90 | Die Lehnitzsee-Konferenz und die „Endlösung“ der Migrantenfrage

„Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Danach war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf. Drohende Diktaturen lassen sich nur bekämpfen, ehe sie die Macht übernommen haben.“

(Aus einer Rede von Erich Kästner aus dem Jahr 1958, die er anlässlich des 25. Jahrestages der Bücherverbrennung gehalten hat)

Noch nie habe ich das Perverse am Silvesterböllern so deutlich empfunden wie gestern Nacht. 1500 Kilometer von hier schlagen Tag für Tag und Nacht für Nacht Raketen ein, die Tod und Verderben über die Menschen in der Ukraine bringen, und hier werden aus Jux und Tollerei Raketen abgeschossen und Kanonenschläge geworfen. Aus Respekt vor den Opfern des realen Angriffskriegs und aus Mitgefühl mit ihrem Leid hätte man hierzulande aufs Böllern verzichten und das eingesparte Geld für die Kriegsopfer spenden sollen. An Silvester 2022 haben die Bundesbürger rund 180 Millionen Euro für Böller und Raketen ausgegeben. Mit diesem Geld könnte man eine ganze Menge vernünftiger Dinge und Projekte finanzieren. Aber unsere Mitbürger und Mitbürgerinnen sind, wie sie sind und verschließen ihre Herzen gegen weiche Regungen: „Was geht mich die Ukraine an?“ Wer über intakte menschliche Empfindungen verfügt, für den sollte sich von selbst verstehen, dass man keine Silvesterraketen abfeuert, wenn anderswo auf der Welt gleichzeitig ganze Städte und Dörfer in Schutt und Asche gelegt, Menschen getötet und ihnen Gliedmaßen abgerissen werden. Hier im Dorf am Edersee wurde geböllert wie eh und je. „Ihr werdet sehen: Der Habeck wird uns noch das Silvesterfeuerwerk verbieten“, hörte ich hier und da Volkes Stimme. Einige wenige empfanden wie ich, wandten sich bald zum Gehen und zogen sich in die Wohnstuben zurück. Beim Denken ans neue Jahr wird mir ganz plümerant. „Finsternis bedeckt die Erde“ (Jerzy Andrzejewski). Die bösen Geister, die uns bedrohen, können mit Böllern und Feuerwerk nicht vertrieben werden. Da hülfe nur solidarisches Handeln, aber das ist im hinreichendem Maß nicht in Sicht. Jonathan Franzen hat im Gespräch mit dem Magazin FUTURZWEI der Tageszeitung „taz“ daran erinnert, dass  der sowjetische Schriftsteller Wassili Grossman nach den schlimmsten Jahren Europas, nach Nationalsozialismus und Stalinismus, als Antidot gegen den Terror empfohlen hat, wir sollten freundlich – „kind“ – zueinander sein und miteinander umgehen. Grossman hatte im engeren Sinn keine politische Lösung, deshalb schrieb er dieses gewaltige Buch „Leben und Schicksal“, dessen Kernthese lautet: Was können wir tun? Wir können versuchen, freundlich zueinander zu sein. Franzen empfiehlt diese Haltung vor allem als Gegenmodell zum Hauen und Stechen in den Hassmaschinen der sogenannten „sozialen Medien“. Das mag in den Ohren hartgesottener Politprofis und Klassenkämpfer naiv klingen, ist aber gerade wegen seiner vermeintlichen Weltfremdheit von einer subversiven Kraft und Radikalität. Peter Bückner schrieb vor 50 Jahren in seinem Buch „Schülerliebe“ sinngemäß und gleichsinnig: Erst in einer solidarischen, egalitären Gesellschaft mit Freundlichkeit als vorherrschendem Kommunikationsstil wird den Menschen nicht mehr so viel Bosheit eingepresst, die sie im Vorurteil gegen Minderheiten und im Wüten gegen die Natur entweichen lassen.

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„Es war ihr bewusst, dass ihr maßlose Gedanken im Kopf herumschwirrten, aber, lieber Gott, dachte sie, ich möchte nur nicht, wenn ich schon sterben muss, wie ein kleiner Kieselstein von dieser Erde rollen, ein kleiner Kieselstein, der keine Geräusche macht.“

(Maja Haderlap)

