103 | Aufhebung von Selbstverborgenheit

„Wo soll also die Hexe im Pfefferkuchenhaus, die sich im tiefsten Wald aufhält, in Zukunft wohnen? Und was wird aus den Bergtrollen? Sie werden natürlich von dem monotonen Lärm der Waldmaschinen gestört, finden aber keinen anderen Ort, an dem sie sich verstecken können. Wollen wir wirklich einen Wald, in dem Magie, Schönheit und Kultur durch die mit militärischer Präzision gepflanzten Fichten ersetzt worden sind?“

(Agneta Blomqvist/Lars Gustafsson)

Seit zwei Monaten wird ein paar Häuser weiter das Schieferdach eines mehrgeschossigen Wohnhauses neu gedeckt. Früher befand sich im Erdgeschoss dieses Hauses die Praxis des Orthopäden Jürgen Gerlach, der auch die Bundesligamannschaft des TV Lützellinden trainierte. Als er noch Assistenzarzt an den Uni-Klinik war, hat er mich mal am Sprunggelenk operiert und hat das gut hinbekommen. Jürgen Gerlach ist vor drei Jahren gestorben. Beim Aufbau des Gerüstes war es zwei Tage lang sehr laut und es schepperte metallisch, danach war nur noch das Hämmern zu hören, mit dem die Nägel in die Dachsparren geschlagen werden, an denen die einzelnen Schieferplatten befestigt werden. Das ist im Vergleich mit dem Jaulen der Laubbläser oder Motorsägen ein vergleichsweise humanes Geräusch. Es klopft den ganzen Tag in einem Rhythmus, den die Dachdecker selbst bestimmen. Es ist ein quasi mittelalterlich-handwerkliches Geräusch, das sich gut aushalten lässt. Ich staune darüber, wie lang es dauert, ein Dach komplett neu zu decken und dass so etwas Aufwendiges heute noch gemacht wird. Wahrscheinlich hätte man für das Geld, das das Decken des Daches und das verwendete Material kosten, vor hundert Jahren ein ganzes Haus oder sogar mehrere bauen können.

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Ich wundere mich weiterhin darüber, was für groteske Sportarten es gibt und dass diese ins olympische Programm Eingang gefunden haben. Da springen behelmte Menschen mit Fahrrädern durch die Luft und drehen oder überschlagen sich dabei mehrfach, oder es rutschen Teenies mit ihren Skateboards über Geländer und vollführen gefährliche und völlig sinnfreie Tricks, die mit bloßem Augen kaum zu erkennen sind. Immer wieder betonen die Reporter, dass die jeweiligen Akteure Social-Media-Stars seien und Millionen von Followern und natürlich auch entsprechende Einnahmen hätten. Konjunktur haben hoch individualisierte Sportarten, die man im Grunde für sich allein ausübt. Jeder Vergleich mit anderen ist mehr oder weniger willkürlich, Leistungen sind eigentlich nicht mess- und vergleichbar. Wahrscheinlich würde es Sinn machen, das olympische Programm mal ordentlich auszumisten und es wieder auf gewisse Kernsportarten zu begrenzen. Sonst dauern olympische Spiele irgendwann ein Vierteljahr. Eine der wenigen neuen Sportarten, denen ich etwas abgewinnen kann, ist das 3×3-Basketball. Es hat sich aus dem Straßenbasketball entwickelt, wie es vielerorts von Kindern und Jugendlichen, Jungen wie Mädchen, gespielt wurde und wird. In jeder Mannschaft drei Spielerinnen oder Spieler, ein Ball, ein Korb und ein Minimum an Regeln, geschmeidige Bewegungen und Treffsicherheit. Die Deutschen Frauen haben gestern überraschend die Goldmedaille im 3×3-Basketball gewonnen.

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Als wir als Kinder in den Riedwiesen in Kassel die olympischen Spiele nachspielten und vorn an den Garagen und auf den umliegenden Feldern um Medaillen kämpften, waren Armin Hary, Martin Lauer, Werner von Moltke, Willi Holdorf und Kurt Bendlin unsere Heroen. Der Springreiter Alwin Schockemöhle gehörte auch zu ihnen, aber Reiten lag außerhalb unserer Möglichkeiten und ließ sich schlecht nachspielen. Die „Medaillen“ waren aus Pappe ausgeschnitten, wurden mit goldener, silberner und bronzener Folie beklebt und an von Weihnachten übriggeblieben Geschenkbändern von den Mädchen um die Hälse der Sieger gehängt. Tut mir leid, aber so war damals die Rollenverteilung.

