„Was kommen würde, war eine Welt ohne das Hand-Werk, eine künstliche Welt, letztlich ohne Körper.“
(Lutz Seiler: Stern 111)
Nun geht die Partei „Die Linke“ vollends in einen Selbstzerstörungsprozess über. Niemand muss diese Partei verfolgen oder verbieten, die nimmt ihre Zerschlagung in eigene Regie. Auch Dietmar Bartsch, der auf mich immer wie ein Fels in der Brandung und der getreue Eckart der Linkspartei wirkte, kündigte dieser Tage an, nicht mehr für den Fraktionsvorsitz zu kandidieren. Das will wirklich etwas heißen und ist ein echtes Alarmsignal. Bartsch versuchte bei der Ankündigung seines Schrittes optimistisch zu bleiben, aber es hatte dennoch etwas von einem Leichenbegängnis und einem Nekrolog. Er beherrscht die Tugend der Maskierung bei öffentlichen Auftritten und behelligt das Publikum nicht mit seinen Gefühlen. Amira Mohamed Ali hatte bereits vor Wochen ihren Entschluss kundgetan, nicht mehr als Fraktionsvorsitzende zur Verfügung zu stehen. Sie könnte allerdings eine neue Heimat in einer Wagenknecht-Partei finden, deren Gründung nun immer wahrscheinlich wird. Vielleicht kommt es aber auch zu einer unfreundlichen Übernahme der Linkspartei durch Frau Wagenknecht, was ihr den heiklen Schritt einer Neugründing ersparen würde. Sie wäre dann so etwas wie eine Insolvenzverwalterin des maroden Projekts Linkspartei.
Der groß und lautstark in Szene gesetzte Streit des Führungspersonals kann die tiefe konzeptionelle Krise der Linken nicht verbergen, an deren Aufarbeitung niemand so richtig heranwill. Wer ist das Subjekt der Veränderung? Was ist eigentlich das Ziel der Linken? Was für eine Gesellschaft strebt sie an? Wie hält man es mit Putins Russland und der sowjetischen Geschichte? Was ist mit den Hekatomben, die die Linke im Laufe ihrer Geschichte produziert hat? Alles nur Späne, die beim Hobeln nun mal anfallen? Solang die Linkspartei ihr Verhältnis zu Russland nicht eindeutig geklärt hat und weiter so herumlaviert, wird es nichts mit dem fälligen Neustart. Da kann man an die Spitze stellen, wen man will. Dabei liegen die Themen für eine lebendige Linke auf der Straße und müssten nur aufgesammelt und angeeignet werden. Nils Minkmar hat das in der heutigen Ausgabe der SZ so formuliert: „Migranten werden drangsaliert, Menschen wegen ihrer Hautfarbe schikaniert, Abschiebungen und harte Grenzkontrollen gelten als Mittel der Wahl. Rassismus macht sich wieder breit -den linken Gegenentwurf dazu gibt es längst. Er ist ganz einfach. Vier kurze Worte transportieren die waghalsigste Kritik an den Verhältnissen und zugleich das schönste Versprechen, das die deutsche Sprache anzugeben vermag: Alle Menschen werden Brüder. Geschrieben hat sie Friedrich Schiller 1785, und weil wir noch nicht so weit sind, enthält die Zeile schon das ganze Programm, das eine Linke braucht.“
Über allen linken Aktivitäten sollte die Maxime stehen, dass die Grundrechte und die Menschenwürde eines jeden und einer jeden bedingungslos zu verteidigen sind. Wenn wir uns darauf verständigen könnten, wären wir schon einen guten Schritt weiter. Vielleicht müssen wir wieder ganz von vorn beginnen und uns auf basale und ganz einfach klingende Dinge besinnen. Zurück zu einem Punkt, der vor den vielen falschen Abzweigungen in der Geschichte der Linken seit 1789 liegt. An welchen Punkt würde ich gern zurückkehren? Ich würde, wenn ich es mir aussuchen könnte, an der Seite von Louise Michel durch die Straßen des aufständischen Paris während der Commune gehen und mit ihr über ihre Vision eine freien Gesellschaft reden. Für zwei Monate schien es im Jahr 1870 so, als könnte das Volk sein Schicksal in die eigenen Hände nehmen und ohne Herren über seine Zukunft entscheiden. Dann wurde das Projekt von der Konterrevolution in Strömen von Blut ertränkt. Binnen einer Woche wurden rund 20.000 Aufständische, darunter viele Frauen und Kinder, von den Regierungstruppen massakriert. Preußen, das Frankreich zuvor bei Sedan kriegerisch besiegt und Kaiser Napoléon III. gefangen genommen hatte, hielt in Gestalt von Bismarck schützend seine Hand über diesen grauenhaften Rachefeldzug der französischen Bourgeoisie. Sebastian Haffner sah in den Ereignissen von Paris von März bis Mai 1871 ein Muster von Revolution und Konterrevolution vorgebildet, das sich im Laufe des 20. Jahrhunderts mehrfach wiederholen sollte. Denken wir zum Beispiel an die Massaker der Freikorps in den Jahren nach der gescheiterten deutschen Revolution von 1918 oder der niedergeworfenen Bayerischen Räterepublik.