Anfang Januar fuhren wie den See entlang nach Bad Wildungen. Beim letzten Besuch der dortigen Buchhandlung war uns ein Fauxpas unterlaufen. Wir hatten in Büchern gestöbert und uns dann auf einen Cappuccino in die Café-Ecke der Buchhandlung gesetzt. Ich hatte ein Buch von Patti Smith mit an den Tisch genommen und in ihm herumgeblättert. Als wir gehen wollten, fragte U, ob ich bereits gezahlt hätte. Ich sagte, dass ich das erledigt hätte, bezog das aber nur auf die beiden Tassen Cappuccino. U dagegen ging davon aus, dass ich auch das Buch von Patti Smith bereits bezahlt hätte und packte es in ihren Rucksack. Abends beim Auspacken bemerkten wir den Irrtum und beschlossen, unseren Fehler beim nächsten Besuch in Bad Wildungen zu korrigieren. Das tat ich nun gestern. Die beiden jungen Buchhändler waren gerührt über mein Geständnis und ich beglich mit zweimonatiger Verspätung die Rechnung. Der junge Mann sagte, er lese dieses Buch von Patti Smith auch gerade und sei begeistert von ihm und ihr als Person und Musikerin. Als ich später noch mit dem neuen Buch von Michael Krüger zur Kasse kam, schwärmte er er mir auch von diesem Buch vor, das er bereits verschlungen habe. Es handelt sich um einen Band mit autobiographischen Texten und Erinnerungen an Begegnungen mit Schriftstellerkollegen. Schon beim kurzen Blättern nahm mich das Buch gefangen und ich begann sofort nach unserer Rückkehr in die Ferienwohnung mit der Lektüre. Zuvor hatten wir noch dem Brillenapostel in der Stadtkirche unsere Aufwartung gemacht, der auf dem Flügelalter von Conrad von Soest zu sehen ist, der aus dem Jahre 1403 stammen soll. Der fragliche Apostel hält eine elegant geformte, weiße Lesehilfe zwischen Daumen und Zeigefinger und liest in einem Buch. Dieses kleine Detail des riesigen Altarbildes hat mich sofort beeindruckt, als ich es vor vielleicht zehn Jahren zum ersten Mal erblickte. Auf dem Heimweg hingen Wolkenfetzen wie zerrupfte Wattebäusche in den Bäumen über dem See. Als Geburtstagsessen gab es abends Bratwurst mit Rotkohl und Klößen, seit Kindertagen eins meiner Leibgerichte, das ich mir früher oft gewünscht hatte. Während U sich später einen Film in der Glotze anschaute, begann ich, im Buch von Michael Krüger zu lesen, das mich schnell in seinen Bann zog. Es war ein rundum gelungener Geburtstag.

Während der Woche am Edersee haben wir uns den Roman „Nachtfrauen“ der Österreicherin Maja Haderlap gegenseitig vorgelesen. Der Roman schildert im Wesentlichen das Leben zweier Frauen aus verschiedenen Generationen, die in einem Dorf in Kärnten, an der Grenze zu Slowenien leben. Die Sprache ist so sinnlich und herb wie das entbehrungsreiche und noch immer von natürlichen Rhythmen bestimmte Leben. Großmutter Agnes lebt noch in der inzwischen von der Moderne angenagten bäuerlichen Welt, in der es noch Geister gibt und der Aberglaube lebendig ist. Auch Mutter Anni steht noch mit einem Bein in dieser archaischen Welt, während Mira zum Studium nach Wien gegangen ist und sich von der dörflichen Welt gelöst und emanzipiert hat. Jetzt, da Mira vorübergehend ins Dorf zurückgekehrt ist, brechen alte, verschleppte Konflikte zwischen Mutter Anni und Tochter Mira auf und zwingen sie zu späten Klärungsversuchen. Ein absolut lesens- und empfehlenswertes Buch, das 2023 im Suhrkamp-Verlag erschienen ist.

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„Ich wollte etwas wissen, das den anderen nicht zugänglich war, konnte aber nicht erklären, was es war; es ließ sich nicht in Worte fassen. Es war eine unbestimmte Sehnsucht in mir, die unbestimmt blieb.“

(Michael Krüger)

Am Sonntag nach unserer Rückkehr vom Edersee wurde ich früh vom Jaulen eines Martinshorns aus dem Schlaf gerissen. Die ganze letzte Woche über hatte ich kein einziges vernommen, nun waren es bis neun Uhr bereits fünf oder sechs. Ich lag also morgens im Bett und las weiter Michael Krüger. Der Text „Strandbad Wannsee – Szenen einer Nachkriegskindheit“ hat mich beeindruckt und mit seinem Detailreichtum meine Hirnantilope auf Trab gebracht. Wenn er zum Beispiel davon berichtet, wie seine Mutter einmal in der Woche in einem großen Topf Kochkäse herstellte und Michael und seine Geschwister den dann Tag für Tag in der Schule wegessen mussten. Michael hatte Glück, denn einer seiner Mitschüler hatte Geschmack an dem stinkenden Käse gefunden und tauschte ihn gegen seine Salamibrote, die wiederum für Michael der Inbegriff der Köstlichkeit waren. Auch bei uns zu Hause wurde Kochkäse hergestellt und gegessen, zum Tauschhandel auf dem Pausenhof eignete er sich allerdings nicht. Meine Hirnantilope sprang prompt zu Herrn Köster, der bei uns als Untermieter wohnte. Er war junger Studienassessor an einem Kasseler Gymnasium und unterrichtete Mathematik. Das machte ich mir irgendwann zunutze und suchte ihn auf, wenn ich im Unterricht etwas nicht kapiert hatte oder mit den Hausaufgaben nicht zu Potte kam. Mein Abitur verdanke ich meinem Onkel Otto, der pensionierter Latein- und Griechischlehrer war und in der Nachbarschaft wohnte, und eben diesem Herrn Köster, der in einer Dachkammer neben meinem Kinder- und Jugendzimmer lebte. Wenn wir mit den Matheaufgaben durch waren, begann Herr Köster seinen Schreibtisch von Papier und Büchern zu befreien und in einen Esstisch zu verwandeln. Mittags verspeiste er nach der Schule in einer Kneipe neben seiner Schule das Tagesmenü, abends gab es eine Brotzeit, die aus Graubrot, Butter, Salami, Camembert und sauren Gurken bestand. Mich faszinierte besonders der Camembert, der in einer Schachtel aus Spanholz lag, auf der ein dicker, rotbackiger Mönch zu sehen war. Der Käse war von einer pelzigen Schimmelschicht überzogen, die man zu meinem Erstaunen mitessen konnte. Herr Köster bemerkte meine sehnsüchtigen Blicke und bot mir irgendwann ein Stück vom Camembert an. Er reichte es mir auf der Schneide seines Messers und ermunterte mich, es ruhig ohne Brot zu verzehren. Der Käse schmeckte köstlich und eröffnete mir eine neue kulinarische Welt. Bei uns gab es nur mit Schnittlauch angemachten Quark und einen Stinkkäse, der in Kümmel gewälzt worden war und „Harzer Roller“ hieß. Noch nie im Leben hatte ich etwas derart Köstliches gegessen, wie den französischen Camembert des Herrn Köster. Regelmäßig öffnete er zum Abendessen eine Flasche Bier, die aus der Hütt-Brauerei stammte, die in Baunatal ansässig war. Wenn das Abendessen beendet war, gönnte er sich gelegentlich eine Nil-Zigarette, die oval geformt war und in einer blauen Schachtel mir weißen Aufdruck lag, die man aufklappen konnte. Die Zigaretten waren innen nochmal mit einem Silberpapier bedeckt, das man anheben musste, um an eine Zigarette zu gelangen. Auch Otto Dix, den Herr Köster sehr verehrte, habe Nil geraucht, erklärte er mir bei einer dieser Gelegenheiten. Den Namen Otto Dix durfte ich in Gegenwart meiner Eltern nicht erwähnen. Der galt weiter als „entartet“ und „undeutsch“. Bei Herrn Kösters Bemühungen, mir die Geheimnisse der Mathematik näher zu bringen, fiel mir ein Phänomen auf, das ich schon von den handwerklichen Belehrungen meines Vaters kannte: Ich hörte Herrn Kösters Stimme, der Inhalt des Gesagten erreichte mich aber nicht wirklich. Ich schaltete unwillkürlich auf Durchzug, wie man damals sagte, und reagierte nur mechanisch auf seine Erklärungen. So geht es mir noch heute, wenn eine Bankmitarbeiterin mir die Vorzüge einer bestimmten Anlageform oder ein Freund einen Vorgang im Computer erklären will. Ich höre, was sie sagen, schnalle aber in Wirklichkeit nichts. Was mich nicht interessiert, erreicht mich auch nicht.