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Die Erinnerung eines Freundes rief mir ins Gedächtnis, dass sich Anfang August 1974, also vor fünfzig Jahren, unser Freund und damaliger Genosse Jürgen Dietz das Leben genommen hat. Er hat sich zwischen Gießen und Marburg vor einen Zug geworfen. „ASTA-Chef auf den Schienen enthauptet“, titelte die BILD-Zeitung damals in dem für sie typischen reißerischen Ton. Wenige Tage zuvor hatten Leute, die für ihn vor Gericht eine entlastende Falschaussage getätigt hatten, eine Strafanzeige erhalten und mussten nun um ihre berufliche Zukunft fürchten. Der Umstand, dass nun andere Leute in seine Sache hineingezogen wurden und vielleicht sogar lebensgeschichtliche Nachteile erleiden würden, machte ihm sehr zu schaffen. Mit fiel ein, dass Jürgen und ich wenige Tage vor seinem Tod auf dem „Deutsch-amerikanischen Freundschaftsfest“ waren, das damals einmal im Jahr vor dem Casino in der Grünbergerstraße stattfand und auf dem amerikanische Soldaten und Gießener Bürger sich bei Bratwurst, Hamburgern und Budweiser beziehungsweise Gießener Brauhaus-Bier begegnen sollten und konnten. Für Linke war der Besuch dieses Festes ein Tabubruch, denn der Vietnamkrieg tobte noch und der US-Imperialismus war unser Hauptfeind. Es war für Jürgen bezeichnend, dass er darauf bestand, dass wir dorthin gingen und uns das mal anschauten. Er war damals ASTA-Vorsitzender der Gießener Universität, und es bestand durchaus die Möglichkeit, dass er erkannt wurde. Wir blieben, wenn ich mich recht erinnere, nicht lang auf diesem kirmesartigen Fest und fuhren an einen See im Vogelsberg, um schwimmen zu gehen. Einer seiner WG-Mitbewohner und ich haben ein Jahr nach seinem Tod für die „Frankfurter Hefte“ eine Erinnerung an ihn verfasst. Zwanzig Jahre später habe ich im Gießener Magazin Express unter der Überschrift „Ein Prozess mit tödlichem Ausgang“ noch einmal an ihn und die Umstände seines Todes erinnert. Vor einigen Jahren habe ich im nordhessischen Korbach sein Grab besucht. Er liegt dort zusammen mit seinen Eltern, die fast zwanzig Jahre nach ihm gestorben sind. Wir Nachlebenden stellen uns die Frage: „Was wäre aus Jürgen geworden, wenn er weitergelebt hätte? Was würde er heute tun, wie würde er sich zu den drängenden Fragen der Zeit verhalten?“

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„Eines der wesentlichen Merkmale einer guten Gesellschaft sollte sein, Randexistenzen zu tolerieren.“

(Susan Sontag)

Großbritannien wird seit einer Woche von einer Welle faschistischer Gewalt heimgesucht. Auslöser für die schweren Krawalle war die Messerattacke eines 17-Jährigen auf Kinder, die an einem Tanzkurs in Southport teilnehmen. Er tötete bei seinem Angriff drei Mädchen, die sechs, sieben und neun Jahre alt waren. Weitere Menschen wurden zum Teil erheblich verletzt. Sie sollen zur Musik von Taylor Swift getanzt haben. Was der Auslöser für den Raptus des Täters war, wissen wir nicht. Er sitzt in Untersuchungshaft und kann sich zu seinen Motiven, wenn er will und kann, in der Gerichtsverhandlung selbst äußern. Der Umstand, dass die Eltern des Täters, der in Großbritannien geboren wurde, aus Ruanda stammen, nutzen die Rechtsradikalen, um generell Stimmung gegen Muslime und Zuwanderer zu machen. Entgegen den in den sogenannten sozialen Medien in Umlauf gesetzten Gerüchten weist der Täter keinen muslimischen religiösen Hintergrund auf. Die Familie soll christlich geprägt sein. Aber für solche Feinheiten und Differenzierungen lassen sich die jenigen, die nun seit einer Woche Städte mit ihrer Gewalt überziehen, keine Zeit. Sie biegen sich die Wirklichkeit nach ihrem Weltbild zurecht, was da nicht hineinpasst, wird weggelassen.

Seit Beginn der Krawalle am vergangenen Dienstag hat die Polizei weit über 100 Menschen festgenommen. Allein am Freitag gab es zehn Festnahmen in der nordostenglischen Stadt Sunderland. Die Bürgermeisterin der Region sagte, die Beamten in Sunderland seien schwerer andauernder Gewalt ausgesetzt gewesen. Es ist, als hätte die grausame Tötung der Kinder etwas zur Explosion gebracht, was sich lange angesammelt hatte. Ein Korken ist aus der Flasche gesprungen und hat ein explosives, giftiges Gemisch freigesetzt. Das Differenzierungsvermögen bildet sich im Sog der Ereignisse dramatisch zurück, es zählen nur noch übersichtliche Freund-Feind-Verhältnisse und stromlinienförmige Vereinfachungen: Wir weißen Briten gegen die dunkelhäutigen muslimischen Zuwanderer, die in ihren Booten auf England zusteuern, um dort an Land zu gehen und das Land zu überfluten. Es sind stets dieselben Metaphern, die die Erzählungen der Faschisten bebildern sollen: Ströme von Asylanten branden an den Grenzen des Landes an und drohen es zu überfluten. Dagegen müssen Dämme errichtet werden, um das Eigene vor dem Fremden zu schützen und die eigene „Rasse“ reinzuhalten. Es ist mal wieder an der Zeit, euch die Lektüre von Klaus Theweleits zweibändigem Werk „Männerphantasien“ ans Herz und den Verstand zu legen. Obwohl bereits vor vierzig Jahren geschrieben und erschienen, liefert Theweleits Buch immer noch den Schlüssel zum Verständnis auch aktueller faschistischer Tendenzen und Bewegungen. Es handelt sich wahrlich um ein Jahrhundertbuch. Gewaltexzesse, wie sie gerade in England zu beobachten sind, wären auch in Deutschland und anderen europäischen Ländern jederzeit möglich. Erinnern wir uns: Vor sechs Jahren rotteten sich zum Beispiel in Chemnitz tagelang Rechtsextreme zusammen und es kam zu massiver Gewaltanwendung und Hetzjagden auf Menschen, die ausländisch aussahen und fremd anmuteten. Der damalige Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen konnte am Verhalten der Rechtsradikalen nicht Problematisches finden. Wie auch, wo er doch selbst einer war und ist.

