Um herauszufinden, ob der angebrochene Tag ein gebrauchter oder einer ist, der zur Hoffnung Anlass gibt, mache ich manchmal einen kleinen Test. Ich knülle ein verrotztes Taschentuch zusammen und versuche, es von der Klotür aus in die drei Meter entfernte Schüssel zu werfen, wie in einen Basketballkorb. Treffe ich diese auf Anhieb, nehme ich das als gutes Omen. Manchmal benötige ich mehrere Versuche, heute traf ich auf Anhieb. Das veranlasste mich, ein Vorhaben anzugehen, das ich schon seit Anfang der Woche prokrastiniere. Endlich eine Gelegenheit, dieses schöne Wort mal wieder unterzubringen. Ich musste auf einem Rezept eine Kleinigkeit nachtragen lassen, die der Verkäufer im Sanitätshaus als fehlend reklamiert hatte. Da ein neues Quartal angebrochen war, musste meine Krankenkassenkarte neu eingelesen werden. Ich hatte also die Praxis aufzusuchen, die sich in einem Dorf in der Nähe von Gießen befindet. Was für eine Anstrengung mich ein derart lächerliches Vorhaben kostet! In der Praxis musste ich einen kleinen Moment warten und setzte mich auf einen Stuhl vor der Rezeption. Als ich aus dem relativ niedrigen Stuhl wieder aufstand, verspürte ich einen heftigen Schmerz in der vor Jahren operierten Hüfte und fürchtete bereits, dass sich die Prothese gelockert hätte. Aber nach wenigen Augenblicken verflog der Schmerz und ich konnte wieder auftreten.
Ich beschloss, einen gegenüber der Praxis gelegenen Lebensmittelmarkt aufzusuchen und ein paar fällige Einkäufe zu tätigen. An der Kasse vor mir steckte ein Typ seine Karte mehrfach in das Lesegerät, aber die Karte wurde nicht akzeptiert oder es war nichts mehr drauf. Er hatte ein paar Gebäckstücke oder Brötchen fürs Frühstück holen wollen und musste nun mit leeren Händen den Laden verlassen. „Da die Sachen lose sind, muss ich sie wegwerfen“, sagte die Kassiererin ein wenig vorwurfsvoll. Das veranlasste mich zu fragen, was denn der Einkauf gekostet hätte. Es war ein Betrag, den ich verschmerzen konnte, und ich beglich die Rechnung. Ich tat es mehr der Verkäuferin zuliebe, als des Typen wegen. „Man soll ja jeden Tag wenigstens eine kleine gute Tat begehen“, sagte ich zu ihr, und sie lachte. Ich verstaute meine Einkäufe im Wagen und fuhr zurück Richtung Gießen. In einem am Stadtrand gelegenen Getränkemarkt erstand ich noch ein paar Flaschen sommerlichen Weißbiers – für die restlichen Spiele der Europameisterschaft, die jetzt in die entscheidende Phase eintritt. Es geht doch kaum etwas über ein schönes, kühles Weizenbier während eines spannenden Spiels getrunken, wie des gestrigen zwischen Spanien und Frankreich.
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„Die Mutter kauft für den Laden ein Dutzend Kutscherpeitschen. Was man noch? sagt der Vater. Er ist stets besorgt, die Mutter könnte auf den Waren, die sie auf Verdacht einkauft, sitzenbleiben. … Bisher hat kein Bossdomer Kleinbauer je eine Peitsche gekauft. Man schnitzt sich einen Peitschenstiel aus Wacholder, Birke oder Hasel, flicht aus drei Bindfadensträhnen einen Riemen, den man mit Öl tränkt und dann in Ruß, Moder oder Pech.“
(Erwin Strittmatter: Der Laden, Teil 1)
Ich habe ein Faible für ruhige und unspektakuläre Filme. Dieser Tage gab es einen solchen auf 3sat zu sehen. Beim Rumzappen bin ich spät abends per Zufall in ihn geraten und ich bin froh darüber. Er erzählt vom gegenwärtigen Leben in einem Dorf in Mecklenburg-Vorpommern, das Lübesse heißt und in der Nähe von Schwerin liegt. 800 Einwohner hat das Dorf, viele junge Leute sind in den letzten Jahren weggezogen, um ihr Glück anderswo zu suchen. Landwirtschaft wird kaum noch betrieben. Die Hiergebliebenen treffen sich abends in und an einer aufgelassenen Tankstelle, wo sie Musik hören und Bier trinken. Die jungen Leute erwarten etwas vom Leben, doch erwartet das Leben in dieser Gesellschaft auch etwas von ihnen? Ein älterer Dorfbewohner hockt tagein-tagaus zwischen Maisfeldern und geht mit dem Gewehr „auf Sauen“. Ältere Frauen treffen sich im Gemeindehaus zum Skat- und Doppelkopfspielen und natürlich zum ausgiebigen Klönen. Sie genießen es sichtlich, die Männer mal los und unter sich zu sein. Eine rührige Fotogruppe zieht durchs Dorf, um Spuren dörflichen Lebens und Arbeitens festzuhalten, die von der Furie des Verschwindens bedroht sind. Der Dokumentarfilmer Stephan Löhr hat sich für zwei Jahre hier einquartiert und sich auf das Dorf und seine Bewohner liebevoll und einfühlsam eingelassen. Unter dem Titel „Es war einmal südlich von Schwerin“ findet man diesen absolut sehenswerten Film über das dörfliche Alltagsleben in der Mediathek des NDR.
