129 | Leben zwischen den Zeiten

„Man kann sich nicht alle halbe Stunde mitfühlend empören.“

(György Konrád)

Am Samstag haben U und ich nochmal einen Nachmittag an der Lahn verbracht und waren beide auch schwimmen – vielleicht zum letzten Mal für dieses Jahr. Bei 16 Grad Wassertemperatur tauchte ich nur kurz ein, während U es deutlich länger ausgehalten hat. Dann landeten lärmende und raumgreifende Großfamilien am Steg, die uns mit ihrer mangelnden Rücksichtnahme in die Flucht schlugen. Wir wollten an eine andere, ruhigere Stelle umziehen, blieben dann aber bei Peter hängen, der in seinem Garten saß. Gastfreundlich bekamen wir ein Glas Wasser serviert und er beschenkte uns mit Geschichten aus dem alten Gießen, das unter unseren Augen endgültig untergeht. Dieses Mal erzählte er uns von seiner Lehre in einem alteingesessenen Gießener Elektrogeschäft, das als eines der wenigen auch heute noch existiert und in dem U letztes Jahr ihren neuen Herd gekauft hat, nachdem man uns das Gas abgedreht hat. Ich kenne niemanden, der sich in Gießen besser auskennt als Peter, und für mich als Ethnologen des Inlands ist jeder Besuch bei ihm eine Fortbildung. Als es Zeit wurde, mit dem Kochen zu beginnen, verabschiedeten wir uns in der Hoffnung, uns dieses Jahr noch ein paar Mal an der Lahn zu begegnen.

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„Liebe und Hass kämpfen im Säugling miteinander; und dieser Kampf bleibt in gewissem Umfang das ganze Leben bestehen und kann menschliche Beziehungen gefährden.“

(Melanie Klein)

Erstaunlicherweise schlug die Witwe des ermordeten Charlie Kirk bei der als monumentale Show inszenierten Trauerfeier in Arizona versöhnliche Töne an. Alle anderen Redner, darunter auch Präsident Trump, hielten eisern an ihrem manichäischen Weltbild fest und propagierten übersichtliche Freund-Feind-Verhältnisse. Trump bekannte sich offen dazu, seine Gegner zu hassen. Weil bei vielen Menschen unter der Schicht normalen, angepassten Verhaltens um die Spaltung gruppierte archaische Abwehrmechanismen fortbestehen, geraten Demokratie, Rechtsstaat und Vernunft in Krisenzeiten in Gefahr. Eine Gesellschaft, die auch in solchen Zeiten demokratisch bleiben will, muss viel Mühe und Aufmerksamkeit darauf verwenden, dass wieder entflammte manichäische Denk- und Affekt- und Gefühlsgewohnheiten nicht ins Kraut schießen. Trump und seine Leute tun genau das Gegenteil und gießen reichlich Öl ins entflammte Feuer der Spaltungen und begünstigen auf diese Weise die kollektive Regression auf einfache Mechanismen der psychischen Regulation. Vor allem aber muss eine demokratische Gesellschaft daran arbeiten, den Angst- und Panikpegel abzusenken, indem sie Arbeits- und Lebensverhältnisse herstellt, die den Menschen weniger Bosheit einpressen und die Entwicklung und Aufrechterhaltung reifer, dialektischer Ich-Funktionen wie Ambivalenztoleranz begünstigen. Der Sozialstaat, dessen Demontage im Namen des zur neuen weltlichen Theologie avancierten Neoliberalismus betrieben wird, bedeutet immer auch Begrenzung menschlicher Not und Existenzangst durch die Bereitstellung von solidarischen Netzen, die einen Menschen auffangen, wenn er aus der Welt zu fallen droht. Eine Gesellschaft, die sich voll und ganz dem Markt und seinen Funktionsimperativen ausliefert, bereitet den Boden dafür, dass sich unter dem Firnis der Anpassung Hass und Ressentiments ansammeln, die der Demokratie peu à peu die subjektiven Grundlagen entziehen und ihr eines Tages ein radikales Ende bereiten. Es kann ohne Demokraten keine Demokratie geben . Das hatten wir alles schon einmal. Dazu passt die aktuelle Meldung, dass ein Fünftel der deutschen Bevölkerung nicht lesen und keine Texte verstehen kann. Mich wundert, dass es nur ein Fünftel sein soll. Der Befund veranlasste die Süddeutsche Zeitung angesichts der bevorstehenden Machtübernahme der KI provokant zu fragen, ob es überhaupt noch zeitgemäß sei, selbst zu lesen und zu schreiben. Vielleicht sind die Analphabeten diejenigen, die auf der Höhe der Zeit sind und die noch Lesenden Fossile aus dem Gutenberg-Zeitalter.

