in der ich mein Besteck verwahre, nicht mehr richtig in der Halterung saß. Auf einer Seite war die Schiene gebrochen, über die sie rollte, wenn man sie rein- und rauszieht. Das wäre für viele andere nun endgültig der Punkt gewesen, alles rauszureißen und zu erneuern. Unser Mann sah in der defekten Schublade eine handwerkliche Herausforderung, und binnen Kurzem hatten die beiden aus irgendwelchen Teilen, die sie aus dem Auto herbeiholten, eine Konstruktion gefertigt, über die die Schublade wieder gleiten konnte. Auch dieser Defekt wurde also mit eigenen Mitteln behoben. Mir ist diese Mentalität von meinem Vater her vertraut. Sie stammt aus der vorkonsumistischen Ära und die Devise lautete: „Was repariert werden kann, wird repariert.“ Zu diesem Zweck wurde in Kisten und Kästen in Kellerräumen und auf Speichern alles aufbewahrt, was man möglicherweise irgendwann nochmal brauchen konnte: Schrauben, Drähte, gerade geklopfte Nägel, Scharniere, Holzabfälle, Unterlegscheiben und so weiter. Im Interesse des Massenabsatzes von Waren und vorgefertigten Industrieprodukten, also des Profits, wurden diese Mentalitäten ab den 1960er Jahren aus dem Verkehr gezogen. Was beschädigt oder kaputt war, sollte weggeworfen und durch Neues ersetzt werden. Zum Feind der Industrie und der Kaufhäuser wurde der Besitz der kleinen Leute, den sie bereits hatten und hegten und pflegten. Der Sozialcharakter des 19. und frühen zwanzigsten Jahrhunderts war der „asketische, produzierende Knecht“ (K. Marx), der nun durch den süchtigen Konsumenten ersetzt werden sollte. Mit sorgsamen Verbrauchern kann man keine profitable Konsumgüterindustrie aufziehen. Die Leute mussten auf Verschleiß gestimmt werden. Diese Mutation ist inzwischen weitgehend passiert und gelungen. Wer an alten Gewohnheiten und Mentalitäten dennoch festhielt, wurde zum Kauz und Sonderling. Spätestens mit dem Sterben der heute alten Generation wird sich das Problem im Sinne der Herrschenden gelöst haben. Dass mit der alten auf Sparsamkeit getrimmten Konsummoral auch alle möglichen anderen Haltungen abgestorben sind, macht sich inzwischen bemerkbar. Das sind Kollateralschäden des Konsumismus, und niemand weiß, wie man diese beheben kann. Überall machen sich die Folgen der Selbstzerstörung bestimmter Normen und Werte bemerkbar, die sich nicht so leicht reparieren lassen wie die Schublade in meiner Küche. Ich bin übrigens ein merkwürdiger Zwitter: Mentalitätsmäßig hänge ich der alten Kultur des Aufbewahrens und Reparierens an, praktisch verfüge ich aber nicht (mehr) über die handwerklichen Kenntnisse und Fähigkeiten, um diese auch realisieren und leben zu können. Hier springen manchmal Freunde hilfreich ein und kompensieren meine handwerklichen Defizite. Mein Vater hatte mir viel Handwerkliches Beigebracht, das ich aber im Furor der Distanzierung von ihm mit über Bord warf. Wenn man den Umgang mit bestimmten Werkzeugen nicht immer mal wieder übt, verlernt man im Laufe der Zeit vieles.