Immer öfter denke ich, was ich seit Langem immer mal wieder denke und gelegentlich auch geschrieben habe: Vielleicht gehören wir zu den letzten Exemplaren eine seltsamen Spezies von Leuten, die von der fixen Idee durchdrungen sind, in der Geschichte verwirkliche sich eine Idee, ihr wohne ein Sinn und ein Ziel inne. Diese Idee ist vom deutschen Idealismus, namentlich von Hegel, in die Linke und den Marxismus eingewandert und hält sich dort trotz all der Katastrophen, die sich in ihrem Namen ereignet haben, bis auf den heutigen Tag. Das Tröstliche ist: Auch wenn die Geschichte keinen ihr innewohnenden Sinn hat, der sich in ihrem Fortgang zu erkennen gibt und verwirklicht, können wir ihr einen Sinn verleihen und so auch unserem individuellen Leben einen Sinn geben. Auf dem Zusammenhang von Geschichte und Lebensgeschichte würde ich beharren, weil sonst alles ins Beliebige rutschen würde und man sich umbringen oder aber gleich in die FDP eintreten könnte. Man kann also, wie Camus es propagiert hat, Auge in Auge mit dem Abgrund existieren und dennoch versuchen, seinem Dasein einen Sinn abzugewinnen. Auch André Gorz habe ich immer so verstanden, dass es unsere Aufgabe als Menschen ist, der gesellschaftlichen Entwicklung eine freiheitliche Richtung und unserem Leben einen auf diese bezogenen Sinn zu geben. Wenn alles richtungslos vor sich hintrudelt und wir nicht steuernd eingreifen, werden wir in einer chaotischen Barbarei versinken. Angesichts der Übermacht der Fragen, auf die wir keine Antworten haben, „erwächst die Sehnsucht nach fundamentalistischen Gewissheiten ohne Fragen“ (André Gorz). In genau dieser Phase befinden wir uns zur Zeit. Lange kann man einen solchen Zustand, wo alles in der Schwebe und unfixiert ist, nicht aushalten. Ich schreibe unter anderem, um die Angst zu bannen, die von einer solchen Situation freigesetzt wird und die für mich ohne ständiges Dagegenanschreiben nicht zu ertragen wäre. Wir sind gezwungen, das Geländer loszulassen, an dem Generationen von Linken sich entlanggehangelt und festgehalten haben. „Weltformel nicht gefunden, vermutlich alles sinnlos“, heißt es lakonisch bei Herrndorf, der sich heute vor zehn Jahren erschossen hat. Allerdings nicht nur oder vorrangig deswegen.
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„Wir sind nicht mit Kalaschnikows aus dem Bauch unserer Mütter gekrochen.“
(Mohamed Abrini nach Emmanuel Carrére V 13)
Am Wochenende droht uns das Stadtfest. Es kündigt sich seit der Amokfahrt vom Berliner Breitscheidplatz dadurch an, dass Poller auf den Zufahrtswegen aufgestellt werden, die potenziellen Amokfahrern die Zufahrt verwehren sollen. Was sie im Zweifel nicht tun würden, denn auch Krankenwagen und Feuerwehr-Autos müssen ja passieren können. Die Poller wirken eher so, als würde die Stadt tatgeneigten Individuen sagen: „Tut es nicht, wir raten euch dringend ab, aber wenn ihr es unbedingt tun müsst, dann solltest ihr es jetzt ins Auge fassen! Hinter den Pollern sind viele Menschen unterwegs.“
Das Stadtfest ist ein großer alkoholischer Exzess und ein narzisstischer Laufsteg. Bei gutem sommerlichem Wetter hat es schon bis zu 100.000 Menschen in die Stadt gelockt. Ich kann nur hoffen, dass das durch den sogenannten Verkehrsversuch verursachte Chaos viele Leute davon abhält, mit dem Auto aus dem Umland in die Stadt zu kommen.
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Der Starkregen der letzten Tage hat den Pegel der Lahn merklich steigen lassen und außerdem viel Dreck und Ackergifte in den Fluss gespült. Für ein paar Tage werde ich aufs Schwimmen im Fluss verzichten müssen. Gestern Abend saßen wir eine Weile am Ufer und sahen aufs schnell dahinströmende Wasser. Es führte große Mengen Treibholz mit sich. Es sah so aus, als hätte sich ein Unglück ereignet und seine Trümmer in den Fluss gespien. Hat es ja auch, wenn auch nicht unbedingt hier und in unserer näheren Umgebung. Im Moment ist so, als wäre die ganze Welt ein einziges riesiges Unglück.
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Ein Nachbar nutzt den arbeitsfreien Samstag, um rund ums Haus „Ordnung zu schaffen“. Das heißt, er schiebt eine Kehrmaschine über den Hof, kehrt in den Ecken, in die er mit der Maschine nicht hinkommt, mit einem Reisigbesen. Er fährt die Gitterstäbe des Hoftores mit dem Besen ab, was mit einem lauten Klappern einhergeht. Heute gönnt er sich den Luxus, das sogenannte Unkraut zu entfernen, das sich aus dem Spalt zwischen dem Gehweg und einem Mäuerchen herausgezwängt hat. Er kniet vor dem Mäuerchen und kratz Moos aus den Fugen. Eine Passantin weist ihn darauf hin, dass man doch für jedes bisschen Grün froh sein könne in der Stein- und Betonwüste der Stadt. Er quittiert das mit der Bemerkung: „Das kommt schneller wieder als man denkt.“ Rund zwei Stunden wütet der Mann, dann ruft ihn seine Frau zum Kaffee ins Haus. Immerhin: Den Vormittag hat er schon mal hinter sich gebracht, ohne der Leere seiner Existenz gewahr zu werden. Nach der Kaffeepause setzt er allerdings sein Zerstörungswerk fort. Es gibt um die Ecke noch ein weiteres Mäuerchen. Als Höhe- und Schlusspunkt kommt der Laubbläser zum Einsatz.