Der Film hat meine in letzter Zeit etwas träge Hirnantilope in alle möglichen Richtungen springen lassen. Die Trilogie „Von ihrer Hände Arbeit“ von John Berger fiel mir ein, in der vom rauen bäuerlichen Alltag in den savoyischen Bergen erzählt wird. Im Soziologiestudium haben wir uns mit Laurence Wylies Studie „Dorf in der Vorcluse“ und dem Klassiker von Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel „Die Arbeitslosen von Marienthal“ beschäftigt. Marienthal ist ein Ort in Niederösterreich, dessen Einwohner mehrheitlich in einer Textilfabrik arbeiteten. Als die im Zuge der Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930er Jahre pleite ging, lagen die Menschen plötzlich wie Fische auf dem Trockenen, und die Forschergruppe sah sich genauer an, wie sie auf diese Situation reagierten. Lothar Baier verdanke ich den Hinweis auf den Roman von Jean Carriere „Der Sperber von Maheux“, in dem vom kargen Leben in den Cevennen im Süden Frankreichs die Rede ist. Meine Freundin Birgit Vanderbeke lebte und schrieb in dieser Gegend. Auch ihr Buch „Das lässt sich ändern“ gehört in diese Reihe von Büchern übers Alltagsleben auf dem Land. Alles eindrucksvolle und immer noch aktuelle Bücher, die ich euch ans Herz legen und zur Lektüre empfehlen möchte. Beinahe hätte ich Erwin Strittmatters Romantrilogie „Der Laden“ vergessen, die auch in die Reihe der Bücher gehört, die vom untergegangenen dörflichen Leben erzählen. „Heute freilich weiß ich“, heißt es bei Strittmatter, „dass es ein Glück ist, kein Glück nötig zu haben.“
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Das Handy einer älteren Frau gibt in der Fußgängerzone irgendwelche Töne von sich. Sie sagt genervt zu ihrer Begleiterin: „Was will denn dieses Scheißding schon wieder?“ Ich frage mich, warum sie das Gerät, wenn es sie nervt, nicht in den nächsten Mülleimer wirft.
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„Wo gehen bloß all die Leute hin?“, fragte ich mich schon als Kind, wenn ich mit der Stiefmutter in die Stadt gefahren war und über den endlosen Strom der Passanten staunte. Dieses Staunen, vermute ich, ist der Ursprung meines Interesses an Soziologie. Und ist es im Kern bis heute geblieben. Später kam die Frage hinzu, warum die Nöte und Sorgen all dieser Menschen in unseren Begriffen nicht vorkamen und was eine Theorie wert ist, die von alldem abstrahiert? Irgendwann begriff ich: Wenn man sich für die Menschen und ihre Lebenswirklichkeit interessiert, muss man sich der Literatur zuwenden. Für all das, was die Großtheorie übersieht, für die gelebte Erfahrung der Menschen, hat nur der Roman eine Sprache. Seit mir dieses Licht aufging, lese ich beinahe ausschließlich literarische Texte. Gerade eben bin ich durch einen Zufall an ein Buch geraten, das „Ein glückliches Tal“ heißt und die Geschichte einer englischen Landärztin erzählt. Es ist, wenn man so will, die Fortsetzung eines Buches von John Berger, das „A Fortunate Man – Geschichte eines Landarztes“ heißt. John Berger hat in diesem Buch aus den 1960er Jahren dem Landarzt John Sassall ein Denkmal gesetzt, der seiner Tätigkeit in einer der ärmsten ländlichen Gegenden Englands nachging. Er war ein Exemplar einer inzwischen ausgestorbenen Gattung von Ärzten, die ihre Patienten kannten und mochten und sich für ihre Geschichten interessierten, und nicht nur für die in die Praxis getragenen Symptome und deren medikamentöse Bekämpfung. Polly Morland stößt beim Ausräumen ihres Elternhauses auf ein Exemplar von „A Fortunate Man“, das hinter ein Bücherregal gerutscht war, liest es noch einmal und entdeckt, dass sie dessen aktuelle Nachfolgerin kennt. Rund sechzig Jahre nach John Berger beschließt sie, dessen Projekt zu wiederholen und ein Buch über eine bemerkenswerte Frau zu schreiben, eine Landärztin, die ihre Patienten kennt und mit Hingabe versorgt. Sie erbringt nicht nur ärztliche Leistungen, für die sie eine Vergütung erhält, sondern „gibt sich selbst als Mensch“ und geht Beziehungen ein, wie André Gorz diese Haltung beschrieben hat, die für das Gelingen ärztlichen, therapeutischen und auch pädagogischen Handelns erforderlich ist. „Ist das wichtigste Instrument des Chirurgen das Skalpell, ist es für die Allgemeinpraktikerin das Vertrauen“, war die Maxime von Doktor Sassall und ist nun auch die seiner Nachfolgerin. Polly Morland begleitet die Ärztin über einen längeren Zeitraum, unter anderem durch die Phase der Pandemie, und zeichnet dabei das faszinierende schriftstellerische Portrait einer besonderen Frau und Ärztin – und auch ihrer Patienten. Unbedingt lesenswert, genau wie das 1998 im Hanser-Verlag erschienene Buch von John Berger: „Geschichte eines Landarztes“. Ich merke, wie die Lektüre dieser beiden Bücher meiner Sehnsucht nach einem „guten Arzt“ neue Nahrung gegeben hat. Ich hatte ja das Glück, solche Ärzte noch kennenzulernen, und kann deswegen den Verlust ermessen. Wer nur den heute dominierenden Typus Arzt und die hochgradig arbeitsteilig und fabrikmäßig organisierte Medizin kennt, weiß gar nicht, was ihm fehlt. Die Geschichte von John Bergers Doktor Sassall und seiner Nachfolgerin wirkt deshalb beinahe wie ein melancholisches Märchen aus längst vergangenen Tagen.
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Heute Morgen hörte ich auf Deutschlandfunk Kultur ein Gespräch mit der Schriftstellerin Irene Dische, die österreichische Vorfahren hat, aber in den USA geboren wurde und dort lebt. Sie sprach über die Auswirkungen des Attentats auf Donald Trump. Dieser habe sofort begriffen, dass und wie er das Geschehen ausschlachten kann und habe das meisterlich inszeniert. Wohlgemerkt: Nicht das Attentat selbst sei eine Inszenierung, sondern der Umgang mit ihm. Trump machte aus dem Stegreif „großartiges Theater“ aus dem Ereignis. Irene Dische fürchtet, dass der Ausgang der amerikanischen Wahlen damit entschieden sei. Daran trügen allerdings die Demokraten eine gehörige Mitschuld, sie hätten rechtzeitig einen anderen, jüngeren Kandidaten oder eine andere, jüngere Kandidatin nominieren können. So liefen sie sehenden Auges in eine Katastrophe hinein. Sie fürchtet im Falle eines Trump-Wahlsieges eine rapide Faschisierung in den Vereinigten Staaten und bereitet ihren Abschied vor. Es sei in der Familie bereits beschlossen, ihr Haus samt Ziegen und Hühnern zu verkaufen und wegzugehen. Zumindest für die nächsten Jahre.