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Trumps  Rede vor der UN-Vollversammlung glich einer Büttenrede im Karneval. Er schlug wild um sich, teilte in alle Richtungen aus und lobte sich ausführlich selbst. Innerhalb weniger Wochen sei es ihm gelungen, sieben Kriege zu beenden. Die Zuhörerinnen und Zuhörer aus aller Welt saßen im Publikum und wussten nicht, ob sie laut lachen durften oder stattdessen weinen sollten. Die Redezeit in diesem Gremium ist eigentlich auf fünfzehn Minuten begrenzt, und warum Frau Baerbock als Leiterin der Sitzung ihm nach einer Viertelstunde nicht das Wort entzog, ist mir unverständlich. Das ist nur als Kotau vor dem mächtigsten Mann der Welt zu interpretieren, den man unter keinen Umständen verärgern darf und der deshalb tun kann, was er will. Man will ihn unter allen Umständen bei Laune halten. Auch Deutschland spielte in der einstündigen Rede eine Rolle. Trump lobte die neue Bundesregierung für ihren Abschied, die sich vom „sehr kranken Weg“ der grünen Jahre verabschiedet hätte. Deutschland habe unter der neuen Bundesregierung den „kranken Weg“ bei der Einwanderungs- und Energiepolitik verlassen, sagte Trump am Dienstag in New York. Wohlgemerkt, eine Repräsentantin dieses in Trumps Augen „kranken Weges“ saß ein paar Meter hinter ihm und machte gute Miene zum bösen Spiel. „Sie setzten auf Grün, und sie gingen in den Bankrott. Und die neue Führung … kam, und sie kehrten zurück zu fossilen Brennstoffen und Kernenergie, was gut ist“, sagte Trump. Den Klimawandel bezeichnete er als den „weltweit größten Betrug aller Zeiten“. Fast alle im Publikum hofften wahrscheinlich auf einen befreienden Moment – wie in Andersens Märchen von des Kaisers neuen Kleidern, aber es tauchte niemand auf, der rief: „Er ist nackt und ein Spinner und Clown.“

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„Ich weiß nicht, ob ich wirklich schön bin. Ich glaube, ich bin etwas seltsam.“

(Claudia Cardinale im Gespräch mit Alberto Moravia)

Am Dienstag starb Claudia Cardinale im Alter von 87 Jahren im Kreise ihrer Kinder in der französischen Stadt Nemours nahe Paris, wo sie lebte. Ich werde sie in ihrer Rolle als Witwe McBain in „Spiel mir das Lied vom Tod“ in Erinnerung behalten und vor mir sehen, wie sie am Ende des Films zum Brunnen geht, um für die Männer, die die Bahngleise verlegen, Wasser zu holen. „Und während Claudia Cardinale zum Brunnen geht, fährt die Kamera zum Himmel empor und umfasst in einer triumphalen Totale, dem größten Jubelschluss, den die Leinwand je sah, den ganzen Film vom Westen, der einmal war, und damit die Geschichte Amerikas.“ (Joe Hembus) Claudia Cardinale hat in einer sensiblen Phase meiner Entwicklung meine Vorstellung von weiblicher Schönheit maßgeblich beeinflusst. Ich fand und finde sie schön. Zu ihren Ehren und um mich zu erinnern, las ich noch einmal ein Gespräch, das sie 1961 mit Alberto Moravia geführt hat. Nach einigem Suchen fand ich es in den Weiten meiner Bücherregale. Unlängst sah ich sie in Viscontis Film „Der Leopard“, und auch da fand ich sie wieder bezaubernd. In „Cartouche, der Bandit“ nennt sie Belmondo „meine Wildkatze“, und etwas Ungezähmtes und Unzähmbares hat sie sich wohl ihr ganzes Leben über bewahrt.

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„Lebt der Mensch auch in außergewöhnlichen Zeiten nach Vorstellungen aus normalen Zeiten, dann macht er sich umsonst auf den Weg.“

(György Konrád)

Ich schulde Euch oder Ihnen noch den Bericht über meine derzeitige Lektüre. Nachdem ich auf Arte den Film „An einem Tag im September“ über die erste Begegnung zwischen Charles de Gaulle und Konrad Adenauer im Jahr 1958 gesehen hatte, erinnerte ich mich daran, dass ich vor einigen Jahren einen Roman von Burghart Klaußner, der in dem Film Adenauer verkörpert, aus einem öffentlichen Bücherschrank mitgenommen, aber noch nicht gelesen hatte. Nach einigem Suchen fand ich ihn in einem Stapel ungelesener Bücher und nahm ihn in den folgenden Tagen mit an die Lahn und in den Botanischen Garten. Klaußner erzählt von zwei Soldaten, die in den letzten Kriegstagen des Zweiten Weltkriegs den Befehl erhalten, eine Kassette mit Geld zum Reichluftfahrtministerium zu bringen. Auf zwei klapprigen Fahrrädern machen sie sich auf den Weg durch das zerstörte Berlin. Sie haben zunächst vor, den Befehl auszuführen, aber dann kommt alles ganz anders. Man bekommt mit, wie der Zusammenbruch einer Gesellschaftsordnung auch das innere Gefüge der Menschen mitreißt und die moralischen Orientierungen labilisiert. Das Ansehen, das Burkhart Klaußner seit den Filmen „Das weiße Band“ und „Der Staat gegen Fritz Bauer“ bei mir genießt, ist durch diesen sehr gelungenen Roman noch einmal gestiegen.

