82 | Fallende Blätter, oder: Wie viel Diversität hält eine Gesellschaft aus?

„Ein Mensch, dem der Lebenssinn abhandenkommt, wird Selbstmord begehen. Eine menschliche Einrichtung, sei es eine Familie oder sei es ein Staat, die nur noch – und sei es bestens – funktioniert, aber die nichts darüber hinaus verbindet, die von keiner gemeinsamen Idee oder Vision oder ideellem Interesse getragen und verbunden ist, ist tot und wird verfallen.“

(Christoph Hein)

Als ich gestern Abend nach der Corona-Pause endlich mal wieder ins Kino „Traumstern“ nach Lich fahren wollte, blieb auf dem Gehweg ein kleiner Junge stehen, deutete in meine Richtung und rief laut in Richtung seines Vaters: „Guck mal Papa, der Mann schließt sein Auto mit einem Schlüssel auf!“

Während ich mich immer noch darüber wundere, dass Leute die Autotüren ihrer PKWs mit einer Fernbedienung öffnen, staunt dieser kleine Junge darüber, dass jemand die Tür seines Autos mit einem Schlüssel aufschließt. Was würde er erst für Augen machen, wenn er mitbekäme, dass es bei mir noch ein Telefon mit Wählscheibe gibt? Ich bin offenbar inzwischen ein musealer Mensch, ein Fossil aus einer untergegangenen Stufe der Gesellschaftsgeschichte.

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Gestern war ich schon wieder auf einer Trauerfeier. Diese häufen sich in letzter Zeit. Ingrid ist gestorben. Sie war die famose Frau unseres famosen evangelischen Gefängnispfarrers. Die beiden waren rund sechzig Jahre zusammen. Vor sechs Wochen habe ich sie anlässlich von Ottos 88. Geburtstag noch einmal besucht. Ein Portrait von Otto Seesemann habe ich für den von Günter Grass, Daniela Dahn und Johano Strasser herausgegebenen Band „In einem reichen Land“ geschrieben, der 2002 im Göttinger Steidl-Verlag erschienen ist. Der Geburtstag fiel in die große Hitzewelle dieses Sommers, und wir saßen im Garten im Schatten des Hauses und aßen von Ingrid gebackenen Kuchen. Die Seesemanns haben immer ein offenes Haus geführt, wie ich es im Laufe meines Lebens in vielen protestantischen Pfarrhäusern kennengelernt habe. Ingrid war eine engagierte Frau und hat in zahlreichen Gruppen und Vereinen mitgewirkt. So war denn auch die Markuskirche in Butzbach gestern Mittag ziemlich voll mit Trauernden. Auffallend viele gute Gesichter waren darunter. Auch unser ehemaliger Anstaltsleiter und seine Frau nahmen an der Trauerfeier teil. Im Anschluss ging ich mit den beiden den Berg Richtung Anstalt hinauf, wo ich aus alter Gewohnheit mein Auto abgestellt hatte. Sie luden mich ein, noch ein Getränk auf ihrer Terrasse mit ihnen zu nehmen. Im Laufe des Tages war der Sommer noch einmal zurückgekehrt und so konnte man gut draußen sitzen. Es wurden zwei Stunden daraus, voller intensiver Gespräche und Erinnerungen. Insgesamt war mein Butzbach-Ausflug ein Ausflug in die Vergangenheit, und ich war den ganzen Abend ziemlich nachdenklich.

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Hubert Aiwanger darf bleiben. Söder sagte: „In der Gesamtabwägung … wäre eine Entlassung aus dem Amt nicht verhältnismäßig.“ Zuvor hatte Aiwanger die ihm gestellten 25 Fragen offenbar zu Söders weitgehender Zufriedenheit beantwortet. Die Flugblattgeschichte läge inzwischen 35 Jahre zurück und seit dem Vorfall von damals gebe es nichts Vergleichbares, ließ Söder verlautbaren. Ich habe bereits dargelegt, dass ich in den Erdinger Ausführungen sehr wohl eine gewisse Kontinuität zum Flugblatt erblicke, aber dazu braucht es einen schärferen Blick, als ihn Markus Söder besitzt, und eine antifaschistische Sensibilität, über die er ebenfalls nicht verfügt. Vielleicht sollte man der bayerischen Staatskanzlei das „Nazometer“ anbieten, das Harald Schmidt einmal in seiner Show präsentiert hat und das zuverlässig Alarm auslöst, wenn irgendwelche Nazi-Begriffe verwendet werden. Wo die menschliche Wahrnehmung nicht mehr mit hinreichender Zuverlässigkeit funktioniert, treten ja in vielen Fällen Apparate an deren Stelle. Der Prototyp des Geräts sollte sich im Fundes des Fernsehsenders noch finden lassen.

Das erinnert mich an eine Episode aus dem Gefängnis. Der Sicherheitschef war damit beauftragt worden, die Postzensur bei Manfred Roeder auszuüben, für den, weil er als „Rädelsführer einer terroristischen Vereinigung“ verurteilt worden war, die strengeren Anti-Terror-Regelungen galten, die seit dem Auftauchen der RAF eingeführt worden waren. Roeder feierte in seinen Briefen regelmäßig im April „Führers Geburtstag“, was mir von Mitgefangenen zugetragen worden war. Ich suchte den Zensor auf und fragte ihn, ob ihm bei der Lektüre der umfangreichen Korrespondenz des Gefangenen Roeder nichts aufgefallen sei. Diese Zensur wurde von einem Mann ausgeübt, der wie Roeder auf einer „Napola“, einer nationalsozialistischen Eliteschule, erzogen worden war, dem gleichen Jahrgang angehörte wie der Gefangene Roeder und im Grunde seine „Gesinnung“ teilte. „Sehen Sie, wie gut erzogen die Roeder-Kinder sind, sie lernen alle ein Instrument und bringen ihrem Vater beim Besuch ein Ständchen. Und schauen Sie sich diese Handschrift an! Die zeugt von einem anständigen Charakter!“ Jedenfalls konnte Roeder schreiben, was er wollte, solange er keine Reizworte wie „Heil Hitler“ und „Juda verrecke!“ verwendete, sah der Zensor keine Probleme und ließ die Briefe passieren. Mich belehrte diese Episode noch einmal nachdrücklich über die Kontinuität von Faschismus und bürgerlicher Gesellschaft. Jener war aus dieser hervorgewachsen und war nach seinem von außen erzwungenen Ende auch wieder in dieser verschwunden. In verschiedenen Verdünnungen ist die faschistische „Gesinnung“ also auch im bürgerlichen Bewusstsein enthalten und die Übergänge sind fließend. Die große italienische Kommunistin Rossana Rossanda fragte sich mit Blick auf die spanische Geschichte beunruhigt: „Wenn der Faschismus ohne Trauma in die Demokratie übergehen kann, dann ist auch das Gegenteil möglich.“