Wenn man zu Herrn Kösters Zimmer gelangen wollte, musste man Teile des Dachbodens durchqueren, in denen mein Vater neben vielem anderen Kram ganze Jahrgänge der „Hessischen Allgemeinen“ aufbewahrte. Alte Zeitungen wurden in jeden Jahren, die von heute aus gesehen noch zur Nachkriegszeit gehörten, „für alle Fälle“ aufbewahrt. Notfalls, also wenn „der Russe“ käme, würde man mir ihnen heizen können. Als wir vorn an den Garagen und auf dem nahegelegenen Feld zu kicken begannen, erwachte mein Interesse auch an schon länger zurückliegenden Fußball-Berichten, und ich begann, die Montagsausgaben der Hessischen Allgemeinen zu durchstöbern. Tagelang hockte ich auf dem Boden uns las alte Spielberichte über Begegnungen des KSV mit dem FC Augsburg, der Spielvereinigung Fürth, dem SSV Reutlingen, dem 1. FC Nürnberg, Bayern Hof oder dem TSV 1860 München, der zu dieser Zeit tonangebend war. Besonders dem Mittelstürmer der 60er, Rudi Brunnenmeier, galten meine Sympathien. Der verlor nach seinem Karriereende den sozialen Halt und stürzte ab. Er hatte schon länger dem Alkohol wohlwollend gegenübergestanden, nun versank er in ihm. Er arbeitete er als Rausschmeißer, Brezelverkäufer und Gelegenheitsarbeiter, um seinen Alkoholkonsum finanzieren zu können. Irgendwann kam er wegen einer veritablen Wirtshausschlägerei sogar für kurze Zeit ins Gefängnis, später noch einmal etwas länger, weil er alkoholisiert Auto gefahren war. Dieser Absturz meines Idols, der ja immerhin auch einige Male in der Nationalmannschaft gespielt hatte, griff tief in meine jugendliche Phantasie und beschäftigte mich. Als er als Trainer eines bayrischen Provinzvereins entlassen worden war, kündigte er an: „Jetzt saufe ich mich tot.“ Das ist ihm dann auch gelungen. Rudi Brunnenmeier starb im Jahr 2003 an den Folgen seiner Sucht.

Zurück zu Michael Krüger. Er schildert die Sommertage im Strandbad Wannsee samt der erotischen Sensationen, die mit diesen Besuchen verbunden waren. Alle Wege wurden mit dem Rad zurückgelegt, das man, ohne es abzuschließen, abstellen konnte und in aller Regel dann auch wieder vorfand. Das Wichtigste war, stets Flickzeug mit sich zu führen, denn einen Platten hatte man alle naslang. Das Flickzeug wurde in einer ledernen Tasche aufbewahrt, die unter dem Sattel angebracht war. Ständig sah man jemanden, der sich über sein auf den Kopf gestelltes Rad beugte und den Mantel herunterwürgte, um an den defekten Schlauch zu kommen und den Flicken aufbringen zu können. Die Kunst des Fahrradflickens beherrschte damals jeder und jede.