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Ein neues Kapital aus der „Universalgeschichte der Niedertracht“ (Jorge Luis Borges). Nach dem gewaltsamen Tod eines sechsjährigen Jungen in Pragsdorf bei Neubrandenburg im Südosten Mecklenburg-Vorpommerns hat die Polizei einen 14-jährigen Tatverdächtigen festgenommen. Das teilte die Polizei am Dienstag mit. An dem in Tatortnähe gefundenen Messer, bei dem es sich um die Tatwaffe handeln soll, seien neben Blutanhaftungen und Faserspuren des Opfers auch DNA-Spuren festgestellt worden, die „mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit“ dem Jugendlichen zuzuordnen seien. Die Leiche des Kindes wurde bereits am 14. September gefunden. Der festgenommene Jugendliche schweigt und das Rätselraten über seine Motive dauert an. Man wird auch keines finden, da der Täter keines hat, jedenfalls keins, das im Bereich dessen liegt, was sich dem  Alltagsverstand erschließt. Verbrechen, deren Motive auf den ersten Blick nicht erkennbar sind und sich nicht der Logik fügen: „Derjenige hat die Tat begangen, dem sie nützt“, stammen oft aus dem Arkanbereich unbewusster seelischer Prozesse, die in mühsamen Schritten deutend erschlossen werden müssen. Manchmal gelingt auch das nicht. Immer öfter sind forensische Gutachter mit ihrem Latein am Ende und müssen den Ermittlungsbehörden und Richtern auf deren Frage nach den Beweggründen eines Täters antworten: „Ich weiß es nicht.“

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„Aus dem Sumpf des Unbewussten blubbert wie stinkende schweflige Lava der über viele Jahre im Zaum gehaltene Antisemitismus wieder hoch. … Meine Prophezeiung vor Jahrzehnten, dass die dritte Generation das Nazitum zurückbringen wird.“

(Imre Kertész)

Seit wir die Handwerker im Haus haben, habe ich einen direkten Zugang zu „Volkes Stimme“. Sympathien für die Berliner Regierungsparteien oder die hiesige rot-rot-grüne Stadtregierung habe ich keine erlebt. Früher wären unter den Arbeitern etliche gewesen, die der Sozialdemokratie und der Gewerkschaft die Stange gehalten hätten. Heute haben die Rechten die Hegemonie an sich gerissen, oder sie ist ihnen zugefallen. Wer noch Sympathien für die ehemalige Arbeiterpartei hegt, behält sie für sich. Das große Wort führen die anderen. Es grummelt in den „Eingeweiden des Volkes“ und es kriechen übel riechende Pfürze und Rülpser aus ihnen hervor. Einhellig wird auf die Grünen und die Ökos geschimpft, kein gutes Blatt an der derzeitigen Regierung gelassen. Es kann einem Angst und Bange werden. Ich fürchte, dass die AfD recht hat, wenn sie behauptet, sie bräuchte nur warten, bis ihr die Macht in den Schoß fällt. „Dass es so weiter geht, ist die Katastrophe“, sagte Walter Benjamin. Niemand von der Linken ist in der Lage, in den Gang der Dinge einzugreifen und ihn aufzuhalten, dem Zerfall ein emanzipatorische Wendung zu geben. Der Refrain der Klagelieder, die ich die ganze Woche zu hören bekam, lautete: „Für die Flüchtlinge ist Geld da, während ich demnächst sehen muss, wie ich mit meiner mickrigen Rente und den steigenden Preisen klarkomme. Es sind viel zu viele Fremde im Land und es werden täglich mehr. Diese Regierung betreibt unseren Ausverkauf. Deutschland ist nicht mehr deutsch!“

Unten auf der Straße sprechen die Leute zu ihrer Uhr. Sie erleben ihre Totalüberwachung als die intimste ihrer Leidenschaften. Sie haben keine Geheimnisse, beteuern sie.

Jeden Tag geht mehrfach ein offenbar verrückt gewordener Araber an unserem Haus vorüber. Er redet unablässig laut vor sich hin. Niemand nimmt davon Notiz, weil alle annehmen, dass er telefoniert. Aber da ist kein Telefon weit und breit. Wahrscheinlich ist er an der Ver-Rückung aus seinem Heimatland in die deutsche Fremde verrückt geworden. Vielleicht war er es aber auch schon vorher.