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Am Rand des Flachdachs des Nachbarhauses hockten heute Morgen rund ein Dutzende Spatzen dicht nebeneinander und erzählten sich was. Einer hielt sich abseits und saß ein paar Meter weiter allein. Auch als die Gruppe aufflog, blieb er noch eine Weile dort sitzen. Dann flog auch er auf und stieß zum Schwarm. Mit ihm identifizierte ich mich, ihm gehörten meine Sympathien. Nur dass ich schon länger keinem Schwarm mehr angehöre, zu dem ich gelegentlich stoßen könnte.

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Jeden Tag, den ich jetzt noch an der Lahn verbringen kann, empfinde ich als Geschenk und als Zugabe. Es sind kaum noch Leute auf der Lahn unterwegs, und wenn, dann sind es meist vernünftige Menschen ohne Bluetooth-Boxen und Bierkästen an Bord. Unter den Eisvögeln herrscht ein reges Treiben, als wüssten auch sie, dass die schönen Tage gezählt sind. Vielleicht haben sie aber auch nochmal Junge ausgebrütet und müssen sie mit Fisch versorgen. Eine Ente hat sich mit mir angefreundet und schwimmt manchmal zehn Minuten um meine Beine herum, die über dem Wasser baumeln. Manchmal gebe ich ihr kleine Stückchen von einem Apfel ab. Eine besondere Vorliebe besteht allerdings für Birnenstückchen, die süßer und weicher sind.

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So auf dem Steg sitzend, dachte ich mal wieder über ein Thema nach, das mich nun schon seit Jahren beschäftigt. Bei der neuerdings in dominanten und hegemonialen Milieus herrschenden Vorliebe für Diversität wird leicht übersehen, dass auch und gerade demokratische Gesellschaften gemeinsame Auffassungen und Ziele benötigen. Eigentlich muss dieses Wir-Gefühl sogar stärker ausgeprägt sein, als in autoritären Gesellschaften, wo es von außen erzwungen und von oben durchgesetzt werden kann. Eine hinreichende Ordnung und Stabilität des Systems der Gesellschaft und des Staates kann nur gewährleistet sein, wenn, wie Peter Bückner in seinem Buch „Psychologie und Geschichte“ geschrieben hat, „die Funktionen und Gefüge der Person, wenn ‚Psyche‘: Bewusstsein, Gefühl, Affekt, Triebgewohnheit, Körperlichkeit, Denkneigungen und formen der Individuen in die Funktionen und Gefüge des Systems partiell einbezogen sind.“ Um den prekären gesellschaftlichen Zusammenhalt einer über den Markt integrierten Gesellschaft einigermaßen zu gewährleisten, bedarf es einer halbwegs homogenen Wertsphäre und einer verbindlichen symbolischen Ordnung. Man muss die Signale, die von den anderen ausgehen, einordnen und dekodieren können. Was bedeutet der flüchtiger Blick eines Fremden, der mich streift? Was ein Lachen oder Lächeln? Drückt eine bestimmte Geste Freundlichkeit, Häme, Spott oder gar Feindseligkeit aus? Der Verkehr unter sich fremden Menschen in der Anonymität einer Stadt ist stets prekär und steckt voller Möglichkeiten der Fehlinterpretation und Missverständnisse. Irgendeiner hat manchmal ein Messer dabei und sticht zu, weil jemand „komisch geguckt hat“. Mit dem Riskantwerden der Blickverhältnisse habe ich mich vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen im Gefängnis früh beschäftigt. Zum Beispiel im Kapitel „Wenn Blicke töten können“ meines im Jahr 2000 bei Rowohlt erschienenen Buches „Amok – Kinder der Kälte“. Man kann es antiquarisch für ’n Appel und ’n Ei erwerben.

Gesellschaften und Institutionen leben solange wie die Ideen, die sie tragen, wusste schon Saint-Simon. Lösen diese sich auf oder fehlen sie ganz, zerfallen sie. Da hilft dann oft nur noch Gewalt. Aber auch Gewalt kann den Zerfall von Gesellschaften dauerhaft nicht aufhalten, sondern befördert ihn eher. Welche Werte sind den Bewohnern der heutigen Bundesrepublik gemeinsam? Wenn über „Werte“ gesprochen werden muss, ist es im Grunde genommen bereits zu spät: „Erst wenn ein Wert problematisch wird, wird er als ‚Wert‘ gewusst.“ (Ulrich Greiner) Schon, wenn man sich diese Frage stellt, wird einem bewusst, wie wenig es ist, das uns verbindet. Wer ist überhaupt gemeint, wenn man „wir“ oder „uns“ sagt? Gibt es überhaupt ein „Wir“ oder „Uns“? Wie viel Diversität verträgt eine Gesellschaft? Eine Gesellschaft kann umso mehr Diversität aushalten, je sicherer sie sich ihrer grundlegenden Werte ist und je stabiler diese in der Bevölkerung verankert sind. Innerhalb einer gut integrierten Gesellschaft sind die Hauptzwecke allen gemeinsam, und das Ziel, das andere sich setzen, wird für jeden zur Forderung. Wie weit sind wir inzwischen von einem solchen Zustand entfernt! Wenn jeder nur noch tut, was ihm „Spaß macht“ und worauf er „Lust hat“, verkümmert die allen gemeinsame Sphäre. Diese hat in einer Gesellschaft, deren kategorischer Imperativ der Ruf: „Bereichert euch!“ ist, ohnehin etwas Fiktives und Verlogenes. Wahrhafte Gemeinschaft ist erst in einer Gesellschaft möglich, die nicht von Markt und Geld und Privateigentum, sondern Mitmenschlichkeit zusammengehalten wird und auf einer solidarischen Ökonomie basiert. Ich fürchte manchmal, dass 200 Jahre Kapitalismus deren Voraussetzungen so gründlich zerstört haben, dass wir nicht mehr vor der Alternative „Sozialismus oder Barbarei“ stehen, sondern nur noch die Wahl zwischen verschiedenen Varianten der Barbarei haben.