Der Ornithologe Peter Berthold hat vor Jahren bereits darauf hingewiesen, jeder könne zur Rettung der Insekten und damit auch der Vögel beitragen, indem er keinen „Psychopathen-Rasen“ anlegt, sondern ihn so wachsen lässt, wie er halt im Wildwuchs wächst. In den Städten die Dächer und Balkone begrünen, das seien alles kleine Schritte, die helfen könnten. Und eben das bisschen Grün sprießen lassen, dass sich neben Asphalt und Beton hervorwagt.
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Ich war heute Morgen bereits schwimmen. Der Fluss ist im Moment dank einer starken Strömung wie ein Laufband. Man strampelt sich ab und kommt keinen Meter vorwärts. Man muss sich sogar anstrengen, um nicht flussabwärts abgetrieben zu werden. Eine Anmutung von Herbst liegt bereits in der Luft, Blätter treiben auf dem Wasser. Die Sonne stand über den Erlen – bleich hinter einer dünnen Wolkendecke. Zwei frühe Paddler zogen vorüber und hinterließen eine breite Spur von Blasen auf dem Wasser, die sich erstaunlich lang hielten. Genau gegenüber vom Steg, auf dem ich saß, fing ein Eisvogel seine Frühstücksfische. Das ruhig dahinströmende Wasser ließ mich selbst ruhig werden. Mitten auf dem Weg zur Straße saß ein kleinen Kaninchen und ergriff auch nicht die Flucht, als ich mich näherte. Es war offensichtlich krank. In den letzten Wochen grassierte in den Lahnauen eine Kaninchen-Seuche, der Hunderte von Tieren zum Opfer gefallen sind. Die Stadt hat sie vom Gartenamt einsammeln lassen. Das erzählte mir ein Jäger, den ich auf dem Heimweg traf und nach dem seltsamen Verhalten des Kaninchens fragte. Er trug einen Hut mit Feder dran und sein Gewehr an einem Riemen über die Schulter gehängt. Wie es sein soll, ein richtiger Bilderbuch-Jäger. Ich fuhr dann gemächlich zum Frühstück nach Hause.
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„Ich kann also sagen, dass ich im Salon meiner Mutter und der Bibliothek meines Vaters aufgewachsen bin. Seitdem ist mir die Beschäftigung mit Büchern und der Umgang mit geistig bedeutenden, interessanten Menschen eine Lebensnotwendigkeit. Das erste ist verhältnismäßig leicht zu beschaffen, das zweite weit weniger. Ohne Bücher kann man zur Not auskommen, ohne Menschen, die einem etwas bedeuten, nicht.“
(Nicolaus Sombart: Jugend in Berlin)
Im Johannespark hat sich ein Mann nach dem Genuss von drei Flaschen Bier zum Schlafen auf eine Bank gelegt. Die leeren Bierflaschen stehen neben ihm am Boden. Er setzt offenbar darauf, dass die Flaschensammler seinen Besitz respektieren und die Flaschen stehenlassen. Als ich gegen Mittag aus der Stadt zurückkomme, stehen sie tatsächlich noch da, und der Mann schlummert tief und fest. Ein leises Schnarchen entsteigt seinem halb geöffneten Mund. Ein solches Maß an Sorglosigkeit und Desintegration habe ich nie aufgebracht oder zugelassen. Nie habe ich es mir zugestanden, mich derart hängen zu lassen. Im Grunde bin ich froh darüber und bereue es nicht, diese Erfahrung nicht gemacht zu haben. Aber ich achte solche Existenzformen. In gewisser Weise nötigen sie mir sogar Respekt ab. Dieser schlafende und leise schnarchende Mann ist mir näher als die zwei Banker, die ein paar Meter weiter auf einer der benachbarten Bänke sitzen und ihr Sushi aus Plastikbehältern essen. Wenn ihre Pause zu Ende geht, werden sie in ihre trostlosen Büros zurückkehren und weiter ihrer sinnlosen Pseudo- oder Kryptoarbeit nachgehen.
Heute Nacht wurde ich von üblen und schmerzhaften Krämpfen heimgesucht. Es gelang mir gerade noch, aus dem Bett zu steigen und die krampfenden Muskeln wieder zu lockern. Ich war nach dem Schock schweißgebadet und musste duschen. Dann schaltete ich mitten in der Nacht den Fernseher ein und geriet in einen sehenswerten Gefängnisfilm, den ich mir eine Weile anschaute. Am nächsten Morgen wachte ich ziemlich gerädert auf und fuhr zum Schwimmen an die Lahn.