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Oliver Nachtwey, der mit seinem 2016 bei Suhrkamp erschienenen Buch „Die Abstiegsgesellschaft“ bekannt geworden ist, hat am 18. September in der FAZ unter der Überschrift „BRD noir“ einen Artikel über Sahra Wagenknecht veröffentlicht, den ich sehr lesenswert finde. Er beschreibt ihren Werdegang vom Mitglied der „Kommunistischen Plattform“ und einer Bewunderin der Stalinschen „Modernisierungspolitik“ zur Anhängerin einer progressiven sozialen Marktwirtschaft à la Ludwig Erhard und mit allen medialen Wassern gewaschenen Politprofi. Sie idealisiert den kurzen sibirischen Sommer des  fordistischen Wirtschaftswunders, in dem es einigermaßen gelungen war, gesellschaftliche Konflikte zu pazifizieren und die Risiken des Marktes abzufedern. Politisch war das die sozialdemokratische Ära Brandt/Schmidt, die Anfang der 1980er Jahre endete. Ihre heutige Position beschreibt sie selbst als links-konservativ – sozialpolitisch progressiv, gesellschaftlich konservativ. Wagenknecht reichere legitime Kritik mit Missgunst an, was sie auch für Rechte und Autoritäre interessant mache. „Ressentimentbewirtschaftung“ nennt Nachtwey den Politikstil, den sie betreibt. Nach wie vor ist sie Russland in einer Art Nibelungentreue verbunden. Der Russischen Angriffskrieg ist für sie eine Notwehrraktion auf die Osterweiterung der NATO, Putin hält sie für einen rational kalkulierenden Machtpolitiker, für den 2022 der Zeitpunkt gekommen war, den Westen in die Schranken zu weisen. Im Kern ist das bis heute ihre Position. Wagenknecht sei mit ihrer „Querfrontstrategie“ nicht nur eine Konkurrentin für die AfD, sondern auch für den sozialen Flügel der CDU und den rechten der SPD. Die Möglichkeit der Gründung und Durchsetzung einer neuen Partei durch Wagenknecht beurteilt Nachtwey skeptisch. Es fehle ihr an organisatorischen Talent und dem nötigen langen Atem. Zudem mangele es ihr an geeignetem Personal, um sie herum kreisten jede Menge „fragwürdiger Gestalten“, auf die nicht immer Verlass sei. Neugründungen ziehen stets allerhand labile Persönlichkeiten, unsichere Kantonisten und Hasardeure an. Staat ist mit solchen Leuten nicht zu machen, und das will Wagenknecht ja nach wie vor: einen links-autoritären Nationalstaat, der eine keynesianische Wirtschaftspolitik betreibt. An die Stelle der DDR-Nostalgie sei bei Wagenknecht inzwischen eine „BRD-Nostalgie des Goldenen Zeitalters des Kapitalismus“ getreten, das nur in den Köpfen von Sahra Wagenknecht, Oskar Lafontaine und seinem Spezi Albrecht Müller von den „NachDenkSeiten“ existiert. Ich habe es jedenfalls so nicht erlebt. Ich halte es für eine retrospektive Illusion, die sich dem Umstand verdankt, dass es danach, unterm Neoliberalismus, noch schlimmer wurde.

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Ich hoffte, dem Baulärm zu entkommen, aber selbst im botanischen Garten lief eine Betonmischmaschine und lärmte ohne Unterlass. Dazu kamen blöde gickelnde Teenies und schreiende Kinder. Auf einer benachbarten Bank hörte jemand über sein Handy Musik, die kaum als Musik erkennbar war, sondern eher als schabendes, kratzendes Geräusch. Glücklicherweise wehte ein kräftiger Wind, der in den Kronen der alten Bäume rauschte und beinahe alle anderen Geräusche überdeckte. Kastanien fielen neben mir zu Boden und sprangen aus der Schale. Eine besonders schöne hob ich auf und brachte sie U mit. Sie hatte einen anstrengenden Tag in der Schule hinter sich gebracht und war schlagskaputt. Mit der glänzenden Kastanie in der Hand schief sie bald ein.