Solche Unruhen und Krawalle sind in England nichts Neues. Schon 2011 habe ich mich einmal ausführlich mit einem Phänomen beschäftigt, das ich damals „Konsumkrawalle“ nannte, später mit dem Begriff „Riots“ belegte. Der amerikanische Soziologe Joshua Clover hat den Begriff „Riots“ ins Spiel gebracht, um die Protestformen zu beschreiben, die nach dem Ende der fordistischen Produktionsweise an die Stelle der Streiks getreten sind. Sie bildeten sich in den Ghettorevolten in den USA seit den 1960er Jahren aus. Ich stieß auf diesen Begriff zum ersten Mal im Kontext der Unruhen von Los Angeles im Jahr 1992. Nachdem vier weiße Polizisten, die den Afroamerikaner Rodney King wegen einer Geschwindigkeitsübertretung brutal zusammengeschlagen hatten, von einem Gericht freigesprochen worden waren, entlud sich die gestaute Wut der überwiegend schwarzen Unterschichten. Fünf Tage lang wurden Brände gelegt, Geschäfte geplündert – und Menschen getötet, vor allem von Seiten der Staatsmacht, die mit großer Härte gegen die Aufständischen vorging. Am Ende wurden fast 60 Tote und über 2.000 Verletzte gemeldet. Hier bildete sich ein Muster für den Ausbruch von „Riots“ aus: Auslöser – nicht Ursache – ist meist die Wahrnehmung von Polizeibrutalität. Polizisten misshandeln oder töten Menschen aus sozial benachteiligten Schichten oder Angehörige von Minderheiten. So war es in Los Angeles, so war es 2005 in Paris, und so war es 2011 vor den Riots in englischen Großstädten wie Birmingham, Liverpool und Manchester. Die Aufstände sind Ausdruck einer explodierenden Wut. Die Kämpfe haben mitunter etwas „Vandalisches“. Oskar Negt und Alexander Kluge haben in „Geschichte und Eigensinn“ geschrieben: „Vandalische Kämpfe und Klassenkämpfe sind grundlegend verschieden. Da Kriege zwischen Arbeitsvermögen, die miteinander nichts Gemeinsames produzieren, am Produktionsinteresse keine Grenze finden, sind sie in der Anwendung des Vernichtungsprinzips totalitär. Klassenkämpfe dagegen zwischen ökonomischen Klassen sind insofern immer relative Kämpfe, als das spezifische Klasseninteresse nicht darin bestehen kann, die Arbeitsvermögen des Klassengegners vollständig zu vernichten.“ Vandalischen Kämpfen wohnt also eine wertabstrakte Militanz und etwas blind Gewalttätiges inne, weil den an ihnen Beteiligten der Weg zur Produktion versperrt ist und sie sich ein andres Terrain der Auseinandersetzung suchen müssen. Wege zur Wiederaneignung der Bedingungen des eigenen Lebens müssen erst gefunden werden. Ansätze dazu schienen sich in verschiedenen Ländern zu entwickeln. Soziale Bewegungen sind immer auch Lernprozesse und kennen Um- und Abwege. Der Unterschied zwischen diesen „Riots“ und den heutigen Ereignissen scheint darin zu bestehen, dass sich die Wut der Leute inzwischen stabil „verbräunt“ hat, das heißt von Rechtsradikalen angeeignet und kodiert wurde. Dafür war sie wohl wegen der starken Präsenz von Skinheads und Fußball-Hooligans in der weißen britischen Arbeitersubkultur und des Einflusses der „English Defence League (EDL) schon länger zugänglich. Eine Zeit lang schien alles noch in der Schwebe zu sein, und es wären vielleicht auch andere Aneignungsformen dieses emotionalen und energetischen Rohstoffs denkbar und möglich gewesen.