Auf dem Weg lag ein totes Kaninchen, an dem Elstern herumzerrten. Es scheint nicht so einfach zu sein, so ein Tier aufzubrechen und an das Fleisch heranzukommen. Dann setzte ich mich auf den Steg und begann in einem Buch zu lesen, das ich dieser Tage im öffentlichen Bücherschrank gefunden habe: Nicolaus Sombart: Jugend in Berlin. Das Buch des Sozialwissenschaftlers und Schriftstellers schlug mich sofort in seinen Bann. Es atmet den Geist eines unabhängigen Menschen. Sombart war ein Bürger im besten Sinn des Wortes, etwas, das so heute nicht mehr existiert. Sein Vater war Werner Sombart, ein bekannter Ökonom und Soziologe, der als Erfinder des Begriffs „Kapitalismus“ gilt. Sein Sohn schreibt über ihn: „Sein Ehrgeiz als junger Extraordinarius war es, das Werk von Karl Marx zu vollenden. Dieser hatte das ‚Kapital‘ geschrieben, er schrieb die ‚Geschichte des Kapitalismus‘ (die Wortprägung Kapitalismus stammt überhaupt von ihm), eine bis heute unübertroffene Leistung, ein ganz großer Wurf. Er wusste, dass die Zukunft des Kapitalismus der Sozialismus war. ‚Wenn Sie mich fragen‘, so sagte er einmal zu Ernst Bloch, der es mir erzählte, ‚ob ich diese Entwicklung für unausweichlich halte, so antworte ich mit Ja; wenn Sie mich fragen, ob ich sie begrüße, so sage ich Nein.‘ In diesem Bonmot steckt der ganze Mann.“
Man spürt sofort, dass eine solche Existenz- und Lebensform das Produkt von Privilegien ist, die nicht vielen zuteil werden. „Was neben dem Salon meiner Mutter aber dem Elternhaus sein eigentliches Gepräge gab, war die gewaltige Bibliothek meines Vaters, der noch zu jener Generation von Wissenschaftlern gehörte, die im Besitz ihrer Produktionsmittel waren.“ Ich habe schon bekannt, dass ich ein Faible für diese Form des Bürgerlichen habe. Ich habe ein Loblied auf den Typus des nicht-faschistischen Bürgers geschrieben, das im Mai 2022 auf Telepolis erschienen ist. Damals wählte ich als Modell für diesen Typ aufgeklärter, im besten Sinn liberaler Bürgerlichkeit Sándor Márai. Ich bezog mich vor allem auf dessen Buch „Bekenntnisse eines Bürgers“. Wenn ich ihn damals bereits gekannt hätte, hätte ich auch Nicolaus Sombart nehmen können. Die „Trauer um den Tod des bürgerlichen Individuums“ hat Hans-Jürgen Krahl für ein entscheidendes Konstituens der antiautoritären Bewegung gehalten. Wir sind vielleicht die letzte Generation, die noch einen Zipfel dieser Bürgerlichkeit zu fassen bekommen hat. Dann wurde sie von der Furie des Verschwindens erfasst und verschwand zugunsten einer konsumistischen Einheitskultur, zu deren Leitmedium das Fernsehen avancierte. In der Welt des Nicolaus Sombart war es noch unumstritten das Buch. Den Untergang einer bestimmten Stufe der Kultur kann nur betrauern, wer noch einen Geruch von ihr in der Nase hat. Adorno hat dieses, wenn man so will, konservative Moment des rebellischen Bewusstseins in einem Brief an seinen Freund Horkheimer aus dem Jahr 1957 so formuliert: „Zum Schluss noch ein Gedänkchen: in allen Bewegungen, welche die Welt verändern möchten, ist immer etwas Altertümliches, Zurückgebliebenes. Das Maß dessen, was ersehnt wird, ist immer bis zu einem gewissen Grade Glück, das durch den Fortschritt der Geschichte verloren gegangen ist. Wer sich ganz auf der Höhe der Zeit befindet, ist immer auch ganz angepasst, und will es darum nicht anders haben.“ Dieser Aspekt tritt einem deutlich vor Augen, wenn man zum Beispiel das Kapitel über die Kochkunst im Hause Sombart liest. Diese war natürlich klassenspezifisches Privileg und ohne Dienstpersonal nicht denkbar, und Sombart ist sich dessen auch vollauf bewusst gewesen. Er leidet unter dem Verlust dieser großbürgerlichen Koch- und Ess-Kultur, wie sie der Zweite Weltkrieg mit sich brachte. Wer nur Fastfood-Lokale und den entsprechenden Junkfood kennt, kann keinen Verlust an Koch- und Esskultur empfinden und wird nichts vermissen. Er oder sie weiß es nicht anders und besser. Bei Sombart heißt es: „Heute, ach heute, ist eben nichts mehr selbstverständlich, ist nichts mehr so, wie es eigentlich sein müsste. Das heißt freilich nicht, dass man sich damit abfinden muss. Alles ist erst dann verloren, wenn man die Maßstäbe verloren hat und den Miserabilismus als das Normale akzeptiert.“ (Jugend in Berlin, Seite 84) „Was erleben wir heute? Das peinliche Schauspiel der Saturnalien des Zerfalls. Schlimmer noch: das Marketing der Surrogate.“
Ich verspeiste nebenher ein Stück Pflaumenkuchen, das ich auf dem Hinweg in der Hofbäckerei erstanden hatte. Als U nach einer Stunde am Steg auftauchte, gingen wir gemeinsam schwimmen. Diese Sommermorgen am und im Fluss bedeuten für mich Leben und lebendig zu sein. Es ist, als flösse der Fluss als Strom des Lebendigen auch durch mich hindurch. Was sich hier einstellt, ist so etwas wie Glück. Dazu brauche ich keine Fernreisen und Flüge zu fremden Stränden. Es findet sich gleich um die Ecke.