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Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft Gießen ermitteln wegen des Anfangsverdachts der Untreue gegen Alexander Wright von den Grünen, den Bürgermeister der Stadt Gießen. Eine entsprechende Strafanzeige sei Anfang September schriftlich eingegangen, teilten sie mit. Dem Bürgermeister werde zur Last gelegt, den Verkehrsversuch am Anlagenring weitergeführt zu haben, obwohl ihn das Verwaltungsgericht Gießen am 10. Juli als rechtswidrig eingestuft hatte. Das hätte der Stadt „einen Vermögensnachteil“, etwa durch erhöhte Rückbaukosten zugefügt.

Ein saublödes Ende des Verkehrsversuchs, aber ein zu Anteilen selbst verschuldetes und vor allem auch vermeidbares. Mit Jean-Paul Sartre könnte man das Agieren des grünen Bürgermeisters als „Misserfolgsverhalten“ bezeichnen: Das, was man auf einer programmatischen Ebene vorgibt anzustreben, wird durch eigene Handlungen vereitelt. Menschen bestehen aus verschiedenen Teilpersonen, deren Intentionen sich manchmal durchkreuzen und wechselseitig aufheben. Das heißt: So eindeutig ist die erklärte Absicht möglicherweise doch nicht gewesen. Unbewusste Motive schieben sich zwischen die erklärten Absichten und die Handlungen, die dadurch andere Resultate zeitigen als die programmatisch gewünschten. Man kann in solchen Fällen auch von Selbstsabotage sprechen. In der Stadt sagte dieser Tage, als die Rede auf den Verkehrsversuch kam, jemand zu mir: „Als hätte der grüne Bürgermeister es eigentlich gar nicht gewollt.“ Selbstsabotage gehört seit je her zum Arsenal des Reformismus. Um die Massen bei der Stange zu halten, erklärt man sich mit irgendwelchen radikalen Zielen einverstanden, die Mittel wählt man aber so, dass diese nicht erreicht werden können. Die Geschichte der Sozialdemokratie ist voller Beispiele für diese Form der Sabotage. Da die Grünen ja ein ökologischer Ableger vom Baum des sozialdemokratischen Reformismus sind, ist womöglich auch die lang geübte Praxis des politischen Misserfolgsverhaltens auf sie übergegangen. Man darf ja den Menschen nicht von vornherein sagen, dass man tiefgreifende Veränderungen gar nicht möchte. Nicht alle sind so ehrlich wie Friedrich Ebert, der nach der Abdankung des Kaisers sogleich verkündete, dass er eine Revolution nicht wolle, ja „sie hasse sie wie die Sünde“. Da hätte man früh wissen können, woran man mit der SPD ist. Von „Betrug“ und „Verrat“ kann da nur noch bedingt die Rede sein.

Im Falle des Gießener grünen Bürgermeisters könnte es so gewesen sein, dass er, um eine kleine, aber sehr lautstarke, und drängende Aktivistengruppe nicht zu vergraulen, sich auf den Verkehrsversuch eingelassen hat, diesen dann aber so angelegt hat, dass er scheitert. Und er kann die Gründe des Scheiterns von sich weisen: „Die Gerichte sind es, welche die Umsetzung verhindert haben.“

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„Ein Sinn für Humor ist ein starkes Heilmittel. Ich habe niemals in meinem Leben einen Fanatiker mit Sinn für Humor gesehen, noch habe ich jemals gesehen, dass ein humorvoller Menschen zum Fanatiker geworden wäre …“

(Amos Oz)

In Gießen plakatiert die Satirepartei „Die Partei“ den Slogan: „Gießen gehört den Autofahrern.“ Nach dem Scheitern des sogenannten Verkehrsversuchs ein angemessenes und verständliches Plakat. Unter dem Schriftzug ist ein Auto mit Totalschaden zu sehen. Im letzten Wahlkampf forderte „Die Partei“, aus dem Stadttheater ein Parkhaus zu machen, eine Forderung, der sich viele anschließen konnten. Manche Leute verstehen Satire und Humor nicht. Dazu bedarf es eines Minimums an Intelligenz. Der „thumbe Tor“ versteht solche Witze nicht, wie auch Psychotiker Ironie meist nicht kapieren können. Der spielerische Umgang mit der Wirklichkeit ist beiden verwehrt, allerdings aus unterschiedlichen Gründen. Der „thumbe Tor“ ist zu blöd, die Energien des Psychotikers werden dafür benötigt, seinen Kopf über der Wasseroberfläche der sogenannten Wirklichkeit zu behalten. Da kann er sich nicht auch noch mit ihrer Mehrdeutigkeit befassen.

