128 | Mein Weg ins Gefängnis

„Eines der wichtigen Merkmale einer zivilisierten Gesellschaft ist freiwillige Rücksichtnahme, die den Menschen durch gute Erziehung und lange Tradition zur zweiten Natur wird und das wichtigste und beste Gegengift gegen alle unvermeidlichen Übel des gesellschaftlichen Lebens ist. Wenn diese Rücksichten nachlassen, wenn sie Gegenstand von Kritik und Ironie werden, ist dies ein Zeichen dafür, dass die Gesellschaft verloren ist, ihre Übel die Vorherrschaft gewonnen haben, sie über lang oder kurz ihrem Untergang entgegengeht und erste Umrisse einer neuen Gesellschaft zum Vorschein kommen.“

(Ivo Andrić)

Meine akute Schwächephase ist abgeklungen. Ich befinde mich nun wieder auf dem Level des mittleren Elends, auf dem ich mich seit einiger Zeit bewege. Aber was heißt in diesem Zusammenhang „bewege“? Schön wär‘s. Auf dem Tisch liegen unangenehme Dinge, die ich in Angriff nehmen will und muss, und die ich umschleiche wie die Katze einen heißen Brei, der nicht abkühlen will. Aus der Wohnung von Us Nachbarin dringt Buddhistengedudel. Dagegen hilft nur Alvin Lee und „I`m going home“. Gegen den stetigen Zuwachs der AfD hilft leider auch Alvin Lee nicht. In neuesten Umfragen liegt die Partei knapp hinter der CDU, die es auf 27 Prozent bringt, bei 25 Prozent. Wer oder was sollte ihren weiteren Aufstieg aufhalten? Unsere glorreiche Bundesregierung mit ihrem nun ausgerufenen „Herbst der Reformen“ sicher nicht. Das ständige Verschieben des angekündigten Neustarts erinnert an den alten DDR-Witz von den vier Hauptfeinden des Sozialismus: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Zum desolaten Zustand des Landes passt der Auftritt der DFB-Elf in der Slowakei. Eigentlich war der WM-Titel bereits fest eingeplant, nun könnte sogar die Qualifikation scheitern. Symptomatisch auch hier der Kontrast zwischen präpotentem Gerede und den Niederungen der Realität. Trainer Nagelsmann und der DFB leiden nicht unter Realitätsverlust, sie zelebrieren ihn, wie weiland Gerhard Schröder, der seine Wahlniederlage gegen Frau Merkel nicht wahrhaben wollte.

***

Im Kampf gegen den stetig wachsenden Zuspruch der AfD machen wir erneut die Erfahrung der Ohnmacht des aufklärerischen Ansatzes und der linken Kopfgläubigkeit. Man geht noch immer davon aus, man brauche die Leute bloß mit den Fakten zu konfrontieren und schon würden sie von ihrem Irrglauben ablassen. Wann wäre je ein Wahn vernünftigen Argumenten gewichen? Man hat das Prinzip des „Kontrafaktischen“, von dem Bazon Brock vor einer Weile gesprochen hat, nicht kapiert, wenn man glaubt, man könne da „argumentieren“. Das Parteiprogramm der AfD auseinanderzunehmen, bringt gar nichts, weil es die AfDler gar nicht interessiert und die es gar nicht kennen. Wir brauchen Zuwanderung wegen des demographischen Wandels, ein Großteil der Migranten arbeitet und zahlt Steuern, papperlapapp, sie sind faul, arbeitsscheu und kriminell und vergreifen sich an „unseren Frauen“. Die Rechten interessieren sich nicht für Fakten. Es ist ihr unschätzbarer Vorteil, dass das Kontrafaktische all ihren Äußerungen die Basis gibt. Es braucht nicht zu stimmen, was sie erzählen. Das eröffnet die Freiheit, alles zu behaupten, was ihnen in den Sinn kommt oder ihnen opportun erscheint. Bei den Rechten wird ja nicht gedacht, sondern geglaubt, und der Glaube ist der Feind des Wissens. Wenn man etwas zur Grundlage des eigenen Glaubens erklärt, kann man, im Kontext der Gleiches Glaubenden, behaupten, was immer man will. Das Kontrafaktische, das eigentlich gleichbedeutend mit einem Ressentiment ist, besteht darin, die Möglichkeit von Einwänden prinzipiell unmöglich zu machen. Der Vernunftglaube ist vielleicht die zentrale Schwäche der Linken – seit eh und je. Er ist liebenswert, richtig und gut, aber mit politisch fatalen Folgen. In einem Gespräch zwischen Rainer Traub und Harald Wieser und Ernst Bloch, das 1974 geführt wurde und in dem Band „Gespräche mit Ernst Bloch“ (Frankfurt/Main 1975) enthalten ist, erinnert Bloch sich an einen Besuch im Berliner Sportpalast. Es war kurz vor dem Sieg Hitlers und zwei Propagandisten traten gegeneinander an, ein Kommunist und ein Nazi. Es gab zwischen den beiden Herren einen Wettstreit, wer zuerst sprechen solle. Der Nazi ließ dem Kommunisten den Vortritt, „was der als Auszeichnung empfunden hat, der Dummkopf, und fing nun an zu reden. Da kam alles vor: der Grundwiderspruch und die Durchschnittsprofitrate, die schwierigsten Partien aus dem Kapital und immer neue Zahlen. Die Versammelten aber verstanden kein Wort und hörten ihm sehr gelangweilt zu. Der Beifall war mäßig und mehr als matt. Dann kam der Nazi, der sprach am Anfang sehr höflich: ‚Ich danke dem Herrn Vorredner für seine lichtvollen oder für die meisten hier nicht so sehr lichtvollen Ausführungen. Und daraus können Sie schon etwas gelernt haben, bevor ich gesprochen habe. Was tun Sie denn, soweit Sie zum Mittelstand, zum kleinen Mittelstand gehören, in Büros arbeiten, z.B. als Buchhalterinnen oder Buchhalter – was tun Sie denn den ganzen Tag? Sie schreiben Zahlen, addieren, subtrahieren usw., und was haben Sie heute gehört von dem Herrn Vorredner? Zahlen, Zahlen und nichts als Zahlen. So dass der Satz unseres Führers wieder eine neue Bestätigung erfahren hat, von einer unerwarteten Seite: Kommunismus und Kapitalismus sind die Kehrseiten der gleichen Medaille.‘ Dann eine wohleinstudierte Pause. Als die zu Ende war – sie hat ziemlich lange gedauert -, reckte sich der Bursche auf, in der Nachfolge Hitlers hat er das gemacht, warf mit einem Mal die Arme in die Höhe und schrie mit Stentorstimme ganz langsam ins Publikum hinein: ‚Ich aber spreche zu Euch in höherem Auftrag!‘ Sofort war der Stromkreis geschlossen: der Übergang zu Hitler.“