Der Text von Michael Krüger hat mich an das Buch von Nicolaus Sombart erinnert, von dem ich letztes Jahr in Folge 81 der DHP berichtet habe. Dieser war rund zwanzig Jahre älter als Krüger, stammte aus dem Berliner Nachbarstadtteil Grunewald und aus einem ähnlichen bürgerlich-liberalen Milieu. Auch Sombart schreibt in einem humorvollen Stil über seine Kindheit in Berlin und von Begegnungen mit mehr oder weniger bedeutenden Zeitgenossen. Beide Bücher und Autoren könnten als Beleg und Zeugen für mein Loblied auf eine nicht-faschistische Bürgerlichkeit dienen, das ich auf Telepolis unter der Überschrift „Was könnte das sein, ein nicht-faschistischer Bürger?“ im Mai 2022 angestimmt habe.

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Die zahlreichen Berichte über das Scheitern pädagogischen Handelns und die moralische Verwilderung unter Erwachsenen legen die Interpretation nahe: Gegenwärtig sind die Gesellschaften des losgelassenen Marktes und der entfesselten Technik dabei, die Formen zu zerstören, in denen bürgerliche Kultur sich traditionell menschliche Natur geeignet hat. Die Herausbildung psychischer Strukturen, die primäre Vergesellschaftung des Individuums geschah im Schonraum der Familie, also unter dem Einfluss von leibhaftig anwesenden Menschen, die sich idealiter bei ihrem Handeln von einer alternativen Logik und einer den kindlichen Entwicklungsrhythmen angemessenen Zeitstruktur leiten ließen. Die kulturelle Formierung von ‚Natur‘, Trieben – Libido wie Aggression – kann nur innerhalb eines Typus von menschlichen Beziehungen gelingen, der – gemessen an der Logik des Industriesystems – irrationale Momente enthält. Von Waren und wie eine Ware kann menschliche Identität (und ironischerweise letztlich auch menschliche Arbeitskraft) nicht gefertigt werden. Nur solange die Familie also rückständig ist, ist sie in ihrer Gratisleistung für das Kapital einigermaßen zuverlässig. Gegenwärtig werden im Namen von Deregulierung, Mobilität und Flexibilität die Bedingungen der Sozialisation der Heranwachsenden zerstört. Die Form zu zerbrechen, in der sich Kultur Natur aneignet, Pflege und Erziehung zu rationalisieren, das ‚Barzahlungsprinzip‘, den Tausch einzuführen, das ist ein Akt, der letztlich auch die Expansion des Kapitals stilllegen könnte, weil er die Individuen, also auch die Ware Arbeitskraft, ruiniert. Die sozialisierende Funktion der Familie, die an der in ihr fortbestehende alternative Logik menschlicher Beziehungen gebunden ist, wird zerstört. Oskar Negt schreibt in seinem Buch „Philosophie des aufrechten Gangs“: „Zum ersten Mal in der Geschichte sind die wirtschaftlichen Mächte damit beschäftigt, in einer totalisierenden Warenproduktion Bindungen bewusst zu zerstören.“

Die Bindung der Libido an Objekte, Symbolisierungs- und Sublimierungsfähigkeit sind die Vorbedingungen eines jeden gesellschaftlichen Zusammenlebens, ja des Humanen selbst. Selbst Rhesus-Affen verkümmern, wenn sie von und an Drahtmüttern aufgezogen werden. Ein Stück geglückter anfänglicher Bemutterungserfahrung ist unerlässlich, damit sich basale Ich-Strukturen als Voraussetzung von Symbolisierung, Sublimierung und Frustrationstoleranz ausbilden können. Solange die Menschen sich noch nicht zu Automaten entwickelt haben, die auf Zeichen und digitale Kommandos zuverlässig reagieren, braucht die Gesellschaft irgendein moralisches Minimum, das nur im Austausch mit leibhaftigen Menschen erworben werden kann. Sonst geht nichts mehr und alles löst sich auf. Ich sehe, dass wir uns auf dem Weg zu einem solchen Zustand befinden.

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Seit den frühen Morgenstunden fahren die Bauern auf Traktoren durch die Stadt, unterstützt von LKWs von Speditionen und etlichen Handwerkern. Das permanente und an Schiffshörner erinnernde Hupen der Traktoren und LKWs vermischt sich mit dem Jaulen der Martinshörner zu einer schwer erträglichen und an den Nerven zerrenden Kakophonie. Da es den Bauern im Schnitt ökonomisch gar nicht so schlecht gehen soll in letzter Zeit, müssen die Gründe für ihre Unzufriedenheit woanders liegen. Darüber hinaus gibt es große Unterschiede zwischen der Lage der industrialisierten bäuerlichen Großbetriebe und den kleineren Familienbetrieben, die ganz anders und viel weniger an den Subventionstöpfen partizipieren. Im Osten Deutschlands kaufen Großinvestoren riesige Ländereien auf, kleinere Betriebe leiden. Für sie mag die Kürzung der Agrardiesel-Subventionen existenziell sein. Ich vermute dennoch die Protestgründe eher im Feld dessen, was man sozialen Narzissmus nennen könnte, also eher der Anerkennungs- und Aufmerksamkeitsökonomie. Wir haben es mit einer Facette des Stadt-Land-Antagonismus zu tun. Stadtbewohner neigen dazu, die bäuerliche Bevölkerung als tölpelhaft und rückständig zu betrachten und arrogant und „von oben herab“ zu behandeln. Die Berliner Hipster, die in ihren Szenelokalen ihren Latte Macchiato schlürfen, sind sich oft gar nicht darüber im Klaren, dass die Milch, die sie trinken, von Kühen stammt, die von Bäuerinnen und Bauern gemolken werden müssen und gemolken werden. Sie, und nicht nur sie, leben in einer Blase, in die die nicht nur duftende Landluft nicht eindringt. Um 1900 herum machten die Bauern noch die Hälfte der Bevölkerung aus, heute sind nur noch eine Million Menschen in der Landwirtschaft beschäftigt, also etwa zwei Prozent der Erwerbstätigen. Das Land und die der bäuerliche Teil der Bevölkerung fühlt sich nicht hinreichend beachtet und macht sich nun lautstark bemerkbar. Als Breschnew nach Deutschland kam, fragte er Willy Brandt noch am Flughafen: „Wie war die Ernte, Herr Bundeskanzler?“ Brandt wusste es nicht und musste sich erst kundig machen. An dieser kleinen Geschichte merkt man den Schwund der Bedeutung der Landwirtschaft in einem hochindustrialisierten Land.

