98 | Die Bank an Röntgens Grab

„Ich finde, dass meine Generation den Kindern großen Schaden zugefügt hat. Ich meine das Fehlen emotionalen Halts, den die Erwachsenen den Kindern nicht mehr geben können, weil sie selbst ihre Kindheit nachholen. Sie interessieren sich nur noch für ihren eigenen Standpunkt, für ihre Vergnügungen. Überall, wohin man auch blickt, sind die Kinder die Verdammten dieser Erde. Es mag noch eine Menge anderer Verdammter geben, aber die Kinder sind es ganz besonders.“

(Toni Morrison)

Bei Toni Morrison bin ich auch auf folgende Sätze gestoßen: „Es geht natürlich nicht darum, sich in eine wohlige Nostalgie über die guten alten Tage zu versenken – es gab keine guten alten Tage!“ Das ist richtig, und ich stimme dem zu. Aber „Nostalgie“ ist ein dialektisches Ding, das heißt: es gibt auch noch eine andere Seite, die in diesem Diktum von Morrison nicht vorkommt. Auf die andere Seite bin ich beim Blättern in einem Band mit Briefen gestoßen, die Adorno und Horkheimer sich nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Tod Adornos geschrieben haben. Der fragliche Brief stammt von Adorno und datiert aus dem Jahr 1957. Dort heißt es: „Zum Schluss noch ein Gedänkchen: In allen Bewegungen, welche die Welt verändern möchten, ist immer etwas Altertümliches, Zurückgebliebenes. Das Maß dessen, was ersehnt wird, ist immer bis zu einem gewissen Grade Glück, das durch den Fortschritt der Geschichte verloren gegangen ist. Wer sich ganz auf der Höhe der Zeit befindet, ist immer auch ganz angepasst, und will es darum nicht anders haben.“ Es geht bei diesem Aspekt der Nostalgie, die hier natürlich nicht so heißt, um ein Phänomen, das ich „Differenzerfahrung“ nennen möchte. Dem Realitätsmonopol des Bestehenden kann nur widersprechen, wer die Erinnerung daran bewahrt hat, dass es einmal anders gewesen ist, nicht unbedingt materiell besser, aber anthropomorpher, also menschenförmiger und weniger entfremdet. Nur wer davon noch einen Geruch in der Nase hat, verfügt über einen Vergleichsmaßstand, an der er die Gegenwart messen und gegebenenfalls verwerfen kann. Ist alles, die Menschen inbegriffen, im Bloch‘schen Sinne „gleichzeitig“, ist Schicht im Schacht.

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„In Europa besteht der notwendige Wille zum Überleben nicht mehr. Europa ist moralisch zugrunde gegangen, seine Kräfte sind dahingeschwunden, seine Ressourcen erschöpft, eine Tatkraft existiert nicht mehr.“

(Imre Kertész, Der Betrachter)

Der Angriff auf den sächsischen SPD-Politiker Matthias Ecke, der beim nächtlichen Plakate-Aufhängen in Dresden verletzt wurde, zeugt von einer neuen Stufe der Faschisierung. Am selben Abend und vermutlich von denselben Tätern hat es noch weitere Angriffe auf Wahlkämpfer der Grünen gegeben, die für die Opfer glücklicherweise glimpflicher ausgingen. Die Rechten schrecken vor massiven körperlichen Verletzungen der Gegner nicht zurück und nehmen offenbar auch tödliche Ausgänge in Kauf. Das wissen wir seit den Schüssen auf Walter Lübcke im Jahr 2019. Es ist im Prinzip also nichts Neues, aber die Zahl der Attacken nimmt doch auf eine erschreckende Weise zu und lehrt einen das Fürchten. Vieles erinnert an die Spätphase der Weimarer Republik und den Aufstieg der NSDAP. Auch die im Ganzen mangelnde Gegenwehr der demokratischen Kräfte, die auf die Gewalt mit einer gewissen Hilflosigkeit reagieren. Einer der Angreifer auf Matthias Ecke hat sich inzwischen bei der Polizei gestellt und seine Tatbeteiligung eingestanden. Es handelt sich um einen 17-jährigen jungen Mann. Die Behörden ließen ihn nach Hause gehen, während Matthias Ecke wegen seiner Kopfverletzungen operiert werden musste. So läuft das in Sachsen und in Deutschland. Auch das ein fatales und für die Rechtsradikalen eher ermutigendes Signal. Ich sah am Montag den sächsischen Innenminister Schuster wie er mitteilte, dass es gelungen sei, vier Tatverdächtige auszumachen. Bei einem von ihnen gebe es Hinweise, auf eine „rechtsextreme Gesinnung“. Und bei den drei anderen? Was soll bei denen das Motiv sein? Warum greifen Jungnazis in ihren Augen „links-rot-grün versiffte“ Politiker an? Wie er herumdruckste, der Minister! Vier deutsche junge Männer im Alter von siebzehn beziehungsweise achtzehn Jahren seien der Tat verdächtig, man forsche bei dreien von ihnen noch nach den Motiven. Warum tut der Minister sich so schwer zu sagen: Der Tat verdächtig sind vier junge Nazis, die hier in Sachsen wachsen und gedeihen wie Pilze nach einem warmen Sommerregen. Weil er dann nicht umhin käme, sich mit den Gründen auseinanderzusetzen. Die vier jungen Männer sind immer noch auf freiem Fuß, weil laut Polizei keine Haftgründe vorliegen. Wie schrieb Bodo Morshäuser bereits Anfang der 1990er Jahre: „Wenn der Schlips vor Scheinwerfern ‚Ausländerbegrenzung‘ fordert, löst der Stiefel sie in der Dunkelheit ein. Dass aus Worten Taten geworden sind, will der Schlips danach nicht mit sich selbst in Zusammenhang gebracht wissen.“ Der Schlips ist im Fall der „links-rot-grün versifften“ Politiker Jörg Meuthen, der ehemalige Spitzenkandidat der AfD für die Europawahl, der diesen Begriff auf dem Bundesparteitag der AfD im April 2016 prägte. Diese Worte lösten auf dem Parteitag damals Standing Ovations aus: Endlich sagt es mal einer! Auch Alexander Gaulands an Frau Merkel und die etablierte politische Klasse gerichtete Ankündigung „Wir werden Sie jagen!“ bekommt im Rückblick eine nicht nur rhetorische Bedeutung. Sie ist buchstäblich wahr geworden. Jahre später, als die Saat aufgegangen und ein „links-rot-grün versiffter Politiker“ krankenhausreif geprügelt worden ist, wollen Meuthen, Gauland und die AfD nichts damit zu tun haben. Jurek Becker hat einmal gesagt, es mache einen Unterschied, ob einem etwas peinlich oder zuwider sei. Peinlich ist einem etwas, an dem man teilhat und wenn diese verschwiegene Teilhabe ans Licht kommt. Der rechte Terror ist Leuten wie Armin Schuster (und anderen) peinlich, weil sie verstrickt und stille Teilhaber sind.