Ich habe noch das ungläubige Lachen von Kamala Harris vor Augen, als Donald Trump im Fernsehduell mit ihr davon sprach, in Springfield äßen Migranten die Hunde und Katzen der Einheimischen. Er lügt das Blaue vom Himmel herunter, und es schert ihn und seine Anhänger einen feuchten Kehricht. Kamala Harris hatte die Wahrheit auf ihrer Seite, Donald Trump die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler, die glauben wollten, die Zuwanderer äßen ihre Hunde und Katzen, vergewaltigten ihre Frauen und Kinder, seien durch die Bank faul und kriminell und fluteten das Land mit Drogen.

***

Jörg Schneider, seines Zeichens Publizist und Sartiriker, hat in die Debatte über das Umsichgreifen von Verschwörungsideologien im Kontext der Corona-Pandemie in einem Artikel für die Frankfurter Rundschau vom 11. Mai 2020 den Begriff der „Herdendummheit“ eingeführt. In Analogie zum epidemiologischen Terminus Herdenimmunität bezeichnet er den Verblödungsgrad einer Bevölkerung, der nötig ist, um sie einigermaßen zuverlässig gegen Tatsachen, Wahrheit und Vernunft zu immunisieren. Der Zustand der Herdendummheit wäre einer, in dem sich die Mehrheit der Bevölkerung in einem Bewusstseinszustand befände, der sich gegen die Korrektur durch die Wirklichkeit perfekt abgedichtet hätte. Die Leute ließen sich wie ihr großes Vorbild Donald Trump durch Fakten nicht irritieren und verführen nach dem Motto: „Wenn zwischen meiner/unserer Meinung und den Tatsachen Differenzen auftreten: umso schlimmer für die Tatsachen!“ Herdendummheit entpuppt sich als denktechnisches Verhütungsmittel, das ihre Träger davor schützt, sich mit Wirklichkeit zu infizieren und von ihr aus dem Konzept bringen zu lassen. (Vgl. DHP 35, Versuch über „Herdendummheit“)

***

Für U ist seit jener Nacht, in der sie mich hilflos am Boden liegend angetroffen hat, etwas zerbrochen. Ich nenne es mal das Vertrauen in meine Unversehrtheit und Präsenz. Verstärkt wird dieses Gefühl sicher dadurch, dass sie selbst gerade am Knie operiert worden ist und eigentlich auf meine zuverlässige Anwesenheit und Unterstützung angewiesen wäre. Auf einmal werden wir beide über die Hinfälligkeit und Schwäche unserer Körper belehrt. Obwohl ich mich seit einer Woche auf dem Weg der Besserung befinde und mich bemühe, ihr eine Stütze zu sein, spüre ich eine gewisse skeptische Distanz. So, als würde sie ständig das Schlimmste befürchten. Das Urvertrauen in meine Funktionstüchtigkeit und Zuverlässigkeit ist beschädigt, wenn nicht gar zerbrochen. Ich würde gern wieder näher an sie heranrücken und die beschädigte Brücke instandsetzen und merke, dass sie mich auf Distanz hält und dem Frieden nicht recht traut. In der gegenwärtigen Krise werden implizite Kontinuitätsannahmen, auf denen Beziehungen basieren, enttäuscht. Das labilisiert zusätzlich. Die Krankheit drängt sich in den Zwischenraum, den die Liebe gelassen hat, und nachdem dieser sich einmal aufgetan hat, bildet er sich nicht mehr zurück, sondern weitet sich stetig aus. Unsere Beziehung basiert offensichtlich auf leidlich tauglichen Körpern und ist auf Hinfälligkeit nicht eingerichtet. Die traurige Wahrheit scheint zu sein, dass das, was wir handschweißhemmend und technizistisch „Beziehung“ nennen, nur für die Schönwetterperioden des Lebens taugt. Wenn wir in die Phase eintreten, die Philippe Claudel die des „unfreundlichen Körper“ nennt, wird es schwierig und „Beziehungen“ geraten in eine riefe Krise. Um meine düstere Stimmung ein wenig aufzuhellen, hörte und sah ich Jeff Becks Aufmunterungsstück „Hi Ho Silver Lining“. Zusammen mit David Gilmour und Imelda May hat er es am 4. Juli 2009 in der Royal Albert Hall gespielt. Den jungen David Gilmour habe ich gestern Abend in dem Film „Pink Floyd live at Pompeii“ gesehen, der einen Auftritt der legendären Band im Jahr 1971 in den Ruinen des Amphitheaters der untergegangenen Stadt zeigt. Ein sagenhaftes Konzert von begnadeten Musikern vor einer unglaublichen Kulisse. Vorher ging es auf Arte um Syd Barrett, der der Band anfangs angehörte und ihren Sound maßgeblich prägte. Er zog sich wegen psychischer Probleme bei Zeiten zurück und starb 2006.

***

Der heute um 11 Uhr stattfindende bundesweite Probealarm hat seit dem russischen Überfall auf die Ukraine und nochmal nach dem gestrigen Drohneneinfall in Polen den Charakter der harmlosen Routine verloren. Das Heulen der Sirenen ging uns diesmal auf ganz neue und andere Weise unter die Haut. Der Krieg, der für eine ganze Epoche aus dem Bereich des Erwartbaren verschwunden schien, ist durch die Ereignisse der letzten Jahre und Monate aus der Abstraktion gerissen worden und zu einer realen Möglichkeit geworden.