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Ein junger Mann will seine Freundin küssen. In diesem Moment dreht sie den Kopf zur Seite und der Kuss geht ins Leere. Ich vermute, dass sie gar nicht mitbekommen hat, dass sie geküsst werden sollte. Hoffentlich hat dieser fehlgegangene Kuss keine Folgen. Manchmal können solche Szenen ja über einen ganzen Lebenslauf entscheiden. Hätte dieser Kuss an diesem Morgen sein Ziel nicht verfehlt …

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Mit Augenklappe sieht Olaf Scholz gleich viel verwegener und kaltblütiger aus. Er sollte das beibehalten.

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Die Stand-up-Paddler entwickeln sich zu einer Landplage, besser: zu einer Wasserplage. Dabei ist es nicht der einzelne Paddler, sondern ihre Masse. Immer wenn die Dinger bei Aldi oder Lidl angeboten wurden, steigt ihre Zahl und natürlich auch die Zahl der Dilettanten, die sich nicht auf dem Brett halten können und schreiend ins Wasser plumpsen. Das Aufpumpen dauert manchmal endlos und erzeugt nervige Gräusche, aber das geht vorüber. Gestern erlebte ich einen Anfänger-Kurs auf der Lahn. Etwa dreißig Paddler wurden von einer jungen Frau in die Anfänge des Stand-up-Paddlings eingewiesen. Kommandos gellten über den Fluss, und es herrschte ein Gekreische wie am Nichtschwimmer-Becken im Schwimmbad. Da wechselte ich rasch meinen Standort. Wohlgemerkt, ich habe nichts gegen Paddler. Sie stehen wie Gondolieri auf ihren aufblasbaren Brettern und gleiten fast lautlos vorüber. Gelegentlich sitzt vorn ein Hund wie eine Gallionsfigur. Manchmal steht ein tätowierter Muskelmann auf dem Brett wie ein Gesamtphallus oder eine junge Frau, für die das Brett ein Ersatz für den Laufsteg ist. Überhaupt ist eine gewisse narzisstische Komponente beim Stand-up-Paddling unübersehbar. So passt es gut in unsere Zeit und konnte schnell eine Mode begründen. Sogar Yoga findet bereits auf Aufblasbrettern statt. Damit werden zwei Zeitgeist-Fliegen mit einer Klappe geschlagen.

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Auch Volker Weiß erblickt im Falle Aiwanger das Hauptproblem nicht in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart: „Aiwangers Wahlkampfforderung, die ‚Demokratie zurückzuholen‘, und die Rede von einer lediglich ‚formalen Demokratie‘ hinterlassen den Eindruck, dass er noch immer mit der Ordnung fremdelt, die er repräsentieren soll.“ Seine – und auch der CSU – fortwährenden Attacken gegen die Grünen, die „nicht nach Bayern gehören“, können, so Weiß, vom alten Motiv der „Vaterlandsverräter“ nicht lassen. Ein Ur-Topos der Rechtsradikalen und Nazis.

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„Es genügt nicht, sich keine Gedanken zu machen, man muss auch unfähig sein, sie auszudrücken.“

(Karl Kraus)

Jonathan Franzen hat darauf hingewiesen, dass die Fixierung der Klima- und Umweltdiskussion auf das Problem des CO2-Ausstoßes die Debatte unzulässig verkürzt, und zwar auf das technisch Machbare und im Rahmen der herrschenden Verhältnisse Lösbare. Mehr Elekro-Autos, Windräder und Wärmepumpen, und schon können wir weitermachen, wie bisher. Ein ähnliches Phänomen lässt sich auch in der Verkehrswende-Debatte beobachten: Mehr Lastenräder und in jeder Stadt ein paar Fahrradstaßen, etwas weniger Autos in den Innenstädten, dafür ein bisschen mehr Öffentlicher Nahverkehr, und schon haben wir sie: die Verkehrswende! Vor allem: für alle unsere Probleme lassen sich technologische Lösungen finden. Dabei ginge es um einen Wandel unserer gesamten Lebens- und Arbeitsweise, um eine umfassende Entbrutalisierung und Entmilitarisierung aller Lebensbereiche. Der Straßenverkehr hat sich mehr und mehr zu einer Form des Krieges entwickelt . Der steigende Absatz von Geländewagen, SUVs und Pick-ups zeugt davon. Wenn es wahr ist, „dass man eine Nation erst dann wirklich kennt, wenn man in ihren Gefängnissen gewesen ist“, wie Nelson Mandela gesagt hat, so könnte man auch den Straßenverkehr zum Gradmesser dafür machen, wie es um die Zivilisiertheit einer Gesellschaft bestellt ist. Statt an einer Entbrutalisierung des Verkehrs zu arbeiten, was einer demokratischen Gesellschaft gut zu Gesicht stünde und vor allem auch der Umwelt zugutekäme, werden wir Zeugen einer gigantischen Auto-Mobilmachung. Vor ein paar Tagen erfuhr ich aus den Abendnachrichten, dass die Anzahl der in Deutschland zugelassenen PKWs im letzten Jahr noch einmal gestiegen ist. Wir bewegen uns rasant auf die 50 Millionen zu. Es wird mehr statt weniger. In einer solidarischen Gesellschaft mit Freundlichkeit als vorherrschendem Kommunikationsstil bräuchte es keine Fahrradstraßen. Jeder würde im anderen den Mitmensch achten und Rücksicht nehmen. Schwachen würde beigesprungen und Fußgänger und Radfahrer würden nicht länger als „Ungeziefer der Straße“ (Adorno) betrachtet und behandelt. Unsere Städte und Straßen sind Konkurrenz-Universen, in denen ein kaum gezügelter Krieg aller gegen alle herrscht.