Wenige Tage nach den Angriffen in Dresden wurde Franziska Giffey in Berlin attackiert und leicht verletzt. Die Publizität, die den Dresdner Tätern zuteil geworden ist, ruft nun möglicherweise auch Nachahmer auf den Plan, die nach Aufmerksamkeit dürsten. Mangel an Anerkennung ist für das Selbst, was Hunger für den Magen ist. Die chronischen Anerkennungsdefizite des „Lumpenproletariats der Aufmerksamkeitsökonomie“, das Georg Franck zufolge im „mentalen Kapitalismus“ entsteht, machen anfällig für Nachahmungstaten und Trittbrettfahrerei. Auch die Zukurzgekommenen und aus dem Markt Herausgefallenen wollen heraustreten aus dem Schatten der Nicht-Beachtung und verweigerten Anerkennung und sich im Glanz des Kamera-Auges sonnen. Wer über solche Attacken berichtet, macht immer auch Werbung für diese Delikte. Andererseits muss natürlich der Informationspflicht genüge getan und über solche Taten berichtet werden. Ein Dilemma und schwieriger Balanceakt für seriöse Medien und Medienschaffende. Zu den politischen Motiven der rechtsradikalen Täter treten nun auch auch Motive, die vom medialen Narzissmus gespeist werden. Angriffe auf Politiker erweisen sich als probates Mittel, den Hunger nach Anerkennung und Grandiositätsgefühlen zu stillen. Wir bekommen es mit einer unappetitlichen und fatalen Melange aus Nazitum und zeitgenössischem Narzissmus zu tun. Gegen beides haben wir keine adäquate Gegenstrategie, die wir dringend benötigen, wenn wir politisch und menschlich überleben wollen.

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„Ein alter Mercedes in einer Garage reicht vollkommen dazu aus, um mit dem ganzen Universum Schluss zu machen. Das ist es, was man unter Willensfreiheit versteht.“

(Lars Gustafsson. Wollsachen)

Nochmal zurück zum vertrackten Ding „Dialektik“. Etwas ist so und gleichzeitig auch nicht so. Hören oder lesen wir noch einmal Paul Auster über die verwirrenden Kraft des Widerspruchs: Er – eine Figur in einem der Romane Austers – war dies und er war das. Man sagt das eine, und es ist wahr, aber auch das Gegenteil ist wahr. Jeder Mensch ist ein Wesen, das aus verschiedenen Teilpersonen zusammengesetzt ist. „Jeder Mensch ist ein Spektrum. Den größten Teil unseres Lebens verbringen wir in der Mitte, aber es gibt Augenblicke, in denen wir zu den Rändern abdriften, und je nach Situation, abhängig von Stimmung, Alter und äußeren Umständen, wechseln wir auf dieser Skala die Farbe.“

