89 | Gesellschaften bedürfen der Ungleichzeitigkeit

„Ein hoffnungsvoller Pessimist zu sein, das ist die praktische Option – und eine Lehre unterdrückter Gemeinschaften, die trotz allem überleben.“

(A. L. Kennedy)

„Man hat ja überall Angst, nix als Angst überall“, sagte ein älterer Mann mitten auf der Fußgängerzone laut in sein Smartphone. Ich nehme an, er erstattete seiner Familie Bericht über seinen vorweihnachtlichen Ausflug in die Stadt.

In einem Kulturzeit-Beitrag zum Schwund der Kirchenmitglieder sah und hörte ich einen jungen evangelischen Pfarrer mit grünen Haaren und einem lila Hoodie den Satz sagen: „Hey, ich mach hier ne geile Arbeit.“ Seine Gottesdienste laufen bei TikTok, aber mehr als zwanzig Zuseher und Zuhörer hat er auch dort nicht. Das peinliche Anwanzen an den Zeitgeist und an die Jugend verfängt nicht. Gott und seinem Bodenpersonal ist auf Erden nicht mehr zu helfen.

Wo ich gerade beim Thema bin: Es sei, zitiert Florian Illies den ungarischen Essayisten László Földényi, auf den Gemälden Caspar David Friedrichs unentschieden, „ob es sich dabei um das Sehen Gottes oder um das Sehen des Fehlens Gottes handelt“. Die Bilder drücken Friedrichs „ungestilltem metaphysischen Hunger“ aus.

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Den Begriff „Liquidatoren“ kannte ich bislang aus dem Kontext der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986. Als Liquidatoren wurden dort jene Arbeiter, Soldaten und Feuerwehrleute bezeichnet, die nach dem Supergau den Befehl erhielten, die hochgefährliche Strahlung einzudämmen und den kontaminierten Schutt zu beseitigen. Bis Ende des 20. Jahrhunderts sollen circa 50.000 der rund 400.000 eingesetzten Liquidatoren an den Folgen der extrem hohen Strahlendosis, die sie in der Ruine abbekommen hatten, gestorben sein. Liquidatoren sind also „Abwickler“ und „Beseitiger“ von hoch toxischem Material. Ganz so giftig ist der Schutt nicht, den die Implosion der Linkspartei hinterlassen hat und den die Liquidatoren im Bundestag wegräumen sollen. Es handelt sich im Wesentlichen um Einrichtungsgegenstände in den Büros. Neben Möbeln ist das auch Technik wie Laptops und ein komplett ausgestattetes Medienstudio mit Kameras, Licht, Ton- und Schnitttechnik. Und auch drei Transporter, die von der Fraktion für Veranstaltungen außerhalb des Bundestages genutzt wurden, gehören dazu. Das mag Arbeit machen, sterben wird man daran aber nicht. Die Doppelbedeutung des Begriffs „Liquidatoren“ – einmal bezeichnet er Leute, die einen aufgelösten Verein abwickeln, das andere Mal Leute, die radioaktives nukleares Material entsorgen – ist aber dennoch interessant.

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Die vielen losen Enden, von denen ich umgeben bin, machen mich kirre. Vor allem, dass sie sich nicht mehr zu sinnvollen Mustern verknüpfen lassen. Gegen mein Bedürfnis nach Sinn und Identität ist kein Kraut gewachsen. Und es scheint mir auch nicht empfehlenswert, gegen es anzugehen. Es gehört für den israelischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky zu den Bedingungen unserer leib-seelischen Gesundheit. Er nennt drei Dimensionen, aus denen unser Gefühl von Kohärenz, ein anderes Wort für Identität, zusammengesetzt ist: das Gefühl der Verstehbarkeit, das der Handhabbarkeit, also dass man das eigene Leben gestalten kann, und schließlich der Glaube, dass das Leben einen Sinn hat, also das Gefühl der Sinnhaftigkeit. Das Fehlen von einzelnen Faktoren, oder gar von allen dreien, bereitet Angst. Diese ist die Grundlage der meisten psychischen Erkrankungen. Um unserer Gesundheit willen sollten wir also nicht unser Bedürfnis nach Kohärenz bekämpfen, sondern gesellschaftliche Verhältnisse, die Kohärenz nicht zu lassen, sondern diese immer aufs Neue zerstören. Als inkohärente Wesen, die mit viel Angst ausgestattet sind, sind wir besser beherrsch- und steuerbar. Unser Bedürfnis nach Kohärenz, das von der Gesellschaft des losgelassenen Geldes systematisch negiert wird, könnte zum Kristallisationskern einer neuen linken Bewegung werden. Diese würde an allgemein-menschlichen Erfahrungen des Sinnentzugs und der Entfremdung ansetzen und damit die Grenzen des Klassenkampfes überwinden, der ja stets im Kontinuum von Herrschaft und Unterdrückung gefangen blieb. Das Subjekt des Kampfes für eine klassenlose und herrschaftsfreie Gesellschaft muss selbst bereits klassenlos sein, sonst reproduziert sich das Elend auf erweiterter Stufenleiter. Der Sprung aus der Vorgeschichte der klassengespaltenen Herrschaftskulturen in eine klassen- und herrschaftslose Gesellschaft kann nicht von einer partikularen Klasse erkämpft werden, die lediglich ihre eigene Macht an die Stelle der entmachteten Klasse setzen würde, sondern nur von einer völlig neuen „Klasse“, die eigentlich keine Klasse mehr ist, sondern eine freie Assoziation von Menschen, die es so nicht mehr aushalten und die aus allen Bereichen der Gesellschaft stammen können. Angesichts der drohenden ökologischen Katastrophe, die uns alle verschlingen würde, liegt der Gedanke an eine allgemeine Menschheitsrevolution nahe, die eine vernünftige Gesellschaft für die Menschheit als Ganze und einen veränderten Umgang mit der Natur hervorbringen könnte und sollte. Der inzwischen leider verstorbene und weitgehend in Vergessenheit geratene libertäre Sozialist Murray Bookchin hat zu diesem Thema in seinem Essay „Hör zu Marxist!“ (in: Unter dem Pflaster liegt der Strand, Band 1, Karin Kramer Verlag, Berlin 1975) wichtige Gedanken beigesteuert. An seine Thesen ließe sich anknüpfen, wenn wir die Linke neu denken wollen. Und das müssten wir dringend tun, wenn wir auch nur eine minimale Chance haben wollen, in gesellschaftliche Prozesse verändernd und gestaltend einzugreifen.