Apropos Krieg im Alltag: Im Nachbarhaus werden Wände aufgebrochen und Leitungen verlegt. Es herrscht ein infernalischer Lärm, der das Leben auch in unserem Haus unmöglich macht. Die Arbeiter selbst tragen Ohrenschützer, wir sind dem Lärm schutzlos ausgeliefert. Eigentlich müsste der Hausbesitzer den Nachbarn für die Zeit des Umbaus ein ruhiges Quartier stellen. Aber er hat uns nicht einmal vorgewarnt und informiert. Auch die früher einmal geschützte Mittagsstunde gibt es nicht mehr. Es lärmt in einer Tour, ohne Rücksicht auf irgendjemand. Es geht voran! Ruft man beim Ordnungsamt an, um sich nach Möglichkeiten des Schutzes vor Lärm zu erkundigen, erfährt man vom Band: „Sie rufen außerhalb der Dienstzeiten an.“ Auf dem Amt haben sie noch eine Mittagsstunde. Sie sei ihnen gegönnt.

Ich weiß nicht, ob es woanders anders ist, hier jedenfalls hat man das Gefühl, dass alles zur gleichen Zeit aufgerissen, abgerissen und erneuert wird. So viele Absperrgitter habe ich noch nie gesehen, aus jedem zweiten Haus dringt das Geräusch von Presslufthämmern, Bohrern und Sägen. In den wenigen Pausen jaulen die Laubbläser und dröhnen die soundverstärkten Motoren. Begleitet wird diese Kakophonie von einem permanenten Sirenengeheul. Von morgens sechs Uhr an bis gegen Mitternacht gibt es kaum einen Augenblick, an dem nicht von irgendwoher eine Sirene von Krankenwagen, Feuerwehr oder Polizei zu hören ist. Warum das derart zugenommen hat, weiß ich nicht. Vor Jahren war das vielleicht zehn Mal am Tag zu hören, heute hundert Mal.

Zwischen den Kräften der Beharrung und denen des sogenannten Fortschritts wird es eines Tages zum Krieg kommen. Das Volk zerfällt in lauter Teilvölker, die sich nicht verstehen und bekämpfen. „Materielle und kulturelle Verlustängste vermischen sich toxisch“, wie Roman Deininger in der „Süddeutschen Zeitung“ am Beispiel der Aiwanger-Affäre gezeigt hat, „Kosmopoliten und Heimatbewahrer“, „Anywheres und Somewheres“, Stadtbewohner und Landbewohner, Vegetarier und Fleischesser, sprachsensible, woke Großstädter und Bierzeltbesucher stehen sich mehr und mehr feindselig und mit wechselseitigen Unverständnis gegenüber. Hubsi Aiwanger inszeniert sich als „Ein-Mann-Bollwerk gegen den Sturm des Wandels“ (Deininger), der bei immer mehr Menschen seelische Gleichgewichtsstörungen verursacht. Das, was ich unter Rückgriff auf Friedrich Hebbel das „Meister Anton-Gefühl“: „Ich verstehe die Welt nicht mehr“, nenne, greift um sich und wird in sich zuspitzenden Krisenzeiten militant. Die Gräben zwischen den unterschiedlichen Lagern und Bruchlinien der sozialen Integration werden tiefer und immer schwerer überbrückbar.

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„Die Mauern der Stadt waren bunt von Wandmalereien und Plakaten, auf den Plätzen wurde Theater gespielt, und man verlegte Bücher zum Preis von einem Eis am Stiel, damit jeder Haushalt eine Bibliothek haben konnte.“

(Isabel Allende: Dieser weite Weg)

Heute vor 50 Jahren, also am 11. September 1973, putschte das chilenische Militär mit tatkräftiger Unterstützung der USA gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende und ermordete ihn. Der damalige US-Außenminister Henry Kissinger hatte dem chilenischen Botschafter Orlando Letelier gegenüber den Putsch mit den Worten angekündigt: „Chile hat keinerlei strategischen Wert. Wir können unser Kupfer aus Peru, Sambia, Kanada beziehen. Ihr habt nichts, was entscheidend sein könnte. Aber wenn dieses Projekt Sozialismus à la Allende sich durchsetzt, werden wir in Frankreich und Italien ernsthafte Probleme bekommen, wo Sozialisten und Kommunisten gespalten sind, sich aber an diesem Projekt ein Beispiel nehmen und sich zusammenschließen könnten. Und dies würde die Interessen der Vereinigten Staaten substantiell tangieren. Wir werden es nicht zulassen, dass es zum Erfolg geführt wird. Nehmen Sie dies zur Kenntnis.“ Drei Jahre nach dem Putsch wurde Letelier im Exil von der chilenischen Geheimpolizei ermordet.