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Was man unter Dialektik versteht, kann man sich am besten an Beispielen und Begriffen verdeutlichen. Die Dialektik der Identität besteht, wenn man so will, darin, dass man sich, wenn man eine hat, wie im Gefängnis fühlt, und dass man ohne sie psychotisch zu werden droht. Es ist wie bei Buridans Esel, der zwischen zwei Heuhaufen verhungert, weil er sich nicht entscheiden kann, von welchem er zuerst fressen möchte. Hat man keine Identität, leidet man und droht zu zerfließen, hat man eine, droht der Tod bei lebendigem Leib. Oder nehmen wir den Begriff der „Willensfreiheit“. Einerseits sind wir durch Herkunft, Klassenzugehörigkeit und Sozialisation in vielerlei Hinsicht determiniert und in Gips gegossen, und dennoch behalten wir eine Marge für eigene Entscheidungen und müssen unser Leben führen. Sartre war ein Virtuose in Sachen Dialektik: „Ich bin davon überzeugt, daß der Mensch immer etwas aus dem machen kann, was man aus ihm macht. Heute würde ich den Begriff der Freiheit folgendermaßen definieren: Freiheit ist jene kleine Bewegung, die aus einem völlig gesellschaftlich bedingten Wesen einen Menschen macht, der nicht in allem das darstellt, was von seinem Bedingtsein herrührt.“ Bei aller Determination bleibt uns eine Marge für eigene Entscheidungen. Für mich war das Gefängnis in puncto Willensfreiheit eine gute Schule: Einerseits ist es zynisch zu sagen: Man braucht nicht kriminell zu sein, wie die sogenannten anständigen Leute zu sagen pflegen, „man muss sich am Riemen reißen“. Manch einer hatte keine oder kaum eine Chance, ein normales und straffreies Leben zu führen. Andererseits wird niemand kriminell, es sei denn, er wolle es und habe sich dafür entschieden. Ohne meine Einwilligung kann sich das Schicksal meiner nicht bemächtigen. Wenn man den Straftäter nur zum Opfer widriger Umstände erklärt, entmündigt man ihn und beraubt ihn der Würde, der Täter und Autor seiner Tat zu sein. Die Kantische Antinomie von Kausalität und Freiheit muss in jeden Fall ausgetragen und bestimmt werden. So wie Bakunin es sich gedacht hat, wird es nicht funktionieren: Anarchistisch sein, sagte er, bedeutet, gegen die Kausalität zu sein, den Dingen und den Verhältnissen die Kausalität zu entziehen. Man muss das Verhältnis von Kausalität und Freiheit jeweils austarieren. Beispielsweise beim Postraub in der Subach. Im Dorf Kombach, aus dem ein Großteil der Täter stammten, stößt man heute auf Menschen, die sagen: Es war eigentlich der Vulkan Tambora, der den Überfall begangen hat. Das mindert die Schuld der Vorfahren, beraubt sie aber auch der Freiheit, die Tat gewollt zu haben, die ja auch ein Akt des Widerstands gewesen ist. Der Vulkanausbruch im Jahr 1815 mag wegen der durch ihn verursachten Ernteausfälle – es folgten wegen des ausgestoßenen Staubs einige Jahre „ohne Sommer“ – zu den Bedingungen der Möglichkeit der Tat gehören, erklären kann er ihn nicht. Es mussten sich schon acht Menschen finden, die sich zum Überfall entschlossen und ihn sechs Mal versuchten, bis er dann im Mai 1822 beim siebten Anlauf endlich glückte. Die Räuber haben die Tat begangen und haben mit ihrem Leben dafür bezahlt. Im Oktober 1824 richtete man die noch lebenden Räuber hin.

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Oder nehmen wir den Begriff „Heimat“. Er ist eine Lieblingsvorkabel der nostalgischen Rechten, die ihn betrügerisch ausschlachtet und mit seiner Hilfe viele ungebunden im sozialen Raum herumflottierende Energien und Sehnsüchte der Menschen nach rückwärts in Gang zu setzen versucht. Deswegen hat „Heimat“ bei vielen Linken in Deutschland einen schlechten Klang, und jeder, der den Begriff verwendet gerät unter Verdacht, es mit der Rechten zu halten oder ein Rechter zu sein. So erging es auch mir, als ich in meinem Buch „Zwischen Amok und Alzheimer“ (Seite 67 ff) eine Lanze für eine linke Aneignung und Besetzung des Begriffs Heimat gebrochen habe. Dabei habe ich die Ambivalenz und Dialektik des Begriffs keinesfalls unterschlagen, sondern scharf benannt. Ich bezog und beziehe mich bei meinem Versuch der Rettung dieses geschichtlich missbrauchten Begriffs unter anderem auf Ernst Bloch, der am Ende seines Buches „Das Prinzip Hoffnung“ Heimat als seine Sehnsuchtskategorie und als Kampfbegriff benennt: „Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“ Heimat ist kein hinter uns liegender romantischer Ort, nichts Idyllisches, zu dem wir zurückkehren könnten oder sollten, sondern eine Kategorie des Noch-nicht. Gegenwärtig ist nirgendwo Heimat, es herrscht überall nur Modernisierung und Zerstörung. Trotz all dieser kritischen Kenntnisse tragen wir eine Sehnsucht nach einem Ort ins uns, an dem wir uns geborgen fühlen und alle Dinge an ihrem Platz sind. Wie war ich irritiert, als ich dieser Tage feststellen musste, dass meine Lieblingsbank auf dem Alten Friedhof, die Bank neben dem Grabmal von Conrad Röntgen, auf der ich ungezählte Stunden gesessen und gelesen habe, plötzlich verschwunden war. Von einem Tag auf den anderen abgebaut und weggeschafft. Da, wo gestern noch die Bank stand, ist nun ein kleiner freier Platz, der aber nicht mehr zum Verweilen einlädt. Wie viele Walnüsse habe ich auf dieser Bank sitzend an Eichhörnchen verfüttert! Was sollen die eigentlich denken? Da ist sie wieder, die Grunderfahrung der Moderne: Dreht man etwas mal kurz den Rücken zu, ist es verschwunden, wenn man sich wieder hinwendet. In der FAZ vom 5. Mai 2024 stoße ich auf einen Artikel über griechische Tavernen, die ebenfalls von der „Furie des Verschwindens“ bedroht sind. Der Autor erzählt vom Ende seiner Lieblingstaverne und fragt sich, ob die Touristen das Konzept einer Taverne nicht verstehen oder ob die Taverne einfach nicht mehr zeitgemäß ist. Wahrscheinlich ist es von beidem etwas, und zusammengenommen führt das zum Untergang einer bestimmten Kultur, die sich in dem Satz zusammenfassen lässt: „Was ist schon Geld im Vergleich zu einem gelungenen Abend?“