***

„Ich bin nicht deiner Meinung, aber ich werde darum kämpfen, dass du sie äußern darfst.“

(Voltaire)

Zur „Chronik der Gewalt“ gehört auch der Anschlag auf Charlie Kirk. Er war ein rechter Influencer und Aktivist und Vertrauter von Donald Trump, dem er massenhaft junge Leute zugetrieben hat. Er wurde am Mittwoch, dem 10. September, während einer Veranstaltung auf dem Campus der Utah University angeschossen und erlag wenig später seiner Verletzung. Nach dem Täter wird mit Hochdruck gefahndet. Der Mord an Kirk wird zur weiteren Verrohung und Radikalisierung des politischen Klimas in den USA beitragen. Schon ist von republikanischer Seite vom „Krieg“ mit den linksliberalen Kräften die Rede. So ein Ende wünsche ich selbst politischen Gegnern nicht. Kirk hinterlässt Frau und zwei kleine Kinder.

Anderntags wurde von Trump-Lager bekannt gegeben: „Wir haben ihn!“ Es soll sich um einen 22-Jährigen aus Utah handeln. Die Hintergründe der Tat und die Motive des mutmaßlichen Täters sind noch völlig unklar. Trump fordert schon mal die Todesstrafe. Der Vater des mutmaßlichen Täters soll die Fahndungsfotos des FBI gesehen und gemeinsam mit einem befreundeten Pfarrer seinen Sohn dazu gebracht haben, sich zu stellen.

In die „Chronik der Gewalt“ gehört auch der Hinweis auf die Messerattacke auf die Lehrerin eines Berufskollegs in Essen, die sich bereits letzte Woche ereignet hat. Tatverdächtig ist ein 17-jähriger Kosovare, der Schüler des Berufskollegs war. Die Lehrerin wurde bei dem Angriff lebensbedrohlich verletzt. Sie habe den Propheten beleidigt, erklärte der Schüler bei der Befragung zu seinen Motiven. Dem Schüler wird außerdem vorgeworfen, einen Obdachlosen mit einem Messer attackiert zu haben. Auch dieser Mann überlebte schwer verletzt. Außerdem soll der Täter erfolglos weitere Opfer in der Nähe einer Synagoge gesucht haben.

***

Vorn im Park kommt mir eine Altenpflegerin mit einem Insassen des Altersheims entgegen. Der alte Mann hat sich in ihre linke Armbeuge eingehakt, mit der anderen Hand stützt er sich auf einen Stock. In der rechten Hand, auf der dem Mann abgewandten Seite, hält die Betreuerin ihr Smartphone, auf das sie verstohlen schaut. Eine Szene professioneller Entfremdung, die mich in meinem Entschluss stärkte, mich auf keinen Fall in die Obhut einer solchen Einrichtung zu begeben. Mitgefühl ist von bezahlten Betreuerinnen auch nicht unbedingt zu fordern und zu erwarten. Man kann Lohnarbeiterinnen nicht zu Wärme und Empathie animieren. „Überdies lässt sich in beruflich vermittelten Verhältnissen wie dem von Lehrer und Schüler, von Arzt und Patient, von Anwalt und Klient Liebe nicht fordern. Sie ist ein Unmittelbares und widerspricht wesentlich vermittelten Beziehungen. Der Zuspruch zur Liebe – womöglich in der imperativischen Form, dass man es soll – ist selber Bestandstück der Ideologie, welche die Kälte verewigt“, heißt in Adornos Text „Erziehung nach Auschwitz“.

***

Gestern war Konstantin Wecker im „Kölner Treff“. Er sprach dort auch über den Verlust des Gefühls in seinen Händen, der dazu geführt habe, dass er kaum noch Klavier spielen könne. Als ihm klargeworden sei, dass es sich nicht um ein vorübergehendes Phänomen handelte, sei er schließlich zu einem Arzt gegangen. Eine eindeutige Diagnose habe er allerdings bis heute nicht erhalten. Klar sei jedoch, dass es sich um eine Nervenschädigung handele, die man mit dem Begriff „Neuropathie“ belege. Er selbst führt seine Erkrankung auf den jahrzehntelangen Alkoholabusus zurück. Seit vier Jahren sei er inzwischen trocken, aber er vermisse die „Glücksgefühle im Rausch“ und träume gelegentlich vom Wein. Die schmerzliche Erkenntnis: Ihm sei letztlich nicht zu helfen und er müsse mit den fortschreitenden Beeinträchtigungen leben. Das alles kam mir sehr bekannt vor und hat mich deswegen auf besondere Weise berührt. Ich habe rund ein Jahrzehnt lang für Konstantin und seinen Blog „Hinter den Schlagzeilen“ geschrieben. Gelegentlich hat er sich zustimmend zu Texten von mir geäußert und seinen Anhängern deren Lektüre ans Herz geegt. Als der Blog während der Corona-Pandemie durch den von Konstantin eingesetzten Chefredakteur ins Fahrwasser von Verschwörungsideologien geriet, beendete er das Projekt und damit ging auch unsere Zusammenarbeit zu Ende. Unter dem Titel „Der Kommunismus, der aus der Kälte kam“ habe ich auf dem Wecker-Blog zum 100. Jahrestag der Oktoberrevolution einen Text geschrieben, den ich für einen meiner schönsten und wichtigsten halte: https://hinter-den-schlagzeilen.de/der-kommunismus-der-aus-der-kaelte-kam Konstantin hat ein Text von mir besonders gut gefallen, in dem es um das Bienensterben geht und der unter dem Titel „The Sound of Money“ auf seinem Blog erschienen ist. Nach seinem gestrigen Auftritt im „Kölner Treff“ würde ich mich gern mit ihm unterhalten und über unsere gemeinsame Krankheit austauschen, aber ich weiß nicht, wie ich ihn erreichen könnte.