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„Der Morgen ist klüger als der Abend.“

(Eugen Ruge)

Gestern Abend wurde in dem Film „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ von Matti Geschonnek ein russisches Sprichwort zitiert: „Der Morgen ist klüger als der Abend.“ Das Sprichwort wurde wohl üblicherweise eingesetzt, um vorlaute Kinder und Jugendliche mundtot zu machen. „Ihr glaubt wohl, der Morgen ist klüger als der Abend. Die Weisheit ist auf der Seite des Abends und der Erfahrung.“ Vergessen wird darüber, dass man bestimmte Dinge nur mit dem Übermut und der Sorglosigkeit des Morgens angehen kann. Wenn man immer schon wüsste, wie es am Ende des Tages ausgeht, würde man vieles gar nicht erst beginnen. Im Film lässt es der in den Westen abgehauene Sascha seiner Mutter Irina per Telefonanruf aus Gießen ausrichten. Sie wisse schon, was er ihr damit sagen wolle, lässt er ihr über seinen Vater ausrichten.

In manchen Lebenslagen benötigt man etwas von der Haltung des Opernsängers, von dem Alexander Kluge in einem seiner Filme erzählt. Befragt, wie er es fertigbringe, im ersten Akt einer Oper, die im fünften Akt tragisch endet, auch bei der 81. Aufführung noch Optimismus auszustrahlen, antwortet er: „Im ersten Akt kann ich nicht wissen, wie die Oper im fünften Akt ausgeht.“

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„Je mehr das Leben abnimmt, umso schwieriger wird es, zu sterben. Und das praktische Problem des Todes ist dieses, dass die Menschen ihre Leben so sehr haben abnehmen lassen.“

(Ludwig Hohl: Die Notizen)

Ein erster Oktober wie ein Sommertag! Gegen Mittag wird es noch einmal richtig warm, wenn nicht heiß werden. Das Wasser der Lahn hat noch immer 17 Grad, was zum kurzen Schwimmen reicht. Gestern teilte ich den Steg mit vier jungen syrischen Migranten. Einer wollte, dass man ihn auf der Leiter fotografiert und das Foto nach Hause schickt. Er glitt auf einer Sprosse ab und stürzte voll bekleidet in den Fluss. Alle lachten über sein Missgeschick, er selbst auch. Sie gingen dann schnell in Richtung ihrer Behausung. Sie winkten mir zum Abschied zu – und ich ihnen. Ich blieb noch eine Weile in der Nachmittagssonne sitzen, ging dann ein wenig umher und dachte nach. Worüber? Ich weiß es nicht mehr.