Dialektik, so habe ich es mir stets vergegenwärtigt, ist die Reflexionsform widersprüchlicher Prozesse. Dialektik versucht, im Denken festzuhalten, was in der Realität widersprüchlich ist. Sie ist nichts für Leute, die sich die Welt einfach denken wollen. Aktivisten neigen dazu, Komplexität auf ein Maß zu reduzieren, das ihre Handlungsfähigkeit nicht beeinträchtigt. Wer handeln will, kann sich den Luxus nicht erlauben, die Dinge und die Verhältnisse von verschiedenen Seiten aus zu betrachten und ab und zu mal die Perspektive zu wechseln. Aktivisten sagen gern, „es ist nichts als …“, und hauen drauf. Im Verhältnis zwischen den 68er Rebellen und Adorno hat sich das Verhältnis von Handeln und Reflexion exemplarisch gezeigt. Dabei hat Adorno lediglich darauf beharrt, zu denken und mit dem Denken nicht aufzuhören zu wollen. Ihm erschien die Praxis der rebellierenden Studenten als eine Form von blindem, theorielosem Aktionismus und er hatte Recht. Den jungen Rebellen schien die Haltung Adornos von Resignation zu zeugen, einer Resignation, die ihren Namen nicht nennen wollte, und sie hatten ebenfalls recht.

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„Was bleibt denn am Ende? Nicht die Dauer des Lebens ist entscheidend, sondern die Intensität und die Sinnstiftung. Und beides wächst, je öfter man die eigene Angst überwindet.“

(Günter Wallraff)

Nachdem ich den Schock über die verschwundene Bank am Grab von Röntgen einigermaßen überwunden hatte, setzte ich mich hundert Meter weiter auf eine andere Bank. Es war angenehm warm in der Frühlingssonne. Zusätzlich war ich eingehüllt in einen Klangteppich aus Vogelstimmen. Ganz in meiner Nähe „schwätzte“ ein Rotkehlchen unermüdlich, ein paar Bäume weiter ließ eine Drossel ihren melodischen Gesang ertönen, der es mit dem der Nachtigall durchaus aufnehmen kann. Irgendwann wagte sich auch noch ein kleines Eichhörnchen in meine Nähe, griff sich eine Walnuss, die ich ihm hingerollt hatte, steckte sie ins Maul und raste mit der Beute von dannen. Ich saß einfach nur da und genoss, dass ich am Leben war und dass das Leben gut war, zumindest an diesem Tag und in diesem Moment. Irgendwann war es genug des Idylls, und ich begann, in der Zeitschrift „Chrismon“ (05.2024) zu blättern, einem Magazin der evangelischen Kirche, das ein Mal im Monat unserer Tageszeitung beiliegt. Ich stieß auf ein Gespräch mit einem meiner Lieblingsschriftsteller, Ralf Rothmann, in dem er sich zur psychischen Vererbung, also der transgenerationalen Weitergabe von Kriegstraumata äußert, ein Thema, das auch in meiner Familie von Bedeutung war und ist. Das Schweigen meines Vaters über das, was er als Parteimitglied und Wehrmachtsoffizier getan und erlebt hatte, ließ das Klima in der Familie Eisenberg insgesamt schweigsam und frostig werden. Niemand redete über das, was hätte besprochen werden müssen. So redete irgendwann keiner mehr über irgendetwas. Ralf Rothmann träumte jahrelang, dass er erschossen wird. Später lernte er das als eine verschobene, auf ihn übergegangene Kriegsangst seines Vaters zu deuten. „Meine Mutter“, schreibt er weiter, „wurde als 16-Jährige vergewaltigt, später hat sie ihre Kinder bis aufs Blut geprügelt. … Ihr Wesen habe ich erst verstanden, als ich ‚Die Nacht unterm Schnee‘ schrieb. In dem Roman wird eine Frau von russischen Soldaten vergewaltigt, ein Leid, das sie oft unempfindlich machte für das Leid, das sie anderen zufügte.“ Der Weg aus diesem Labyrinth heraus führt über die Wahrnehmung und Anerkennung des eigenen Schmerzes, die dann auch sensibel machen für die Wahrnehmung der Leiden anderer. Solange dieser Schritt nicht gewagt und beschritten wird, herrscht eine Mentalität des Zähnezusammenbeißens. Aus der Härte gegen sich selbst wird die Berechtigung abgeleitet, auch anderen mit Härte zu begegnen. Die Gefühllosigkeit pflanzt sich fort, von der einen auf die nächste Generation. Meine Herkunftsfamilie hat sich im Bann einer solchen Geschichte des Beschweigens von Traumatisierungen vollständig aufgelöst und ist in lauter kommunikationslose Atome zerfallen. Die vielen verdrängten pathogenen Geheimnisse liefern eine einigermaßen plausible sozialpsychologische Erklärung dafür, warum sich so viele Nachkriegsfamilien in eine einzige Szenerie von Kälte, Indifferenz und Feindseligkeit verwandelt haben.

In derselben Ausgabe von „Chrismon“ findet sich auch ein Bericht über Fritzi Haberlandts Engagement in einem Berliner Hospiz. Sie besucht einige Bewohner regelmäßig und führt Gespräche mit ihnen. Diese Besuche haben ihr Verhältnis zu Sterben und Tod nachhaltig beeinflusst und verändert. Sie möchte diese Besuche nicht mehr missen. Sie geben ihr etwas, das ihr die Schauspielerei nicht geben kann.