Der Attentäter ist ein zwanzigjähriges Milchgesicht aus Pennsylvania – mit dem typischen Profil eines jugendlichen Amoktäters: verklemmt, schüchtern, unauffällig, ein Einzelgänger und Mobbingopfer. Nun hat er aller Welt gezeigt, was für ein harter Kerl er ist und zu was er imstande ist. Nur hat er nichts mehr davon. Aber manchmal genießen solche Täter das mediale Echo ihrer Tat schon vorab. Sie treten in ihrer Phantasie aus der völligen Bedeutungslosigkeit ihrer Existenz heraus auf die Bühne weltweiter Beachtung. Endlich soll die Welt mitbekommen, was sie an ihm gehabt hat oder hätte haben können. Als Tante Polly Tom Sawyer zu Unrecht schilt und bestraft, stellt er sich vor, wie es wäre, wenn er stürbe und sie auf seiner Beerdigung alle um ihn weinten. Dann wird Tom aber bewusst, dass er selbst von seinem Triumph nichts mitbekäme. Denn er wäre ja tot. Diese von Mark Twain beschriebene Kinderphantasie treibt womöglich auch einige unserer heutigen Selbstmörder und Amokläufer an. Allerdings hält sie das eigene Totsein am Ende ihres Rachefeldzugs von nichts zurück. Sie begehen ihre Taten in der sicheren Gewissheit, dass die Medien ihren Ruhm verbreiten und dafür sorgen werden, dass sie ihren Platz in der Hall of Fame der Übeltäter finden. Sie genießen das vorab. Das scheint ihnen zu genügen.
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Mein Vater war Architekt. Ende der 1950er Jahre erfüllte er sich einen Traum und baute in einem Vorort von Kassel ein Haus nach seinen Vorstellungen und Plänen. Als wir dorthin umzogen, bedeutete das, dass ich die Schule wechseln musste. Ich war sieben Jahre alt und besuchte die zweite Klasse der Volksschule. Mein Vater hatte gerade wieder geheiratet, und ich war dadurch ohnehin ziemlich durch den Wind. Meine Stiefmutter war zum zweiten Mal schwanger, im Sommer des Vorjahres war ein erster Halbbruder zur Welt gekommen. Zwischen uns beiden blieb immer unklar, mit wem die Geschwisterfolge eigentlich begann. Freilich war ich der Ältere, aber mit ihm begann eine neue Familienära. Und vor allem, diese Konstellation war noch vorhanden, während ich einer vergangenen familiären Formation entstammte. Wie dem auch sei, ich hatte die Schule zu wechseln. Die neue war im Erdgeschoss eines mehrstöckigen Wohnhauses untergebracht, das man mir bei irgendeiner Gelegenheit mal gezeigt hatte. Dorthin sollte ich mich zu Beginn des neuen Schuljahres wenden. Das war alles. Niemand hielt es für nötig, mich am ersten Schultag in die neue Schule zu begleiten. Als es so weit war, taperte ich mit meinem Schulranzen und voller Beklemmungen am Bach entlang zu dem bezeichneten Haus und fragte nach dem Lehrer, dessen Namen man mir genannt hatte. Doch er war nirgends zu finden. Man sagte mir, ich solle unten im Ort in der Hauptschule fragen, vielleicht unterrichte er heute dort. Ich solle immer den Straßenbahnschienen folgen, dann komme ich nach vier Kilometern zu dieser Schule. Ich könne mich auch am Kirchturm orientieren, die Schule liege direkt neben der Kirche. Man kümmerte sich nicht weiter um mich und überließ mich einer langsam aufsteigenden Panik. Ich machte mich auf den Weg und fand auch tatsächlich die fragliche Schule, aber auch hier war mein Lehrer nicht zu finden. Man schickte mich zurück, er müsse dort sein. Ich solle mich allerdings beeilen, denn bald sei die Schule aus. Ich trat also den Rückweg an und fragte erneut nach dem Lehrer und meiner Klasse. Diese hatte keinen Zugang vom Flur aus und lag hinter einem Klassenraum, den man durchqueren musste, um zu der Klasse zu gelangen, in die ich ab jetzt gehörte. Endlich erbarmte sich jemand meiner und brachte mich hin. Der Lehrer war sehr freundlich, stellte mich den anderen vor und wies mir einen Platz zu. Dieser Vormittag ist für mich gewissermaßen die Urszene meines Daseins als „displaced Person“, samt den dazugehörigen Gefühlen von Unerwünschtheit, Angst und Panik. Noch heute fällt mir diese Szene ein, wenn ich zum Beispiel durch die Uniklinik irre und die Neurologie nicht finde, in der ich mich vorstellen soll. Die Szene ist typisch für die Art und Weise meines In-der-Welt-Seins. Die Welt ruft mir zu: „Hau doch ab, du blöde Sau!“ Aber ich muss dennoch bleiben und sehen, wie ich klarkomme. Wie ich andere um ihr Erwünscht-Sein beneidete, das mir verweigert worden ist. Es ist die Urform des Neides, jedenfalls meines Neides. Ich habe andere nie um ihre Fahrräder oder Klamotten beneidet, aber immer um ihre Familien und das Gefühl der Dazugehörigkeit. Das Bett ist bereitet, das Geschirr klappert, das Essen steht auf dem Herd, eine Flasche Wein ist entkorkt, man freut sich über die Ankunft. Das ist der Kern dessen, was fehlt, was mir fehlt. Der unbegreifliche und unbegriffene Tod meiner Mutter hat mich neurotisch auf das Stadium des frühen Verlustes fixiert. In gewisser Weise werde ich, obwohl ich natürlich wie alle anderen altere, immer das Kind bleiben, das ungläubig einen Verlust erlitten hat und über dessen gesamte Existenz eine Abwesenheit dahinflattert und sie melancholisch einfärbt. Aus dieser Zeit datiert der Riss, der mich von der Welt der anderen trennt und von vielem abschneidet.