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Im sächsischen Bischofswerda ist am Mittwoch, dem 23. August, ein ehemaliger Schüler in eine Schule eingedrungen und hat einen achtjährigen Schüler mit einem Messer schwer verletzt. Der Täter konnte von Einsatzkräften überwältigt werden, das verletzte Kind wurde mit einem Hubschrauber in eine Klinik geflogen. Der Zustand des Jungen sei stabil. Es handele sich um einen Drittklässler. Er habe Wunden an Kopf und Hals davongetragen. Über das Motiv des sechzehnjährigen Täters wurde bisher nichts bekannt. Die Ermittlungsbehörden gehen von einer amokartigen Tat aus. Der Täter hatte sich nach der Tat selbst angezündet, die Flammen konnten aber rasch gelöscht und der junge Mann festgenommen werden. Wir sagen achselzuckend: „Aha, wieder mal ein jugendlicher Amoktäter!“ Aber was sagt das? Was mag im Kopf und in der Seele eines Sechzehnjährigen vor sich gegangen sein, bevor er zu so einer Tat schritt? Wie wird aus einem Jugendlichen ein Amokläufer? Über der Gewalttätigkeit des Terrors wird die gewaltförmige Seite unseres Alltags vergessen. Die bürgerliche Gesellschaft ist auf Gewalt fundiert und bringt diese in mannigfachen Formen hervor. Ich habe mir im Laufe der letzten 25 Jahre eine Menge Gedanken zu diesem Thema gemacht, die ich jetzt nicht wiederholen will. Man findet sie gebündelt zum Beispiel in einem Text, der „Von Orlando bis München: Amok oder Terror?“ heißt und im dritten Band meiner „Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus“ (Seite 100ff) enthalten ist.
Der Frage, warum Schulen privilegierte Orte für Amoktaten sind, bin ich in der „Frankfurter Rundschau“ fünf Jahre nach dem Amoklauf von Erfurt unter dem Titel „Schulen als Orte der Kränkung und der Gewalt“ nachgegangen. Dieser Text ist auch in meinem im Jahr 2010 im Pattloch-Verlag erschienenen Buch „… damit mich kein Mensch mehr vergisst! – Warum Amok und Gewalt kein Zufall sind“ enthalten (Seite 80 ff).
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Plötzlich ist es Herbst geworden. Es gibt jedes Jahr einen Morgen, da merkt beim Verlassen des Hauses: Jetzt ist der Sommer vorbei. Auf dem Rad denkt man zum ersten Mal daran, demnächst Handschuhe anzuziehen und sich einen Schal um den Hals zu legen. Frühmorgens hatte es noch geregnet, dann stand plötzlich die Sonne an einem tiefblauen Himmel. Ich legte U, die noch schlief, einen Zettel hin und fuhr zur Lahn. Als ich angekommen war, hatte ich eiskalte Hände. Ich setzte mich auf dem Steg in die Sonne und sog die Wärme in mich auf. Ein vielleicht eineinhalb Meter langer Baumstamm trieb mitten im Fluss. An einem Ende standen Astansätze nach oben, die aus der Distanz und im Gegenlicht der Morgensonne aussahen wie Schiffsaufbauten. Ein Lahn-U-Boot zieht vorüber, dachte ich, schwarz und schweigend. Dann stieg ich über die Leiter in den Fluss und schwamm eine kleine Runde. Zwei ältere Männer trieben mit ruhigen Schlägen ihr Kanu den Fluss hinunter Richtung Gießen. Wir wünschten uns einen guten Morgen. Die Sonne spiegelte sich im Wasser und blendete mich doppelt. Eine Ente hat noch einmal ein Gelege ausgebrütet und zog zehn Kleine wie an einer Schnur hinter sich her. Ich machte auf dem Heimweg einen Abstecher auf den Wochenmarkt, wo ich einen bunten, herbstlichen Blumenstrauß erstand, der dann zum gemeinsamen Frühstück auf dem Tisch landete.
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Die Zeit der T-Shirts ist zu Ende. Vom Balkon aus sah ich, dass die Leute Jacken, Mäntel und Mützen aus den Schränken geholt und angezogen hatten. Und mit Mützen meine ich nicht die Torsten Sträter-Fans, die das ganze Jahr über diese gigantischen Teewärmer-Mützen tragen, die im Nacken bis zu den Schulterm runterhängen. Es waren ursprünglich mal Reggae-Mützen, die von Jamaika aus die Welt des Hip-Hop erobert haben. Und ich meine natürlich auch nicht die Hobby-Dschihadisten, die einen Sneaker-Jogginghosen-Kapuzenpulli-Look pflegen und von der Welt lediglich den kleinen Ausschnitt mitbekommen, der unter dem Rand ihrer über die Augen gezogenen Kapuze sichtbar ist. Als Fanatiker, die, wie Lichtenberg bemerkte, „zu allem fähig sind, aber sonst zu nichts“, empfiehlt es sich, die Welt nur bruchstückweise wahrzunehmen und alles Irritierende auszublenden.
Nun ist tatsächlich Herbst. Aber das ist eine Jahreszeit, die ich sehr schätze. Beim Radfahren kann man Äpfel auflesen und den einen oder anderen Pilz entdecken. Ich führe für solche Fälle stets die entsprechende Ausrüstung mit mir. Dazu gehört unabdingbar ein scharfes Messer, denn Pilze darf man nicht einfach so aus der Erde reißen, sondern sollte sie immer am Stiel abschneiden. Außerdem kann man sie mit Hilfe eines Messers gleich an Ort und Stelle säubern und wurmige Exemplare liegen lassen. So können sich die Sporen verteilen und der Erhalt der Pilzbestände wird gesichert.