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Die Mauersegler sind zurück. Bevor man sie sieht, hört man sie. Für U und mich ist der Tag, an dem wir die Mauersegler zum ersten Mal im Jahr hören, stets ein Festtag. „Hast du sie gehört, sie sind wieder da!“, sagte der von uns, der ihr schrilles „Srieh-Srieh“ zuerst vernommen hat. Sie rasen um den Häuserblock und tauchen alle paar Minuten für Sekundenbruchteile in dem Stück Himmel auf, dass durch das geöffnete Fenster von Us Dachwohnung sichtbar ist. Die Anwesenheit von freien Tieren sei für sie, sagte U gestern auf unserer Wanderung, ein Trost und ein Zeichen der Hoffnung, dass vielleicht doch noch nicht alles verloren sei.

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„Unerschrocken sein – viel lesen – viel schreiben – wenig veröffentlichen – Distanz halten zu den Kleingeistern – und nichts fürchten.“

(Edgar Allen Poe, zitiert nach Paul Auster 4321)

Paul Austers „4321“ ist eine Leseerfahrung, die ich nicht missen möchte. Der Umstand, dass der Roman ein so dicker Schinken ist und zwei oder drei Kilo wiegt, schmälert das Vergnügen etwas, weil ich das Buch nicht überallhin mitnehmen und in jeder Position lesen kann. Ich benötige eine Unterlage, denn länger kann ich dieses Buch nicht frei in den Händen halten. Ich tue mich immer noch schwer zu realisieren, dass Paul Auster tot und seine Stimme verstummt ist.

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Erst verwandelt die Lebensmittelindustrie die Menschen mittels Tiefkühlpizzen, Fast Food, Donuts und Bubble Tea in „verfettete, hirnlose Idioten“, wie der amerikanische Koch Anthony Bourdain einmal gesagt hat, dann verkauft man ihnen Abnehmspritzen und verdient sich daran nochmal dumm und dämlich. Die Firmen, die das Zeug herstellen, melden grandiose Quartalszahlen und steigende Aktienkurse. (Süddeutsche Zeitung von Freitag, dem 10. Mai 2014) Die Spritzen führen zu einem derart rabiaten Gewichtsverlust, dass die Leute im Anschluss die Dienste von Schönheitschirurgen in Anspruch nehmen, um ihre geschrumpelten Gesichter und Hintern wieder einigermaßen herrichten zu lassen. Schon sind Auswirkungen auf dem Lebensmittelmarkt zu spüren. Beim Anblick von Chipstüten wird den Leuten, denen zuvor das Wasser im Munde zusammenlief, nun schlecht und sie laden ihre Einkaufswagen nicht so voll wie früher. Der einen Branche Freud, ist der anderen Branche Leid, es ist ziemlich pervers, wie es halt im Kapitalismus so zugeht. Wegen solcher und anderer Perversitäten hat sich Anthony Bourdain im Jahr 2018 im Alter von 61 Jahren in einem Hotelzimmer in Straßburg das Leben genommen.

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„Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?“, fragte Kant und entwickelte aus diesen vier Fragen, die, wenn man so will, Fragen eines staunenden Kindes sind, seine Philosophie der Aufklärung. Jeder Mensch sollte sich diese Fragen jeden Tag einmal stellen, mindestens aber einmal pro Woche. Viele, ich fürchte die meisten, stellen sie sich nicht einmal im Leben. Nicht einmal in ihrer Sterbestunde.

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Manchmal spielt einem der Zufall ein Zitat in die Hände und den Kopf, das genau auf die aktuelle Lebenssituation passt. Heute Morgen las ich drei Sätze von Albert Camus, die mich richtig erwischt haben, wie man so sagt: „Wenn der Tod die einzige Lösung ist, befinden wir uns nicht auf dem richtigen Weg. Der richtige Weg führt zum Leben, an die Sonne. Man kann nicht unablässig frieren …“ Die Sätze aus Camus‘ Theaterstück „Die Gerechten“ wirkten wie die Axt für das gefrierende Meer in mir, würde ich – Kafka paraphrasierend – ergänzen.

Der alte schwarze Kater aus dem botanischen Garten ist noch am Leben. Ich glaube, er sieht und hört nichts mehr, aber vielleicht tut er auch nur so. Schon letztes Jahr erkannte ich mich in ihm wieder. Wir bekommen im botanischen Garten unser Gnadenbrot, dachte ich. Einmal sah ich, dass eine alte Dame ihm in einer Dose etwas Leckeres mitbrachte und neben einer Bank auf den Boden stellte. Das macht für mich niemand.

Auf dem Weg zum botanischen Garten hörte ich einen stadtbekannten Schwadroneur herumschwadronieren: „Die zweitausend Leute, die am Wochenende in Hamburg für die Errichtung eines Kalifats demonstriert haben, ich wüsst, was man mit dene mache könnt. Ich tät die alle verhaften, in ein Stadion sperren, den Schlüssel wegwerfen und warten, bis sich das Problem erledigt hat. Für die tät ich net emal eine Patrone vergeuden. Aber bei uns bekomme die ja all Bürgergeld!“

Im Johannespark saß eine traurige Frau auf einer Bank. Sie war in mittlerem Alter, dunkel gekleidet und starrte vor sich hin. Sie war vollkommen in sich versunken und in keinerlei Kontakt zur Außenwelt. So fiel mir auch nicht ein, welchen Trost ich ihr erfinden könnte. Nicht einmal ein aufmunternder Blick erreichte sie. Ich stellte Überlegungen darüber an, was ihr widerfahren sein könnte. Bilder von Krieg, Flucht und Vertreibung gingen mir durch den Kopf, die wir allabendlich in den Nachrichten sehen. Vielleicht sitzt sie da und wartet auf eine Nachricht aus einer der zahlreichen Elends- und Krisenregionen der Welt. Oder auf irgendwas, wie wir alle. Sie tat mir leid, und das Bild der traurig dasitzenden Frau verfolgte mich eine Weile.