György Konráds Roman „Glück“ habe ich schon einige Male erwähnt. Er weist inhaltlich eine gewisse Schnittmenge mit dem Buch von Klaußner auf, weil auch er vom Kriegsende erzählt. Hier aus der Perspektive einen elfjährigen ungarischen Jungen, der sich mit seiner ein wenig älteren Schwester durch die Kriegswirren schlägt. Die Eltern wurden deportiert und ihr Schicksal ist bis zum Ende des Romans ungewiss, wobei der Titel des Romans einen halbwegs glücklichen Ausgang der Geschichte erahnen lässt. Beide Romane erzählen von einer Zeit zwischen den Zeiten. Eine alte Ordnung liegt in Trümmern und geht unter, eine neue ist noch nicht geboren. In dieser Phase, die Gramsci als „Interregnum“ bezeichnet hat, scheint für einen Moment vieles möglich zu sein, bis sich der Horizont wieder verengt und neue Herrschaftsformationen sich herausbilden und das Kommando übernehmen. Durch Zufall habe ich beide Romane parallel gelesen, was sich gut und sinnvoll gefügt hat.

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Hab eben mal Küche und Arbeitszimmer ausgekehrt. Ich staune jedes Mal, wie viel Staub sich innerhalb relativ kurzer Zeit ansammelt. Das Kehren ist allgemein aus der Mode gekommen. Man greift stattdessen lieber zum Staubsauger. Ich habe immer am Fegen festgehalten, das mir beinahe meditativ vorkommt. Aufgefallen ist mir das zuletzt in dem Film „Perfect Days“ von Wim Wenders, in dem ein japanischer Toilettenreiniger jeden Morgen vom Geräusch des Fegens vor seinem Haus aufgeweckt wird. Das Geräusch des Fegens läutet für ihn den Tag ein und signalisiert ihm, dass es Zeit ist aufzustehen und die Welt noch in Ordnung ist. Der Rhythmus des Besens ist dem der Sense verwandt, den ich aus der Kindheit in Erinnerung habe. Ich roch das frisch gemähte Gras bis in die Reste des Schlafs. Ich kenne keinen Geruch, der so voller Anfang steckt: Tagesanbruch, Kindheit, Frühling. Es wurde mit der Sense gemäht, die zwischendurch gedengelt werden musste. Ab und zu schlug mein Vater die Scharten im Sensenblatt auf einem Holzklotz mit einem Hammer glatt. Ich habe noch das rhythmische Sausen der Sense im Ohr, morgens im Sommer bei geöffnetem Fenster, vor Tau und Tag. In gewissen Abständen das ebenso rhythmische sch-t, sch-t, sch-t des Wetzsteins – das sogenannte Dengeln der Sense. Wer kennt denn dieses Wort überhaupt noch? Mein Vater mähte das noch taufeuchte Gras, während der Rest der Familie noch schlief. Dann spritzte er sich mit dem Gartenschlauch ab, prustete hörbar ein paar Mal, trocknete sich ab, bestieg den Lloyd und fuhr zur Arbeit. Solche Sprünge vollführt meine Hirnantilope, die ich lange nicht losgebunden hatte.

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Von meinem Nachbarn sieht und hört man nichts und ich mache mir Sorgen, weil er schwerer Diabetiker ist und jederzeit in Ohnmacht fallen kann, wenn er seine Medikamente nicht nimmt. Er ist seit etwa einer Woche aus dem Krankenhaus zurück, wo man ihm einen Fuß amputiert hat. Ich traf ihn das letzte Mal vor ein paar Tagen im Treppenhaus. Er hockte auf der Treppe und bat um einen Apfel. Er sei unterzuckert. Ich brachte ihm einen Apfel, den er sofort aß. Dann rutschte er auf dem Gesäß nach unten und verließ mit seinem Rollstuhl für eine Weile das Haus. Der Rollstuhl steht nun seit Tagen wieder unten im Hausflur, von ihm selbst ist nichts zu sehen und zu hören. Kein Licht und nicht das geringste Geräusch dringen aus seiner Wohnung. Es kann natürlich sein, dass er sich vom Notdienst hat abholen lassen und wieder im Krankenhaus ist. Aber genauso könnte es sein, dass er in der Wohnung liegt und sich nicht helfen kann. Da ich keinen Schlüssel zu seiner Wohnungstür besitze, habe ich heute Morgen die Hausbesitzerin informiert und sie gebeten, mal nach dem Rechten zu schauen. Seit der Trennung von seiner Freundin und dem Tod seiner Mutter befindet er sich im freien Fall, und, wenn ich das richtig sehe, kann nichts und niemand seinen Sturz aufhalten. Er ist weder über Arbeit, noch über Freundschaften oder eine große Leidenschaft in gesellschaftliche und menschliche Zusammenhänge eingebunden. Er ist eine ganz abstrakte Existenz. Fortwährend muss ich an das Buch von Milena Michiko Flašar denken, in dem sie von zwei jungen Leuten erzählt, die die Wohnungen von Selbstmördern oder einsam gestorbenen Menschen aufräumen. Die Frage ist auch hier: Wohin fällt einer oder eine, wenn er oder sie von der Teilhabe am gesellschaftlichen Wesen ausgeschlossen wird? Der Roman heißt „Oben Erde, unten Himmel“ und ist im Berliner Wagenbach-Verlag erschienen. Ich habe in Folge 74 der DHP von ihm gesprochen und euch seine Lektüre ans Herz gelegt.