Inzwischen ist mir mein Thema wieder eingefallen. Es war die zunehmende Vereinsamung, von der ich befallen worden bin. Kein Wunder, dass es mir zunächst nicht eingefallen ist. Es ist ein schmerzhaftes Thema. Ich dachte daran, wie Peter Brückner bei einem Besuch in Hannover davon sprach, dass wir alle nach dem Ende der Phase des „öffentlichen Glücks“ von einer Vereinsamung betroffen wären. Das sei gewissermaßen der Normalzustand der Linken in der bürgerlichen Welt, die Revolte sei die Ausnahme gewesen. Er selbst bezeichnete sich als „einsam wandelndes Nashorn“, das er vor der Revolte, in den 1950er und frühen 1960er Jahren, schon einmal gewesen sei. Unsere Lage gleiche der eines „Sleepers“ im Sinne der Spionagedienste, der darauf warten müsse, aktiviert zu werden. Ein Sleeper hat es nicht in der Hand, seine Lage zu verändern – er sitzt auf dem Trockenen und muss warten, bis eine neuerliche Strömung ihn hebt und mitreißt. Man könne in einer solchen Phase nur versuchen, sich lebendig zu erhalten und vor allem die Theorie weiterzuentwickeln. „Kritik ist das theoretische Leben der Revolution“, habe der Genosse Krahl gesagt, mit dem Peter befreundet gewesen war. Nach Lage der Dinge bleibe uns im Moment nichts anderes übrig, als uns auf den Hintern zu setzen und die Theorie auf die Höhe der Zeit zu bringen, damit wir eines Tages, wenn die Menschen aufbegehrten, imstande sein würden, ihnen zu interpretieren, was mit ihnen los sei. Der Maulwurf war für Marx, wie vor ihm schon für Hegel, ein Revolutionssymbol. Das Kommende, sagte Hegel, treibt sich mitunter „sous terre“ herum: „Der Geist gräbt oft wie ein Maulwurf unter der Erde fort und vollendet sein Werk.“ Er wühlt in nicht-revolutionären Zeiten unter der Erde weiter, bis er eines Tages wieder an der Oberfläche auftaucht und seinen revolutionären Mulm aufwirft. Hoffen wir, dass der massenhafte Einsatz von Pestiziden nicht dazu führt, dass die Maulwürfe aussterben. Dann wäre, um im Bild zu bleiben, endgültig Schicht im Schacht.

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Über der Johanneskirche kreisten im tiefblauen Himmel vier Habichte. Ein selten gewordener Anblick. Ich wurde durch ihre durchdringenden Schreie auf sie aufmerksam und sah ihnen eine Weile zu, bis sie in Richtung Lahn verschwanden. Sie lagen einfach so im Wind und ließen sich im Gleitflug davontragen. 2015 wurde der Habicht zum „Vogel des Jahres“ gewählt, ein untrügliches Zeichen, dass es schlecht um ihn bestellt ist.

„Tanja, lass mich doch auch mal reden!“, rief ein Radfahrer auf dem Lahnuferweg seiner Begleiterin zu. Ja, er brüllte es in ihre Richtung. Man ahnte schon, dass dieser Appell nichts nützen würde. Eine gewisse Resignation war aus ihm bereits herauszuhören. Bei vielen Paaren fragt man sich, was sie eigentlich noch zusammenhält. Viele werden insgeheim auf eine baldige Witwen- oder Witwerschaft hoffen.

Im Bücherschrank in der Plockstraße stieß ich auf ein Buch von Wilhelm Genazino, das ich natürlich kenne, denn ich habe alle seine Romane gelesen. Da ich auf dem Weg zur Lahn war, nahm ich die Taschenbuchausgabe von „Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“ dennoch an mich und begann umgehend darin zu lesen. Es ist ein autobiographisch gefärbter Roman, in dem Genazino auf die Anfänge seines Schreibens zurückblickt. Eines Sonntags ist er mit Gudrun, seiner damaligen Freundin, verabredet und geht, um die Wartezeit zu überbrücken, noch ein wenig umher. „An Werktagen machte es mir Vergnügen, den Menschen dabei zuzuschauen, wie sie nachmittags ganz allmählich in ihre Eigentümlichkeit hineinfanden. Ein übergroßes Maß von öffentlicher Leblosigkeit machte dieses Vergnügen an Sonntagen unmöglich. In den Cafés saßen alte Leute oder tote Paare. Die Frauen schoben mit kleinen Gabeln die Krümel in die Mitte ihrer Kuchenteller, die Männer schauten heimlich zur Tür. Ich fühlte den Drang, ihre Erbarmungswürdigkeit sofort einzudämmen, obgleich mir dazu alle Mittel fehlten.“ Seine Mutter besorgt ihm eine Lehrstelle in einer Spedition. Bald darauf unternimmt die ganze Firma einen Betriebsausflug. Die Belegschaft wird in fünf Bussen in ein nahegelegenes Weindorf transportiert und beginnt umgehend damit, sich zu betrinken. „Kurz vor dem Abendessen kippten die ersten Arbeiter um. Sie wurden von ihren routiniert zupackenden  Ehefrauen in die Busse geschleppt und dort abgelegt.“ Ein Gabelstaplerfahrer fällt betrunken von seinem Stuhl und schlägt mit Kopf gegen einen Heizkörper. Abends wird getanzt. Der Lehrling, der im Roman Weigand heißt, wird von Frau Kiefer zum Tanzen aufgefordert. „Ihre Körperlichkeit verwirrte mich, aber nicht sehr.“ Er küsste küsst ihren „magnolienartig aufgeblühten Busen“.