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Gestern Morgen erinnerte ich mich daran, dass ich ja immer noch ein Auto besitze und dieses seit Wochen unbenutzt vor der Haustür stand. Nach einigen Wochen besteht die Gefahr, dass die Batterie sich entlädt und irgendwann keinen Zündfunken mehr auslösen kann. Also beschloss ich gegen Mittag, das Auto zu besteigen und Richtung Hohensolms zu fahren. Von meine Vorliebe für diese Gegend habe ich bereits mehrfach erzählt. Ich stellte das Auto auf einem Parkplatz unterhalb des Schlosses ab. Ums Schloss kreiste ein Rotmilan uns stieß seine markanten Pfiffe aus. Es war bewölkt, die Wolken führten aber keinen Regen mit sich und es versprach, trocken zu bleiben. Ich nahm die Walking-Stöcke vom Rücksitz, zog eine Jacke über und ging los. Bevor die „letzten Häuser sich ins Land verirrn“, wie es in einem Gedicht von Georg Heym heißt, gibt es, wie in vielen Dörfern, einen Gürtel von Obst- und Gemüsegärten. Aus einem der Wege zwischen den Gärten kam, als ich ihn gerade kreuzte, ein ausgewachsener Feldhase, stutze, sah mich an und wandte sich dann aber doch vorsichtshalber zur Flucht. Das Obst in den Gärten: Birnen, Pflaumen und Äpfel, war noch unreif. Ich ging den Weg Richtung Großaltenstätten, wo wir früher gelegentlich das Freibad aufgesucht haben und von dem auch heute Kindergeschrei herüberdrang. Da der Radius meiner Spaziergänge durch meine körperlichen Einschränkungen begrenzt ist, wandte ich mich im Tal gleich wieder nach links. Ein Falke stand rüttelnd über einem bereits abgeernteten Feld. Ob es ihm gelang, Beute zu machen, konnte ich nicht sehen. Johanniskraut, Beifuß, Wiesensalbei, Kornblumen und Rühr-mich-nicht-an säumten den Weg. Wie immer konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, es anzurühren und die Kapseln aufspringen zu lassen. Hier und da standen mannshohe, tiefblaue Disteln, die bei den Bienen besonders beliebt waren. Die Taschen der Bienen waren bereits mit Blütenpollen prall gefüllt. Auch die Dolden der wilden Möhre und der Schafgarbe waren stark frequentiert und von Insekten bedeckt. Die Ackerwinde reckte ihre weißen Blütenkelche der Sonne entgegen. In der Nähe der Teiche gab es noch Reste von Mädesüß, dessen schwerer Duft die Luft erfüllte. Die Teiche waren dick mit Algen bedeckt. Ich hörte die Pfiffe der Eisvögel, sah aber leider keinen. Der Wind wehte recht kräftig und ließ die Rotorblätter der Windräder oben auf der Hügelkette flott kreisen. Die Luft war erfüllt von ihrem Brausen. Eine Kolonie von Kolkraben hat sich rund um die Teiche angesiedelt. Ihre Lautbekundungen sind nicht unbedingt konzertreif, aber doch deutlich filigraner als das Krächzen der Krähen, ihrer nahen Verwandten. Schlau und trickreich sind sie beide. An den Ufern der Teiche standen große Placken von Gundermann. Als Christian am Gießener Theater ein Stück zu Ehren des zeitig verstorbenen gleichnamigen DDR-Liedermachers inszenierte, wollte ich ihm einen Topf mit Gundermann schenken, verwechselte diesen aber mir der Knoblauchrauke. Bis wir den Irrtum bemerkten, stand der Topf bei den Aufführungen auf der Bühne. Das hätte den Gerhard Gundermann auch nicht weiter gestört, nehme ich an. Wie immer, wenn ich hier spazieren gehe, setzte ich mich bei der Anglerhütte auf eine Bank und sah übers Wasser. Zwei Reiher saßen in Ufernähe auf Ästen und lauerten auf Beute. Karpfen zogen dicht unter der Wasseroberfläche träge dahin und schnappten nach Luft. Ich saß auf der Bank, auf der ich auch vor vierzig Jahren schon saß. Bilder zogen durch meinen Kopf. Damals bin ich mit dem Rad von Gießen nach Hohensolms gefahren und dann von dort aus losgelaufen oder weiter zum Schwimmen im Aartalsee gefahren. Das schaffe ich schon seit einigen Jahren nicht mehr. Mein körperlicher Niedergang machte mir auch an diesem Sonntag sehr zu schaffen, ständig werde ich von meiner Hinfälligkeit in Kenntnis gesetzt. Vor der Hütte lagen Schalen von frischen Haselnüssen am Boden. Offenbar hatte ein Specht einen in der Nähe stehenden Baum als Amboss benutzt, sie aufgehackt und sich an ihnen gütlich getan. Von der Anglerhütte ging es am Waldrand entlang wieder nach Hohensolms hinauf, nicht sonderlich steil, aber doch stetig. Ich blieb oft stehen, um meinen müden Beine Erholung zu gönnen. Links vom Weg sprang ein Reh weg und floh geräuschvoll durchs Unterholz. Menschen bin ich auf dem ganzen dreistündigen Weg nicht begegnet. Einmal sah ich von Ferne jemand seinen Hund ausführen. Etwas erschöpft, aber auch glücklich, langte ich beim Auto an. Der Aufenthalt in der Restnatur und vor allem die erfahrene Stille hatten mir spürbar gut getan. Ich hatte drei Stunden lang kein Martinshorn vernommen. Unterwegs merkte ich, dass ich einen ziemlichen Durst hatte und freute mich auf ein Glas Wasser.

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Gestern bin ich auf dem Weg zum Schwimmen in der Lahn vorn im Park mit dem Rad gestürzt. Da ich sehr langsam fahre, ging es glimpflich ab. Ich konnte mich nach einer kurzen Schrecksekunde aufrappeln und weiterfahren. Ich bin allerdings mit der rechten Hüfte aufgekommen, was problematisch sein kann, da dort ja eine Prothese eingebaut ist, die sich lockern könnte durch einen solchen Aufprall. Müsste die Hüfte mal wieder röntgen lassen.

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Taylor Swift scheint eine große Rolle im weltweiten Kulturkampf zu spielen. Sie oder ihre Musik spielte nicht nur bei der Auslösung der faschistischen Riots in Großbritannien eine gewisse Rolle, nun haben die Sicherheitsorgane in Österreich ihre drei für Wien geplanten Konzerte wegen Terrorgefahr absagen müssen. Zwei Halbwüchsige wurden festgenommen, die Sympathien für den Islamischen Staat bekunden und bei denen für die Begehung von Anschlägen geeignete chemische Substanzen und Messer gefunden wurden. Swift scheint für Islamisten und Rechte eine Reizfigur zu sein. Schon ihr Outfit lässt ihnen das Messer in der Tasche aufgehen, wenn ihnen schon nichts anderes aufgehen darf. Taylor Swift ist für traditionelle muslimische Männer die Inkarnation alles Schrecklichen, das heißt sie Ängstigenden. Sie scheint wie kam jemand anderes den verhassten westlichen Lebensstil zu verkörpern, der für sie zugleich der Ort des Verbrechens, der Ausschweifung und der Verführung ist. Auch Donald Trump soll nicht gut auf Tylor Swift zu sprechen sein, die keinen Hehl aus ihren Sympathien für die demokratische Konkurrenz macht. Donald Trump hat sich ja – in Termini des amerikanischen Psychohistorikers Lloyd deMause – zum „Phantasieführer“ des kleinen weißen Mannes gemacht und artikuliert dessen Ängste und Ressentiments. Zur Sozialpsychologie des „kleinen Mannes“ gibt es noch immer nichts Treffenderes als Wilhelm Reichs „Rede an den kleinen Mann“. Ihm hatte er einst die Befreiung der Menschheit zugetraut, nun wurde er zur Massenbasis des Faschismus und zum Totengräber revolutionärer Hoffnungen und von Revolutionären und allem, was anders war und ist.