Der Sieg der Unidad Popular im Jahr 1970 und die von ihr eingeleiteten tiefgreifenden Reformen hatten bei der Linken weltweit Hoffnungen geweckt, dass es einen friedlichen Weg in eine gerechte und menschlichere Gesellschaft geben könnte. Aus dem gewaltsamen Ende zogen viele von uns den Schluss, dass es nirgendwo auf der Welt einen friedlichen Übergang zum Sozialismus geben würde. Das Ende des demokratischen Sozialismus in Chile zerstörte massenhaft Hoffnungen und gab der Gewalt mächtigen Auftrieb.

Den 11. September 1973 erlebte ich auf einem Campingplatz im Süden der Niederlande. Ich wollte den ganzen September mit meinem Freund Wolfgang dort verbringen. Wir hatten gerade gemeinsam ein Buch über die antiautoritäre Bewegung geschrieben und dachten darüber nach, wie es politisch für uns weitergehen könnte. Die Nachrichten aus Chile erschütterten uns und lösten den Impuls aus, alle um uns herum mit dem zu konfrontieren, was dort geschah. Wir gingen also über den Campingplatz und verwickelten die Urlauber in Diskussionen. Den meisten wollten den schönen Spätsommertag am Strand verbringen und verspürten keine Neigung, sich mit den Ereignissen am anderen Ende der Welt zu befassen. Die Leute ließen uns abblitzen, und wir blieben auf unserer Empörung sitzen. Gegen Abend fuhren wir mit den Rädern ins Nachbardorf, wo Frankfurter Spontis ein Haus besaßen. Dort traf man den ganzen Sommer über auf Leute, mit denen man diskutieren konnte. Ich erinnere, dass auch dort die Ratlosigkeit und die Ohnmachtsgefühle genauso groß waren wie die Wut. Da wir nichts ändern konnten, versuchten wir uns wenigstens einen Reim auf die Ereignisse zu machen und lauschten den Ausführungen eines Genossen, der die legendäre Krahl-Schulung des Frankfurter SDS durchlaufen und eine fundierte Ahnung hatte, wie „der Imperialismus“ funktioniert. Angesichts der Grausamkeiten gingen wir dazu über, sie aus der Theorie „abzuleiten“. Ich begriff damals etwas von der psychologischen Bedeutung des Begreifens. Durch die begriffliche Einordnung wird der unmittelbare Schrecken gebannt und im besten Fall in politisches Engagement überführt. Die andere Seite der Dialektik des Begreifens besteht darin, dass man, wie Horkheimer gesagt hat, „mit dem Begreifen auch zu rasch sein kann“. Angesichts des Elends geht man sofort dazu über, „es zu deduzieren“: „Es handelt sich um ein typisches Beispiel dafür, wie der Imperialismus vorgeht.“ Theorie wirkt wie ein Tranquilizer, der die Empörung wegdämpft.

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Gestern war ich gegen Abend mit meinem Freund Johann an der Badestelle verabredet. Er leitet seit einigen Jahren den psychosozial-Verlag, den er von seinem Vater übernommen hat. Nachdem wir eine Runde geschwommen waren, fuhren wir mit den Rädern ins italienische Lokal hinauf. Es war gut besucht. Viele Leute hatten offenbar den Eindruck, sie sollten den womöglich letzten warmen Sommerabend nutzen und noch einmal draußen und mit Blick auf die Burg Gleiberg speisen und ein kühles Weizenbier trinken. Ich erzähle Johann von den Themen, die mich zur Zeit umtreiben, und machte ihn mit den Thesen von David Goodhart bekannt. Sie bieten einen bisher viel zu wenig genutzten Schlüssel zur Lösung einiger rätselhafter Phänomene der Gegenwart. Stichwort: Hubert Aiwanger als Sprachrohr der „Somewheres“. (Siehe DHP 77)

Als es zu dämmern begann, brachen wir auf und fuhren die Lahn entlang nach Hause. Wir überquerten die Lahn beim Wehr und waren gerade dabei, in die Bootshausstraße einzubiegen, als ein Mann mit Hund uns den Weg verlegte. Ich bremste und suchte mit dem rechten Fuß Halt auf dem Boden, den ich aber nicht fand, da der Straßenrand an dieser Stelle ein wenig abfiel und tiefer lag, als ich angenommen hatte. So trat ich ins Leere und geriet ins Straucheln. Ich stürzte mit dem Rad in den Händen und schlug mit dem rechten Knie auf den Asphalt. Johann erschrak und half mir auf die Beine. Besorgt fragte er, ob ich mir zutraute, mit dem Rad weiterzufahren. Im Schein einer Straßenlaterne besahen wir uns die Schürfwunde am Knie. Auch ein paar andere Körperregionen schmerzten ein wenig, aber ich fühlte mich imstande, mit dem Rad nach Hause zu fahren. Wir trennten uns beim sogenannten Brutto-Netto-Tunnel. Die damalige Bürgermeisterin musste sich wegen der enorm gestiegenen Kosten im Stadtparlament rechtfertigen und verwechselte dabei verschiedentlich brutto und netto. So erhielt der Durchstich unter der Bahn seinen Namen. Zu Hause angekommen, versorgte U mein aufgeschürftes Knie und beklebte es am Ende mit einem Pflaster. Da so etwas ja auch eine symbolische, mütterliche Handlung darstellt, konnte ich danach einigermaßen schlafen. Der kleine Unfall liefert ein weiteres Beispiel für die zunehmende Hinfälligkeit meines Körpers und einen nicht mehr so richtig funktionierenden Gleichgewichtssinn. Ich taumele und stolpere mehr oder weniger durch die Gegend. Ich fasste den Vorsatz, noch vorsichtiger zu sein beim Radfahren. Aufgeben will ich es einstweilen auf keinen Fall. Vielleicht sollte ich mich mit Gedanken vertraut machen, beim Radfahren einen Helm zu tragen. Gerade traf ich vorn im Park einen Freund, der mir berichtete, dass er vor ein paar Tagen ebenfalls mit dem Rad gestürzt ist. Er zog sein Hosenbein hoch und zeigte mir die Abschürfungen am Knie, die allerdings heftiger und großflächiger sind wie meine. Geteiltes Leid ist halbes Leid, wie man so sagt. So richtig hat das mit der Teilung des Leids allerdings noch nie funktioniert.