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Der ältere Bruder von Hubert „Hubsi“ Aiwanger, dem stellvertretenden bayrischen Ministerpräsident, ist der Typ des „Verantwortungsnehmers“, den Gerhard Polt beschrieben hat. Der „Verantwortungsnehmer“ übernimmt gegen ein Honorar die Verantwortung für jedwede Sauerei, die irgendjemand anderer begangen hat. Eine Firma hat Gift in einen Fluss geleitet, will aber nichts mit dem nachfolgenden Fischsterben zu tun haben. Also ruft man einen „Verantwortungsnehmer“ an, der die Sauerei auf seine Kappe nimmt. Innerhalb der Familie verzichtet man auch schon mal aufs Honorar und macht es wegen der Familienehre. In diesem Fall geht es um ein Flugblatt mit stark antisemitischen, faschistischen Zügen, als dessen Verfasser zunächst Hubert Aiwanger angesehen wurde. Einige Exemplare des Flugblatts wurden seinerzeit im Schulranzen von Hubert gefunden, und er musste deswegen von einer Disziplinarkonferenz erscheinen. Der Bruder Helmut reklamiert den Text nun für sich und entschuldigt seinen Bruder mit den Worten: „Ich war damals total wütend, weil ich in der Schule durchgefallen war. Ich war damals noch minderjährig.“ Wenn ein Schüler nicht versetzt wird oder sich über eine schlechte Note ärgert, was liegt da näher, als üble antisemitische Hasstiraden abzulassen? Wer steckt dahinter, wenn nicht der Jude! Das leuchtet jedem sofort ein. Es wird in dem Flugblatt ein „Bundeswettbewerb“ ausgerufen, bei dem sich die Teilnehmenden „im Konzentrationslager Dachau zu einem Vorstellungsgespräch“ melden sollen. Erster Preis sei: „Ein Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz.“ Zu gewinnen gäbe es demnach weiter einen „kostenlosen Genickschuss“ oder eine „kostenlose Kopfamputation durch Fallbeil“. Mit 17 Jahren kann einem bayrischen Jungmann so etwas schon mal rausrutschen. Kann ja niemand vorhersehen, dass er eines Tages mal in politische Verantwortung kommen und ihn jemand darauf ansprechen würde. Wie ernst er seine demokratische, politische Verantwortung nimmt, hat er neulich in Erding erst so überzeugend unter Beweis gestellt, als er auf einer Bierzeltveranstaltung herausbrüllte, dass „die schweigende große Mehrheit dieses Landes sich die Demokratie wieder zurückholen muss“ und man „denen in Berlin sagen muss: ‚Ihr habt’s wohl den Arsch offen da oben‘.“ Schon dieser Erdinger Auftritt hätte reichen müssen, um Aiwanger aufzufordern, von seinen Ämtern zurückzutreten. Wie kann der stellvertretende Ministerpräsident und Wirtschaftsminister eines großen Bundeslandes Bürger in einer aufgeheizten Atmosphäre dazu auffordern, sich „die Demokratie zurückzuholen“? Das sind Originalparolen der Rechtsradikalen und Neonazis. Es scheint aber seiner Popularität keinen Abbruch getan zu haben. Hier steht er in der Nachfolge von Franz Josef Strauß, er ebenfalls einen Klops nach dem anderen abgelassen hat, und mit jedem wuchs seine Popularität weiter an. Über ein antisemitisches Flugblatt aus Schülerzeiten wird er nun auch nicht stürzen, zumal dafür ja sein Bruder die Verantwortung übernommen hat. Sensu Gerhard Polt ist der ja offenbar in der Familie Aiwanger der „Verantwortungsnehmer“. Gut, dass es in Bayern noch intakte und funktionierende Familienbande gibt. Auf solche Verhältnisse war der Satz von Karl Kraus gemünzt: „Das Wort Familienbande hat einen Beigeschmack von Wahrheit.“
Seit die Vorwürfe des Antisemitismus publik wurden, verhält sich Aiwanger wie der Mann aus einem Witz, den Sigmund Freud irgendwo erzählt hat. Dieser Mann wird von einem anderen beschuldigt, ihm einen Kupferkessel, den er ihm geliehen hat, mit einem Loch zurückgebracht zu haben. Der, der ihn ausgeliehen hat, verteidigt sich mit drei Argumenten: 1. Der Kessel hatte kein Loch, als ich ihn dir zurückgegeben habe. 2. Er hatte bereits ein Loch, als du ihn mir geliehen hast. Und 3.: Ich habe überhaupt keinen Kessel von dir geliehen. Derselben irrwitzigen Verteidigungsstrategie folgt Hubert Aiwanger. Er hat überhaupt kein Flugblatt verfasst. Als er es verfasst hat, war er noch ein Kind. Und außerdem ist er durch und durch ein Menschenfreund. Und wenn er als Schüler mal den Hitlergruß gezeigt haben sollte, tut es ihm leid und er entschuldigt sich. Der eigentliche Leidtragende sei aber er selber, er sei Opfer einer üblen „Schmutzkampagne“.