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„Jedenfalls ist zu akzeptieren, dass in seltenen Fällen ungünstige Umstände mit ausgeprägt schlechten Neigungen so zusammentreffen, dass ein Mensch entsteht wie eine scharfe Waffe.“

(Eva Menasse)

Ich möchte noch eine Leseempfehlung loswerden. U und ich haben uns in den Wochen seit Ostern Eva Menasses Roman „Dunkelblum“ vorgelesen. Wir sind beide sehr angetan von diesem Buch. Die Handlung ist im fiktiven Ort Dunkelblum angesiedelt, der an der österreichisch-ungarischen Grenze liegt, und spielt zur Zeit der Auflösung des Ostblocks und des Falls des sogenannten Eisernen Vorhangs. Der Ort und seine Bewohner haben natürlich eine Geschichte, die, man ahnt es, dunkel und nationalsozialistisch ist. Fast alle sind verstrickt und haben nachher beschlossen, zu schweigen. Aber das Verschwiegene und Verdrängte gärt im Untergrund und wirft giftige Blasen. Eva Menasse ist ein lesenswerter und lehrreicher Roman gelungen, der gleichwohl nie belehrend und auch unterhaltsam ist. Es sind ihr brillante Formulierungen und Schilderungen gelungen und manchmal ist der Roman auch witzig. Klug ist er sowieso. Also: Unbedingt lesen. Jetzt beginnt bald die Ferienzeit und das ist ja auch eine Gelegenheit, sich an dickleibige Romane wie diesen zu wagen. Er ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen und inzwischen auch als Taschenbuch erhältlich. Wenn man angesichts der Vielzahl der handelnden Personen mal den Überblick verliert, ist dem Roman ein Figurenverzeichnis angehängt. Hilfreich ist ebenfalls ein Glossar der Austriazismen wie zum Beispiel Dodl oder fladern oder Kummerl, was eine „liebevoll-abwertende“ Bezeichnung für Kommunist ist. Ich hatte mal einen österreichischen Freund, der nannte mich gelegentlich „Kummerl“, wohl wissend, dass ich im traditionellen Sinn kein Kommunist war.

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„Wer derart eine schlichte Weltdeutung empfiehlt, will die Menschen auf ihre Unmündigkeit festnageln, will Hirt bei Schafen spielen.“

(Klaus Horn)

Wahlrecht für Jugendliche war stets eine Forderung von Linken und Grünen, die sich von der Absenkung des Wahlalters nicht nur eine Ausweitung demokratischer Teilhabe, sondern höhere Stimmanteile für die eigenen Parteien erhofften. Nun, da in Deutschland Jugendliche ab 16 Jahren erstmals an den Europawahlen im Juni teilnehmen dürfen, wählen mehr Erstwähler rechts. Das nennt man eine Ironie der Geschichte. Tatsächlich scheint die AfD unter Deutschlands Jugendlichen an Boden zu gewinnen. Laut einer aktuellen Studie – „Jugend in Deutschland 2024“ – würden etwa 22 Prozent der 14- bis 29-Jährigen für die AfD stimmen. Viele von ihnen dürfen im Juni zum ersten Mal wählen. Dies signalisiert eine Verschiebung im Wahlverhalten. Bei den Europawahlen 2019 stimmten 30 Prozent der deutschen Wähler im Alter von 18 bis 29 Jahren für die Grünen und 13 Prozent für die CDU/CSU. Alle anderen Parteien erhielten weniger als zehn Prozent – und die AfD landete mit sieben Prozent auf dem siebten Platz. Da muss sich in den letzten Jahren etwas gravierend verändert haben. Sogenannte Experten verweisen auf, dass rechte Parteien und Gruppierungen in den sozialen Medien besonders aktiv seien. Die AfD umwirbt die jungen Leute speziell auf TikTok, eine Plattform, auf der viele junge Leute ihre Informationen oder Desinformationen beziehen. Die überwiegende Mehrheit von ihnen bezieht politische Informationen über soziale Medien und nutzt keine „traditionelle“ politische Berichterstattung. Ich würde so sagen: Früher hätten die rechten Parteien die jungen Leute umwerben könne, soviel sie gewollt hätten, es hätte ihnen nichts genutzt. Sie waren gegen rechte Propaganda weitgehend immun und wussten, dass sie das auf keinen Fall wollten. Insbesondere der Sündenbock-Mechanismus verfing bei ihnen nicht. Sie ließen sich nicht einreden, dass „die Ausländer“ oder andere Minoritäten an ihrer eigenen Malaise schuld seien. Niemand wird zum Rechtsradikalen, weil er irgendwelche Videos anschaut. Diese verstärken allenfalls bereits vorhandene Dispositionen. Faschist wird eine oder einer nicht erst, wenn und weil er von rechten Parteien umworben wird. Er oder sie muss es längst sein, damit solche Propaganda verfangen kann. Wie aber wird einer oder eine unter heutigen Bedingungen zum Rechtsradikalen und Faschist? Zur Klärung dieser für uns existenziell wichtigen Frage wäre an der Kritischen Theorie geschulte sozialpsychologische Empirie erforderlich. Wo wird die heute noch betrieben? Es gibt unendliche viele, meist unsinnige „Studien“, aber kaum noch gescheite Forschung zu wichtigen Fragen einer historisch-materialistischen Gesellschaftstheorie. Ein paar Hinweise zu einer solchen Forschungsrichtung habe ich im Laufe der letzten Jahre gegeben. Zum Beispiel in einem 2023 auf „Telepolis“ erschienenen Text, der „Zur Sozialpsychologie des Nazis“ heißt. Er ist kurz nach der Versammlung im bayrischen Erding erschienen, wo Hubert Aiwanger seinen großen Auftritt hatte.