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„Wir haben die Macht der Richter gefunden, weil wir das Recht nicht finden konnten.“

(Blaise Pascal)

Emmanuel Carrère zitiert aus der Anklagerede der Staatsanwältin Camille Hennetier im Prozess gegen die Attentäter von Paris, die im November 2015 Anschläge begingen: „Entsetzen entsteht dann, wenn der Vorhang vor dem Nichts zerrissen wird, der uns normalerweise ermöglicht, ein friedliches Leben zu führen. Terrorismus ist die Unmöglichkeit eines solchen Friedens. Ihr Urteil wird den Vorhang nicht flicken können. Es wird die sichtbaren und unsichtbaren Wunden nicht heilen. Es wird die Toten nicht wieder lebendig machen. Aber es kann für die Lebenden zumindest sicherstellen, dass hier Gerechtigkeit und Recht das letzte Wort haben.“

Zur Frage nach der „Gerechtigkeit“ heißt es in William Gaddis‘ Roman „Letzte Instanz“: „Gerechtigkeit gibt‘s im Jenseits, hier auf Erden gibt‘s das Recht.“ Auch Gerhard Mauz – lange Jahre Gerichtsreporter des „SPIEGEL“ – zieht in seinem großartigen Buch „Die Justiz vor Gericht“ eine nüchterne Bilanz: Das, was man pathetisch „Rechtsordnung“ nennt, ist gegen Angriffe zu verteidigen, weil es den Versuch darstellt, ein leidliches Zusammenleben zwischen Menschen zu ermöglichen. Das rechtskräftige Urteil eines Gerichts stellt nicht die „Wahrheit“ dar, sondern eine Sprachregelung, die das durch die Tat gestörte „verworrene Gefüge“ des Zusammenlebens aufrecht zu erhalten versucht. „Gerechtigkeit“ im emphatischen Sinn wird es auf Erden nicht geben, sie wohnt, wie Friedrich Dürrenmatt sagte, „in einer Etage, zu der die Justiz keinen Zutritt hat.“  Diese grundlegende Skepsis entbindet uns allerdings nicht von der Verpflichtung, den Versuch zu unternehmen, dem Rechtsstaat „in einem leidlichen, sich nicht vergrößernden Abstand auf der Spur zu bleiben.“ Die Justiz hat also der Versuchung zu widerstehen, dem Volk zu geben, was es in Zorn und Wut will, und darauf zu beharren, in einem der Hitze von Näheverhältnissen und unmittelbarer Betroffenheit entrückten Raum nach vernünftigen Lösungen zu suchen.

Meine langjährige Tätigkeit im Gefängnis hat mich gelehrt: Auch wenn die richterliche Wahrheitsfindung trotz Indizien, Beweisen und Geständnissen immer Züge eines Konstruktes trägt – also nicht „die Wahrheit“ darstellt – hat die Regel, dass am rechtskräftigen Urteil kein grundsätzlicher Zweifel mehr erlaubt ist, ihren guten Sinn. Die forensisch gefundene Sprachregelung bietet allen Beteiligten Schutz vor der unendlichen Auslegbarkeit des menschlichen Lebens. Sie reduziert das Rauschen der Totalität auf eine Stimme und liefert den im Strafvollzug Tätigen eine stabile, nicht anfechtbare Grundlage ihres Handelns. Ohne dieses Festhalten am rechtskräftigen Urteil wären wir in den Gefängnissen aufgeschmissen. Auch die meisten Gefangenen können mit dieser Regelung leben, auch wenn sie fast immer mit irgendwelchen Passagen und Details des Urteils nicht einverstanden sind. Einmal habe ich sogar einen Gefangenen kennengelernt, der mir sagte, die Straftat, für die er aktuell verurteilt worden war, habe er nicht begangen, dafür aber etliche andere, für die andere einsäßen oder vielleicht auch niemand. Er hatte die Theorie, dass die Gesamtmasse der Delinquenz in einer Gesellschaft auf die bekannten Straftäter verteilt würde, unabhängig davon, ob es jeweils den Richtigen träfe. Im delinquenten Milieu kenne jeder jeden, so dass man oft auch untereinander wisse, wer für wessen Straftat gerade einsäße. Wenn es bei dieser merkwürdigen Lotterie zu groben Ungleichgewichten komme, sorge man untereinander für Ausgleich. Polizei und Justiz würden für diesen Lastenausgleich nicht bemüht.

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Gestern Abend sah ich auf Arte den Film „Vatersland“, in dem die Regisseurin Petra Seeger ihre Erfahrungen mit einem deutschen Nachkriegsvater bearbeitet, im Film verkörpert von Bernhard Schütz. Viele familiäre Rituale und Dialoge kamen mir bekannt vor und waren mir sehr vertraut. In der Hauptrolle war die wunderbare Margarita Broich zu sehen. Auch die Hauptfigur des Films verlässt die Familie und findet Zuflucht und eine Behelfsheimat in linken Zusammenhängen. Besonders gefallen hat mir eine Szene im Film, in der die Hauptfigur Marie alte Fotoalben durchstöbert und dann wütend feststellt, dass das Wesentliche auf diesen Bildern nicht zu sehen ist. Ihr kindliches Leid wird durch das vom Vater angeordnete Zwangslächeln verdeckt. Und zum Verschwinden gebracht.

An dieser Stelle springt meine Hirnantilope zu Brecht, der einmal sagte: „Eine Photographie der Krupp-Werke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute.“ Die Ausbeutung ist auf ihnen nicht zu sehen, bloß Gebäude und Maschinen. So kann man auf den vom Vater aufgenommen Bildern der Kinder deren Unglück nicht sehen. Der aufmerksame Betrachter sieht eine Kindermelancholie, die sich dem Umstand verdankt, dass die Kinder bei dem Versuch, lustig auszusehen, traurig und ernst geworden sind.