Die Schilderung des Betriebsausflugs und die sexualisierte Atmosphäre in der Firma erinnerte mich an meine erste Ferienarbeit in einer chemischen Fabrik in Kassel. Manchmal wurde ich von meinem Chef in eine andere Abteilung geschickt, um irgendetwas dorthin zu bringen oder abzuholen. Einmal traf ich in einem etwas abgelegenen Lagerraum auf ein Paar, das es gerade auf einem Stoffballen miteinander trieb. Der Mann machte mit der Hand eine wedelnde Bewegung, die mir bedeutete, ich sollte verschwinden. In den riesigen Hallen, die ich durchqueren musste, war es extrem warm und stickig. Die Frauen trugen luftige Kittel. Das war alles zu viel für mich, einen aus einem bürgerlich-protestantischen Elternhaus stammenden Jüngling. Das paradoxe Resultat einer rigiden und umfassenden sexuellen Repression, die dort betrieben wurde, war eine Hypersexualisierung. Jeder hochgerutschte Rock einer Frau trieb uns in den Wahnsinn und wir schlichen um Pornokinos herum. Und dann die leicht bekleideten Arbeiterinnen in der Fabrik, die ständig irgendwelche frivolen Bemerkungen machten. Sie machten sich ein Vergnügen daraus, uns verklemmten Pennäler durch unverblümte Anzüglichkeiten in Verlegenheit zu bringen. Der Arbeiter, den ich beim Vögeln „erwischt“ hatte, zwinkerte mir immer, wenn wir uns begegneten, zu und fragte: „Wenn du auch mal ran willst, sag Bescheid.“ Die Zeit in der Fabrik war eine permanente Reizüberflutung und ich kam die ganzen sechs Wochen lang nicht zur Ruhe. Gut, dass ich im Anschluss an diese Zeit mit meinem Freund Thomas in die Ferien fuhr. Von den etwas mehr als zwei D-Mark, die man als Schüler in der Stunde verdiente, konnten wir uns einen veritablen Jugoslawien-Trip leisten.

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Es ist mal wieder so weit: Die Erstsemester haben ihre Einführungswoche und sind in der Stadt unterwegs. Vor allem nachts macht sich das an einem gestiegenen Lärmpegel bemerkbar. Schrilles Partygeheul der Frauen und das dumpfe Grölen betrunkener Jungmänner erfüllen die Stadt. Das wichtigste Kennzeichen ist: Alle tragen ab einer gewissen Uhrzeit eine offene Bierflasche in der Hand. Sie scheint das wichtigste Zeichen, dass man nun den Status eines Studenten erworben hat Gestern sah ich einen älteren Herren kopfschüttelnd auf Studenten deuten, die nachmittags bereits einen Bierkasten mit sich herumschleppten, und hörte ihn zu seiner Frau sagen: „Das soll unser akademischer Nachwuchs sein! Na denn:gute Nacht.“