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Laut Berechnungen der russischen Investigativplattform Agenstvo haben ehemalige Ukraine-Kämpfer – viele von ihnen sind von Putin begnadigte ehemalige Häftlinge – in Russland bereits mindestens 27 Zivilisten getötet, teilweise bestialisch ermordet.

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Auf dem Alten Friedhof begegnete mir eine Frau aus der autonomen Szene. „Na, du alter Sack, lebst ja immer noch. Willst du nicht endlich mal deine Wohnung frei machen?“, begrüßte sie mich mit der ihr eigenen Herzlichkeit. Um dann noch die Frage nachzuschieben: „Schaffst du es denn noch den Berg hoch?“ Sie war in Begleitung einer anderen Frau, die sie mit diesem mir gegenüber an den Tag gelegten rüden, schnoddrigen Ton offenbar beeindrucken wollte. Diese wunderte sich sichtlich über diesen Ton. Ich hatte keine Lust, mich auf diesen einzulassen, und ging weiter – den Berg hinauf. Im Nieselregen ließen sich keine Eichhörnchen blicken. Sie hockten wahrscheinlich in ihren kuscheligen Kobeln, knackten aus Verstecken ausgebuddelte Nüsse und schauten Netflix-Serien – die intellektuelleren unter ihnen schauen im Kobel Scobel. Würde ChatGTP so einen Kalauer hinbekommen? Die Nüsse, die ich für sie mitgenommen hatte, nahm ich wieder mit nach Hause.

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Heute, am 18. Dezember 2023, wird Keith Richards 80 Jahre alt. Seit 1962 ist er der Gitarrist der Rolling Stones und hat einige große Songs zum Repertoire der Gruppe beigesteuert, die auch in die Geschichte des Rock and Roll eingegangen sind und bleiben werden. Er hat mir mit seiner Lässigkeit immer besser gefallen als der zappelige und narzisstisch aufgeblasene Mick Jagger, mit dem er zusammen die Schule besuchte. Noch cooler als Richards war nur Charly Watts am Schlagzeug, der leider vor zwei Jahren gestorben ist. Mitte der 1960er Jahre musste man sich entscheiden: Entweder man war Beatles-Fan oder Stones-Fan. Ich war in Sachen Musik von allem abgeschnitten und unbeleckt. Aus dem Loewe-Opta-Radio bei uns zu Hause drangen nur Bach und Mozart und einmal in der Woche „Wer war‘s, wie geschah‘s, was war los, das Wort hat Kriminalrat Obermoos“, ein Kriminalhörspiel des Hessischen Rundfunks zum Mitraten. Erst als mein Großvater mir ein Transistorradio schenkte, wurde ich an die Welt angeschlossen und ich konnte die Schlagerbörse mit Hans Verres hören und auf dem Schulhof ein bisschen mitreden. Unter dem Einfluss von Freunden, die gerade dabei waren, eine eigene Band zu gründen, geriet ich ins Stones-Lager. Später dann in den Bannkreis von The Who, noch später von Cream. Aber davon habe ich bereits ein andermal erzählt. Zum Abschluss noch ein Zitat aus meinem Lieblingsbuch zur Geschichte der Rockmusik „AwopBopaLooBopALopBamBoom“ von Nik Cohn: „Sicher, die Beatles waren die erfolgreichere Gruppe, aber bis sie sich 1967 der Liebe zuwandten, veränderten sie sich kaum so sehr, wie alle erwartet hätten. Sie waren selbstsicher, eitel und hochnäsig, und man konnte ihnen nichts weismachen, aber sie waren immer voller Kompromisse, und sie gefielen den Erwachsenen ebenso wie den Teens. Sie waren nicht festgelegt und engagiert. Die Stones waren es. In diesem Sinn waren die Stones die absolute Gruppe der sechziger Jahre, und ihr Image war das absolute Image, Jagger war das absolute Gesicht, und ihre Platten waren die absoluten Platten. Mehr als jeder sonst, sogar mehr noch als Bob Dylan, wurden sie Ausdruck ihrer Zeit. Und abgesehen von allem anderen machten sie wunderbare Musik.“ Jetzt lege ich zu Ehren von Keith Richards „Start Me Up“ auf, einer meiner Lieblingssongs von den Stones. Meine Lieblings-LP von den Stones ist „Between the Buttons“ aus dem Jahr 1967. Solche Vorlieben hängen meist mit Erinnerungen zusammen, die mit der Musik verknüpft sind. So ist es auch in diesem Fall. Unlängst hat jemand den vielen Scherzen über Richards Unsterblichkeit einen weiteren hinzugefügt: Langsam sollten wir uns Gedanken darüber machen, in welchem Zustand wir Keith Richards die Welt hinterlassen wollen!