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Der heute für 11 Uhr angekündigte bundesweite Testalarm fand bei uns um zehn Minuten später statt. Im Ernstfall wäre es nicht so günstig, wenn die Bevölkerung in Gießen mit zehnminütiger Verspätung davon erführe, dass Putin den Atomkrieg begonnen hat oder irgendeine andere Katastrophe eingetreten ist. Mein Handy ist so alt und analog, dass es auf jeden Fall nicht reagierte. Mein Freund Ingo kommentiert: „Im Ernstfall wird uns die Regierung ohnehin anweisen, uns in den Keller und dort in einen der für jeden Haushalt bereitgestellten schwarzen Plastiksäcke zu begeben, den Reißverschluss von innen zuzuziehen und dort auf weitere Anweisung zu warten.“

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Gestern sah ich, wie ein Nachbar eine junge migrantische Frau zurechtwies, die etwas in die gelbe Mülltonne geworfen hatte, die schon geleert vor seiner Haustür stand. „Ist das auch gelber Müll?“, fragte er die sichtlich erschrockene Frau. Er klappte den Deckel der Tonne auf und zeigte triumphierend hinein: „Das gehört hier nicht hin! Das ist eine Papiertüte, die in die blaue Tonne gehört.“ „Tut mir leid“, stammelte die Frau und versuchte, das fälschlich in der Tonne gelandete Tüte herauszufischen. Sie konnte trotz aller Bemühungen den Boden der Tonne nicht erreichen und sah den Herrn der Tonne hilfesuchend an. Dieser kippte die Tonne und sagte: „So, nun kommen Sie dran.“ Die Frau ging auf die Knie und kroch in die Tonne hinein. Sie bekam die Tüte zu fassen, zog sie heraus, richtete sich auf und verschwand mit ihr in der Hand. „Vorn im Park sind Abfallbehälter, da können Sie das Papier hineinwerfen“, rief er ihr noch nach. Die öffentlich in Szene gesetzte Erniedrigung der Frau hatte dem Mann sichtlich Befriedigung verschafft. Mit stolzgeschwellter Brust verschwand er im Eingang seines Hauses. Mit der feinen Witterung des Herrenmenschen hatte er ein Objekt für seine Demütigungsgelüste ausgemacht. Bei einem migrantischen Jungmann hätte er das sicher nicht versucht. Später merkte ich, dass mich diese Szene an Bilder erinnerte, die aus dem Wien nach dem sogenannten „Anschluss“ im Jahr 1938 stammen. Wiener Juden wurden unter Beteiligung der begeisterten Bevölkerung gezwungen, auf die Knie zu gehen und mit Zahnbürsten gegen den Einmarsch der Deutschen gerichtete Parolen von den Gehsteigen zu entfernen. Was die Angelegenheit im aktuellen Fall des Nachbarn noch schlimmer machte, war, dass die Frau ihre kleine Tochter bei sich hatte. Was bedeutet es für ein kleines Mädchen, wenn es der Demütigung seiner Mutter durch einen einheimischen „Herrenmenschen“ beiwohnen muss?

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Zwei Finnen treffen sich in einer Kneipe. „Prost“, sagt der eine. „Ich bin nicht hergekommen, um zu quatschen“, erwidert der andere.

(Ein finnischer Witz, erzählt von Siham El-Maimouni in der Anmoderation eines ttt-Beitrags zu Kaurismäki)

Gestern Abend sind wir schon wieder nach Lich ins Kino Traumstern gefahren. Diesmal um den neuen Film von Aki Kaurismäki anzuschauen, der „Fallende Blätter“ heißt. Wir waren beide sehr beeindruckt von dem Film, der die Geschichte zweier Außenseiter erzählt. Sein Ziel sei, hat Kaurismäki einmal in einem Interview gesagt, dass die Menschen aus seinen Filmen ein wenig glücklicher hinausgingen als sie hineingegangen wären. So würde er mit seinen bescheidenen Mitteln etwas in der Welt hinterlassen. Bei uns beiden ist ihm das gestern auf jeden Fall gelungen. Der wie seine Figuren wortkarge Kaurismäki erzählt moderne Märchen, die am Ende trotz aller Widrigkeiten, die zu überwinden sind, gut ausgehen. Es gehe in der Welt schlimm genug zu, da wolle er lieber Filme mit glücklichem Ausgang drehen. So ist es auch in diesem Film. In einer Karaoke-Bar lernen Holappa (die Ähnlichkeit des Darstellers Jussi Vatanen mit James Stewart ist verblüffend) und Ansa sich kennen, um sich gleich darauf wieder aus den Augen zu verlieren. Es sind zwei Underdogs auf der Suche nach dem Glück, das ihnen nach etlichen Umwegen dann auch beschieden ist. Merke: Wie in vielen Kaurismäki-Filmen taucht auch in diesem irgendwann ein Hund auf, ein Streuner, der in einer Fabrik Zuflucht gesucht hat und nun vom Direktor zum Einschläfern gegeben werden soll. Ansa nimmt ihn mit nach Hause. Er ist ihre Gegeneinsamkeit und ihr Übergangsobjekt, bis Hollapa dem Alkohol entsagt und Ansa sich auf ihn einlassen kann. Der Hund heißt „Chaplin“, eine Hommage an Kaurismäkis großes und immerwährendes Idol. Ein toller Film, den ich euch ans Herz legen möchte. Eine Zugabe gewissermaßen, denn Kaurismäki hatte bereits im Jahr 2017 nach seinem Film „Die andere Seite der Hoffnung“ angekündigt, keine weiteren Filme mehr drehen zu wollen und zu können. Die Zeit, da das Wünschen noch geholfen hat, schienen ihm endgültig vorüber zu sein. Auch wenn ich glaube, ihn zu verstehen, hoffe ich doch, dass er seine Ankündigung auch dieses Mal nicht wahr macht und dass wir in ein paar Jahren noch einmal glücklicher aus dem Kino herauskommen als wir hineingegangen sind.