***

„Das Mittel, wie das auch in anderem Dingen und auf anderen Gebieten der Fall ist, wurde zum Zweck und der ursprüngliche Zweck aus den Augen verloren.“

(Wilhelm Liebknecht)

Gestern habe ich im Botanischer Garten die Lebenserinnerungen von Wilhelm Liebknecht zu Ende gelesen. Im Anschluss an die Lektüre wäre ich gern eine Runde mit ihm durch das heutige Gießen gegangen und wäre gespannt gewesen, wie er das kommentieren würde. Als er nach längerer Abwesenheit Ende des 19. Jahrhunderts mal wieder nach London kam und sich auf die Suche nach alten Quartieren machte, war er erschrocken über die „Furie des Verschwindens“, von er bei Hegel die Rede ist: „War das die Stadt, in der ich fast ein halbes Menschenalter gelebt und … jede Straße und jeden Winkel gekannt hatte? Manches noch ganz wie damals – aber wieviel Neues, Fremdes! Und selbst das Bekannte durch die veränderte Umgebung fremd geworden, Straßen verschwunden, Straßenviertel verschwunden – neue Straßen, neue Bauten, und der Gesamtanblick so verändert, dass ich da, wo ich früher meinen Weg mit verbundenen Augen gefunden hätte, mich in eine Droschke flüchten musste, um an das nahe Ziel zu gelangen.“ Wie würde es Liebknecht gehen, wenn er heute da stünde, wo einst sein Elternhaus gestanden hat? Der Wandel hat sich in den letzten einhundert Jahre noch einmal derart beschleunigt, dass er durchgängig Schwindelgefühle und eine Art von sozialer Seekrankheit erzeugt. Es ist wahrlich kein Wunder, dass sich in einer solchen Gesellschaft der Wunsch nach stationären Zuständen regt, nach einer Welt, die sich nicht gleich bis zur Unkenntlichkeit verändert, wenn man ihr mal kurz den Rücken zukehrt. Leider hat die Linke immer noch keine Aneignungsformen für solche Gefühlslagen entwickelt, so dass es die Rechte ist, die von ihnen profitiert.

***

Der Gießener Tageszeitung entnehme ich, dass gerade das fünfte Gießener „Business-Breakfast“ stattgefunden hat, wo dieses Mal über „innovative Energielösungen“ debattiert worden ist. Was bin ich froh, dass ich an solchen Veranstaltungen nicht teilnehmen muss! Ich kann mir nichts Schlimmeres als ein „Business-Breakfast“ vorstellen, bei dem über „Optimierungsstrategien und innovative Lösungen“ gesprochen wird. Je älter ich werde, desto mehr komme ich dazu, Peter Rosei recht zugeben, der schon vor Jahrzehnten einen Satz formuliert hat, der für Linke damals wie heute unannehmbar sein wird: „Wenn wir nichts verschlechtern wollen, an keiner Stelle, dann müssen wir auch den Willen zur Verbesserung aufgeben.“ Der sozialdemokratische Parteiphilosoph Josef Dietzgen brachte den linken Fortschrittsglauben vor rund 125 Jahren ganz im Sinne Bebels und Liebknechts folgendermaßen zum Ausdruck: „Wird doch unsere Sache alle Tage klarer und das Volk alle Tage klüger.“ Heute müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass „unsere Sache“ alle Tage unklarer und das Volk alle Tage dümmer wird. Eine der Urszenen der linken Fortschrittsgläubigkeit ist uns durch Wilhelm Liebknecht überliefert. Auf dem Sommerfest des Londoner Kommunistischen Arbeiterbildungsvereins begegnet er 1850 der Familie Marx. Von seinem längeren Gespräch mit Marx berichtet Liebknecht : „Bald waren wir auf dem Gebiet der Naturwissenschaft, und Marx spottete der siegreichen Reaktion in Europa, welche sich einbildete, die Revolution erstickt zu haben und die nicht ahne, dass die Naturwissenschaft eine neue Revolution vorbereite. Der König Dampf, der im vorigen Jahrhundert die Welt umgewälzt, habe ausregiert, an seine Stelle werde ein noch ungleich größerer Revolutionär treten: der elektrische Funke. Und nun erzählte mir Marx, ganz Feuer und Flamme, dass seit einigen Tagen in Regent’s Street das Modell einer elektrischen Maschine ausgestellt sei, die einen Eisenbahntrain ziehe. ‚Jetzt ist das Problem gelöst – die Folgen sind unabsehbar. Der ökonomischen Revolution muss mit Notwendigkeit die politische folgen, denn sie ist nur deren Ausdruck.‘ In der Art, wie Marx diesen Fortschritt der Wissenschaft und der Mechanik besprach, trat seine Weltanschauung und namentlich das, was man später als die materialistische Geschichtsauffassung bezeichnet hat, so klar zutage, dass gewisse Zweifel, die ich bisher noch gehegt hatte, wegschmolzen wie Schnee in der Frühlingssonne.“ Die Dampfmaschine und die Elektrizität werden es schon richten. In dieser simplifizierten und kruden Form ist der historische Materialismus während der „Zweiten Internationale“ unters Volk und in die Arbeiterbewegung gekommen. Der Anarchist Gustav Landauer spottete in seinem „Aufruf zum Sozialismus“: „Der Vater des Marxismus ist der Dampf. Alte Weiber prophezeien aus dem Kaffeesatz. Karl Marx prophezeit aus dem Dampf.“ Wenn ein Spaziergang mit Wilhelm Liebknecht durch das heutige Gießen möglich wäre, könnten wir auch über dieses Thema sprechen, und ich wäre gespannt darauf zu erfahren, ob Liebknechts Fortschrittsglaube die Katastrophen des 20. Jahrhunderts ungebrochen überstanden hat und worauf er ihn heute gründen würde.

***

Als erstes ist morgens die Angst da. Sie hat sich über Nacht irgendwo in einer Ecke zusammengerollt und erwacht mit den ersten Sonnenstrahlen. Die Angst lässt den Puls hochschnellen und äußert sich als Kribbeln in der Magengegend. Ich wälze mich im Bett von einer Seite auf die andere, aber die Angst dreht sich mit und bleibt. Ich habe es aufgegeben, nach dem Angstgrund zu fragen. Es gibt keinen benennbaren Grund, sonst wäre es keine Angst, sondern Furcht. Manchmal denke ich, dass es auch die Angst ist, die meine Beine lähmt.