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Gestern hat Trump den Namen seines designierten Vizepräsidenten bekannt gegeben: J.D. Vance. Vor vier Jahren habe ich euch dessen Buch „Hillbilly-Elegie“ empfohlen, das mir zu einem besseren Verständnis von Donald Trump verholfen hat: DHP 16 „Wir leben in einer Zeit der Umbrüche“. Damals war Vance ein scharfer Kritiker und präziser Analytiker von Trump, was ihn zu seinem glühenden Verehrer, zum Rassisten, Rechtsradikalen und fanatischen Abtreibungsgegner hat werden lassen, weiß ich nicht. Jetzt bietet er jedenfalls das peinliche Bild eines eifernden Konvertiten. Diese Wandlung ändert nichts daran, dass sein Buch aus dem Jahr 2016 lesenswert und aufschlussreich bleibt. Was Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ an Erklärungen für den Aufstieg von Marine Le Pen lieferte, lieferte J.D. Vance für den Siegeszug Donald Trumps.
Die Süddeutschen Zeitung hat im Oktober 2016 ein Gespräch mit J. D. Vance über Hillbillies geführt. Darunter versteht man sogenannte Hinterwäldler, also Bewohner der Appalachen und des sogenannten Rust Belts. Dort vor allem stößt man auf die Wähler von Donald Trump. Vance sagte damals: „Millionen dieser Leute sind nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Süden der USA in den Mittelwesten gezogen, um dort in der Industrie, in den Fabriken und Stahlwerken zu arbeiten. Ich verwende den Begriff in meinem Buch daher für die gesamte untere weiße Arbeiterklasse im sogenannten ‚Rostgürtel‘. Die Krise besteht darin, dass für diese Leute sehr, sehr wenig in die richtige Richtung geht. Die Wirtschaft funktioniert nicht mehr, es gibt kaum noch gut bezahlte Jobs in der Industrie. Die Familien funktionieren nicht mehr, die Zahl der Scheidungen steigt, ebenso Missbrauch, Gewalt, Chaos in den Familien. Es gibt eine Drogenepidemie, immer mehr Menschen werden abhängig von Heroin. Die Leute sind weniger gesund, sie sind übergewichtig, sie sterben früher. Die Krise ist also überall. Alles, was wichtig ist, läuft falsch.“ Die Industriejobs sind abgewandert und es kommt einfach nichts nach. Die große politische Trennlinie verläuft in Amerika nicht mehr zwischen Linken und Rechten, sondern zwischen den Menschen, die von der Globalisierung profitieren, und denen, die darunter leiden. Die sogenannte Wissensökonomie ist das, was die Hillbillies hassen. Obama steht für ein Wirtschaftssystem, von dem viele weiße Arbeiter glauben, es schließe sie aus. Trump ist diesen Leuten näher. Er gibt ihnen eine Stimme, ihre Frustration zu äußern. Er sagte: „Ich liebe die Ungebildeten.“ Soweit Vance im Jahr 2016. An den von ihm beschriebenen und kritisierten Zuständen hat sich seither nichts geändert. Nur er selbst hat sich vom Trump-Kritiker zum Trump-Gefolgsmann gewandelt.
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Ich kann nichts für die Sprünge meiner Hirnantilope, außer dass es natürlich meine Hirnantipole ist, die springt. Insofern trage ich für all ihre Sprünge die Verantwortung. Ich sehe es ähnlich wie Irene Dische: Das Attentat auf Trump war ein versuchtes Attentat und keine Inszenierung, aber was danach passierte, war und ist eine gigantische Inszenierung. Seine Parteitagsrede von Milwaukee legt davon beredtes Zeugnis ab: „Überall floss Blut, doch ich hatte Gott auf meiner Seite.“ Das missglückte Attentat avanciert zum Zeichen seiner Auserwähltheit und Unverwundbarkeit. Gott hat seine Hand schützend über ihn gehalten. Und dann dieses zum Symbol aufgeblasene Pflaster am Ohr, das ja ein Zitat von van Goghs „Selbstbildnis mit verbundenem Ohr“ ist. Donald Tump darf man nicht unterstellen, dass er van Gogh und die Geschichte von dessen Ohr kennt. Aber meine Hirnantilope sprang unmittelbar von diesem Ohr zu jenem Ohr. Van Gogh befand sich im Dezember 1888 aus verschiedenen Gründen in einer seelischen Krise und griff vermutlich zum Messer, um einer drohenden psychische Fragmentierung zuvorzukommen. Er legte gleichsam ein Gegenfeuer gegen einen innen lodernden Brand und verwandelte auf diese Weise einen unerträglichen und vor allem diffusen seelischen Schmerz in einen leichter zu handhabenden und konkretisierbaren körperlichen Schmerz. Er opferte einen Teil seiner körperlichen Integrität, um das Ganze seiner Person und seines Selbst zu retten. Diese Deutung selbstschädigenden Verhaltens habe ich mir im Rahmen meiner Tätigkeit im Gefängnis zu eigen gemacht, wo diese Handlungen relativ häufig vorkommen und meist falsch gedeutet werden – als missglückte Suizidversuche. Eine derartige Komplexität innerer Vorgänge dürfen wir im Falle von Donald Trumps Ohr nicht vermuten. Schon deswegen nicht, weil ja nicht er selbst es war, der sein Ohr verletzte. Bei ihm geht es bei der Indienstnahme eines auf ihn abgefeuerten Schusses um den erwartbaren Inszenierungswert, den er mit seinem untrüglichen Instinkt für Profitquellen sofort erkannte.