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Vor ein paar Tagen stand bei uns im Hausflur ein riesiges Lastenrad. Es war so abgestellt, dass man kaum daran vorbeikam. Hier wurde deutlich signalisiert: Dieses Lastenrad ist ein Statussymbol und ein Mittel der Distinktion: „Seht her, ich benutze so ein Rad und erledige meine innerstädtischen Einkäufe mit ihm.“ Das Lastenrad als Komplettierung eines bestimmten offenen, urbanen Lebensstils. Ein ergiebiges Studienobjekt ist diesbezüglich ein Bewohner unseres Hauses. Er bezieht die taz – ob er sie auch liest, bezweifle ich – seit einigen Jahren betreibt er intensiv, was man in diesen Kreisen „urban Gardening“ nennt. Stolz führt er Besuchern vor, was er in zahlreichen Hochbeeten im Hinterhof angebaut hat. Die Unmengen an Salat und Gemüse kann er gar nicht verzehren. Aber darauf kommt es offenbar auch gar nicht an, jedenfalls nicht in erster Linie. Wichtig ist in gewissen Milieus, dass man demonstriert, dass man Hochbeete angelegt hat und sein Gemüse selbst anbaut. Dazu kommt naturgemäß, wenn kein Luxus-Lastenrad, zumindest ein Anhänger fürs Rad, mit dem man samstags zum Bioladen fährt und eine Kiste Öko-Bier und Säfte auflädt. „Mein Lastenrad, mein Hochbeet, meine bei Hessnatur gekaufte Kleidung“, lautet die grün-alternative Variante einer Sparkassenwerbung aus den 1990er Jahren: „Mein Haus, mein Auto, mein Boot.“ Grün-alternatives Geprotze, abschreckend und widerlich ist. Kein Wunder, dass es die Leute eher zu den Grillwürsten und dem Flaschbier bei der AfD zieht. Wir sind im Begriff, nach dem politischen auch den Kulturkampf zu verlieren.

Apropos Kulturkamp: Gestern wurde ich im Brutto-Netto-Tunnel von einem extrabreiten SUV in die Enge getrieben, das heißt auf meinem Rad in Richtung Wand gedrückt. Als ich den türkisch-arabischen Jungmann am Steuer anbrüllte: „Mann, pass doch auf!“, spitzte sich die Lage schnell zu, und ich kann froh sein, dass ich nicht mit einem Kieferbruch im Krankenhaus gelandet bin.

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An Ostern 2019 war ein junger Mann mit dem 600 PS starken Mercedes seines Vaters durch Moers gerast – ohne Führerschein, aber mit fast 170 Stundenkilometern. Dabei fuhr er auch über die Gegenfahrbahn und rammte das Auto einer 43-jährigen Frau, als sie in die Straße einbog. Der damals 21-jährige Raser floh vom Unfallort und ließ die schwer verletzte Frau zurück, sie starb in einem Krankenhaus. Erst Tage später stellte sich der Unfallverursacher der Polizei.

Im ersten Prozess 2020 hatte dasselbe Landgericht ihn zu lebenslanger Haft wegen Mordes verurteilt. Der Bundesgerichtshof hob dieses Urteil aber auf, da es Widersprüche in der Begründung gegeben habe. Ein Jahr später verhängte das Landgericht Kleve vier Jahre Haft – nicht wegen Mordes, sondern wegen eines verbotenen Autorennens mit Todesfolge. Auch hier sah der BGH Widersprüche und setzte einen dritten Prozess an, der nun vor dem Landgericht Duisburg zuende ging. Der inzwischen 25-Jährige wurde wegen eines verbotenen Kfz-Rennens mit Todesfolge zu fünf Jahren Haft verurteilt. Immer noch scheint in der Justiz die Tendenz vorzuherrschen, solche Straftaten als eine Art Kavaliersdelikt zu betrachten und vergleichsweise mild zu bestrafen. Ein fatales Signal und ein Schlag ins Gesicht der Angehörigen des Opfers. Im Oktober 2021 habe ich mich auf Telepolis unter der Überschrift „Lackierte Kampfhunde – Das Auto als Waffe und männliche Selbstwertprothese“ zum Thema Raserei und den justiziellen Umgang mit ihr ausführlich geäußert.

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