***

„Der Populismus ist eine – oft erfolgreiche – Strategie, Unbehagen zu codieren oder eine soziale Erfahrung umzucodieren.“

(Eva Illouz)

Bei den Kommunalwahlen in NRW hat die AfD ihren Stimmanteil verdreifacht. Ihre Erfolge sind längst nicht mehr auf den Osten beschränkt. Die SPD erzielte das schlechteste Kommunalwahlergebnis seit Gründung des Landes NRW im Jahr 1946. Dabei war NRW einst eine Hochburg der SPD. Auch die Grünen hat es arg gebeutelt. Sie büßten 6,5 Prozent ein und landeten bei 13,5 Prozent. Nachdem die SPD die Bedürfnisse und Interessen der Arbeiter aus dem Blick verloren hat, haben diese nun der SPD den Rücken zugekehrt. Die AfD vertritt nicht die wahren Interessen der Arbeiter, bedient aber erfolgreich deren Ressentiments. Dass und wie man aus Ressentiments politisches Kapital schlagen kann, hat Eva Illouz in ihrem Buch „Undemokratische Emotionen“ gezeigt. György Konrád schreibt über die Pfeilkreuzler, eine Gruppierung ungarischer Nationalsozialisten: „Die Pfeilkreuzler sind der Abschaum der Gesellschaft, die ewigen Sitzenbleiber, ihre Begabung erschöpft sich im Quälen von Katzen.“ Viktor Orbán ist ihr direkter Nachfahre und Wiedergänger.

***

Nach dem Triumph der deutschen Basketballer das inzwischen übliche peinliche Gestammel in den Medien: „Geiles Spiel, geile Jungs, einfach nur geil“, ließ Dennis Schröder verlauten.

***

Am Heck eines gigantischen Pickups sehe ich einen Aufkleber: „Immer mit der Ruhe!“ Noch immer haben alte türkische Männer, die an der Lahn auf Steinen sitzen, die Taschen ihrer Sakkos voller Kürbis- und Sonnenblumenkerne. Die Knacken sie geschickt mit den Zähnen und spucken die Schalen auf den Boden. Man erkennt ihre bevorzugten Aufenthaltsorte an den am Boden liegenden Schalen. Oft hocken Tauben und Spatzen zu ihren Füßen und hoffen, dass auch für sie etwas abfällt.

***

Dieser Tage erlebte ich mit, wie Leute ihr Mittagessen in Plastiktüten und Styroporbehältern in den Botanischen Garten trugen, um es dort auf den Bänken zu verspeisen. Noch nie habe ich mir von einem Lieferdienst etwas nach Hause bringen lassen oder irgendeine Speise in einem solchen Behälter besorgt. Schon der Anblick der Styroporbehälter lässt mich von dieser Idee Abstand nehmen, ganz abgesehen vom Inhalt der Behälter. Wenn die Angestellten ihr Mittagsessen beendet haben, sind sämtliche Abfalltonnen mit Styropor verstopft. Was nicht mehr hineinpasst, wird rund um die Tonnen am Boden abgestellt und vom Wind herumgeweht. Manchmal werden die Behälter auch gleich auf den Bänken zurückgelassen oder hinter ihnen ins Gebüsch geworfen. Nach dem Motto: Das Personal wird schon aufräumen. Wie anders lief das mit dem Essen bei uns zu Hause ab! Es wurde gemeinsam gegessen und zu festen Zeiten. Jeder hatte am Esstisch seinen ihm zugewiesenen Platz. An den Stirnseiten des Tisches saßen die Eltern, wir Kinder drumherum. Jeder hatte für eine Woche eine Serviette aus Leinen, die von einem Ring zusammengehalten wurde, auf dem der Name des Benutzers stand. Das Essen kam niemals in Töpfen auf den Tisch. Es wurde nach dem Kochen in der Küche in Schüsseln, Schalen und Terrinen umgefüllt, in die Durchreiche gestellt und von dort zum Esstisch getragen. Jeder von uns Kindern hatte eine Woche dafür zu sorgen, dass der Tisch gedeckt wurde und das Besteck und die Servietten verteilt wurden. Das Besteck lag auf Messerbänkchen, um eine Verschmutzung der Tischdecke zu vermeiden. Welches Besteck vonnöten war, rief die Mutter, die in meinem Fall die Stiefmutter war, einem jeweils von der Küche aus zu. In der Küche hatten wir nichts verloren, dort durfte sich neben der Mutter nur das Hausmädchen aufhalten, das meine Mutter eingestellt hatte und das ihr zur Hand ging. Sie hieß Brunhilde und absolvierte eine Hauswirtschaftslehre, wozu meine Mutter die Lizenz besaß. Brunhilde bewohnte eine Kammer unter dem Dach und ab und zu bekam sie ein Wochenende frei, um nach Hause fahren zu können. Wenn die Vorbereitungen abgeschlossen waren und alle Platz genommen hatten, fassten sich alle bei den Händen und man wünschte sich eine „gesegnete Mahlzeit“. Wenn Vater abwesend war, wurde auch schon mal gebetet, was er als eingefleischter Atheist nicht duldete. Die Formel mit der „gesegneten Mahlzeit“ war für ihn gerade noch akzeptabel. Auch jetzt durfte man nicht einfach mit dem Essen loslegen, sondern hatte zu warten, bis die Mutter den ersten Bissen zum Mund geführt und damit das Essen eröffnet hatte. Die Gabel hielt man in der linken, das Messer in der rechten Hand. Kartoffeln durften nicht mit dem Messer zerschnitten werden, sondern wurden mit der Gabel zerteilt. Es wurde darauf geachtet, dass wir gerade saßen und die angewinkelten Ellenbögen dicht am Oberkörper hielten. Gelegentlich wurde die korrekte Haltung geübt, in dem man ein Buch zwischen Ellenbogen und Rippen festklemmen und dennoch mit Messer und Gabel hantieren musste. Eine Tortur in der Tradition des Leipziger Arztes Daniel Gottlob Moritz Schreber, dem ein Idealmensch vorschwebte, mit geradem Rücken und geradem Geist. Lange bevor das ein Trend war, achtete meine Stiefmutter auf eine ausgewogene und gesunde Ernährung. Meist stammten die Zutaten aus dem eigenen Garten oder wurden auf dem Wochenmarkt bei Lieferanten ihres Vertrauens gekauft. Einmal in der Woche gab es Fisch, der im Ganzen gekocht und auf den Tisch gebracht wurde. Wir Kinder fürchteten dieses Essen wegen der Gräten, die für uns unsichtbar im Fischfleisch verborgen waren. Was gab es sonst noch? Makkaroni mit Schinkenwürfeln und Salat. Die Schinkenwürfel wurden aus Randstücken und Resten gewonnen und billig eingekauft. Im Spätsommer und Herbst gab es gefüllte Paprika, die wir sehr mochten. Einmal in der Woche wurde ein Eintopf gekocht, in den die Reste der ganzen Woche Eingang fanden. Dieser Eintopf war wegen seiner oft nicht definierbaren Bestandteile bei uns ein wenig gefürchtet. Einer meiner Brüder brütete oft stundenlang über seinem Teller, der aber unter allen Umständen und auf Teufel komm raus abgegessen werden musste. Ganz geheuer war uns auch der Auflauf aus Brotresten nicht, der alle paar Wochen serviert wurde. Der Schimmel wurde zwar aus den Krusten und Resten herausgeschnitten, aber irgendwie trauten wir der Sache nicht so recht. Versöhnt wurden wir durch eine Vanillesoße, die über den Auflauf gegeben wurde und köstlich schmeckte. Wer seine Mahlzeit beendet hatte, dufte nicht einfach so aufstehen. Man hatte sitzen zu bleiben und zu warten, bis alle fertig waren, was durch das Zusammenrollen der Servietten kundgetan wurde. Dann erst wurde die Tafel aufgehoben. Am Ende des Mittagessens wurden die Aufgaben verteilt, die jedes Familienmitglied, vor allem aber wir Kinder, in Haus und Garten zu übernehmen hatten. Das Abendbrot wurde nach dem gleichen Reglement abgehalten. Die Grundlage war Vollkornbrot, das ich einmal in der Woche im Örtlichen Konsum abholte, Margarine, Kochkäse, Quark und Wurst aus eigener Schlachtung. Es begann um 18.30 Uhr und endete damit, dass Vater um 19 Uhr am Loewe Opta-Radio die Nachrichten anstellte. Einen Fernsehapparat gab es zu dieser Zeit noch nicht, jedenfalls nicht bei uns. Mein Vater sträubte sich lang gegen den Einzug eines solchen Geräts, dem, wie einem trojanischen Pferd, allerhand Bedrohliches aus Amerika entsteigen und in die Familienfestung der Eisenbergs eindringen könnte. Erst als ich schon längst aus dem Haus war, kapitulierte er, und es wurde ein Fernseher angeschafft. Obwohl wir Kinder dieses familiäre Reglement als einengendes Korsett erlebten, haben wir doch alle an gewissen Teilen des Regelwerks festgehalten. U und ich essen zum Beispiel immer noch zu bestimmten Zeiten und gemeinsam. Es geht nicht jeder zum Kühlschrank und isst irgendetwas vor dem Fernseher. Das kommt für uns beide auch heute noch nicht in Frage. Und mit Schnittlauch und Leinöl angemachter Quark ist noch immer fester Bestandteil meiner Ernährung.