Am Sonntagmorgen habe ich meinen Nachbarn telefonisch erreicht und erfahren, dass er seit einigen Tagen wieder im Krankenhaus ist. Es gehe ihm leidlich – eben den Umständen entsprechend. Im Anschluss hoffe er auf einen Aufenthalt in einer Reha-Einrichtung und auf die Anpassung einer Prothese, die ihm eine gewisse Beweglichkeit zurückgebe. Auf die Dauer könne es ja nicht sein, dass er auf dem Hintern herumrutschen müsse. Die starke Betroffenheit, die ich in den letzten Tagen erlebt habe, nehme ich als Hinweis darauf, dass ich immer auch von mir selbst gesprochen habe, wenn ich von meinem Nachbarn gesprochen habe. Ich habe an seinem Fall eigene Themen verhandelt: Hinfälligkeit, Krankheit, Einsamkeit, sozialer Tod und biologischerTod, Suizid. Ich habe eigene Ängste auf meinen Nachbarn projiziert. Nachmittags traf ich meinen Nachbarn im Treppenhaus, und diese Begegnung verhalf mir zu der schlagartigen Einsicht, dass ich vergleichsweise gut dran bin. Was sind taube, pelzige Füße gegen einen amputierten Fuß?

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Aus gegebenem Anlass hat die „Süddeutsche Zeitung“ in ihrer Ausgabe vom 26. September 2025 mal wieder ein Interview mit Didier Eribon geführt. Dieser Anlass besteht darin, dass sich die Wut der Abgehängten und aus der Gesellschaft herausfallenden Menschen nach wie vor verbräunt und nicht nach links wendet, wie man es traditionell hätte erwarten können. Eribon war diesem Thema bereits in seinem bahnbrechenden Buch „Rückkehr nach Reims“ nachgegangen, das schon vor rund zehn Jahren erschienen ist. Die Frage bleibt: Wie viel Angst verträgt eine demokratische Gesellschaft? Steigt der Angst- und Panikpegel über einen gewissen Stand hinaus, gerät etwas ins Rutschen und demokratische Gesellschaften sind vom Abgleiten in faschistisches Fahrwasser bedroht. Eribons Rat lautet: „Wir brauchen dringend wieder einen Wohlfahrtsstaat, damit die Teile der Bevölkerung, die sich prekarisiert und ausgeschlossen fühlen (und es in Wirklichkeit auch sind), ein positives Verhältnis zur Zukunft gewinnen. Es muss soziale Veränderungen in dem Sinn geben, dass es wieder eine größere soziale Gerechtigkeit gibt.“ Im Schwedischen gibt es ein wunderbares Wort für das, was wir Sozial- und Wohlfahrtsstaat nennen. Mir ist es im Roman „Ein kurzer Aufenthalt“ von Göran Rosenberg begegnet: „Die beste aller Welten heißt Folkhemmet, ‚Volksheim‘, oder auch Wohlfahrtsstaat oder soziale Demokratie, und ist eine unvergleichliche Erfindung, die das Bedürfnis des Menschen nach Sicherheit, Geborgenheit und Zusammengehörigkeit mit seinem Verlangen nach Freiheit und Selbstverwirklichung vereint und die sich gerade an diesem Ort nach der Unterbrechung besser verwirklichen lässt als vorher. In der besten aller Welten soll keiner mehr ohne Arbeit und Versorgung und einem Dach über dem Kopf sein, und alle Schulkinder erhalten täglich eine Mahlzeit und alle haben Anspruch auf unentgeltliche Krankenversorgung und eine sichere Rente, und alle können sich die ständig neuen Maschinen leisten, mit deren Hilfe die Freiheit verwirklicht werden soll.“ Diese Schilderung lässt uns erahnen, was für ein Skandal und Verbrechen die Planierung und Schleifung des Sozialstaats ist und welche Risiken das birgt. Freilich: Die Reichen sind nicht auf einen Sozialstaat angewiesen, sie können ihre Daseinsvorsorge mit und aus eigenen Mitteln bestreiten. Aber die große Mehrheit der Menschen ist auf soziale Netze angewiesen, die sie in Zeiten der Not und der Krise auffangen und ihren Sturz aus der Welt verhindern. Die sozialstaatlichen Errungenschaften der Nachkriegszeit werden unterm Neoliberalismus geplündert, weil die Reichen und die Ertragreichen kaum mehr in das Gemeinwesen einzahlen. Sozialstaat bedeutet immer auch Begrenzung menschlicher Not. Wenn alle Begrenzungen und Schutzschichten brechen, die dem Werwolfshunger des Kapitals gesetzt waren, droht ein kaum noch zivilisierbarer „bellum omnium contra omnes“, in dem das Glück der einen mit dem Leid der anderen koexistiert. Genau das ist es, was sich unter unseren Augen ausbreitet.