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Am heutigen Sonntagmorgen erwachte ich früh. Die Sonne durchdrang den Vorhang und kitzelte und blendete mich wach. Ich beschloss, zur Lahn zu radeln und schwimmen zu gehen. Zu dieser frühen Stunde waren kaum Autos unterwegs. Vereinzelt führten Leute ihre Hunde aus. Von irgendwoher war auch um diese Zeit schon ein Martinshorn zu hören. Auch Polly Morland (s.o.) führt die gestiegene Inanspruchnahme von Notdiensten darauf zurück, dass viele Menschen keinen Hausarzt mehr haben und keine kontinuierliche Gesundheitsvorsorge kennen. Stattdessen lassen sie sich nun auch wegen allerhand Zipperlein und ungekärten Phänomenen gleich ins Krankenhaus transportieren. Das erklärt – jedenfalls zum Teil – das zum Paroxysmus gesteigerte Sirenengeheul in der Stadt. Auf der Brücke über die Lahn hielt ich einen Moment inne und sah einem Ruderer hinterher, der mit ruhigen Schlägen den Fluss hinauffuhr. Ein Kormoran war auf der Jagd und tauchte nicht weit von ihm in den Fluss. Ich fuhr dann langsam weiter und hockte mich auf den Steg in die Morgensonne, die angenehm wärmte. Nach einer Weile zog ich mich aus und stieg nackt in den Fluss. Um diese Tageszeit kann man man das unbesorgt und ohne Ärgernis zu erregen machen. Im Anschluss zog ich mich an und absolvierte ein paar gymnastische Übungen. Dann freute ich mich aufs Frühstück und radelte in die Stadt zurück. Nachmittags war ich auf die Geburtstagsfeier von Rainer eingeladen. Er war, als ich ihn kennengelernt habe, Schauspieler am hiesigen Theater und ist auch einige Male zusammen mit Kollegen und Kolleginnen mit aktuellen Stücken im Gefängnis aufgetreten. Da er ein exzellenter Saxophonspieler ist, hat er gelegentlich Lesungen von mir musikalisch begleitet. Einmal, erinnere ich mich, auch mit einer singenden Säge, auf deren Beherrschung er eine Weile besonders stolz war. Seine Frau Kathrin und er bewirtschaften seit ein paar Monaten eine Parzelle in einem am Stadtrad gelegenen Kleingartenverein. Auch einige der dortigen Nachbarn waren anwesend, was ich sehr interessant fand, weil sie aus unserer gewohnten Ordnung von Menschen und Dingen fielen. Solche Schrebergartenkolonien befinden sich oft fest in russischer Hand, weil sich Deutsche lange Zeit nicht mehr dafür interessiert haben und die Datsche fester Bestandteil der sowjetisch-russischen Kultur war und ist. Erst seit der Corona-Pandemie ist das wieder anders geworden. Nun gebe es, erzählte Rainer, erstaunlich lange Wartelisten und deutlich mehr Bewerber für die frei werdenden Parzellen. Der Nachteil solcher Anlagen wurde mir abends bewusst, als ich so gegen neun Uhr nach Hause fahren wollte, aber wegen einer verschlossenen Tür das Areal nicht verlassen konnte. Ich musste also nochmal durch das ganze Labyrinth von Gängen und schmalen Wegen zurück und jemand bitten, mich rauszulassen. Kathrin erbarmte sich meiner und begleitete mich zum Tor. Da sie von Beruf Physiotherapeutin ist, gab sie mir auf dem langen Weg zum Tor einige nützliche Hinweise zu meinem desolaten Zustand und was man eventuell dagegen tun könnte. Den ganzen Abend über mussten sie nun jeden, der nach Hause wollte, ein paar hundert Meter zum Tor begleiten. Mich erinnerte das an frühere Mietshäuser, wo ebenfalls abends ab einer bestimmten Uhrzeit die Haustür abgesperrt wurde und niemand mehr rein oder rauskam, ohne dass ihn jemand mit dem Schlüssel die Tür öffnete.
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Vernünftigerweise ist Joe Biden von einer neuerlichen Kandidatur ums Präsidentenamt zurückgetreten und hat hoffentlich gerade noch rechtzeitig Platz für jemand anderen gemacht, der größere Chancen hat, die Rückkehr des real existierenden Horrorclowns ins Präsidentenamt zu verhindern. Er hat seinen Rücktritt von der Kandidatur für eine neuerliche Amtszeit gut getimt und Trump die Show gestohlen. Dieser war gerade dabei, den sekundären Krankheitsgewinn für seine Schussverletzung einzuheimsen und den triumphalen Nominierungsparteitag von Milwaukee samt der Inthronisation von J.D. Vance als Vize zu zelebrieren, da kommt „Sleepy Joe“ dahergeschlappt mit seinem Rücktritt und der Nominierung von Kamala Harris. Fehlende, in Trumps Wahrnehmung „gestohlene Aufmerksamkeit“, ist für einen Narzissten ein Todesurteil. Fehlt ihm der Resonanzraum für seine Größen- und Allmachtsphantasien und die Spiegelung in den auf sich gerichteten Kameraaugen, ist es, als würde man die Luft aus einem geblähten Ballon entweichen lassen. Mangel an Aufmerksamkeit ist für das narzisstisch bedürftige Selbst, was Hunger für den Magen ist. Joe Biden hat seinem Kontrahenten beim Rückzug in die Kulissen der Macht jedenfalls noch einmal ordentlich einen mitgegeben.