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In den letzten Wochen habe ich zwei Romane gelesen, in denen Gießen eine gewisse Rolle spielt. In beiden Fällen geht es um das „Notaufnahmelager“, das seit 1950 Flüchtlinge aus der damaligen DDR durchlaufen mussten. In Erich Loests Roman „Fallhöhe“ landet der in den Westen geschickte Stasi-Mitarbeiter Henning Köhler in Gießen, um sich in der BRD unter ehemaligen DDR-Bürgern umzuschauen und über sie zu berichten. „Vom Gießener Bahnhof stieg eine Straße sachte an, eine Brücke führte über Gleise auf vierstöckige Blöcke zu; so waren vor dem Krieg Kasernen hingeschachtelt worden.“
Die Eltern von Carl verlassen kurz nach der Maueröffnung Gera und brechen Richtung Westen in ein neues Leben auf. Auch sie landen zunächst im Gießener Notaufnahmelager. Dort wollen die Eheleute sich trennen und es „ab Gießen getrennt“ versuchen. Warum erfährt man zunächst nicht, und auch Carl rätselt lange daran herum. Das „ab Gießen getrennt“ durchzieht den Beginn des Romans „Stern 111“von Lutz Seiler wie ein Refrain. Auch Carl verlässt Gera und fährt mit dem von den Eltern zurückgelassenen Shiguli – ein Automobil aus sowjetischer Produktion, ein Nachbau des Fiat 124 – nach Berlin, wo er Aufnahme in das „gute Rudel“ findet, einer Gruppe von Künstlern, Außenseitern und Revolutionären auf dem Prenzlauer Berg.
Für Generationen von Flüchtlingen wurde Gießen zum Auftakt eines neuen Lebens und somit auch ein Sehnsuchtsort. Wer Gießen nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieg kennengelernt hat, wird das schwerlich nachvollziehen können. Aber es gibt immer Orte, die noch schlimmer sind. Nach dem Motto der Bremer Stadtmusikanten sagen sich die Leute: „Etwas Besseres als den Tod findest du überall“, und nehmen es sogar in Kauf, in Gießen zu landen. Die meisten zogen nach dem Ende der Aufnahmeprozedur schnell weiter, manche blieben aber auch. Auch ich erschrak, als ich zu Studienbeginn das erste Mal nach Gießen kam – und blieb.
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Empathie entwickelt sich mehr und mehr zum Verkaufsschlager. Sie gilt als Schlüssel zum Erfolg in vielen Lebensbereichen, vor allem im Beruf und der ökonomischen Sphäre, aber auch im sogenannten Privatleben. Was Firmenchefs umtreibt, ist die Frage: Kann man Empathie lernen? Also auch Menschen beibringen? Und: Kann zu viel Empathie zum Problem werden? Zu großes Mitgefühl schmälert den „Killerinstinkt“ und erzeugt „Beißhemmungen“, was im sozialdarwinistischen Kampf um Standortvorteile schädlich sein kann. Ein echtes Dilemma für die Geschäftswelt. Brecht war in diesen Fragen skeptisch: Menschenkenntnis braucht, wer vorhat, Menschen zu betrügen, heißt es bei ihm sinngemäß und lakonisch. Wenn das Kapital menschelt, ist Wachsamkeit geboten. Der alte rüde Kommandoton hat ausgedient, die Mitarbeiter bringen einfach mehr Leistung wenn man sie in Entscheidungsprozesse einbezieht und ihnen das Gefühl vermittelt, es käme auf sie an. Am Ende sollen sie wollen, was sie sollen. Wie schafft man es, dass Menschen arbeiten wollen und sich am Ende das Produkt ihrer Arbeit wegnehmen lassen, ohne dass sie dieser Enteignung Widerstand entgegensetzen? In der schönen neuen Arbeitswelt wird der Anschein erweckt, als ginge es um Selbstverwirklichung und als wären alle gleichberechtigt an einem kreativen Prozess beteiligt, der letztlich nur Gewinner kennt.
Immer mehr Firmen wollen ihre Mitarbeiter komplett in Beschlag nehmen und auf eine Art von Firmenreligion einschwören. Die Firma will nicht länger nur die Arbeitskraft ihrer Mitarbeiter, sie will sie mit Leib und Seele und Haut und Haaren. Am Ende sollen sie gar nicht mehr merken, dass sie arbeiten und den Zwang zur permanenten Selbstoptimierung als intimste ihrer Leidenschaften erleben. Wenn der zeitgenössische Arbeitnehmer „im Flow“ ist, geht er ganz in seiner Arbeit auf, identifiziert sich so sehr mit seiner Firma und seiner Aufgabe, dass er gar nicht mehr damit aufhören möchte. Die Mitarbeiter treffen sich am multifunktionalen Coffeepoint, um aus freien Stücken ihre tägliche Potenzialanalyse vorzunehmen und Sätze wie diese zu sagen: „Ich werde demnächst noch mehr arbeiten“ oder „Ich werde mich im Empathiefeld noch weiter entwickeln müssen“.
Jeremy Rifkin hat einmal gesagt, er habe noch nie davon gehört, dass jemand auf dem Sterbebett gesagt hätte: „Ach, wäre ich doch öfter mal länger im Büro geblieben!“
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In der Sendung „Report München“ ging es gestern (29. August) unter anderem um die Konjunktur der Messerattacken. Im letzten Jahr wurden in Deutschland 23.000 Mal Menschen mit Messern bedroht oder verletzt. Über eine Million Menschen haben immer oder häufig ein Messer bei sich. Rund die Hälfte der Tatverdächtigen weist einen Migrationshintergrund auf. Das als Nachtrag zu meinen verstreuten Anmerkungen zum Thema Messerattacken, unter anderem in der Ausgabe 27/2021 der Wochenzeitung „der Freitag“ unter der Überschrift „Überbau für namenlosen Hass“.