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Ein Freund hat die in der letzten Ausgabe der DHP gesponnene Idee realisiert und ChatGTP beauftragt, einen Text im Stile von Götz Eisenbergs Durchhalteprosa zu schreiben. Das ist dabei herausgekommen:

[Note: Götz Eisenberg is a German author known for his reflective and contemplative prose. His style often involves deep introspection and philosophical exploration.]

„In den wirbelnden Straßen des städtischen Labyrinths, wo das Dröhnen der Moderne mit den vergilbten Seiten der Geschichte kollidiert, spielte sich ein stummer Tanz zwischen zwei Welten ab. Vor einem alten, geduldigen Haus, das die Last der vergangenen Jahrzehnte auf seinen morschen Schultern trug, versammelte sich täglich eine Schar Jugendlicher. Sie waren die lebhaften Akteure in einem Schauspiel, das der alte Mann hinter den verwitterten Fenstern kaum zu verstehen vermochte.

Der alte Herr, von einer Zeit gezeichnet, die er allein zu kennen schien, saß regungslos in seinem Sessel und beobachtete mit verblassten Augen das Treiben vor seiner Tür. Die Geräuschkulisse der Jugendlichen, die in ihrer eigenen Welt aus klingenden Smartphones und brüllendem Gelächter gefangen waren, drang gedämpft zu ihm durch.

Für den alten Mann war es ein Rätsel, das er nicht zu lösen vermochte. Die Sprache der Jugend war ihm fremd geworden, ihre Sitten und Bräuche, wie ein undurchsichtiges Geheimnis, das er nie zu enträtseln vermochte. Er sehnte sich nach der Stille vergangener Tage, als die Straßen noch von sanften Schritten und gedämpften Stimmen erfüllt waren, als das Tempo des Lebens noch im Einklang mit der Zeit zu stehen schien.

Die Jugendlichen, von ihrer eigenen Unbeschwertheit und der Dringlichkeit des Moments erfüllt, nahmen keine Notiz von den stillen Klagen des alten Mannes. Sie fanden ihr Vergnügen in einem Rhythmus, der dem Takt der Vergangenheit fremd war, in einer Welt, die sich rasant weiterdrehte, ohne Rücksicht auf diejenigen, die in ihren Wellen zu ertrinken drohten.

Der alte Mann versuchte, zwischen den Zeilen der Lautstärke eine Verbindung zu finden, ein Verständnis für die Jugendlichen und ihre schillernde Welt. Doch je mehr er sich bemühte, desto größer wurde die Kluft zwischen ihren Welten. Sein Herz sehnte sich nach einem Hauch von Ruhe, nach einer Zeit, als die Uhren noch langsamer zu ticken schienen und die Menschen Zeit füreinander hatten.

Die Straße vor seinem Haus war zu einem Schauplatz geworden, an dem die Kontraste der Generationen in einem stummen Dialog miteinander rangen. Die Moderne prallte auf die Vergangenheit, während der alte Mann in seinem eigenen Schweigen gefangen schien, unfähig, die lauten Rufe einer Welt zu verstehen, die immer schneller zu entgleiten schien.

So spielte sich das tägliche Schauspiel ab, ein stummer Tanz zwischen Gestern und Heute, ein Duett von Lärm und Stille, während der alte Mann still in seinem Sessel verharrte, ein stummer Beobachter einer Welt, die er immer weniger zu begreifen vermochte.“

Ein alter, aus der Zeit gefallener Mann hockt in seinem Zimmer und betrachtet blasiert das Treiben der jungen Leute durch die beschlagenen, fast blinden Fenster seiner Wohnung. „Ein stummer Beobachter einer Welt, die er immer weniger zu begreifen vermochte.“ Sehr treffend! Der Stil ist ein bisschen holprig. Ich nehme an, dass der Text von meinem Freund stammt und eine Satire auf den Stil der DHP und die Weltsicht eines alten, linken Mannes sein soll. Ich bin bisher davon ausgegangen, dass künstlicher Intelligenz Ironie fremd ist, müsste mein Urteil jetzt korrigieren, wenn der Text wirklich von ChatGTP stammte.

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„ … und wie soll er wissen, wie viel ihm noch bleibt. Nicht nur, wie viele Jahre, bis er ins Gras beißt, sondern wichtiger, wie viele Jahre tätigen, produktiven Lebens, bevor sein Geist oder sein Körper oder beide ihn im Stich lassen und er zu einem schmerzgepeinigten, verblödeten Trottel wird, der nicht mehr lesen und schreiben kann, der vergisst, was vor vier Sekunden jemand zu ihm gesagt hat, und schlicht keinen mehr hochkriegt, ein Horror, an den er gar nicht denken will.“

(Paul Auster: Baumgartner)