***

„Denn sie wissen nicht, dass sie nur die Jagd und nicht die Beute suchen.“

(Blaise Pascal)

Am 16. September ist Robert Redford gestorben. Er starb im Alter von 89 Jahren in seinem Haus in Utah. Er war ein denkender und politisch engagierter Schauspieler, den ich sehr geschätzt habe. Gestern Abend habe ich zu seinen Ehren nochmal den Film „Butch Cassidy und Sundance Kid“ aus dem Jahr 1969 angeschaut, der eine Art Abgesang auf den „Wilden Westen“ darstellt. Die Luft wird dünn für Banditen wie Sundance und Butch, die besten Pinkerton-Detektive sind hinter ihnen her und lassen nicht locker. Obwohl „Der Clou“ – mit denselben männlichen Protagonisten gedreht – auch nicht schlecht und finanziell erfolgreicher war, ist er doch nicht halb so gut wie „Butch Cassidy und Sundance Kid“. Robert Redford sagte über diesen Film: „Einer der Gründe, warum ich Butch Cassidy mag, ist, dass der Film deutlich macht, dass eine Menge von diesen Leute noch halbe Kinder waren, und wenn sie Banken ausraubten und Züge überfielen, dann genauso gut wegen des puren Spaßes, den das machte, als aus irgendwelchen anderen Gründen. Es leben noch eine Menge Leute, zumal in Utah, wo ich lebe, die den wirklichen Butch Cassidy und seine „Hole in the Wall-Gang“ noch erlebt haben. Und diese Leute erzählen, dass Butch und seine Jungens am Leben so viel Spaß hatten, dass sie einfach nicht zu zähmen waren. Sie raubten Banken aus, sie waren wir die jungen Hunde, sie machten sich eine schöne Zeit, und sie konnten einander gut leiden.“ Der Jäger, hat der französische Philosoph Blaise Pascal einmal treffend gesagt, ist nicht am Hasen, sondern an der Jagd interessiert. Pascal abwandelnd könnte man sagen: Gewisse Verbrecher sind nicht oder nicht in erster Linie am Geld interessiert, sondern daran, Banken oder Geldtransporter zu überfallen. Es ist eine abenteuerliche, unbürgerliche Art zu leben – und manchmal auch zu sterben. Ich habe bei meiner Arbeit im Gefängnis noch einige Exemplare dieser aussterbenden Gattung kennengelernt. Die Phantasie der Justizmitarbeiter reichte oft nicht aus, deren Motive zu verstehen. Sie dachten utilitaristisch und konnten sich Straftaten nur als devianten Konformismus, also als individuelle Nutzenmaximierung, vorstellen.