Im Moment deutet alles auf eine Kandidatur von Kamala Harris hin, mit der Trump nicht gerechnet hat und auf die er nicht vorbereitet ist. Er habe Millionen in den Kampf gegen Biden investiert und jetzt zieht dieser Kerl sich einfach zurück! Harris scheint im Augenblick so etwas auszulösen und auf ihrer Seite zu haben, was man ein „Momentum“ nennt. Ein Blick ins „Wörterbuch der New Economy“ des Dudenverlags belehrt mich darüber, dass der Begriff, wie so viele gegenwärtig grassierende Begriffe, aus der Welt der Börsen stammt und ein Ausdruck „für die Schwungphasen bei New-Economy-Aktien“ ist. Bei diesen Aktien verliefen die Auf- und Abwärtsbewegungen im Unterschied zu traditionellen Werten mitunter sehr turbulent. Momentum bezeichne den Augenblick der Trendwende, wenn eine lange Phase der Seitwärtsbewegung in eine Boomphase übergehe. Das Eindringen dieses Begriffs in die Alltagssprache wäre also ein sprachlicher Beleg für die Ökonomisierung unseres Lebens, das wie die Performance einer Aktie verstanden wird. Unser Leben als Bio-Aktie, für deren Kurs wir verantwortlich sind. „Wie stehen die Aktien?“, ist inzwischen eine Frage nach dem Gelingen unseres Selbstmanagements. Gegenwärtig erleben wir die reelle Subsumption des gesamten Lebens unter die Logik des Kapitals, die Totalauslieferung der Menschen an Marktprozesse. Die Individuen werden als kleinste betriebswirtschaftliche Einheiten begriffen, als „Ich-AGs“, der Einzelne als Unternehmer seines Selbst. Die ubiquitäre Rede vom „Momentum“, das wir durch Praktiken der Selbstoptimierung auf unsere Seite reißen können, ist der semantische Ausdruck der kapitalistischen Kolonialisierung der Lebenswelt. Grund genug, einen solchen Begriff nicht einfach nachzuplappern und unkritisch zu übernehmen. Man übernimmt in diesem Fall ein ganzes Bezugssystem, und das ist das von Ware und Geld. Sprechen wir also, wenn wir zum Ausdruck bringen wollen, dass es jemandem gelungen ist, seinem Leben eine günstige Wendung zu geben, davon, dass er die „Gunst der Stunde“ genutzt hat. Oder, wie die alten Griechen, von einem „Kairos“. Damit ist das glückliche Zusammenspiel von aus dem Subjekt kommenden Kräften und objektiven Tendenzen gemeint, das es erst möglich machte, dass etwas gelingt oder eine beabsichtigte Wirkung eintritt. Man kann also nicht ein „Momentum“ nach Belieben auf seine Seite reißen, wie heute gern unterstellt wird. Glück braucht immer einen geschichtlich-gesellschaftlichen Atem, eine historische Tendenz im Rücken. Kamala Harris wird eine Menge Gegenwind erleben, was sie kennt, seit sie politisch aktiv ist. Schon jetzt werden sexistische und rassistische Sprüche abgelassen und Hass und Häme über ihr ausgegossen. Das wird in dem Maße noch zunehmen, wie sie eine ernst zu nehmende Konkurrentin um das Präsidentenamt werden wird. Hoffentlich hat sie genug Kraft, das alles durchzustehen. Eine schwarze, weibliche Päsidentin wäre für die USA ein weiterer wesentlicher Schritt. Hoffentlich gelingt er. Die Obamas sind der Phalanx der Unterstützerinnen inzwischen auch beigetreten. Damit wir uns nicht falsch verstehen: die reißen mich alle nicht vom Hocker, sind aber allemal dem Horrorclown vorzuziehen. Kandidaten, von denen unsereins träumt, stehen nicht zur Wahl.
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Heute haben mich gleich zwei Ereignisse an meinen im Jahr 2017 gestorbenen Freund Burkhard Scherer erinnert. In der Sendung „Im Gespräch“ auf Deutschlandfunk Kultur war Helmut Höge zu Gast, mit dem Burkhard befreundet war. In der Zeit, als Helmut im Vogelsberg lebte, war er gelegentlich in Gießen und besuchte dann auch regelmäßig Burkhard. Beide schrieben für die taz und hatten auch sonst eine Menge gemeinsamer Interessen und Vorlieben. So besorgte Helmut für Burkhard ein Gemälde eines befreundeten Malers, auf dem in klassisch-kitschiger Manier ein röhrender Hirsch vor der Kulisse eines Waldsees zu sehen ist. Der Unterschied: Hinter dem Hirsch steht mit heruntergelassenen Hosen der Förster und sodomiert ihn, was eine plausible Erklärung für das Röhren liefert. Es kann gut sein, dass zu den gemeinsamen Vorlieben auch der britische Bluesmusiker John Mayall gehörte, der gerade im Alter von 90 Jahren gestorben ist. Seine 1966 herausgekommene Platte „Blues Breakers With Eric Clapton“ lief jedenfalls in Burkhards WG-Zimmer rauf und runter. Unter Helmuts maßgeblicher Mitautorschaft erschien in den zeitigen 1980er Jahren bei Rotbuch der erste Teil eines als „Endlosroman“ geplanten Werks, das „Vogelsberg“ hieß. Es ist dann bei dem ersten Teil geblieben. Damals existierte ein unter dem Begriff „Neue Philosophie“ aus Frankreich herüberschwappender Trend, die individuelle Autorschaft zum Verschwinden zu bringen und als Autor gewissermaßen hinter dem und im Text zu verschwinden. So verbargen sich die Verfasser des Vogelsbergromans hinter dem an Nüchternheit kaum zu überbietenden Pseudonym „Agentur Standardtext“. Der nomadisch lebende Helmut Höge verließ den Vogelsberg wieder und zog weiter. Burkhard blieb in Kontakt mir ihm, ich verlor ihn aus den Augen, lese aber gelegentlich etwas von ihm.
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„ … die Krankenwagen heulen wie die Wölfe in einer Winternacht in Västerbotten.“
(Agneta Blomqvist/Lars Gutafsson: Das Lächeln der Mittsommernacht)
Heute Morgen – die Sonne scheint aus einem beinahe beängstigend blauen Himmel – musste ich mal wieder die Beach-Boys auflegen, die sich nun gegen die Martinshörner durchsetzen müssen. Obwohl ihre Musik nicht besonders einfallsreich und anspruchsvoll ist, mag ich sie, und manchmal kommt es über mich und ich muss sie hören. Sie stehen wie kaum eine andere Band der 1960er Jahre für den Pop aus Kalifornien und den Lebensstil der Leichtigkeit: Sand, See, Sonne, Surfen, den man mit diesem Teil Amerikas verbindet. Er war denkbar weit von meiner Lebenswirklichkeit entfernt, vielleicht rührt genau daher die Faszination, die für mich noch heute manchmal von den Beach Boys ausgeht. Slooop John B und Then I Kissed Her sind meine Lieblingsstücke von ihnen.
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Der Mitteldeutsche Rundfunk berichtet von einem Moped-Treff in Zwickau, bei dem alte DDR-Modelle zur Schau gestellt und gefahren werden. Es ist heiß und die Oberkörper werden entblößt. Um seine Indifferenz gegen jedwede Witterung zu demonstrieren, macht das der deutsche Jungmann gern. Kaum zieht einer sein T-Shirt aus, wird auf dem Rücken der mit einem Edding aufgetragene Schriftzug sichtbar: „Alle Schwarzen sollen hängen!“ Als der Rückenbesitzer sich umdreht, prangt auf der Schlüsselbeinregion noch ein gezeichnetes Hakenkreuz. Sein Begleiter trägt ein Shirt, das die Aufschrift trägt: „Kraft durch Freunde“. Andere zeigen den Hitlergruß und grölen „Sieg Heil“. Der Nationalsozialismus scheint in gewissen Regionen Ostdeutschlands fester Bestandteil der Folklore zu sein. Es ist beschämend und deprimierend. So etwas ist zweifellos ein Fall für die Polizei, aber mit polizeilichen Mitteln allein ist dem Moloch der Dummheit und des Ressentiments natürlich nicht beizukommen. Man kann es ohnmächtig nur stets aufs Neue wiederholen: Was einzig helfen könnte, wäre die Austrocknung des Nährbodens, auf dem so etwas gedeiht: die kapitalistischen Arbeits- und Lebensverhältnisse. Die abstrakte Allgemeinheit dieser Formulierung zeugt von Ohnmacht und Hilflosigkeit, mit denen wir geschlagen sind.