Was ChatGTP noch nicht wissen konnte, ist, dass der Verfasser der Durchhalteprosa unter einer Form von Ideenflucht leidet. Es gelingt ihm häufig nicht mehr, Gedanken festzuhalten und später zu erinnern und in Worte zu fassen. Vor Jahren entstanden meine Texte beim Joggen, und ich war imstande, die beim Laufen aufgetauchten Ideen im Gedächtnis festzuhalten und nach meiner Rückkehr zu Hause zu notieren. Bis zu zehn Stichworte konnte ich mir merken und vor allem auch die Assoziationshöfe um diese Stichworte herum, das heißt, die Zusammenhänge, aus denen die Stichworte ihren Sinn beziehen. Heute herrscht da tabula rasa, oft suche ich verzweifelt nach einem Faden, den ich aufnehmen und verfolgen könnte. Manchmal macht es mich rasend, dass ich eine vage Ahnung von etwas habe, das sich mir aber entzieht, wenn ich es zu fassen versuche. Manchmal taucht Tage später wie aus dem Nichts eine Erinnerungsspur auf, der ich sofort folgen muss, bevor sie erneut vom Schnee des Vergessens verweht wird. Ein Freund, dem ich mein Leid klagte, bemerkte lakonisch: „Das nennt man Alter.“ Und setzte dann nach einer kleinen Pause noch hinzu: „Vielleicht haben wir phasenweise auch zu stark dem Alkohol zugesprochen.“

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Als Überbleibsel des Sommers schwirren noch immer vereinzelte Fruchtfliegen durch die Küche.

In der Fußgängerzone brüllt eine Frau in ihr Handy: „Der Typ behandelt mich jeden Tag wie ein Stück Scheiße!“

Die Blumenhändlerin, die ihr Geschäft eingangs des Parks betreibt, erzählte mir heute Morgen, dass sie häufig mit ihrem Mann spreche, der vor Kurzem gestorben ist. Heute habe sie zu ihm sagt: „Sei froh, dass du das alles nicht mehr miterleben musst!“ Sie bemühte sich dabei, das permanente Sirenengeheul, das heute zum Paroxysmus gesteigert war, zu übertönen. Gerade hielt auf dem Kundenparkplatz vor ihrem Laden ein fetter SUV. Ein nobles, mittelaltes Paar stieg aus. „Wollen Sie da parken, das ist mein Geschäftsparkplatz“, sprach die Blumenhändlerin die beiden an. „Nur kurz“, sagte der Mann und wandte sich brüsk zum Gehen. „Sehen Sie, das meine ich“, sagte sie zu mir gewandt.

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Seit dem 6. Dezember fehlt von Alexej Nawalny jede Spur. Er hatte kurz zuvor aus dem Straflager heraus dazu aufgerufen, bei den nächstes Jahr im Russland anstehenden Präsidentschaftswahlen andere Kandidaten als Putin zu wählen. Er sei in ein anderes Straflager verlegt worden, heißt es von offizieller Seite. Immer noch scheint er auf ein bestimmtes Milieu einen gewissen Einfluss zu haben, den Putin uns seine Leute fürchten. Die alte stalinistische Praxis des Verschwinden-Lassens und Umbringens von Gegnern ist immer noch im Schwange. Zuletzt stürzte der aufmüpfige Söldner-Chef Brigoschin mit einem Flugzeug ab. Aus Nawalnys Umfeld hört man vermehrt die Befürchtung, er könnte bereits tot sein. Ich habe nie verstanden, warum er aus dem vergleichsweise sicheren Berlin, wo er wegen der Folgen eines Giftanschlags behandelt worden war, in die Höhle des Löwen zurückgekehrt ist. Der illusionäre Traum von Macht wird ihn verleitet haben, diesen Schritt zu tun, vermute ich, der Traum, dass die Massen aufstehen und zu ihm sagen: „Alexej, geh du nach vorn und sprich für uns!“.

An den Weihnachtstagen wurde bekannt, dass es seinen Unterstützern gelungen ist, Nawalny in einem Straflager ganz im Norden Russlands aufzuspüren. Das Straflager IK-3 ist eine der nördlichsten und abgelegensten Haftanstalten des Landes und die Bedingungen sind dort noch härter als anderswo.

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An der Prager Karls-Universität hat sich ein Amoklauf ereignet. Ein 24-jähriger Student der Philosophischen Fakultät hat 14 Menschen erschossen und 25 weitere verletzt. Der junge Mann soll am Vortag seinen Vater getötet haben, heißt es. Auch mit einem anderen Tötungsdelikt bringt man ihn in Zusammenhang. Er habe massive psychische Probleme gehabt, ein politischer oder terroristischer Hintergrund der Tat wird einstweilen ausgeschlossen. Als die Polizei näher rückte, soll der junge Mann sich selbst getötet haben. Die Tat scheint einem Muster zu folgen, das wir seit einer Tat in Texas in den 1960er Jahren kennen. Der ehemaligen Marinesoldat, Pfadfinderführer und Waffenliebhaber Charles Whitman erstach 1966 zunächst seine Mutter und seine Frau im Schlaf, verbarrikadierte sich anschließend auf der Aussichtsplattform eines Turms, von wo aus er das Feuer auf den Campus der Universität von Austin eröffnete und 15 weitere Menschen tötete, bevor er selbst schließlich von einem Polizisten erschossen wurde. Der Amoklauf beginnt im Privaten und entgrenzt sich dann in den öffentlichen Bereich hinein. In der Regel enden solche Taten im Kugelhagel der Polizei, die dem Täter die Selbsttötung abnimmt. Eine literarische Schilderung dieses Amoklaufs von 1966 finden wir in Lars Gustafssons Erzählung „Die Tennisspieler“, Peter Bogdanovich drehte 1968 in freier Anlehnung an diesen Fall, der in den USA unter dem Namen „Texas Sniper“ geführt wird, den Film „Targets – Bewegliche Ziele“.