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„Die Wirklichkeit gibt es schon, die muss man nicht mehr abbilden.“

(Georg Stefan Troller)

Am 27. September 20025 ist Georg Stefan Troller im  Alter von 103 Jahren in Paris gestorben. Ich verneige mich noch einmal vor diesem faszinierenden Mann und großartigen Journalisten. Anlässlich seines 100. Geburtstags habe ich mich ausführlich zu ihm und seiner journalistischen und literarischen Arbeit geäußert: Auf der Höhe des Zorns, DHP 43, 2021. Inzwischen ist mir durch einen Zufall ein Buch von Troller in die Hände gefallen, das „Mit meiner Schreibmaschine heißt“ und autobiographische Texte versammelt. Es ist 2014 in der Edition Memoria in Hürth erschienen. Darin findet sich auch folgende nur auf den ersten Blick witzige Episode. „Wer glauben Sie, dass da neulich aufgetaucht ist bei mir im Geschäft? Kein anderer als der Doktor Freud aus der Berggasse persönlich, der, was sich um die Meschuggenen kümmert. Er sammelt jetzt Lonzelach, sagt er, ich mein: jüdische Witze. Emes, so wahr ich hier steh. Weit gebrengt, nebbich, für an Professor. No, erzähl ich ihm gleich einen Witz über ihm selber. Da kommt doch zu ihm diese Schickse aus Linz, mit ihrem kleinen Sohn: ‚Herr Doktor, der Bub tritt jeden Hund und jede Katz mit dem Fuß, der reißt den Schmetterlingen die Flügel aus, der rift ihnen die Rollstühle um von Kriegskrüppeln! Ich weiß nicht, ist das noch normal?‘ ‚Und wie alt ist ihr Sohn?‘ ‚Im April wird er vier.‘ ‚Machen Sie sich keine Sorgen, gute Frau. Er wird das auswachsen. Der wird ihnen noch sanft wie ein Lamm.‘ ‚Dann dank ich Ihnen, Herr Professor, Sie haben mich beruhigt.‘ ‚Nichts zu danken und auf Wiedersehen, Frau Hitler.‘“ Von Troller stammt auch folgender jüdische Witz: „Fragt da zum Beispiel ein Sportjüngling seinen Kultusvorstand: ‚Rabbi, kann ich morgen mit dem Fallschirm abspringen?‘ ‚Kein Problem. Springen ist erlaubt. Du darfst ihn bloß nicht aufmachen!‘“

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„Ein Mensch, dem der Lebenssinn abhandenkommt, wird Selbstmord begehen. Eine menschliche Einrichtung, sei es eine Familie oder sei es ein Staat, die nur noch – und sei es bestens – funktioniert, aber die nichts darüber hinaus verbindet, die von keiner gemeinsamen Idee oder Vision oder ideellem Interesse getragen und verbunden ist, ist tot und wird verfallen.“

(Christoph Hein)

Ich habe beiläufig schon davon berichtet, dass die mitten in der Stadt gelegene Post aufgegeben worden ist und nur noch als Bankfiliale weiterexistiert. Draußen steht ein Automat, an dem man Briefmarken bekommen kann – ohne jeden Kontakt mit Menschen. Die übrigen „Postdienstleistungen“ wurden in Geschäfte ausgelagert. Wenn eine Postfiliale schließt, schießt viel mehr als eine Postfiliale. Als die Post noch „Deutsche Bundespost“ hieß und keinen Gewinn machen musste, war die Post nicht nur ein Ort, wo man Briefmarken kaufte und Pakete aufgab, sondern auch eine Art Sozialstation und ein Treffpunkt. Rentner, die noch kein Konto besaßen, ließen sich dort ihre Rente bar auszahlen und blieben danach noch da, weil sie den Kurt und den Schorsch getroffen hatten, mit denen sie nun ein Schwätzchen hielten. Die Schalterhallen waren gut geheizt und luden zum Verweilen ein. Man konnte dort sitzen und sich unterhalten, Kaffee aus mitgeführten Thermoskannen trinken und Butterbrote verzehren und danach eine rauchen. Ja, auch das war damals erlaubt, geraucht wurde überall. Warum in Cafés unnötig Geld ausgeben, wenn es die Post gab? Die Post in ihren frühen Jahren hatte eine Tendenz zur Gemeinnützigkeit, ihre Besucher waren mehr als bloß „Kunden“. Die hinter den Schaltern hockenden, oft ein wenig mürrisch wirkenden Beamten sahen dem Treiben in der Schalterhalle vor ihnen blasiert zu. Auch sie packten dann und wann aus ihrer Brotdose, die schon den Russlandfeldzug mitgemacht hatte, ein von der Frau belegtes Brot aus und kauten still vor sich hin. Von dem in den Schalterhallen sich entfaltenden Gemeinschaftsleben ist heute nichts mehr übrig, schon deswegen, weil es keine Schalterhallen mehr gibt. Die Post hat sich auf diverse „Kooperationspartner“ verteilt. Überall zerfallen die letzten Reste von traditionellen Gemeinschaften, die gegeneinander verselbständigten Sozialatome werden nur vom Geldnexus zusammengehalten. Das Geld stiftet aber keinen wirklichen Zusammenhalt, sondern isoliert die Menschen voneinander. Alles rutscht, wie Brecht sagte, in die Funktionale. BIP, Export, Wohlstand, Geld, Macht und Karriere halten eine Gesellschaft auf Dauer nicht zusammen. Sie besteht aus lauter Elementarteilchen, die in einer Eiswüste der Gleichgültigkeit leben. Die Addierung von Warencharakteren ergibt keine Gemeinschaft, sondern das Nebeneinander von lauter Einsamkeiten. Die Sehnsucht nach der von der kapitalistischen Vergesellschaftung aufgezehrten Gemeinschaftlichkeit bildet den heimlichen Nährboden für den rechten Populismus und die Wiederauferstehung des Nationalen und Völkischen. Wenn die Unübersichtlichkeit eskaliert und die symbolische Ordnung der Welt durch ein Übermaß fremder, unverständlicher Bedeutungen zu erodieren droht, beginnen die Wünsche von der Gartenlaube zu träumen. Wie im Nähkästchen der Großmutter liegt dort alles an seinem Platz, und im Dämmerlicht des Kerzenscheins wird aus der bürgerliche Kälte die heimelige Wärme einer „Volksgemeinschaft“. Schon Saint-Simon wusste, dass Institutionen nur so lange halten wie die Idee, die sie trägt. Eine bloß noch konsumierende Gesellschaft von Fressern, Säufern, Touristen und Smartphone-Wischern wird die Orientierung an den humanen Werten verlieren.