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E-Scooter sind, seit es sie gibt, umstritten, auch weil sie immer häufiger in Unfälle verwickelt sind. Besonders oft verunglücken jüngere Fahrer, die häufig zu zweit auf dem Roller stehen und Drogen konsumiert haben. Die Zahl der Unfälle mit E-Scootern in Deutschland ist erneut gestiegen. Im Jahr 2023 gab es nach Angaben der Polizei 9.425 E-Scooter-Unfälle mit Verletzten. Das waren etwa 14 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Auch die Zahl der tödlichen Unfälle stieg an: Mit 22 Todesfällen verdoppelte sich die Zahl der Menschen, die beim Unfall mit einem E-Scooter starben. 2022 waren es noch elf Menschen gewesen. Zudem wurden wurden im vergangenen Jahr etwa 1.200 Menschen schwer verletzt, fast 9.000 erlitten leichte Verletzungen. Man sollte all diese Unfälle, vor allem die mit tödlichem Ausgang, in die Bilanz von Andreas Scheuer hineinrechnen, zu der auch die Maut-Millionen gehören, die er versemmelt hat. In seiner Zeit als Verkehrsminister genehmigte er die E-Roller, angeblich um die Verkehrswende voranzubringen. Für „die letzte Meile“ seien diese Fahrzeuge optimal, sagt der Verkehrsminister damals. Gemeint war die Strecke vom Bus oder Parkhaus zur Arbeitsstelle, die dank der E-Scooter nun zurückgelegt werden kann, ohne einen Fuß auf die Erde zu setzen. Scheuer strebte die „Abschließung eines Systems“ an, in dem alle Bewegung von Funktionen und Prothesen ausgeht, von Autos, Fahrrädern, öffentlichen Verkehrsmitteln und künftig eben auch Rollern, die die Einzelnen ihrer volkswirtschaftlichen Bestimmung zuführen. Niemand soll einfach so Fuß vor Fuß setzen.
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Kleine Kinder bekommen heute früh vermittelt, dass die Sonne etwas extrem Schädliches ist, vor dem es sich zu schützen gilt wie vor radioaktivem Fallout. Gestern Morgen sah ich vom Balkon aus, wie eine junge Mutter ihr im Kinderwagen sitzendes Kleinkind aufforderte, sich einen Hut aufzusetzen. Das Kind hatte keine Lust auf die Kopfbedeckung, aber die Mutter beharrte: „Jetzt ist die Sonne herausgekommen, du musst einen Hut aufsetzen!“ Manche Mütter werfen ein Tuch über den Kinderwagen und nötigen ihre Kleinen zu einer Blindfahrt, bei der mir schlecht würde. Ein Klacks Sonnenmilch würde es auch tun, denke ich manchmal, ein derart hysterisches Getue richtet eher Schaden an und hysterisiert die Kinder.
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Diese olympischen Spiele werde mir als die Spiele der kreischenden Frauen in Erinnerung bleiben. Kaum schwenkt die Kamera auf eine Gruppe junger Frauen, die sich dann in Echtzeit auf riesigen Leinwänden erblicken, stimmen diese prompt ein infernalisches Partygeheul an. Die Schreie von Oskar Matzerath, die Glas zerspringen lassen konnten, sind ein „Flatus vocis“, ein mildes Säuseln, gegen das Kreischen dieser olympischen Furien. Von vielen Kommentatoren wird das Gekreisch als Ausdruck einer olympischen Stimmungslage gedeutet und damit geadelt und zur Nachahmung empfohlen. Mir ist es gestern beim Skateboarding, wo es sich zum Paroxysmus steigerte, derart auf die Nerven gegangen, dass ich den Fernseher ausgeschaltet und den olympischen Tag beendet habe. Wahrscheinlich sollte ich mich aufs Schauen vom Bogenschießen beschränken, wo es ruhig zugeht. Bogenschießen: der letzte „leise Sport“.