Auch im Prager Fall könnte es wieder einmal so gewesen sein, wie ich es schon öfter gesagt und geschrieben habe: Der Amokläufer töte sich am Ende seines mörderischen Wütens nicht aus Schuldgefühlen über das, was er angerichtet hat. Seine Morde sind nicht die Ursache für seinen Selbstmord. Es ist genau umgekehrt: Sein Selbstmord oder besser seine Selbstmordabsicht ist die Ursache für seine Morde. Er bringt sich durch seine Morde in eine Situation, in der ihm gar nichts andres übrig bleibt, als sich die Waffe in den Mund zustecken und abzudrücken. Ohne diese zugespitzte äußere Lage war er dazu nicht imstande. Warum ist unser junger Mann nach dem Mord an seinem Vater, für den es Gründe gegeben haben mag und gegeben haben wird, nicht still und leise auf den Dachboden gestiegen oder in die Scheune gegangen, hat eine Schlinge geknüpft und sich aufgehängt? Entweder er war zu feige und hat es nicht geschafft, oder dieser Abgang war ihm zu unspektakulär. Im Zeitalter des Narzissmus kann man, wenn man etwas auf sich hält, ein solch stilles Ende nicht riskieren. Da müssen schon Kameras dabei sein, die das finale Feuerwerk festhalten. Durch die ubiqitären Medien und die zahllosen Handykameras bekommen solche Attentate ein riesiges Publikum für ihren Tod, der ansonsten vollkommen unbeachtet geblieben wäre. So aber verleiht das Abgangsszenario den Tätern ein Gefühl der Grandiosität und Einzigartigkeit, wobei der eigene nahende Tod gar nicht mehr wahrgenommen oder ins Szenario eingebaut wird. Der mediale Nachhall der Tat wird vorab genossen. Die zeitgenössische Variante eines Mechanismus‘, den wir eigentlich bereits von Mark Twain kennen. Als Tante Polly Tom Sawyer zu Unrecht schilt und bestraft, stellt er sich vor, wie er stürbe und wie sie auf seiner Beerdigung alle um ihn weinten. Dann wird Tom aber klar, dass er selbst von seinem Triumph nichts mitbekäme. Denn er wäre ja tot. Für manche Täter ist der narzisstische Gewinn so hoch, dass sie den eigenen Tod gegen den Ruhm eintauschen, der ihnen post mortem zuteil werden und sie in gewisser Weise unsterblich machen wird. So könnte es auch in diesem Fall gewesen sein, aber wir wissen es nicht.

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Gerade hat ein Paketbote im Haus auf allen Etagen Sturm geklingelt, dann hörte ich ihn die Treppe hinauf hasten. Bei der engen Taktung der Lieferungen bleibt keine Zeit für Begrüßungen oder gar ein kurzes Gespräch. Früher betreuten Briefträger ein bestimmtes Revier oft jahrelang und kannten jeden und jede. Sie hatten hoheitliche Aufgaben und waren Beamte, die als Kennzeichen ihrer staatlichen Würde eine Uniform trugen. Es entstanden Beziehungen, ja beinahe Bindungen. Mancher alten Frau, die sonst niemand mehr hatte, blieb doch der Briefträger, der immer auch Sozialarbeiter war, der damals übrigens noch Fürsorger hieß, was nicht so technizistisch klang und auch nicht so war. Er hatte Zeit für die Zustellung der Post und die informellen menschlichen Zusatzleistungen, die er nebenbei erbrachte. Postboten und Briefträger spielten eine wichtige Rolle im sozialen Immunsystem einer Gemeinde. Das merkte man in der Regel erst, als es zu spät und bereits im Schwinden begriffen war. Es gab Zeiten, da wurde die Post sogar zwei Mal am Tag zugestellt. Briefträger und Müllmänner erhielten zu Weihnachten oder zum Jahreswechsel ein Präsent. Die Müllmänner sogenannte Stumpen, der Postbote eine Flasche Wein oder eine Schachtel Pralinen. Bei der heutige Flüchtigkeit und dem steten Wechsel der sogenannten Postdienstleister kennt keiner und keine keinen und keine mehr. Anonymität, Hektik und Fluktuation bestimmen die Signatur des Zeitalters. An dieser emotionalen Auszehrung wird die Welt letztlich zugrunde gehen. Wenn wir nicht an der Hitze sterben, die der Klimawandel mit sich bringt, dann an der sozialen Kälte, die mit der Universalisierung der Waren- und Geldbeziehungen und deren psychischen Korrelatformen einhergeht: Schonungs- und Rücksichtslosigkeit, moralische Indifferenz und eine frei flottierende Aggressivität.