***

Eben habe ich beobachtet, wie eine Krähe eine Nuss vom Dach eines hohen Nachbarhauses auf die Straße hinunterwarf, wo sie aufplatzte. Sie folgte und machte sich über die Brocken her. Zwischendurch verscheuchte sie zwei Tauben, die ebenfalls Interesse an der Nuss zeigten. Interessant, was man vom Balkon alles zu sehen bekommt.

***

So einen Satz werden viele von Adorno nicht erwartet haben, aber in manchen Teilen seines Denkens war er orthodoxer Marxist. Gerade in Zeiten, da die Welt nur noch aus „Narrativen“ zu bestehen scheint und alle vom „Mindset“ reden, sorgt so ein Satz für Klarheit: „Im universellen Vollzug des Tausches, nicht erst in der wissenschaftlichen Reflexion, wird objektiv abstrahiert; wird abgesehen von der qualitativen Beschaffenheit der Produzierenden und Konsumierenden, vom Modus der Produktion, sogar vom Bedürfnis, das der gesellschaftliche Mechanismus beiher, als Sekundäres befriedigt, Primär ist der Profit.“ (Theodor W. Adorno: Gesellschaft, gesammelte Schriften Band 8)

***

Ein Mann sitzt auf einem Steg am Fluss. Er ist in ein Buch vertieft. Er merkt nicht, dass sich in seinem Rücken jemand nähert. Er erhält einen Tritt gegen den Kopf und fällt vornüber in den Fluss. Er lebt noch, ist aber bewusstlos und ertrinkt. Sein Körper verfängt sich hundert Meter weiter im Ufergesträuch und bleibt dort hängen. Ein Ruderer entdeckt gegen Abend den Leichnam und verständigt die Polizei. Das Buch, in dem der Mann gelesen hat, wird ebenfalls gefunden. Der Mann hat es nicht losgelassen und hält mit der linken Hand fest umklammert. Es handelt sich um einen Roman des ungarischen Autors György Konrád mit dem Titel „Glück“.

(Eine Phantasie, die mich gestern beschlich, als ich lesend auf dem Steg saß und sich von hinten jemand näherte)

***

Hochachtung empfinde ich für drei alte Nonnen, die zur Gemeinschaft der Augustiner-Chorfrauen gehören und aus einem Altersheim ausgebrochen sind, in das sie ihre Vorgesetzten zwangsweise einquartiert hatten. Sie sind auf eigene Faust und gegen den Willen der Kirchenoberen in ihr angestammtes Kloster zurückgekehrt, Kloster Goldenstein bei Salzburg. Ich drücke den Schwestern Regina, Rita und Bernadette den Daumen, dass es ihnen gelingt, ihr Recht auf ein selbstbestimmtes Leben und irgendwann auch Sterben erfolgreich zu verteidigen.

***

Selbst im Botanischen Garten orientieren sich die Leute mittels Handy. Statt einen Mitmenschen zu fragen, wischen sie auf ihren Smartphones herum, um sich zeigen zu lassen, wie man den Ausgang findet. Der Begriff Orientierung taucht außerhalb der Schifffahrt erst auf, als Gesellschaften entstehen, die unübersichtlich sind. Solange Menschen in übersichtlichen Verhältnissen leben, macht der Begriff keinen Sinn, weil sie einfach gegeben ist. „Sich orientieren“ heißt seitdem so viel wie sich zurechtfinden, sich im Labyrinth der Verhältnisse nicht zu verirren.“ Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, ist der Wahlspruch der Aufklärung. Die digitale Gegenaufklärung entzieht den Menschen das Vermögen der Urteilskraft und verlagert den Verstand peu à peu in Apparate und Bildmaschinen. Menschen entwickeln gegenwärtig die Neigung, sich nicht mehr Fakten zu merken, sondern nur den elektronischen Ort, an dem diese aufzufinden sind. Dies kann man als kulturelle Zäsur sehen. Externalisierung von Gedächtnisinhalten in Apparate, die das zuverlässiger tun als wir selbst.

***

Ein mittelalter Schwarzer geht durch unsere Straße und brüllt bei jedem dritten Schritt: „fuck off“. Ich glaube, er meinte keine konkrete Person, sondern alle anderen und die ganze Welt. Wir sollen uns verpissen und ihn in Ruhe lassen.

***

Als meine Mutter im Sterben lag, war ich vier Jahre alt. Mein Vater saß im Krankenhaus in Kassel an ihrem Sterbebett und kolportierte später, dass sie in ihrer letzten Stunde zu ihm gesagt habe: „Pass mir auf den Jungen auf, sonst landet er im Gefängnis.“ Natürlich habe ich mich später gefragt, was meine Mutter veranlasst haben könnte, ihrem vierjährigen Sohn eine solch düstere Prognose zu stellen. Sie war Fürsorgerin, wie man damals noch sagte, und hatte vor dem Krieg und im Krieg beruflich mit schwierigen Kindern und Jugendlichen zu tun gehabt. Es gehörte auch zu jener Zeit schon zum sozialpädagogischen Wissensbestand, dass Waisenkinder häufig auffällig werden und eine „antisoziale Tendenz“ entwickeln. Viele Lebensläufe führten vom „Waisenhaus ins Zuchthaus“, wie ein bekanntes Buch von Wolfgang Werner betitelt ist. Vielleicht war es einfach dieses Wissen, das sie diesen folgenreichen Satz sagen ließ. Jedenfalls schleuderte man mir die ganze Kindheit über, wann immer ich etwas getan hatte, was ich nicht hätte tun sollen, diesen Satz entgegen. Und selbst, wenn meine Mutter diesen Satz gar nicht gesagt hätte und er zu meiner pädagogischen Disziplinierung erfunden worden wäre, er hat sich wie eine Prophezeiung auf mein Leben gelegt und dafür gesorgt, dass ich tatsächlich im Gefängnis „gelandet“ bin. Allerdings habe ich der Mutter dabei ein gewissermaßen Sartre‘sches Schnippchen geschlagen. Ich habe meine „ursprüngliche Wahl“, die man durch die Kolportage jenes ominösen Satzes in mich eingesenkt hat, revidiert und „überschritten“, indem ich es dann doch vorzog, nicht als Insasse, sondern als Mitarbeiter ins Gefängnis zu gehen. Auf eine vertrackte Weise habe ich dennoch der mütterlichen Prophezeiung nachträglichen Gehorsam geleistet.