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„Wann werden wir schwer krank? Wenn alles gut geht oder wenn es schlecht läuft? In der Monotonie der immer gleichen Tage? Oder bei Deregulierung, wenn das immer gleiche Alltägliche durchbrochen wird? Brechen Krankheiten wie Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, ein Infarkt aus, weil bisher unbekannte Umstände eintreten, die uns aus dem Gleichgewicht bringen? Oder wegen eines unausgesprochenen Wunsches, dass etwas geschehen möge? Wegen Abnutzung durch die endlose Wiederholung desselben Lebensrefrains? Durch eine Routine, die das Abwehrsystem lähmt?“

(Philippe Claudel: Die Kostbarkeit des flüchtigen Lebens)

„Wenige Wochen nach seinem sechsunddreißigsten Geburtstag, während einer Unterrichtsstunde, die bis dahin ohne Aufregung verlaufen war, spürte Simrock zum erste Mal im Leben sein Herz. Er erschrak heftig …“ Als er die Schule an diesem Vormittag vorzeitig verließ, sagte er den Kollegen: „Er ist bloß etwas mit der Pumpe“. Ungefähr so erging es mir vor vierzehn Tagen, nur dass ich nicht sechsunddreißig, sondern dreiundsiebzig Jahre alt bin, und mich eigentlich nicht wundern dürfte, wenn sich irgendwann einmal das Herz meldet. Der Körper macht ja eigentlich immer nur durch Dysfunktionen auf sich aufmerksam, solange er funktioniert, wie er soll, nehmen wir keine oder kaum Notiz von ihm. Man vergisst seinen Körper, solange er nicht stört. Für eine gewisse unbeschwerte Zeit leben wir in und mit einem „freundlichen Körper“, wie Philippe Claudel es ausgedrückt hat. Wie der Lehrer Simrock erschrak auch ich heftig, als ich zum ersten Mal Druck und Beklemmungen im Brustbereich verspürte. Als ich dann noch mir dem Rad stützte und auf die Seite fiel, an der man mir eine künstliche Hüfte eingesetzt hat, begab ich mich am nächsten Morgen in das Krankenhaus, wo ich vor fast zehn Jahren an dieser Hüfte operiert worden war. Fall ich einmal auf diese Körperseite fallen sollte, wäre es angezeigt, umgehend einen Röntgenaufnahme erstellen zu lassen, hatte mir der Professor damals zum Abschied erklärt. Man müsse in einem solchen Fall überprüfen, ob die Prothese Schaden genommen oder sich gelockert hätte. Sie hatte zu meiner großen Erleichterung keinen Schaden genommen. Dadurch übermütig geworden, brachte ich in der Notaufnahme auch gleich noch meine Herzbeschwerden zur Sprache. Es wurde Blut abgenommen, der Blutdruck gemessen und ein EKG erstellt. Der Blutdruck war ein wenig zu hoch, der Puls etwas zu schnell, ansonsten wurde nichts Besorgniserregendes zu Tage gefördert. Es war heiß an diesem Tag und ich hatte den Weg zur Klinik, der bergauf ging, zu Fuß zurückgelegt. Nach vier Stunden ging ich wieder nach Hause, in der Hoffnung, die Probleme würden, wie im Märchen vom Rumpelstilzchen, in dem Moment verschwinden, in dem man sie bei ihrem Namen genannt hat. Am Tag darauf wurde ich wieder einmal darüber belehrt, dass die Zeiten, da das Wünschen noch geholfen hat, vorbei sind. Der Druck und die Beklemmungen kehrten verstärkt wieder. Meine Schmerzgedächtnis erinnerte sich plötzlich an eine Lungenembolie, die ich vor ungefähr zehn Jahren mal erlebt habe. Kurze Zeit später wurde in meinem rechten Bein eine Venenthrombose entdeckt, die vom Knöchel bis in die Leistengegend reichte. Dort hatte sich ein Blutpfropf gelöst und war in Richtung Lunge gewandert. An die Schmerzen und Panikgefühle von damals erinnerten mich die aktuellen Schmerzen und Beklemmungen im Brustbereich. U fuhr mich am Freitagvormittag zur Uni-Klinik, wo ich den Arzt aufsuchen wollte, der mich damals behandelt hat. An der Rezeption der Kardiologie sagte man mir, mein Doktor sei im Moment nicht da, aber ich könne Platz nehmen und auf ihn warten. Nach ungefähr einer halben Stunden erschien er dann und nahm mich außer der Reihe mit in sein Behandlungszimmer. Er sagte, ich müsse den regulären Weg einschlagen und mich unten in der Notaufnahme anmelden. Mein bisheriger Warterekord dort betrug sieben Stunden, die an diesem Freitag locker überboten wurden. Neun Stunden verbrachte ich in dieser Abflughalle des Schreckens. Alle zwei Stunden wurde ich irgendwohin geschickt: zum Röntgen, drei Mal zur Blutabnahme, zum neuerlichen EKG. In diesem trostlosen Universum ist man froh über jeden halbwegs freundlichen Blick, der einen trifft, jedes Lächeln, das einen im Vorübergehen streift, jedes Kind, das sich unbefangen nähert und einen anstrahlt. Die Menschen ertragen die stumpfsinnige Warterei in einer Art von auswegloser Gelassenheit, wie man sie auf manchen Bildern von Francisco Goya sehen kann. „Was soll mer mache?“, sagte mein Nebenmann, nachdem sich wieder eine Stunden nichts ereignet hatte: „Wir müsse warte, ebbes anneres bleibt uns ja net überig.“ Sorgen machte er sich um seinen Hund, der auf ihn warte und dringend mal raus müsste. Abends um zehn holte mich eine freundliche Assistenzärztin in ihr Kabuff und teile mir mit, dass sie mich dabehalten wolle und bereits ein Bett auf der Inneren für mich reserviert habe. Ich versuchte zu verstehen, was sie mir erklären wollte. Das medizinische Fachchinesisch war selbst für mich schwer zu verstehen, und nach fast neun Stunden Warterei hatte ich große Mühe, mich auf ihre Ausführungen zu konzentrieren. Man gehe in meinem Fall nach bisherigen Untersuchungsergebnissen von einer Erkrankung der Herzkranzgefäße aus, die verengt seien und die Blutzufuhr in Richtung Herz hemmten. Dadurch entstünden die Gefühle der Beklemmung und die Scherzen im Brustbereich. Man werde von der Leiste aus eine Sonde in Richtung Herz schieben, ein Kontrastmittel spritzen und eine „Koronarangiographie“ durchführen. Wenn sich dabei etwaige Verengungen und Verschlüsse zeigen würden, könnten die durch einen Ballonketheder gleich aufgedehnt und behoben werden. Dazu müssen ich einen weiteren Tag und eine weitere Nacht in der Klinik verbleiben. „Das geht mir jetzt zu schnell“, wandte ich ein, „da habe ich doch wohl auch noch ein Wörtchen mitzusprechen“. Vor meinem inneren Auge sah ich schnarchende Mitpatienten, türkisch-russische Großfamilien, die zu Besuch kommen würden, ständig laufende Fernsehgeräte und andere Landplagen. Die Ärztin reagierte ein wenig ungehalten auf meinen Widerspruch. Sie befand sich in der Schlussphase eines sogenannten 24-Stunden-Dienstes und war am Ende ihrer Kräfte. Sie stornierte das reservierte Bett und ließ mich ein Formular unterschreiben, in dem ich erklärte, die Klinik auf eigenen Wunsch und gegen ärztlichen Rat verlassen zu haben. Man wird als Patient genötigt, sich dem ärztliche Regime zu unterwerfen. Diesen eingeforderten Gehorsam nennt man im therapeutisch-medizinischen Jargon „Kompliance“. Das klingt elegant, so dass das Gewaltverhältnis semantisch verschleiert wird. Um halb elf nachts holte U mich ab und wir aßen noch eine Kleinigkeit. Es war für mich die erste feste Nahrung nach dem Frühstück. Vom klinikseigenen Wasser habe ich allerdings reichlich Gebrach gemacht. Und an den beiden Tagen, die ich mit Warten zubrachte, habe ich ein tolles Buch fast komplett gelesen: „Das Lächeln der Mittsommernacht – Literarische Bilder aus Schweden“ von Agneta Blomqvist und Lars Gustafsson. Wie es jetzt weitergehen soll? Ich weiß es nicht. Mein Freund Wolfgang, der einmal unter einer ähnlichen Symptomatik gelitten hat, riet mir, einen Weg zwischen der Skylla der Verleugnung und der Charybdis der Panikmache einzuschlagen, den beiden Meerungeheuern aus der Odyssee, zwischen den Odysseus eine Passage finden musste. Er rät mir, mich mit meiner Hausarztpraxis zu beraten und mich dann zu entscheiden.