Über weite Strecken der neueren Geschichte haben wir noch in einer Übergangsgesellschaft gelebt, in der noch etliche Residuen der vorbürgerlich-feudalen Welt fortexistierten. Gerade was das menschliche Zusammenleben anging, zehrte die bürgerliche Gesellschaft von diesen Traditionsbeständen. Eltern vermittelten ihren Kindern Haltungen und moralische Vorstellungen, die noch einen gewissen Respekt vor dem Leben der anderen beinhalteten. Im Zuge der vollständigen Durchökonomisierung gehen diese Dimension nun verloren und es entsteht auf der Subjektseite ein vollkommenes Markt- und Geldsubjekt, ein bis ins Innerste von der Warenform geprägter, kapitalistischer Mensch. Das Unbehagen vieler Menschen über die Gegenwart ist dem Umstand geschuldet, dass der Kapitalismus auf seiner jetzigen Entwicklungsstufe alle noch verbliebenen Formen von Gemeinschaftlichkeit zerstört und, wie Marx es schon vor über 150 Jahren vorhergesagt hat, nichts übrig lässt als die „gefühllose, bare Zahlung“. Die Logik von Ware und Geld dringt in die feinsten Poren des Alltagslebens vor und durchdringt die Menschen bis in ihre intimsten Regungen. Emotionale Bindungen an Menschen, Orte und Berufe schränken Flexibilität und Fungibilität ein und werden als irrationale Reste getilgt. Am Ende dieses Prozesses steht ein Mensch, der sich nur an seinem Fortkommen und seinem individuellen Nutzen und Gewinnchancen orientiert und sich von keinerlei moralischen Skrupeln aufhalten lässt. Auf der Alltagsebene macht sich das daran bemerkbar, dass immer mehr Bereiche ohne die kostenlose, informelle Zuarbeit der sogenannten Mitarbeiter nicht mehr funktionieren und die Menschen das Gefühl haben, dass alles aus den Fugen gerät. Den Bewohnern der Geldwelt verschlägt es die Sprache, ihre Gefühle werden taub und stumpf und sie können sich ihre Zuneigung nicht gestehen, weil diese ihre ökonomische Funktion und ihre Mobilität behindern könnte. Verwaltung, Ökonomie, Tauschwert und Rechtskalkül bestimmen die Kommunikation und bilden die Sittlichkeit der kapitalistischen Welt, ihre zweite Haut und das unsichtbare Band aller Handlungen. An der vollständigen Durchkapitalisierung aller Lebensbereiche wird die Welt letztlich zugrunde gehen, weil ein solche Welt nicht aushalt- und lebbar sein wird. Der vollendete, weltumspannende Kapitalismus lässt kein Entrinnen mehr zu und setzt scheußliche Entwicklungen in Gang, die das gesellschaftliche Leben auflösen könnten. Murray Bookchin schreibt in einem Essay mit dem optimistischen Titel „Die Zukunft der Linken“: Der Kapitalismus „verdrängt althergebrachte solidarische und gemeinschaftliche Bindungen durch eine alles durchdringende Habsucht, durch das Verlangen nach Reichtum, durch ein System einer auf Gewinnmaximierung gerichteten moralischen Buchführung und durch eine herzlose Gleichgültigkeit gegenüber der Verzweiflung Armer, Älterer und körperlich Beeinträchtigter. Es wäre falsch zu behaupten, dass Habsucht und Herzlosigkeit in der Vergangenheit nicht zum Kapitalismus gehört hätten. Doch früher war die Bourgeoisie noch recht marginal und anfällig für die Bevormundung durch die grundbesitzende Aristokratie; die vorindustriellen Normen hielten die Kapitalisten mehr oder weniger in Schach. Dann aber brachte die Marktwirtschaft eine immer weiter verbreitete und unbändige kapitalistische Gesinnung der Selbstverherrlichung und gefühlskalten Ausbeutung hervor.“ Schriftsteller wie zum Beispiel Hauff, Dickens, Balzac oder Zola wurden zu Chronisten der Durchsetzung des Kapitalprinzips und der mit ihm verbundenen Kaltherzigkeit. Erst in der Gegenwart steuert dieser Prozess auf seine Vollendung zu. Die vom Kapitalismus auf seiner gegenwärtigen Entwicklungsstufe vorangetriebenen Flexibilisierungs- und Mobilisierungsschübe bringen auf der Innenseite einen Schwund all der Eigenschaften mit sich, die wir bis dato für die eigentlich menschlichen angesehen haben. Alles, was ihnen das Fortkommen unter den Bedingungen des flexiblen Kapitalismus erschwert, wird von den um ihre Anpassung bemühten Menschen wie Ballast abgeworfen. Zurück bleibt jene „unbekümmerte Rücksichtslosigkeit“, die man vor Kurzem noch für ein Symptom der Psychopathie und ein Krankheitszeichen gehalten hat. Sie scheint zur Kardinaltugend des flexiblen Menschen zu werden. Die neuen kapitalistischen Menschen, die von Wirtschaft und Gesellschaft gefordert und benötigt werden, sollen alle Hemmungen ablegen – damit sie zu allem fähig werden. So ist denn auch, und das macht das Leben in unseren Gesellschaften mehr und mehr unerträglich. Gesellschaften dürfen nicht als Ganze dem Markt und deinen Funktionsprinzipien unterworfen werden, sonst kommt es gehäuft zu Dysfunktionen und Ausfallerscheinungen. Ganze Sektoren der Gesellschaft, wie zum Beispiel das Gesundheits- und Bildungssystem, müssen von den Marktgesetzen und dem Tauschprinzip freigehalten werden. Gesellschaften bedürfen ungleichzeitiger Teilsysteme, wenn sie funktionstüchtig bleiben wollen. Es darf nicht alles „auf der Höhe der Zeit“ sein, zumal dann, wenn diese Zeit eine von Geld und Kapital dominierte und ihnen unterworfene ist. Städte brauchen, wenn sie bewohnbar bleiben wollen, Öffentlichkeit, und die braucht Platz und nicht kommerziell genutzte Flächen. Sie brauchen kleine, fast dörfliche Inseln der Besinnung, kleine Läden, wo man einander kennt und sich umeinander sorgt. Wenn alles Überflüssige, alle Um- und Abwege beseitigt und alle Flüsse begradigt sein werden, wenn nirgends mehr eine Kassiererin an der Kasse und kein Postangestellter hinter seinem Schalter hockt, dann werden wir merken, was wir angerichtet haben. Aber dann wird es zu spät sein.