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„Niemals isoliert er eine Krankheit von der Gesamtpersönlichkeit eines Patienten – in diesem Sinn ist er das Gegenteil eines Spezialisten.“
(John Berger: Geschichte eines Landarztes)
Den Anfang von Jurek Beckers Roman „Schlaflose Tage“ leicht abwandelnd könnte ich sagen: Wenige Monate nach seinem 73. Geburtstag wurde er, also ich, zum ersten Mal im Leben in eine Röhre geschoben. Freunde, die privat versichert sind, waren schon zwanzig Mal in irgendwelchen Röhren, ich als Kassenpatient noch nie. Im Vorfeld hatte ich ordentlich Muffensausen, wie man so sagt. Ich hatte den Termin in der Uni-Klinik gegen Mittag. Es war erstaunlich wenig Betrieb, so dass ich die Anmeldung schnell hinter mich brachte und gleich in die Radiologie hinabsteigen konnte. Ich meldete mich an und nahm in einer Wartezone Platz. Man erhält an der Rezeption eine Nummer und starrt dann auf einen großen Bildschirm, auf dem irgendwann die eigene Nummer erscheint, verknüpft mit dem Hinweis auf eine Kabine, in die man sich dann zu begeben hat. In der Sitzreihe neben mir saß eine alte Dame. Sie saß schon dort, als ich kam und schien an ihrer Umgebung kaum Anteil zu nehmen. Sie saß dort und starrte vor sich hin. Irgendwann fiel das auch einer Frau auf, die die ansprach und fragte, welche Nummer sie erhalten habe und wann diese denn voraussichtlich auf den Display erscheine. Es stellte sich heraus, dass sie gar keine Nummer erhalten hatte und also völlig sinnlos wartete. Ihre Sitznachbarin ging für sie zur Rezeption und fragte nach ihrer Nummer. Es stellte sich heraus, dass sie überhaupt in der falschen Wartezone Platz genommen hatte und auf die andere Seite wechseln musste. Die alte Frau freute sich, dass sich jemand ihrer annahm und ihr Warten plötzlich einen Sinn bekam. Ein Lehrstück über die Entfremdung, die in diesem medizinischen Moloch herrscht und die sich in der Apathie dieser alten Frau wiederspiegelte. Der Apparat hat seine menschliche Bestimmung, für die Patienten da zu sein, völlig aus den Augen verloren. Jeden Tag erscheinen hier hunderte von Menschen zur Arbeit, für die sie ein Gehalt beziehen. Den Zusammenhang des ganzen Betriebs kennt keiner von ihnen. Irgendwo hängt ein Organigramm, das aber nur die Geschäftsleitung kennt. Man begegnet sich auf den Gängen, im Fahrstuhl oder in der Kantine. Auch meine Behandlung, wenn man das denn so nennen kann, verläuft arbeitsteilig zersplittert und völlig planlos. Jeder schraubt an irgendeinem Teil von mir herum. Da ist niemand, bei dem alles gebündelt wird und die losen Ende verknüpft werden. Vor allem ist kein menschliches Interesse erkennbar. Niemand vermittelt mir das Gefühl, dass ihm etwas daran liegt, dass ich gesund werde. Jeder Patient sollte beim Betreten der Klinik eine Art Lotsen zugeteilt bekommen, der ihn den ganzen Weg durch die Klinik begleitet, sich um ihn kümmert und ihm alles erklärt. Das wäre ein erster Schritt auf dem Weg zu einer menschlichen Medizin. Wer einen Eindruck davon bekommen möchte, was das sein könnte, dem seien nochmal die Bücher von John Berger und Polly Morland empfohlen, von denen bereits die Rede war. An Bildung und Gesundheit sollte in einer wahrhaft menschlichen Gesellschaft nicht gespart werden.
Als meine Nummer nach ungefähr einer Stunde auf dem Bildschirm erschien, taperte ich zu der angegebenen Kabine. Wenig später erschien eine junge Frau und drückte mir einen Tablet-Computer in die Hand: „Füllen Sie das bitte aus“, sagte sie. Als ich sagte, dass ich so etwas noch nie gemacht habe und also nicht wüsste, wie das geht, versprach sie, jemand zu schicken, der das mit mir machen würde. Wenig später erschien ein sehr freundlicher junger Arzt und arbeitete den ganzen Fragebogen mit mir ab. Ich sah ihn dann nie wieder. Jeder ist jedem und dem Ganzen gegenüber entfremdet. Ich schloss alles, was ich dabei hatte, in einem Fach ein und harrte meiner Abholung. Es dauerte eine Weile, bis jemand erschien und mich mitnahm zum Röhreneingang. Ich hatte mich auf den Rücken zu legen und erhielt Kopfhörer aufgesetzt, weil es sehr laut werde würde. Und das wurde es dann auch, trotz des Kopfhörers. So ungefähr stelle ich mir ein Techno-Konzert vor. Man könnte es aber auch mit dem Geräusch eines Presslufthammers vergleichen. Aber das ist ja ohnehin fast dasselbe. Der Lärm wechselte oft ziemlich abrupt und ohne Vorankündigung. Nach einer Viertelstunde verspürte ich einen starken Juckreiz am rechten Nasenflügel, gegen den ich nichts unternehmen konnte, weil ich strikte Anweisung hatte, mich nicht zu bewegen. Für einen Moment flackerte Panik auf und ich umklammerte den Gummiball, mit dem man einen Alarm auslösen konnte. Es war dann aber doch nicht nötig, ihn zu drücken, und ich überstand die Zeit in der Röhre ohne weitere Probleme. Da am Schluss niemand kam und etwas sagte oder unternahm, gehe ich davon aus, dass die Ergebnisse keinen Anlass zur Besorgnis oder gar Panik gegeben haben. In vier Wochen habe ich einen Gesprächstermin in der Neurologie, bei dem die Ergebnisse aller Untersuchungen mit mir besprochen werden sollen. Wenn es bis dahin Zeit hat, kann es nicht so schlimm sein, sagte ich mir und bestieg das Rad. Aber wahrscheinlich liege ich mit meiner Interpretation des institutionellen Schweigens völlig daneben und es ist einfach Ausdruck einer umfassenden bürokratischen Indifferenz.
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Man hätte es sich denken können: Forscher aus den USA haben herausgefunden, dass man mit weit weniger Schlaf auskommen kann, als bisher angenommen. Willfährige Mediziner behaupten, dass 6,7 Stunden pro Nacht vollkommen ausreichend sind, um die Menschen gesund, das heißt arbeitsfähig, zu erhalten. Die Lebenszeit der Menschen gehört dem Kapital und soll möglichst vollständig nutzbare Zeit sein. Daran hat sich seit Benthams Zeiten nichts geändert. Seine ideale Gesellschaft war ein panoptisches Gefängnis – mit Arbeitspflicht für alle und jeden. In Robert Kurz‘ großem Buch „Schwarzbuch Kapitalismus – Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft“ (Frankfurt am Main 1999) findet sich ab Seite 82 eine sehr lesenswerte Passage über den englischen Philosophen Jeremy Bentham, der von 1748 bis 1832 lebte.
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Als ich heute am frühen Morgen die Balkontür öffnete, um die kühle Morgenluft in die Wohnung strömen zu lassen, sah ich, wie eine Frau ein Steinchen aus ihrem Schuh schüttelte. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die gegenüberliegende Hauswand, streifte den Schuh ab und schlug ihn mehrmals gegen die Wand. Um sicher zu gehen, dass sie ihr gelungen war, den Stein auch wirklich zu entfernen, fuhr sie mit den Fingern in den Schuh und tastete die Sohle ab. Erst danach zog sie den Schuh wieder an und ging weiter – ihren Weg zur ungeliebten Arbeit. Es ist schwer vorstellbar, dass man eine Arbeit, die um sechs Uhr morgens beginnt, liebt. Aber wer weiß?