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Gestern war ich zum ersten Mal seit Langem auf einem universitären Vortrag. Es war der Auftakt einer Reihe zum Thema Antisemitismus und sollte Begriffe definieren und das Gelände geschichtlich abstecken. Der relativ kleine Saal war proppenvoll und ich hatte Mühe, noch einen freien Stuhl zu finden. Es war, soweit ich sehen konnte, ein rein studentisches und also junges Publikum, was sich auch daran zeigte, dass beinahe jeder und jede sein beziehungsweise ihr Smartphone in der Hand hielt und auch während des Vortrags nicht weglegte. Andere flüsterten die ganze Zeit miteinander, kicherten oder blätterten in Broschüren, die verteilt worden waren. Sie verhielten sich wie Schüler, die gegen ihren Willen irgendwohin geschickt worden sind und sich nun einer lästigen Pflicht entledigen. Vielleicht hatte sie tatsächlich eine Dozentin oder ein Dozent zum Besuch dieses Vortrags verdonnert. Kurzum, die Umgebung, in die ich geraten war, fand ich reichlich verstörend. Was für ein Kontrast zur Buchpräsentation, an der Alex und ich am Abend zuvor in Marburg teilgenommen hatten. Die wurde von meinem alten Freund Manfred moderiert. Die Autorin, die er uns vorstellte, hat vor Jahren in Marburg studiert und nach ihrem Studium Erfahrungen als Insassin psychiatrischer Einrichtungen gesammelt. Davon erzählt Lea De Gregorio in ihrem aktuellen Buch, das unter dem Titel „Unter Verrückten sagt man Du“ im Suhrkamp Verlag erschienen ist. Sie ist erst Mitte zwanzig und hat den Abend dennoch routiniert absolviert. Eine dieser selbstbewussten jungen Frauen, über die ich manchmal staune und vor denen ich den Hut ziehe. Manfred und sie kennen sich aus ihrer Studienzeit. Da Lea sich früh politisch engagiert hat, kreuzten sich ihre Wege irgendwann und irgendwo. Jetzt lebt sie – man ist geneigt zu sagen: natürlich – in Berlin und schreibt für renommierte Zeitungen. Obwohl ich von dem Buch bisher nur die wenigen Passagen kenne, die Lea de Gregorio gelesen hat, wage ich eine Leseempfehlung auszusprechen.

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„… viele von ihnen alte Männer, die jeden Tag stundenlang dort saßen und langsam eine Tasse Kaffee nach der anderen tranken, die alten Männer von der verschwundenen Linken, die auch nach vierzig Jahren noch darüber stritten, wo die Revolution fehlgeschlagen war, die totgeborene Revolution, die einst bevorzustehen schien und jetzt nur noch eine Erinnerung war an das, was nie stattgefunden hatte.“

(Paul Auster: 4321)

Glaube ich im Ernst, dass noch irgendetwas zu machen und zu retten ist? Es ist wohl eher so, dass ich ohne jede Hoffnung darauf, dass es anders wird, nicht leben kann. Es stellt sich die alte Nietzsche-Frage: „Wie viel Wahrheit erträgt, wie viel Wahrheit wagt ein Geist?“ Ich fürchte, dass wir ohne eine gewisse Portion Selbstbetrug nicht leben können. Alle, die nicht völlig abgestumpft sind, spüren, dass etwas zerfällt. Anders als gehofft zerfällt nicht eine bestimmte Gesellschaft, während die Geburtshelfer der neuen schon bereit stehen, um sie zur Welt zu bringen, sondern es herrscht bloß Zerfall und Selbstzerstörung. Noch nie hat sich in meiner Lebenszeit die Zukunft so bedrohlich am Horizont aufgetan wie gegenwärtig. Alle, die wir um Rat fragen könnten, sind tot und können auf unsere Fragen nicht mehr antworten. Ich schaffe es nicht, mein Interesse von der Welt abzuziehen, so dass mir alles, was „da draußen“ vor sich geht, am Arsch vorbeigeht. Mehr und mehr werden die Bücher zu meinem Refugium und ich verbringe einen Großteil meiner Zeit mit Lesen. Da gleichzeitig meine Augen und meine Konzentrationsfähigkeit schwächer werden, strengt mich das sehr an. Was bleibt, sind die kleinen Freuden des Alltags. Eine Amsel singt vor meiner geöffneten Balkontür, ich lausche ihr eine Weile und bin erstaunt über die Vielfalt ihres Repertoires. Wenn da kein Amselweibchen schwach wird, versteh ich es nicht. Ein Rotkehlchen kommt im botanischen Garten neugierig näher und mustert mich mit leicht schief gelegtem Köpfchen. Ein Eisvogel geht an den Lahn der Jagd nach, ein Eichhörnchen nimmt eine Walnuss aus meinen Händen entgegen. Aber das kann doch nicht alles sein, sagt mein linkes Über-Ich. Aber es ist einstweilen alles, woran ich mich aufrichten und festhalten kann. Und es ist besser als das Nichts, das mich umfänge, gäbe es all das nicht.