Freund Ingo, der das Experiment mit mir und ChatGTP durchgeführt hat, vermutet: „Wir werden in den kommenden Jahren wohl Zeugen eines dramatischen Wettrennen werden. Werden die Maschinen noch rechtzeitig intelligent genug, um den Laden zu schmeißen, bevor die Menschheit völlig verblödet?“ … und moralisch verwildert und den Karren gegen die Wand fährt, was inzwischen so sicher ist, wie das Amen in der Kirche. Aber das kennt ja auch niemand mehr.

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Ich habe mich über die Übersetzung der Texte von Murray Bookchin, die in dem im Unrast-Verlag erschienenen Band „Die nächste Revolution“ versammelt sind, so geärgert, dass ich dem Verlag eine E-Mail geschrieben habe, die ungefähr so geht:

Liebe Unrastler_innen,

mit dieser Anrede sind wir schon mitten im Thema. Ich habe mich in der letzten Ausgabe meines Blogs mit Murray Bookchin beschäftigt und in diesem Zusammenhang sein bei euch erschienenes Buch „Die nächste Revolution“ zu lesen versucht. Es fiel mir unglaublich schwer – wegen des krampfhaften Genderns. Ältere, bei Karin Kramer erschienene, Texte von Bookchin lassen sich gut lesen und ich konnte ihnen meist folgen. In eurem Band sind Klöpse enthalten, die mir das Lesevergnügen verdorben haben. Ich meine Stellen wie diese – auf Seite 211: „Die klassische Linke, und besonders Denker_innen wie Marx …“, oder auf der gleichen Seite: „… libertäre Denker_innen wie Bakunin, Kropotkin und Malatesta …“ Wenn unter den erwähnten Denkern zum Beispiel Rosa Luxemburg und Emma Goldman wären, wäre gegen die Denker_innen nichts einzuwenden, aber solange nur Männer aufgelistet werden, finde ich es albern. Ein paar Seiten weiter heißt es: „Der von mogolischen Reiter_innen geführte Schlag aus den Steppen Zentralasiens …“ Waren unter den mongolischen Reitern damals tatsächlich Frauen? Das sind nur ein paar Beispiele dafür, wie man einen Text verhunzen und ungenießbar machen kann. Der wichtige Essay „Die Zukunft der Linken“ scheint mir zusätzlich schludrig und holprig übersetzt zu sein. Es macht jedenfalls keine Freude, ihn zu lesen. Und das ist schade und vollkommen unnötig. Seine Texte stellen richtige Fragen und enthalten wichtige Hinweise.

Tut mir leid, aber das musste ich loswerden – bei aller Wertschätzung für euer tolles Programm.

Unvergessen ist bei mir die Lektüre von Simon Schaupps Buch „Der kurze Frühling der Räterepublik“, über die Geschichte der Revolution in Bayern am Ende des Ersten Weltkriegs. Ich habe das ebenfalls im Unrast-Verlag erschienene Buch im Jahr 2018 unter der Überschrift „Der kurze Frühling der Anarchie“ für die Nachdenkseiten rezensiert, für die ich seit der Corona-Zeit, und erst recht seit dem russischen Überfall auf die Ukraine, nicht mehr schreibe.

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Anfang November erhielt Lutz Seiler in Darmstadt den Büchner-Preis. Zu dieser Zeit begannen wir, uns den neueren seiner beiden Romane – „Stern 111“ – vorzulesen. Heute, nach beinahe zwei Monaten, sind wir damit zum Ende gekommen. Uns hat die gemeinsame Lektüre und das laute Vorlesen eine Menge gegeben. „Stern 111“ ist ein Buch, das ich euch zur Lektüre empfehlen kann. Ein guter Roman über eine interessante Zeit des Umbruchs und der Neuanfänge. Er zieht von Gera nach Berlin, die Eltern landen am Ende einer längeren Odyssee in Los Angeles. Immer herrscht das Gefühl vor, das Leben mit der zweit- oder drittbesten Möglichkeit zu überbrücken. Es ist jedenfalls anderswo, wie Rimbaud vermutete. Ich freue mich bereits auf Seilers nächsten Roman, der hoffentlich in Arbeit ist und bald erscheinen wird.

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Am Tag vor Heiligabend waren U und ich im Licher Kino und haben den neuen Film von Wim Wenders gesehen. Er erzählt vom Alltagsleben von Hirayama, der in Tokio mit Hingabe öffentliche Toiletten putzt. Geweckt wird er morgens vom Geräusch eines Reisigbesens, mit dem in der Nachbarschaft der Gehweg gefegt wird, auf dem Weg zur Arbeit zieht er sich aus einem Automaten einen Kaffee und dann wählt er sich die zum jeweiligen Tag passende Musik aus, die von uralten Kassetten abgespielt wird. Eine besondere Vorliebe besteht für Patti Smith und Lou Reed. Abends rollt er sein Futon aus und liest ein paar Seiten in einem antiquarisch erstandenen Taschenbuch. Der Film führt uns eindringlich vor Augen, dass es das Alltagsleben mit seinen Routinen und Wiederholungen ist, das unserem Leben Zufriedenheit, Inhalt und Sinn geben muss. „Train-train“ nennt man in Frankreich das Alltagsleben, wobei man Bezug nimmt auf das gleichförmige Geräusch eines über Schwellen fahrenden Zuges. Es ist in all seiner Monotonie doch das Geräusch des Lebens.