Die Bauernproteste sollen angeblich die ganze Woche über fortgesetzt werden. Ach, wäre ich doch am Edersee geblieben, in der himmlischen Ruhe der nordhessischen Wälder! Eine Frage habe ich mir unter dem Einfluss des Hupkonzerts den ganzen Tag über gestellt: Hätten die Bauern, wenn sie durch Zufall in eine Fahrrad-Demo für die Verkehrswende oder eine Blockade durch festgeklebte Mitglieder der Letzten Generation geraten wären, jene Duldsamkeit aufgebracht, die sie nun uns abverlangen? Diese Frage kann man getrost verneinen. Die Bauern tendieren politisch traditionell eher zum konservativen, wenn nicht sogar zum rechten Lager. Noch eine Frage, die auch während der permanenten Fahrrad-Demos gestellt wurde: Glauben die Bauern, dass sie dadurch, dass sie der Allgemeinheit mit ihren Gehupe und den durch sie verursachten Staus auf die Nerven gehen, Sympathien für ihre Anliegen erzeugen? Hilft es ihnen, wenn alle genervt sind? Sind wir, die Allgemeinheit, die richtigen Adressaten ihres Zorns? Aber irgendwohin muss er sich ja wenden, wenn man an die wahren Verursacher der Misere nicht herankommt. Oft ist die Ursache auch personal gar nicht fest- und ausmachbar, weil sie systemisch ist. So richtet sich die Wut häufig gegen jemand, der den Vorteil hat, greifbar zu sein. Es werden Lösungen für Konflikte außerhalb ihrer Entstehungsorte gesucht und oft auch gefunden. Sonst würden Ohnmacht und Hilflosigkeit überhand nehmen.

Linke neigen dazu, Protest per se gut zu finden. Wenn sich irgendeine Gruppe der Bevölkerung regt und sich auflehnt „gegen die da oben“, wird das in der Regel begrüßt. Dabei gibt es diesen rebellischen Gestus auch in der Rechten und bei Faschisten. Es gälte also zu differenzieren und genauer hinzuschauen. Das Kriterium, ob eine Aktion von uns zu begrüßen ist, ist, ob etwas lebensbejahend ist und der Entfaltung menschlicher Fähigkeiten, menschlichen Glücks und dem Frieden dient. Wobei Frieden auch den mit der Natur einschließen muss, sonst ist es kein wirklicher Frieden. Protest, der Konflikte personalisiert und ethnisiert, ist keineswegs gut und von Linken zu begrüßen. Wenn die Schuld am Leiden unter Geld- und Kapitalverhältnissen „den Juden“ oder anderen ethnischen Gruppen angelastet wird, müssen wir Alarm schlagen, auf Distanz gehen und Kritik üben. Proteste müssen der regulativen Idee der Befreiung und Emanzipation unterstellt und dem Sog der historischen Regression entrissen werden. Was lebens- und menschenzerstörend ist, fällt unter aggressive Gewalt und ist abzulehnen, was dem Leben, besonders dem glücklichen Leben dient, ist gut und zu begrüßen. So einfach und zugleich so schwierig ist die Unterscheidung. Wenn hinten an einem Traktor ein Transparent angebracht ist, wie hier in Gießen gesichtet, auf dem steht: „Atombombe auf Berlin – Putin hilf!“, dann weiß ich, dass der Fahrer jemand ist, mit dem ich nichts zu tun haben möchte und mit dem ich nichts gemein habe. Die protestierenden Bauern führen gern Galgen mit sich, an dem sie mit Vorliebe grüne Politiker baumeln sehen möchten, die ihre bevorzugten Hassobjekte sind, manchmal aber auch die ganze Ampel. Die Szene um die Fähre, auf der sich Robert Habeck befunden hat, offenbart einen Hass, der zum Fürchten ist. Noch ist er durch gewisse Rücksichtnahmen eingedämmt, aber wehe wenn er von oben ermuntert und sich ungehindert Bahn bricht.