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Das ganze Treppenhaus ist voller Blutspuren. Mein Nachbar muss sich, als er gegen Mitternacht nach Hause gekommen ist, an seinem Stumpf verletzt haben. Er hat sich dann wohl noch in den zweiten Stock hochgeschleppt und dabei diese blutigen Schlieren hinterlassen. Ich frage mich natürlich, wie man sich in einem derart desolaten Zustand nachts draußen herumtreiben kann? Im Treppenhaus geht alle naslang das Licht aus, und auf einem Bein kann man da schnell ins Straucheln kommen. Es sagt sich so leicht: Wie kann man sich in diesem Zustand abend draußen bewegen? Die Argumentation erinnert an Leute mit gesunden Lungen, die sagen: Man braucht nicht tuberkulös zu sein! Oder an brave Bürger, die gern ausrufen: Man muss nicht kriminell werden! Was soll man tun, wenn man einsam ist und mit der Einsamkeit nicht umgehen kann? 

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„Durst wird umgeformt in Nachfrage nach Coca-Cola.“

(Ivan Illich)

Elf Millionen Tonnen Lebensmittel landen in Deutschland jedes Jahr im Abfall. Das Gros der weggeworfenen Lebensmittel stammt aus privaten Haushalten. Das sogenannte Containern, also das Retten von Lebensmitteln aus Abfallbehältern von Supermärkten, ist nach wie vor strafbar und kann verfolgt werden. Hier scheint es „ums Prinzip“ zu gehen: Es muss bezahlt werden! Als würde ein Damm brechen und das Privateigentum grundsätzlich in Frage gestellt, wenn man das Containern freigäbe. Viele Menschen trauen sich nicht, sich über einen Container zu beugen und im „Abfall“ zu wühlen. Sie schämen sich, dabei sollte die Scham eigentlich auf der Seite der Ladenbesitzer sein. Die Leute, die es sich leisten können, kaufen auf Teufel komm raus und stopfen ihre Kühlschränke voll, ohne jeden Plan, was sie wirklich brauchen und verzehren können. Wie ich neulich schon geschildert habe, wird in den meisten Familien längst nicht mehr gemeinsam gekocht und gegessen, so dass auch niemand einen Überblick darüber hat, was in den nächsten Tagen verzehrt werden kann. Jeder nimmt etwas aus dem Kühlschrank, reißt die Packung auf und stellt sie, wenn es gut läuft, später geöffnet wieder hinein. Der nächste findet sie geöffnete Packung, riecht daran und wirft sie im Zweifelsfall in den Müll. Niemand hat einen Bezug zu den Dingen, kennt die Art und Weise ihrer Herstellung und weiß ihren Wert zu schätzen. Die Indifferenz ist mit der Warenform der Lebensmittel bereits gesetzt. Die Konsum- ist deswegen zugleich eine Wegwerfgesellschaft. Wer einmal Kartoffeln gesetzt, angehäufelt und dann ausgegraben hat, wird sie niemals wegwerfen können. Inzwischen verstehe ich das Bestreben meines Vaters, noch den letzten Apfel aus dem Baumwipfel mit dem Apfelpflücker zu erwischen und unbeschädigt zu bergen. Heute lassen die Leute die einheimischen Äpfel an den Bäumen verfaulen und kaufen stattdessen im Supermarkt eingeschweißte Äpfel aus Neuseeland oder Südamerika, die aussehen, als kämen sie aus einem 3D-Drucker.

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„Wenn der Mob die Aufgabe des Lynchens erledigt hat und der verstümmelte Körper der schwarzen Frau oder des schwarzen Mannes an einem Baum hängt, legt sich Ruhe über die rasende Ansammlung der Weißen, und es herrscht Einigkeit.“

(Siri Hustvedt: Sündenbock)