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„Die Struktur meines Schreibens kann ich Ihnen erklären. Ich lag einmal im Krankenhaus, und im Zimmer nebenan schrie eine Sterbende die ganze Nacht. Dieses Schreien ist die Struktur meines Schreibens.“

(Samuel Beckett)

Die Antwort auf die Frage, wie es nun weitergehen soll, nahm mir die weitere Entwicklung am Wochenende ab. Am Sonntagvormittag war mir so blümerant, dass U und ich beschlossen, ein paar Sachen zu packen und in die Uni-Klinik zu fahren. Also nochmal Stunden in der Notaufnahme zubringen, dann gegen Abend nach weiteren Stunden an diversen Geräten und Apparaten Verlegung auf die kardiologische Station. Für den nächsten Morgen wurde die Koronarangiographie vorbereitet und die Körperpartien rasiert, die für die Einführung der Sonde in Frage kommen: Leiste und Handgelenk. Der Arzt, der den Eingriff vornahm, entschied sich am Montagmorgen fürs Handgelenk. Er erledigte seine Arbeit, assistiert von zwei Schwestern, routiniert und gekonnt. Er führt solche Eingriffe täglich mindestens ein dutzend Mal durch, und das teilt sich einem durch seine Ruhe und Gelassenheit mit. Bei mir kam an: Diesem Mann kannst du dich anvertrauen, der macht das richtig und gut. Nach einer dreiviertel Stunde schob er die Plastiktrennwand zwischen uns beiseite, erklärte mir anhand von Bildern, was er gemacht hatte. Er habe einen Ballon eingeführt, das verstopfte Gefäß geweitet und dann einen sogenannten Stent gesetzt. Das ist eine Art Röhrchen, das verhindert, dass das Gefäß sich gleich wieder schließt. Die beiden anderen Gefäße seien soweit in Ordnung, jetzt sollte das Herz seine Pumpleistung erst mal wieder erbringen, er wünsche mir alles Gute. Ich wurde auf Station zurückgerollt und dort verdrahtet und verkabelt. Die Stelle mit dem Einstichloch war mit einer Manschette verschlossen worden, um Nachblutungen zu verhindern. Abends, als ich gerade das Licht gelöscht hatte und schlafen wollte, riss ich mir an der Bettdecke den Zugang auf dem Handrücken auf und das Blut schoss wegen des verabreichten Verdünners in Strömen. Ich musste die Nachtschwester rufen, die die Blutung stillte und die gröbsten Spuren beseitigte. Ich schlief dann nicht so toll, auch weil man mir gegen Abend einen Mitpatienten ins Zimmer gelegt hatte, der schnarchte und hustete. Er litt heftig unter Nikotinentzug und ließ sich ein Pflaster verabreichen. Es kamen nun also doch meine glücklicherweise mitgeführten Ohrenstöpsel zum Einsatz. Ansonsten war er aber ein recht angenehmer Zeitgenosse. Zu Beginn der Nacht hallten die Klagelaute einer Frau über die Gänge. Als ich die Nachtschwester darauf hinwies, sagte diese, die Frau wisse nicht, wo sie sei und das laufe jeden Abend so ab. Kein Grund zur Besorgnis also? Aus einem der benachbarten Zimmer drangen aggressive Beschimpfungen eines ausländischen Mitpatienten herüber. Auch das sei normal und nichts Besonderes. Am nächsten Morgen, als mein Bettnachbar für den Eingriff vorbereitet wurde, teilte man mir mit, das ich wegen der durchwegs positiven Werte nach Hause gehen dürfe. Ich rief U an, die mich eine halbe Stunde später abholte und mit nach Hause nahm. Von Kabeln und Schnüren befreit konnte ich endlich auch wieder etwas essen. Abends hatte ich noch eine Audienz beim Hausarzt, die sich bis halb neun hinzog. Er erläuterte mir die Liste der Medikamente, die ich ab sofort einnehmen muss, eine erschreckend lange Liste. Dass so etwas Segen bringen soll, leuchtet mir immer noch nicht so richtig ein. Aber der Doktor meint, für eine Weile sei das unvermeidlich und wirke „protektiv“. Zum Schluss beglückwünschte er mich zu einer für einen Mann ungewöhnlichen Sensibilität für die Wahrnehmung von körperlichen Prozessen. Viele Männer würden selbst ernsteste Hinweise und Warnsignale übersehen oder ignorieren. Ich hätte die Signale, die das Herz ausgesendet habe, richtig gedeutet und Alarm geschlagen. Das habe mir wahrscheinlich das Leben gerettet. „Ihr Körper will noch leben und hat noch keinen Bock zu sterben“, sagte er mit ein bisschen Pathos, das ich aber nicht unangenehm fand.