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Am 7. Januar ist im Alter von 78 Jahren Franz Beckenbauer gestorben. Die Korruptionsvorwürfe im Kontext der Vergabe der WM 2006, die gegen ihn erhoben worden sind und die seinen Glorienschein oxydieren ließen, haben ihm wohl doch mehr zugesetzt als man und wohl auch er selbst dachte. So sehr ich seine Fußballkunst bewunderte, so sehr waren mir seine Nähe zur CSU und seine Versuche, sich ans Milieu von Wagners Bayreuth zu assimilieren, zuwider. Gestern Abend sah ich im bayrischen Fernsehen bis in die Nacht alte Bilder vom „Kaiser“ und seinen großen Spielen. Einmal habe ich ihn im Kasseler Aue-Stadion spielen sehen. Das muss noch zu Zeiten der Oberliga Süd gewesen sein, also in den frühen 1960er Jahren, als der KSV Hessen Kassel und der FC Bayern in derselben Liga spielten. Vor dem Start der Bundesliga gab es in der Bundesrepublik vier Oberligen: Nord, West, Südwest und Süd. Der KSV und die Bayern spielten in der Oberliga Süd. Wir Jungs sammelten damals nach den Spielen die Flaschen ein, die die Zuschauer getrunken und auf den Rängen stehen gelassen hatten. Das finanzierte uns den Eintritt und besserte obendrein unser karges Taschengeld auf. Egal, ob man Beckenbauer nun gemocht hat oder eher nicht, mit ihm stirbt auch ein sportlicher Repräsentant unserer Generation. Das ist möglicherweise das, was mir trotz aller Distanz zu ihm nahe geht.

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Emmanuel Carrère im Interview mit der NZZ: „Doch wir befinden uns in einer Situation, in der die Hälfte des Planeten allmählich unbewohnbar wird. Darum ist es durchaus verständlich, dass die Bevölkerung dieser Hälfte in die andere Hälfte auswandert, um dort zu leben. Und es ist ebenso normal, dass sich die Menschen in dieser anderen Hälfte dagegen wehren. Aber diese Migration ist unausweichlich. Es ist nicht eine Frage, ob uns das gefällt oder nicht, es lässt sich einfach nicht verhindern.“

Ich halte das für die angemessene Haltung gegenüber der massenhaften Migration. Wir müssen uns mit ihr ins Benehmen setzen, müssen lernen, mit ihr umzugehen. Eine Haltung, wie einem Erdbeben gegenüber, von dem Nietzsche sagte, es sei töricht, ihm Vorwürfe zu machen. Wobei schon daran festzuhalten wäre, dass Migration kein Naturphänomen ist, sondern ein soziales, von Menschen gemachtes und ausgelöstes. Dennoch kommt sie nun über uns mit der Wucht eines Erdbebens, über das wir nichts vermögen. Entfremdung nannte man das früher, als marxistische Begriffe noch in Gebrauch waren. Noch in der Form völliger Verselbständigung ist es doch von uns Menschen gemacht und verursacht.

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In einer Sendung zur aktuellen Hochwasserlage, die ich heute Abend auf 3sat sah, war der Tenor: Wir müssen mehr Vorsorge gegen Naturkatastrophen und die Folgen der Erderwärmung treffen. Eine Versicherungspflicht ist im Gespräch, die im Falle von Gebäude- und Sachschäden eintritt. Wir müssen uns bei der Katastrophenabwehr „besser aufstellen“, wir „müssen uns resilienter machen“, sagte ein Experte für Katastrophenschutz. Das heißt im Klartext: Wir müssen lernen, mehr auszuhalten und Einbrüche der Natur in die Kultur und unser Leben besser wegzustecken. Wir müssen Deiche bauen, bereits vorhandene erneuern und erhöhen und eine Elementarpflichtversicherung abschließen, die im Katastrophenfall für Schäden aufkommt. Es geht also nicht mehr darum, den Klimawandel aufzuhalten, sondern seine Folgeschäden zu kompensieren und uns zu wappnen für die kommenden Katastrophen. Wenn man nichts machen kann, sollte man wenigstens Schadensbegrenzung betreiben. Das nannte der Philosoph Odo Marquard „Kompensation“. Kompensation statt Revolution lautete sein nüchter-resignatives Programm. Erwerb von Kompensationskompetenz. Ernst Jünger hatte das noch radikaler gefasst: Eine Katastrophe, die man nicht aufhalten kann, muss man beschleunigen. Diesem Jüngerschen Programm folgt unbewusst die Mehrheit unserer Mitbürger und Mitbürgerinnen.

Die Fähigkeit, mit Schlägen aller Art umgehen zu können, wird neuerdings Resilienz genannt. Auch so ein Begriff, mit dem Schindluder getrieben wird. Aus einem ursprünglich kritischen Begriff wurde ein durch und durch affirmativer. Militär und  Kapital sind von dieser menschlichen Fähigkeit fasziniert und wollen sie systematisch trainieren lassen. Dabei ist das Konzept Resilienz eigentlich keineswegs dazu erdacht worden, Menschen für den Krieg und die Arbeit fit zu machen, sondern sie im Umgang mit den unumgänglichen Widrigkeiten und Herausforderungen des Lebens zu stärken. Es scheint, als hätten Kriegsherren und Unternehmer die Herkunft des neuen Zauberworts zu intensiv studiert. Es stammt aus der Materialwissenschaft und beschreibt Stoffe, die auch nach extremen Verformungen wieder in ihren Ausgangszustand zurückkehren. Soldaten, Arbeiter, Angestellte und Flutopfer sind aber kein Material, das sich von allen Schlägen, die Feinde, Chefs und die Natur ihnen zufügen, schnell wieder zu erholen hat. Ich kann und will mich an solche Begriffsperversionen einfach nicht gewöhnen.