Dann möchte ich noch eine dicke Lanze für das neue Buch vom Uwe Timm brechen, in dem er von seiner Zeit als Kürschnerlehrling in Hamburg berichtet und das „Alle meine Geister“ heißt. Der Roman führt uns in die längst versunkene Welt eines fast ausgestorbenen Handwerks und der Menschen, die ihm nachgingen und von und mit ihm lebten. Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen Handwerk und der Kunst des Erzählens, die in seinen Ritzen und Poren zu Hause war. Mit dem Handwerk stirbt auch das Erzählen aus und wird ebensowenig noch weitergegeben wie die handwerklichen Fertigkeiten. Ein wundervolles Buch der Erinnerungen, das dort endet, wo „Der Freund und der Fremde“ einsetzt: mit dem Wechsel zum Braunschweig-Kolleg, auf dem man als Quereinsteiger das Abitur machen konnte. Dort begegnete Uwe Timm Benno Ohnesorg, mit dem ihn eine Freundschaft und die Begeisterung für Albert Camus‘ Roman „Der Frende“ und den französischen Existenzialismus verband. Lange bevor alles anfing und traurig endete. Von den Ereignissen, die zu Ohnesorgs Tod führten, berichtet Uwe Timm in seinem ersten Roman „Heißer Sommer“.

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Gestern (am 26.Dezember) meldete die Tagesschau, dass die Zahl der Fehltage wegen psychischer Erkrankungen noch nie so hoch war wie im Jahr 2022. Sie stieg um sechs Millionen auf 132 Millionen Tage. Innerhalb der letzten zehn Jahre hat sich die Anzahl der Fehltage wegen psychischer Belastungen mehr als verdoppelt. Verantwortlich für diese Steigerung seien die zahlreichen Krisen, die den Menschen zu schaffen machten, gestiegene Arbeitsbelastungen, Personalmangel und die mit der Digitalisierung verbundene Veränderungsdynamik, die viele Arbeitnehmer überfordere. Man könnte auch kurz sagen: der Kapitalismus. Aber das heißt ja schon lange nicht mehr so. Man nennt das heute „der Markt“, an dessen ehernen Gesetzmäßigkeiten gibt es nichts zu rütteln und zu ändern. Denen muss man sich unterwerfen, an die muss man sich bei Strafe des Untergangs anpassen. Wer das nicht hinbekommt, bleibt auf der Strecke. „Angebot und Nachfrage regle die Wirtschaft, der Schwache werde zerquetscht. Klare Sache und damit hopp!“ Mit diesen Worten erklärte Vater Kempowski seinen Söhnen beim abendlichen Gang durch die Straßen Rostocks die Funktionsweise der Wirtschaft.

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Vor meinem Fenster kreist ein Taubenschwarm, der mir schon letzten Winter aufgefallen ist. Unermüdlich drehen die circa zwölf Vögel ihren Runden um den Block. Nach drei bis vier Umkreisungen lassen sie sich zum Ausruhen kurz auf dem Dach des Nachbarhauses nieder. Dann geht es weiter, in einem kleinen Schwarm und in wilder Jagd. Die Flügel blitzen im Licht. Die Vögel genießen den Rausch des Fliegens, ihr Tun verfolgt sonst keinen Zweck. Es ist eine Feier des Nutz- und Zwecklosen.

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„ … so wie die Dinge heute stehen, halte ich den Optimismus für den schlimmsten Feind der Menschheit, egal in welcher Form er sich äußert. Er entspricht nämlich schlicht und einfach einer Weigerung zu denken, aus Angst vor den Schlussfolgerungen, zu denen man gelangen könnte.“

(Noberto Bobbio)

Am Ende eines Gesprächs über den an den Universitäten um sich greifenden „Wokeismus“ wird Alain Finkielkraut von der Neuen Züricher Zeitung gefragt, ob er auch „Heimweh im eigenen Land“ verspüre, und antwortet: „Frankreich verändert sich schnell und dramatisch. Wenn es so weitergeht, wird das Land eines Tages nicht mehr wiederzuerkennen sein. Die Katastrophe sei, wenn die Dinge ihren Lauf nähmen, befand Walter Benjamin. Neulich stand ich vor meinem Haus, und ein Mann kam ganz nah an mein Ohr und schrie: ‚Fahr zur Hölle, fahr zur Hölle!‘ Er wiederholte die Drohung, aber er ging, zum Glück. Es sieht so aus, als ob die Dinge ihren Lauf nehmen. Deshalb empfinde ich diese Angst, dieses seltsame Heimweh.“

Das zum Jahreswechsel dominante Gefühl ist auch hierzulande, dass „alles de Bach ennunner geht“, wie man in Hessen sagt. Optimismus ist selten geworden und beruht da, wo er noch anzutreffen ist, mehr denn je auf einem Mangel an Information, wie Heiner Müller bemerkte. Es ist schwer, uns einen Trost zu erfinden. Trifft man ältere Leute, sagen die häufig: „Ich bin froh, dass ich das Ende nicht mehr miterleben werde!“ Und wie schwer fiel es Menschen früher, sich von ihrer irdischen Existenz zu verabschieden! Gerade zum Jahreswechsel melden sich all die Zwangs- und Berufsoptimisten zu Wort, die immer behaupten: Dass es jetzt Nacht ist, ist die Garantie dafür, dass es morgen wieder hell wird! Olaf Scholz wird uns heute Abend nach der Tagesschau eine Kostprobe dieses wohlfeilen Optimismus‘ liefern.