Anfang Oktober sitze ich auf meiner Lieblingsbank im Botanischen Garten und lese in der herbstlichen Sonne Siri Hustvedt. Bin wieder mal angetan von der kristallinen Klarheit ihrer Essays. In diesem hier geht es um die Ursachen von Misogynie, also den männlichen Hass auf Frauen. Hustvedt folgt Jessica Benjamin, die die These vertritt, dass bei manchen Jungen das Bedürfnis, sich von der Mutter abzugrenzen, in Verachtung des ganzen weiblichen Geschlechts umschlage. Die Verbrechen von sogenannten „Incels“, so nennt man unfreiwillig zölibatär lebende Männer, haben uns gezeigt, welch mörderische Gewalt aus dieser Verachtung entstehen kann. Da nähert sich ein schwäbisches Ehepaar, dessen männlicher Teil vor mich hintritt und fragt: „Könne mer uns dazuhocke?“ Ich sage nein. Ei, warum dann net? Weil ich lesen will und dazu meine Ruhe brauche. „Dann hocke mer uns halt ohne Ihre Einwilligung daher!“ Gesagt, getan. Sie hält schon ihr Smartphone in der Hand und er schüttelt eine Zigarette aus der Packung. Vor soviel Dreistigkeit kann man nur kapitulieren. Es existiert ja etwas, das Erving Goffman als „Raum des Selbst“ bezeichnet hat, eine Zone um das Individuum herum, in die niemand ungebeten eindringen darf. Und den Platz neben mir auf einer Bank im Botanischen Garten betrachte und empfinde ich als einen solchen „Raum des Selbst“. Menschen mit einer halbwegs intakten Wahrnehmung und dem, was man früher Anstand nannte, empfinden und respektieren das. In diesem Fall ist das offenkundig anders, und so packe ich meine Sachen und trolle mich. Glücklicherweise finde ich noch eine weitere Bank, die günstig zur Sonne steht und die ich für mich allein habe. In meinem Rücken hört man allerdings die Erstsemester, die ihre Einführungswoche absolvieren. Das geht stets mit einem immensen Alkoholkonsum und entsprechendem Gegröle einher. Sie spielen offenbar irgendwelche Spiele und stimmen das dazu gehörige Partygeheul an. U, die das Treiben der Erstsemester in der Stadt ebenfalls beobachtet hat, meint, ihre Spiele seien die von Kindergartenkindern, bewegten sich auf dem Niveau von Sackhüpfen, Blindekuh und Topfschlagen. Was man eben so auf Kindergeburtstagen spiele. Nur mit Bier statt Gumminbärchen und Schokoküssen. In der Stadt hätten die „Erstis“ durch Hula Hoop Reifen klettern müssen und jedes Mal, wenn jemandem das gelungen sei, hätte es Applaus und lautes Gekreische gegeben. Die kollektive Infantilisierung schreitet voran und macht auch vor der Universität nicht halt.

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„Claus Offe war ein weltweit bekannter und rezipierter Forscher, ein Leuchtturm, an dem man sich gern orientierte.. Mit ihm verband sich intellektuelle Brillanz und sozialwissenschaftliches Forschen in einer exzeptionellen Breite. Es geht einer, der sich für eine bessere Gesellschaft einsetzte. Die Erinnerung an Claus Offe ist Ansporn für den Einsatz für eine gerechte und demokratische Gesellschaft für die Zukunft – auch und gerade in diesen schweren Zeiten.“

(Steffen Mau, Michael Zürn in der FAZ vom 03.10.2025)

Am Donnerstag, dem 2. Oktober 2025, ist der Soziologe Claus Offe im Alter von 85 Jahren gestorben. Nach kurzem Suchen fand ich sein in der Edition Suhrkamp erschienenes Buch aus dem Jahr 1972: „Strukturprobleme des kapitalistischen Staates“. Es gehörte damals zum Kanon der Bücher, die man als undogmatischer Linker lesen musste und das in den vehementen Diskussionen um die Rolle des Staates in der spätkapitalistischen Gesellschaft ein bedeutende Rolle spielte. Es ist eins der Bücher, in denen ich die Unterstreichungen dermaßen übertrieben habe, dass sie ihren Sinn, besonders wichtige Passagen hervorzuheben, eingebüßt haben. Es besteht nur aus Unterstreichungen. So hatte ich einige Mühe, eine Passage zu finden, die ich als sogenannter „Sponti“ damals schon amüsant fand: „Von der Vermutung, die historische Beendigung des Kapitalismus durch Vorschaltung eines magischen Präfix beschleunigen zu wollen, bleibt eine solchermaßen geklärte Terminologie jedenfalls unbetroffen.“ Offes Kernthese ist: Wo der Markt als Steuerungsmechanismus versagt, springt im späten Kapitalismus der Staat vermehrt subsidiär ein und sichert dessen Fortbestand. Irgendwann kommt es dahin, dass alles künstlich gestützt und mehr oder weniger gewaltförmig zusammengehalten werden muss. Wer könnte dieser Prognose von Claus Offe fünfzig Jahre später noch widersprechen? Damals galt er manchem orthodoxen Marxisten als habermasianischer Reformist.

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Gestern gab es bei uns das erste Pilzgericht in diesem Jahr. Auf einer Wiese auf dem Alten Friedhof, der ja eigentlich ein Park mit uraltem Baumbestand und verwitterten Grabsteinen ist, haben wir Reizger und Perlpilze gefunden. Ein paar Täublinge und Maronen komplettierten die Mischung. Abends haben wir uns die Pilze mir Speck und Zwiebeln zubereitet und sie mit Reis und Salat verspeist. Dann zum „Tag der Deutschen Einheit“ den Film „Good Bye, Lenin!“ geschaut, mit einer hinreißenden Katrin Sass. Auch Burkhart Klaußner bin ich wiederbegegnet. Alle Akteure waren gut zwanzig Jahre jünger. Der Film stammt aus dem Jahr 2003.