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Heute Morgen war ich noch in der Dunkelheit auf dem Wochenmarkt. Viele Händler machen nach Weihnachten ein paar Tage Ferien, anderen war es wohl zu kalt, denn es waren kaum Stände da. Vor dem Wagen einer Bäckerei hüpfte ein Rotkehlchen herum. Wegen der Kälte hatte es sich ein wenig aufgeplustert, so dass es noch kugeliger aussah als gewöhnlich. Es pickte heruntergefallene Krümel und Kerne auf. Vielleicht hatte die Verkäuferin ihm aus dem Inneren des Wagens etwas hingeworfen. Es bewegte sich keck zwischen den Füßen der Kunden und hatte wenig Scheu. Ich betrachtete es eine Weile und freute mich über seine Gegenwart. Es war meine wichtigste und schönste Begegnung des heutigen Tages.

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Gestern wurde in der Düsseldorfer Fußballarena die Handball Europameisterschaft eröffnet. Über 53.000 Zuschauer wohnten dem Eröffnungsspiel gegen die Schweiz bei. Alles muss ja heute größer und gigantischer sein, als alles bisher Dagewesene. Als ich vor Jahren mit meinem Freund Manfred, der mit den WM-Oldies von 1978 das Vorspiel bestritt, in der Köln-Arena dem Bundesligaspiel zwischen dem THW Kiel und dem VFL Gummersbach beiwohnen durfte, schien mir schon die Kulisse von rund 18.000 Zuschauern maßlos übertrieben. Wer weit oben saß, konnte kaum etwas von dem erkennen, was auf der Spielfläche vor sich ging. Kleine, bunte Männchen rannten hin und her. Ein Kieler Spieler sank nach einem Zusammenprall bewusstlos zu Boden und drohte seine Zunge zu verschlucken. Joachim Deckarm, der ein paar Reihen vor mir saß und der Szene beiwohnte, wurde wahrscheinlich retraumatisiert. Steinmeier war gestern nicht gut in Form, verhaspelte sich in seiner Eröffnungsrede bei der Jahreszahl, und auch die Technik spielte ihm den einen oder anderen Streich. Das Spiel, das folgte, entschädigte für Vieles. Andreas Wolff, der vor zehn Jahren hier in der Nähe, in Wetzlar, gespielt hat, wuchs über sich hinaus und hielt unglaubliche Bälle. Im Spiel gegen Frankreich wird sich zeigen, wie gut die deutsche Mannschaft wirklich ist.

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„Der Kitt bröckelt, die Risse werden größer. Vielleicht ist die liberale Demokratie nichts als ein Durchgangsstadium auf dem Weg zu einer anderen Gesellschaftsform. Wie diese aussieht, ist noch nicht entschieden.“

(Philipp Blom: Was auf dem Spiel steht)

Das geheime Treffen zwischen AfD-Leuten, Werteunion, bekannten Rechtsradikalen wie Martin Sellner und potenten Geldgebern aus der Wirtschaft, das im November in Brandenburg stattgefunden hat und bei dem über völkische Visionen für die Zeit nach der Machtergreifung gesprochen wurde, erinnert fatal an die Aufstiegszeit der NSDAP und lehrt einen das Fürchten. Deportation heißt im rechten Neusprech „Remigration“ und die Menschen sollen nicht nach Polen abgeschoben werden, sondern nach Nordafrika. Das Landhaus Adlon, in dem das Treffen stattfand, liegt nicht am Wannsee, sondern am Lehnitzsee. Das Thema beider Zusammenkünfte war aber das gleiche: Die „Endlösung“ der Juden- beziehungsweise Migrationsfrage. Wer jetzt nicht schnallt, was sie Stunde geschlagen hat, dem ist nicht zu helfen. „So hat es damals auch angefangen“, flüsterte Margot Friedländer bei einen Israel-Solidaritätskonzert von Igor Levit. Das eigentlich Erschreckende ist, dass Nachrichten über solche Treffen und ihre Themen die Leute nicht abschrecken, sondern die Popularität der AfD eher noch steigern.

Noch immer ist die extreme Rechte beherrscht vom Phantasma der Reinheit, vor allem der Reinheit und Homogenität der Gesellschaft, die dort „Volksgemeinschaft“ heißt. Dahinter steht die Idee von einer guten Gemeinschaft, die von ihren negativen Teilen gereinigt ist. Von jenen Elementen, von denen man annimmt, dass sie die gute Gemeinschaft stören. Die Vorstellung von einem homogenen sozialen Körper, von einer „guten Gemeinschaft“, ist eine Wahnvorstellung, wie sie antidemokratischer nicht sein kann, die aber offenbar immer noch verfängt.

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In Höhe von Karstadt steht auf dem Seltersweg ein metallener Abfallbehälter, an dem sich Vandalen ausgetobt haben oder gegen den ein Autofahrer geprallt ist. Er ist auseinandergebrochen und total verbeult. Jemand hat ihn wieder zusammengefügt und er wird nun von einem Plastikband notdürftig zusammengehalten. Trotzdem quillt er über von Abfällen aller Art, Dutzende von Kippen liegen rund um ihn herum am Boden. Dieser Abfallbehälter erschien mir beim Vorübergehen plötzlich wie ein Symbol des Zustands, in dem sich die ganze Innenstadt und speziell die Fußgängerzone befindet. Alles ist zugemüllt, wird nur noch notdürftig zusammengehalten und droht bei nächster Gelegenheit auseinanderzufallen. Vor allem leider auch das Kaufhaus in seinem Rücken. Mit dessen Ende könnte die ganze Innenstadt veröden und sterben.