Der Tod der Mutter hat meinem Leben und meinem Verhältnis zur Welt einen Riss verpasst, der sich trotz aller späteren vertrauensbildenden Maßnahmen nie mehr ganz geschlossen und aus mir einen Zaungast und Beobachter des Lebens gemacht hat. Sie war gegangen ohne Verabschiedung, ohne eine letzte Umarmung, ohne ein Wort der Erklärung und des Trostes. Ich fühlte mich im Stich gelassen und war wütend. Dann aber gab ich mir – wie alle Waisenkinder – die Schuld am Tod der Mutter. Angewidert von meiner Gegenwart hatte sie sich in ihre himmlischen Gemächer zurückgezogen, von wo aus sie mich nun unablässig beobachtete, wie die Erwachsenen mir versicherten. „Wäre ich nur ein besserer, ergebenerer Sohn gewesen, hätte ich besser gehorcht, wäre ich nicht so trotzig gewesen, wäre sie sicher noch da“, dachte oder besser: empfand ich, denn denken konnte ich damals noch nicht. Dass meine Mutter vor mir geflohen war, bewies nur, dass an mir nichts Liebenswertes war. Irgendetwas stimmte nicht mit mir, da musste irgendetwas Schlimmes, Abstoßendes und Böses in und an mir sein. Wie konnte ich das je wieder gut machen? Wer schuldig geworden ist, muss bestraft werden und gehört ins Gefängnis. So ergab die Prophezeiung für mich plötzlich einen Sinn. Eine imaginäre Schuld sehnte sich nach Strafe.

Früh geriet mein Leben ins Gravitationsfeld von Gefängnissen. Wann immer wir mit dem Lloyd meines Vaters über die B 3 zur Großmutter Richtung Marburg fuhren, kamen wir am Gefängnis in Kassel-Wehlheiden vorüber. Im Vorbeifahren zeigte man mir das düster wirkende Klinkergebäude mit den vergitterten Zellenfenstern hinter den hohen Mauern und ich erschauerte: Dort befanden sich also die „Bösen“, zu denen ich gehören würde, wenn ich nicht … ja was bloß? Was sollte ich anstellen, um diesem Schicksal zu entgehen?

Schon als Schüler bekam ich zum ersten Mal ein Gefängnis von innen zu sehen. Ich erhielt an der Musikakademie Flötenunterricht und wurde von dort aus am Heiligen Abend mit einigen anderen Musikschülern in die Kasseler Untersuchungshaftanstalt geschickt, um dort den Weihnachtsgottesdienst musikalisch zu untermalen. Wir standen neben dem Altar, vor uns saßen in dichten Reihen die blau gekleideten „Verbrecher“ und sangen mit ihren tiefen und rauen Stimmen „Stille Nacht, heilige Nacht“. Finster empfand ich ihre Gesichter und feindlich-abweisend ihre vor der Brust verschränkten Arme. Die Anstaltskleidung und die kahl rasierten Schädel ließen die Individuen zu einer anonymen Masse verschmelzen, die mir Furcht einflößte. In der einsetzenden Dämmerung fuhr ich mit der Straßenbahn nach Hause und fühlte mich ziemlich heroisch: Keiner von den wenigen Fahrgästen, die zu dieser Zeit noch unterwegs waren, ahnte, woher ich gerade kam und was mich mit diesem geheimnisvollen Ort verband.

In den folgenden Jahren geriet die sinistre Prophezeiung in Vergessenheit, behielt aber dennoch ihre Wirksamkeit in meinem Lebenslauf. Dass die junge Donau nicht weit von ihrer Quelle versickert und ganz woanders wieder zu Tage tritt, haben wir im „Heimatkundeunterricht“ gelernt. Man hatte das mit Farb- und Salzexperimenten nachgewiesen. So ein Versickern und Woanders-wieder-zum-Vorschein-Kommen gibt es nicht nur bei Fluss-, sondern auch bei Lebensläufen. Es war für mich eine seltsame und auch erschreckende Entdeckung, dass ich dem „Schicksal“, das meine Mutter für mich befürchtet (oder gewünscht?) hatte, nicht habe ausweichen können.

Ich musste ins Gefängnis …

Aber das Leben lebt und entwickelt sich auch im Gefängnis und trotz des Gefängnisses, und im Laufe der vielen Jahre, die ich dort tätig war, haben sich viele Dinge abgeschliffen, gelockert und geändert. Irgendwann fühlte ich mich nicht mehr durch die in meine kindliche Seele eingepflanzte „mütterliche Prädestination“ an diesen Ort gekettet, sondern war – so rede ich mir jedenfalls ein – aus freien Stücken dort. Ich hatte die Situation, in die ich geworfen wurde, akzeptiert und zwar so weit akzeptiert, als hätte ich sie wirklich gewählt, als hätte ich gar nichts Anderes gewollt. Ich habe das Gefängnis, zu dem die „mütterliche Prädestination“ mich zunächst einmal verdammt hatte, also zu „meinem Gefängnis“ gemacht. Irgendwann wurde es Zeit, die Mutter und ihre Bannflüche abzuschütteln. Eines Tages ist man zu alt für ein Waisenkind, das seine alten Ängste wiederkäut. Um Herauszufinden, was für einen das Richtige ist, braucht es oft lange Wege und Umwege, denn – wie Kleist es so wunderbar ausgedrückt hat – wem das Paradies verriegelt ist, der muss „die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist.“ Meine Reise hat mich nicht um die Welt geführt, und das Gefängnis war beileibe kein Paradies, aber für mich war es der – am Ende einer langen, schweifenden Suchbewegung gefundene – richtige Ort. Ich habe dort Erfahrungen gemacht, die ich nirgends sonst hätte machen können.

Wer über neue Texte informiert werden möchte, kann hier den Newsletter abonnieren.

Erforderlich ist lediglich die E-Mail-Adresse. Die Angabe von Vor- und Zuname ist freiwillig.