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Diese Sätze vom hoch geschätzten Helmut Dahmer enthalten den Schlüssel zu vielen Phänomenen der Gegenwart: „Die Angst vor der Modernisierung, vor der unaufhörlichen Umwälzung aller Lebensverhältnisse, hat im ‚Schacher-Juden‘ ihr imaginäres Objekt gefunden. Und alle Juden aller Zeiten und aller Sozialschichten sind mit diesem Typus verschmolzen. Die Juden galten der christlichen Mehrheit als die Erzfremden (eigentlich als der ‚Antichrist‘); darum erscheint ihr noch heute jeder, der anders ist, als eine Art ‚Jude‘.“ „Der Jude“ ist der Sündenbock par excellence. Das Sündenbockbedürfnis ist nicht zu allen Zeiten gleich stark, es hat seinen historisch-gesellschaftlichen Index. Es nimmt in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche und Krisen stark zu, weil diese Ängste freisetzen und den Panikpegel ansteigen lassen. Man droht den Boden unter den Füßen zu verlieren und büßt die Orientierung und das Gefühl der Kohärenz ein. Da verlangen viele Menschen nach jemandem, dem man die Schuld an diesen Verlusten zuweisen kann. Und dieser Jemand ist von jeher „der Jude“, der, wie Dahmer sagt, in verschiedenen Gestalten erscheinen kann. In unserer Gegenwart hat „der Jude“ sich zum „Fremden“ verallgemeinert, der auch für all das steht, was die Globalisierung an Neuem und Fremden mit sich bringt.

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Mein Unglücks- und Katstrophennachbar hatte gestern seinen Schlüssel vergessen. Als er dann irgendwann ins Haus vorgedrungen war, rief er nach mir und fragte, ob ich ihm helfen könne, seine Wohnungstür ohne Schlüssel zu öffnen. Ich sagte, dass ich das dazu nötige handwerkliche Geschick und Wissen nicht besäße und er lieber einen Schlüsseldienst kommen lassen solle. Oder die Hausbesitzerin anrufen, die für jede Wohnung einen Schlüssel habe. Was machte er stattdessen? Er schlug die Glasscheibe der Eingangstür zu seiner Wohnung ein. Jetzt hat er ein viel größeres Problem und riskiert durch solche vandalischen Aktionen eine Kündigung. Ich habe ihm heute einen Brief geschrieben und ihm geraten, sich schleunigst mit der Hausbesitzerin ins Benehmen zu setzen, ihr zu schildern, was passiert ist und anzukündigen, dass er bereit sei, die Regulierung des Schadens in die Hand zu nehmen. Natürlich wird nichts davon geschehen. Das Ausmaß an Desintegration, das er an den Tag und die Nacht legt, erschrickt mich und verheißt für ihn und uns nichts Gutes. Er befindet sich nach wie vor im freien Fall.

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„Gewalt gegen Kinder war ‚natürlich‘. Die Nachbarn hörten Sylvia wochenlang schreien. Es war einfach Teil der akustischen Atmosphäre.“

(Siri Hustvedt)

Als ich Hustvedts Text über den „Sündenbock“ und die jahrelange Folterung und schließliche Ermordung eines Mädchens las, das eine Familie zu ihrem Sündenbock gemacht hatte, fiel mir mit Entsetzen ein, wie viel Gewalt in meiner Kindheit als normal betrachtet wurde. Im Treppenhaus des Mietshauses, in dem wir anfangs wohnten, waren die Schreie und das Weinen der verprügelten Kinder beinahe täglich zu hören. Das Verprügeln von Frauen und Kindern war Teil einer traurigen Folklore. Im Turnunterricht waren die Spuren innerfamiliärer Züchtigungen oft nicht zu übersehen, wurden aber geflissentlich übersehen. Blutige Striemen auf Brust und Rücken, geschwollene Gesichter und aufgeplatzte Lippen waren keine Seltenheit. Die meisten davon stammten von Misshandlungen durch Väter oder andere sogenannte Erziehungsberechtigte. Die meisten Lehrer nahmen keine Notiz von der Spuren der Gewalt, weil auch sie sie für normal hielten und an ihren eigenen Kindern und an den Schülern praktizierten. Kinder wurden – und werden teilweise bis heute – zur Sau gemacht und also in Angst und Schrecken versetzt. Angst und Gewalt galten als die guten Köche in der Erziehung und als Quelle von Gehorsam und Unterwerfung unter den elterlichen Willen, der sakrosankt und nicht zu hinterfragen war. Die erlittene Gewalt steckt in den geschundenen Körpern und Seelen und wird weitergegeben an die nächsten Generationen. Kann der Ausstieg aus diesem endlosen Kreislauf der Gewalt jemals gelingen? Es gibt obendrein andere, stillere Formen der Gewalt, unter denen Kinder zu leiden haben. Indifferenz und Kälte schlagen seelische Wunden und richten stumme Verheerungen an. Die traurigen, bereits stumpfen Augen vieler heutigen Kinder legen Zeugnis ab von diesen Formen erfahrener Gewalt. Wie oft beobachte ich die folgende Szene: Ein Kind trottet neben seiner Mutter her, die mit ihrem Handy befasst ist und keine Valenzen frei hat für ihr Kind, das nach Aufmerksamkeit und Zuwendung lechzt. Viele Kinder leben in einer berührungslosen Leere und einer Echowelt, die ihnen immer nur die eigene Stimme zurückwirft. Ich merke, ich habe mit diesem Thema ein Fass aufgemacht, das keinen Boden hat.

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