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„Guck mal“, sagte ein junger Mann, der vorn in einem Kanu hockte zu seiner Begleiterin, „da ist so ein Dings, keine Ahnung, wie der Vogel heißt.“ Dabei deutete er in Richtung eines Reihers, der am Ufer auf einem Stein hockte und stoisch aufs Wasser blickte.

Fünf Kanus schlossen sich zu einem „Päckchen“ zusammen. So nennen es die Kanuten, wenn sieh mit ihren Booten nebeneinanderlegen und sich dadurch eine größere Stabilität verleihen. Diese Boote waren mit bereits betrunkenen jungen Männern besetzt, die nun ein paar Meter flussaufwärts eine Flasche Schnaps kreisen ließen. Sie brüllten sich Obszönitäten zu und machten den Fluss zu ihrer Partyzone. Wie überhaupt viele junge Leute dazu neigen, die Welt als Partyzone zu betrachten. In diesem Punkt scheinen die deutschen Basketballer, die unlängst Weltmeister geworden sind, ihre Vorbilder zu sein. Ich war schwer enttäuscht, als ich diese nach ihrer Rückkehr beim sogenannten Feiern sah und hörte, wie sie das übliche Party-Geheul ausstießen. Aus meinen weit zurückliegenden Erfahrungen mit den Basketballern vom MTV-Gießen hatte ich ein positives Bild von dieser Sportart und den Menschen, die sie betreiben. Das habe ich nun korrigieren müssen. Die heutige Generation der Basketballer ist genauso blöd und geldgeil wie der Rest der Welt. Der Fuhrpark von Denis Schröder wird nach dem Triumph noch weiter wachsen, genauso wie die Zahl seiner Bewunderer und Follower.

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Zwei Tage, nachdem wir den Kaurismäki-Film gesehen hatten, war auch außerhalb des Kinos ein Tag der „fallenden Blätter“. Ich saß auf dem Steg an der Lahn und hörte den Wind in den hohen Bäumen am Ufer rauschen. Er riss die bereits welken Blätter von den Ästen und wehte sie über den Fluss, wo sie niedersanken und auf dem Wasser dahintrieben. Nach einem sommerlichen Nachschlag kommt nun der Herbst zurück, der zuvor bereits einmal dagewesen ist. Wir sind noch einmal ausgiebig geschwommen. Man muss nun jeden sonnigen Tag nehmen, als wäre es der letzte des Jahres.

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Ich hatte zum sogenannten Verkehrsversuch in Gießen gesagt, er werde nicht zu Tage fördern, „was uns verbindet“, sondern was die unterschiedlichen Lager trennt. Wobei ich zu erwähnen vergaß, dass auch der Hass eine Verbindung darstellt, mitunter sogar eine sehr innige. Der Hassende ist auf das Objekt seines Hasses fixiert und kann von ihm nicht lassen. Er benötigt es zum Zwecke der eigenen Selbststabilisierung. Meist ist das gehasste Objekt im Hassenden anwesend und bildet so etwas wie den verfemten und nach außen verlegten Teil der eigenen Person. Äußeres weist  innen auf Verschüttetes, schrieb einmal der Schweizer Schriftsteller Reto Hänny, und indem der Hassende gegen das gehasste Objekt vorgeht, rettet er sein prekäres inneres Gleichgewicht. Das Verschüttete kann verschüttet bleiben.

Warum hassen gewisse Autofahrer die Radfahrer? Weil sie insgeheim wissen, dass sie Recht haben und eine Lebensform verkörpern, die ihnen Angst macht. Radfahren ist „konvivial“, heißt es bei Ivan Illich. Es steht für eine Lebensweise, die sich eher im Einklang mit dem Fluss des Lebendigen befindet, die weniger brutal, technisch, schnell und spitz ist. Wobei das nicht für alle Formen des Radfahrens gilt. Ich meine nicht jene behelmten Ritter auf ihren Rennmaschinen, die, wie die Autofahrer, in gemächlich Radelnden eine Art „Ungeziefer der Straße“ erblicken, das es wegzuklingeln, zu verscheuchen und zu vertilgen gilt. Radfahrer sind nicht per se bessere Menschen.

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Herbstliche Stimmung an der Lahn. Foto: Götz Eisenberg

Heute ging ein heftiger Westwind, der die Wasseroberfläche der Lahn kräuselte. Der Wind wehte vom Meer her, fast meinte ich, es riechen zu können. Als ich auf dem Steg saß, stellte sich mein Nordsee-Gefühl ein. Mehrere Jahrzehnte lang habe ich den September an der niederländischen Nordseeküste verbracht. In der Corona-Zeit ist diese Tradition abgerissen und ich habe sie bis heute nicht wieder aufgenommen. Ich habe über die Gründe in Folge 56 der DHP berichtet.

Untermalt wurde die heutige Szenerie von einem atemberaubenden Licht, wie es nur der Herbst hervorbringt. Ein Eisvogel schoss dicht über dem Wasser vorüber und schillerte, als er von der Sonne erfasst wurde, in allen möglichen Farben. Ich hatte die Badestelle für mich allein, und es war wunderbar. Im öffentlichen Bücherschrank hatte ich ein Buch von Dieter Wellershoff aus dem Jahr 2005 entdeck, das „Das normale Leben“ heißt und Erzählungen versammelt. Mit Dieter Wellershoff hat mein Freund Burkhard mich zeitig bekannt gemacht. Ich lese seine Bücher seit fünf Jahrzehnten. Leider ist Dieter Wellershoff vor fünf Jahren gestorben. Dieses Buch war mir bisher entgangen, und ich begann sofort mit der Lektüre der ersten Geschichte, die mich fesselte.

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