Am nächsten Morgen radelten U und ich zur Lahn und schwammen eine Runde. Sie eine größere, ich eine kleine. „Für jemand, der dem Tod gerade von der Schippe gesprungen ist, hältst du dich ganz gut“, sagte U. „Freund Hein“, so nannte man in alter Zeit den Tod, hat bei mir schon mal geklingelt, ist dann aber nochmal fortgegangen, um sich einen Parkausweis zu besorgen. Und das kann dauern. Wie lang, weiß ich nicht, aber das gewährt mir zunächst einmal einen gewissen Aufschub. Zur Feier dieses Aufschubs hörte und sah ich zwei meiner Gitarrengötter: David Gilmour, Jeff Beck, begleitet von der wunderbaren irischen Sängerin Imelda May, mit einer sehr gelungenen Version eines Jeff Beck-Songs aus den 1960er Jahren, der „Hi Ho Silver Lining“ heißt, also „Hey hallo, da ist ein Silberstreifen der Hoffnung“.

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Heute sagte U plötzlich: „Hast du gemerkt, dass die Mauersegler schon fort sind?“ Und tatsächlich sind ihre schrillen Schreie verstummt. Wenn die Jungen flügge sind, treten sie den Rückweg in südliche Gefilde an, wo sie den Rest des Jahres verbringen. Wir vermissen ihren rasenden Flug über die Dächer und ihre schrillen Schreie schon jetzt. Hoffentlich erweisen sie uns nächstes Jahr erneut die Ehre ihrer Anwesenheit. Verdient haben wir sie nicht.

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Der Aufenthalt in der Uni-Klinik und natürlich vor allem der Anlass für ihn führte mir nochmal eindringlich vor Augen, wie schnell ein Leben zu Ende sein kann und wie dankbar ich für jeden Tag sein kann und muss, der mir noch bleibt und den ich mit U verbringen darf. Heute Morgen, als wir nach dem Besuch in der Hofbäckerei in der Morgensonne auf dem Steg an der Lahn saßen und auf den träge dahinfließenden Fluss schauten, trat uns beiden das beinahe gleichzeitig vor Augen und ins Bewusstsein. Wir sahen uns einfach nur an und mussten es nicht einmal aussprechen. Außer uns war niemand da, und wir genossen die Ruhe am Fluss. Manchmal geht ja von einem solchen Ereignis der jähe und eindringliche Impuls aus: „Du musst dein Leben ändern!“ Was aber sollte ich an meiner Lebensführung ändern? Ich bin nicht übergewichtig, ich ernähre mich recht gesund (viel Obst und Gemüse, selten Fleisch), rauche nicht (oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr), ich trinke nur gelegentlich mal ein Glas Wein oder Bier. In bestimmten Phasen meines Lebens war das einmal anders. In einer bestimmten linken Szene wurde ein exzessiver Alkoholkonsum betrieben und völlig unkritisch propagiert. Ich habe mein Leben lang Sport getrieben, fahre Rad und bewege mich im Rahmen meiner Möglichkeiten täglich. Ich denke über mich und mein Leben intensiv nach und versuche, nicht allzuviel Selbstverborgenheit mit mir herumzutragen, die ja auch eine Krankheitsursache sein kann. „Aufhebung von Selbstverborgenheit“ ist für mich das Kernanliegen einer der Aufklärung verpflichteten Psychoanalyse, und die „Durchhalteprosa“ ist meine Form, sie zu praktizieren und am eigenen Leib und auf das eigenen Leben anzuwenden: eine fortwährende psychologische-philosophische Selbsterkundung. Was für mich als Krankheitsursache hingegen in Frage kommt und feststeht, ist der ewige Lärm. Leserinnen und Leser der Durchhalteprosa wissen von meiner fortwährende Klage über den Lärm, der mit der kapitalistischen Lebensweise verbunden ist. Schon im Jahr 2009 habe ich in der Wochenzeitung „der Freitag“, anknüpfend an ältere Thesen von Theodor Lessing, ein Pamphlet über „Das Recht auf Stille“ veröffentlicht. Ständiger Lärm, so habe ich damals bereits gesagt, versetzt den Körper in einen permamenten Alarmzustand. Damit ruft er uns die Herkunft seines Namens ins Gedächtnis. Das Wort „Lärm“ leitet sich etymologisch vom italienischen Ausruf „all’arma“ ab, der soviel bedeutete wie: „Zu den Waffen!“ Dieser Ruf war vor allem in den Kriegen des 16. und 17. Jahrhunderts in Gebrauch, aber auch wir Heutigen werden durch Lärm zu den Waffen gerufen, alarmiert, aber zu welchen Waffen sollen wir greifen und gegen wen sie kehren? Uns bleibt gegen Lärm-Attacken nur eine hilflose Defensive: Plastik- oder Wachsstöpsel – mit begrenzter Wirksamkeit und den bekannten Nachteilen und Nebenwirklungen. Die Unmöglichkeit, auf eine im Grunde unerträgliche Situation mittels Angriff oder Flucht zu reagieren, wird zur Quelle von Stress, der auf Dauer krank machen kann. Zielgehemmte Aggressionen verwandeln sich in ein chiffriertes Ausdrucksgeschehen. Teilweise entspannen sie sich dabei und bleiben nach außen hin stumm, oder aber sie erzwingen einen Daueralarm vegetativer Leistungen. Wegen der blockierten Handlung kommt es zu einer Aggressionsbereitschaft im physiologischen Bereich, die sich nicht mehr zurückbildet und die Form diverser Krankheiten, zum Beispiel eines chronisch gesteigerten Blutdrucks, annehmen kann. Wenn ich also meinem Herzinfarkt irgendeinen Sinn abgewinnen kann, dann den: Ich bin krank vom ewigen Lärm im und rund ums Haus, vom rasenden Autoverkehr und dem ewigen Sirenen-Geheul.