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Noch ein Nachtrag, diesmal zum Thema „Die Geburt des Sozialismus aus dem Geist des Ressentiments“ (DHP 75). Bei Nicolaus Sombart stieß ich gerade auf folgende Passage: „Die Chance einer Verbesserung menschlicher Lebensbedingungen liegt nicht in der Durchschlagskraft des Ressentiments, sondern in der unwiderstehlichen Wirkung der Großherzigkeit. Brüderlichkeit wird nicht von denen gestiftet, die Privilegien zerstören, sondern von denen, die sie freiwillig ablegen – wer aber ist dazu imstande?“ Als Beispiel führt Sombart den russischen Fürsten Kropotkin an, der als mit allen Privilegien seines Standes ins Leben eingetretener junger Mann seinen Vorrechten entsagte, um auf eigene Faust die Möglichkeiten eines besseren Lebens für alle zu erforschen und für ihre Verwirklichung einzutreten. Und den Grafen Henri de Saint-Simon, der sich auf die Seite der Revolution schlug und einer der sogenannten Frühsozialisten wurde. (Jugend in Berlin, Seite 112) Möglicherweise steckt in dieser beiläufig hingeworfenen Bemerkung Sombarts der Schlüssel, oder ein Schlüssel zur Klärung der Frage, was in der Geschichte der Linken falsch gelaufen ist. Jedenfalls hat Sombart mir einen wichtigen Hinweis gegeben, den ich bedenken und im Kopf behalten werde. Seit Tagen lässt mir der Sombartsche Gedanke keine Ruhe und rumort in meinem Kopf. Er hat etwas Entscheidendes getroffen oder berührt.
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Vorn im Park kommt mir ein kleines Mädchen auf ihrem Kinderrad entgegen. Ihre Mutter geht zur Sicherheit noch dicht hinter ihr, um sie notfalls auffangen zu können. Stolz und lachend winkte das Mädchen mir zu, von Radfahrerin zu Radfahrer. Als wollte sie mir sagen; „Schau her, was ich schon alles kann!“ Mir hat diese kleine Begegnung den Tagesbeginn schön gemacht. Manchmal begegnet einem das Außerordentliche im Antlitz und im Lächeln eines Kindes.
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Das Oberverwaltungsgericht in Kassel hat das erstinstanzliche Urteil bestätigt und den Gießener Verkehrsversuch für rechtswidrig erklärt. Er ist damit gestorben. Im meiner Kolumne für den Gießener Anzeiger hatte ich im Juli geschrieben: „Die vernünftigsten Ideen und besten Intentionen könnten am Dilettantismus ihrer Umsetzung zuschanden werden. Der Verkehrsversuch könnte seinen Initiatoren auf die Füße fallen und den Gegenkräften Auftrieb geben. Zumal das zuständige Verwaltungsgericht den Verkehrsversuch für rechtswidrig erklärt hat. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, und die Stadt wird Beschwerde beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof einlegen. Statt die Entscheidung abzuwarten, schreiten die Arbeiten munter voran. Bürgermeister Alexander Wright könnte auf diese Weise zum Andi Scheuer von Gießen werden.“ Die Rede ist von 1,7 Millionen Euro, die der Verkehrs-Fehlversuch die Stadt gekostet hat. Die ganzen in den letzten Monaten vorgenommenen Veränderungen müssen ja nun auch noch zurückgebaut werden. Einige Schulen hätte man von diesem Geld zum Beispiel instandsetzen können. Die letzte Passage meiner Kolumne hat der Redakteur gestrichen, weil ihm der Scheuer-Vergleich zu despektierlich vorkam. Die Chuzpe des grünen Bürgermeisters, das erstinstanzliche Urteil zu ignorieren, hat die Stadt nicht nur viel Geld gekostet, sondern auch der Sache selbst schweren Schaden zugefügt. Auf Jahre werden solche oder ähnliche Vorhaben hier in der Stadt nun nicht mehr durchsetzbar sein, und wahrscheinlich wird die jetzige Koalition bei den nächsten Kommunalwahlen keine Mehrheit mehr erhalten. Es gibt nichts Schlimmeres als vermurkste Reformen, die als Ruinen zurückbleiben. Hier gilt, was Oskar Negt über den Niedergang der von Willy Brandt geprägten Reformära geschrieben hat: Wenige der auf den Weg gebrachten Reformen sind ausgetragen, sie hatten gar nicht die Zeit, sich zu bewähren oder als soziale Experimente zu scheitern. Entsprechend blieb vieles auf der Strecke, ist gebrochen, verbogen, in Bahnen gelenkt, die mit den ursprünglichen Reformansätzen nichts mehr zu tun haben. Die Reformprojekte ziehen sich aus der öffentlich-politischen Wirklichkeit heraus und begeben sich, als bohrende Phantasieprodukte, gleichsam in den Untergrund. Sie koppeln sich von der offiziellen Politik ab, was mit einem gewissen Realitätsverlust verbunden ist, und werden, wie Negt sagt, „zu Schwarzmarktphantasien, die leicht missbraucht werden können.“