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Vielleicht sollte ich es beim Schreiben auch mal mit Lachgas versuchen. Obwohl die Deutsche Gesellschaft für Neurologie jüngst vor dem Konsum gewarnt hat. Früher kam Lachgas als Narkosemittel zum Einsatz, inzwischen kann man es in Flaschen und Ballons aus dem Automaten ziehen. Es erfreut sich bei Kindern und Jugendlichen als Rauschmittel wachsender Beliebtheit und ist zu einer beliebten Party- und Schulhof-Droge aufgestiegen. Auch im botanischen Garten lagen bereits gebrauchte schwarze Ballons herum. Der Konsum von Lachgas soll Wärme- und Glücksgefühle vermitteln, woran zweifellos Mangel herrscht. Auch bei mir. Die leeren Ballons liegen in Parks und auf öffentlichen Plätzen herum, wie benutzte Kondome auf gewissen Autobahnparkplätzen.

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Die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck hat als erste Deutsche den renommierten britischen „International Booker Prize“ erhalten. Sie teilt sich das Preisgeld mit ihrem Übersetzer Michael Hofmann. Sie wurden für den Roman „Kairos“ ausgezeichnet. Dieser Roman erzählt von einer Liebesgeschichte im Ostberlin der 1980er Jahre. Die Affäre endet wie die Gesellschaft, in der sie sich entfaltet hat. Sie zerfällt. Zufällig lesen U und ich seit einer Woche Erpenbecks Roman „Heimsuchung“ vor, in dem sie die Geschichte eines Hauses an einem märkischen See anhand der Biographien seiner Bewohner in den letzten 100 Jahren erzählt. Ich schätze Jenny Erpenbeck, seit ich ihren Roman „Gehen, ging, gegangen“ aus dem Jahr 2015 gelesen habe, von dem ich sehr angetan war. Meine Begeisterung ging so weit, dass ich aus diesem Roman hier in Gießen vor etlichen Jahren Passagen öffentlich vorgelesen habe. Was man an ihr gefällt ist, dass sie keine Talkshow-Hockerin und Medienschriftstellerin ist, sondern bescheiden ihrem Handwerk nachgeht, das sie, soweit ich das beurteilen kann, gut beherrscht.

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Gestern kam mir, als ich mit dem Rad unterwegs war, an einer engen Stelle ein Porsche-Fahrer bedrohlich nahe. Als ich eine abwehrende Gebärde vollführte, ließ der junge Mann die Scheibe runter und brüllte: „Geh mir nicht auf den Sack!“

Gegenüber wird seit zwei Tagen ein fünfgeschossiges Haus eingerüstet. Das geht mit einem derartigen Lärm einher, dass ich mein zur Straße hin gelegenes Arbeitszimmer nicht nutzen kann. Metall schlägt unentwegt auf Metall, und die rot gekleideten Arbeiter veranstalten ein unglaubliches Gebrüll. Sie reichen sich schwere Gerüstteile von Stockwerk zu Stockwerk weiter und müssen sich durch laute Zurufe verständigen, damit kein Unglück geschieht und kein Passant durch herabstürzende Teile erschlagen wird. Die Einheitskleidung, die die Arbeiter tragen müssen, soll den „Teamgeist fördern“, die Identifikation mit dem Arbeitgeber stärken und gilt als Zeichen einer „gemeinsam gelebten Unternehmensphilosophie“. Die Vorteile einer einheitlichen Kleidung der Mitarbeiter für Unternehmen liegen auf der Hand: Sie steigert den Profit. Solange der Ostblock existierte, hätte man so etwas nicht gewagt. Man hätte die Parallelen gescheut. Jetzt muss man solche Vergleiche nicht mehr fürchten und legt Scham und Hemmungen ab. Ungeniert gibt man den Arbeitern das Aussehen von Sträflingskolonnen und markiert sie als Firmeneigentum.

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Heute wird mit großem Aplomb der 75. Jahrestag der Verabschiedung des Bonner Grundgesetzes begangen. „Das Grundgesetz ist ein großartiger utopischer Roman“, hat ein Butzbacher Gefangener einmal gesagt. Seine Desiderate sind bis heute weitgehend unerfüllt geblieben und harren noch immer ihrer Einlösung. Ein utopischer Roman – erst recht aus der Perspektive eines Gefängnisses, wo ja nach wie vor vorvertragliche, halbkoloniale Zustände und besondere Gewaltverhältnisse herrschen. Das Gefängnis hat auch meinen Blick auf die Verfassungswirklichkeit in diesem Land geprägt und geschärft. Ein ganzes Volk hat seine Würde noch gar nicht errungen – ein Wort, das die meisten Dieter Hildebrandt zufolge nur als Konjunktiv II in dem Satz: „Für Geld würde ich alles machen“ kennen. Aus historisch begründetem Misstrauen gegenüber verhetzten Mehrheiten im „Volk“ haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes die Grundrechte mit einer „Ewigkeitsgarantie“ ausgestattet, das heißt der Veränderbarkeit und dem Zugriff entzogen. Die Würde des Menschen und die anderen Grundrechte dürfen nicht angetastet werden. In gewisser Weise beruhigend, aber dann, wenn es hart auf hart kommt, letzten Endes auch wieder egal. Es sind Leute denkbar, denen die Ewigkeitsgarantie und Verfassungsgerichtsurteile egal sind.