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Lars Gustafsson erzählt von einer Suizidmethode der Nomaden des Nordens. Die alternden Samen, die fühlten, dass sie nicht mehr an den Rentierzügen teilnehmen konnten, „gingen ins Moor“. Gustafsson fragt sich, ob man auch heute noch „an einem Julitag diese Verlockung spüren kann? Immer weiter in die außermenschliche Stille des endlosen Moors hinauszugehen und sich langsam in das sonnenwarme braune Moorwasser sinken zu lassen …“ Der Umstand, dass Gustafsson diese Frage stellt, liefert zugleich die Antwort. Auch für mich läge darin eine gewisse Verlockung und eine Alternative zum Fentanyl. Doch in meiner Gegend gibt es schon lange keine Moore mehr, in die man sich sinken lassen könnte.

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Was mich noch einmal mehr für David Gilmour einnimmt, ist, dass er mitten in einem Gespräch innehält und sagt: „Look! A squirrel! Was hat es vor? Es verharrt! Schaut es uns an? Ist die Welt nicht schön? Ja. Und: Nein.“

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Vor einigen Jahren habe ich von meiner Begegnung mit „dem Mann mit dem Stock“ berichtet. Er stammt aus dem ehemaligen Jugoslawien und hat hier in Gießen rund 45 Jahre lang als Bauarbeiter gearbeitet. Sein Revier ist der Park vor seiner und meiner Haustür, wobei das Wort „Park“ etwas hochgestochen klingt und ein Euphemismus ist. Es ist eine kleine, mit ein paar alten Bäumen bestandene Grünfläche zwischen dem Theater und der Johanniskirche. Hunde werden hierher zum Abkacken geführt und es wird von dem Erlös gesammelter Flaschen gekauftes Dosenbier verlötet. Allenthalben sieht man Männer, die ihr Wasser abschlagen, also in die Büsche pinkeln. Wenn Stadtfest ist, wie jetzt gerade, stinkt es im ganzen Park wie auf einer Bahnhofstoilette. Hier und da liegt eine Schnapsleiche auf einer Bank. Die Bänke sind zweckrational und vandalismussicher aus Metall gestaltet und laden wahrlich nicht zum Hinsetzen und Verweilen und schon gar nicht zum Liegen ein. Aber ab zwei Promille ist alles egal. Die Müllbehälter quellen über, Krähen und Ratten tun sich gütlich an den Resten von mitgeführtem und weggeworfenem Fastfood. Ein Hauch von Zerfall liegt über dem Park – wie über der ganzen Stadt, die mehr und mehr wirkt, als sei sie verlassen und aufgegeben worden. Etwas Ostblockartiges hat sich inzwischen verallgemeinert und hier breitgemacht. Unbeeindruckt von all dem drehen wir beide unsere Runden und setzen uns, wenn eine der wenigen hölzernen Bänke frei ist, eine Weile hin. „Sag mal, kannst du mir erklären …“, hebt Zoran mit seiner Mischung aus Serbokroatisch und seinem Bauarbeiter-Deutsch irgendwann an. Er ist ein genauer Beobachter und wundert sich über viele Absurditäten des Alltags, nach deren Grund er mich fragt. Er steht mir inzwischen näher als viele meiner Freunde und Genossen, von denen ich oft wochenlang nichts höre und sehe. Ich gehe am Nachmittag häufig in den Johannispark, um Zoran zu treffen und freue mich, wenn ich ihn auf seiner Umlaufbahn, auf seinen Stock gestützt, sehe. Sind wir uns ein paar Tage nicht begegnet, macht er sich Sorgen und fragt bei nächster Gelegenheit: „Wo bist du gewesen, mein Freund?“ Inzwischen sind wir das, glaube ich: Freunde.

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