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Anlässlich meines Geburtstags fiel mir wieder einmal auf, was für ein Wrack ich inzwischen bin. Innerhalb relativ kurzer Zeit habe ich die Fähigkeit eingebüßt, vernünftig laufen und gehen zu können. Beide Füße sind weitgehend gefühllos, ich bleibe ständig an irgendetwas hängen und muss fürchten, zu stolpern und zu stürzen. Ich kann mich nur noch langsam und schlurfend fortbewegen. Da das Ganze progredient zu verlaufen scheint, muss ich das Schlimmste befürchten. Ich weiß nicht, was es ist und woher es kommt. Ich ahne nur, dass mir nicht zu helfen ist und ich scheue die Ochsentour durch die Arztpraxen, die am Ende ergeben wird, dass mir nicht zu helfen ist. Man nennt es wohl Polyneuropathie, aber was ist mit der Benennung gewonnen, die nur eine Chiffre ist? Es gibt mehr als 500 mögliche Ursachen für die merkwürdige Phänomene, die unter diesem Begriff gefasst werden. Es wird zu Bewegung geraten, woran ich mich halte. Ich gehe jeden Tag mindestens eine Stunde umher und mache allerhand gymnastische Übungen. Mehr kann man wohl nicht tun. Das Alter wird schrecklich werden, fürchte ich. Ein Sommer ohne Schwimmen in der Lahn kann ich mir nicht vorstellen und doch kann es so weit kommen. Wie lang werde ich noch Rad fahren können? Ich bin bereits mehrfach gestürzt, bislang glücklicherweise ohne gravierende Folgen. Nicht auszudenken, wenn das alles nicht mehr ginge.

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Wenn ich Bücher wie das von Michael Krüger lese, merke ich, was für ein provinzieller Mensch und Stubenhocker ich bin. Wo Krüger überall gewesen ist, wem er auf seinen Reisen begegnet ist, wen er getroffen hat, mit wem er Wein getrunken und über Literatur geredet hat! Ich bin ein schwerer und hartnäckiger Fall von „Oknophilie“, wie Michael Balint meine Neurose diagnostisch bestimmt hätte. Als Veränderungsangst in extremer Form könnte man das übersetzen. In diesem Leben werde ich daran nichts mehr ändern können. Den Familienroman, die Geheimgeschichte zum Thema meiner schwindenden Beweglichkeit habe ich in Teil 71 der DHP bereits zu erzählen versucht. Schade ist es schon, wenn ich am Beispiel anderer sehe, was ich alles nicht erleben konnte, von welchen Möglichkeiten ich abgeschnitten war oder mich abgeschnitten habe. Denn in der Worten und im Sinne von Sartre, bin ich es ja, der mir zustößt. Vielleicht hätte ich doch bei Zeiten eine Psychoanalyse machen sollen! Gegen meine Angst. Wie oft habe ich den Appell von Peter Brückner gelesen und vor mich hingesagt: „Merke: Man darf dem glücklichen Zufall oder dem deus ex machina nie die kalte Schulter zeigen. Auch nicht aus Angst.“ Genützt hat es nichts oder nicht viel. Mangelndes Urvertrauen hinderte mich daran, von der Gewissheit auszugehen, die Manès Sperber propagiert hat „Die Brücke entsteht unter den Füßen desjenigen, der es wagt, den Fuß über den Abgrund zu setzen.“

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Auf der Klausurtagung der CDU in Heidelberg sagte CDU-Chef Merz über die AfD: „Das ist keine Partei, die das Land wirtschaftlich voranbringt.“

Was wäre denn, wenn sie das täte?

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Ich war eben per livestream bei der großen Bauerndemo am Brandenburger Tor. Ich hörte die aufgebrachten Landwirte unablässig brüllen: „Die Ampel muss weg! Die Ampel muss weg!“ Lindner bemühte sich, mit Unterstützung der Bauernfunktionäre zu den Leuten durchzudringen, ob ihm das in der Weite des Platzes und bei dem Lärm gelungen ist, kann ich nicht sagen. Als er zu reden anhob, brüllten die Leute: „Hau ab! Hau ab!“ Das klang nicht nach Verständigungsbereitschaft. Ich habe ihn, den ich wahrhaftig nicht mag, nicht beneidet um seine Aufgabe, dort zu sprechen. Zwischendurch war auch der alte Slogan aus der Endphase der DDR zu hören: „Wir sind das Volk“, der für mich auch etwas Bedrohliches hat. Zumindest ist der Begriff tief ambivalent. Man muss nicht so weit gehen, wie Thomas Brasch, der kurz und bündig befand: „Volk ist eigentlich ein faschistischer Begriff.“ Aber es ist etwas dran. Ein Führer ragt aus ihm heraus, und es liegt oft etwas von Lynchlust in der Luft, wenn dieser Ruf aus vielen Kehlen erklingt. Was wird aus dem, der nicht zum Volk gehört, nicht sichtlich Unsereiner ist? Auf den gehen wir, das Volk, mit der Forke los, mit der Mistgabel. Es ist kein Zufall, dass bei den Bauernprotesten eine gewisse Vorliebe für Galgen erkennbar ist. Wer soll dort aufgehängt werden? Mit wem wird da „kurzer Prozess“ gemacht? Ist da noch Raum für Differenzierungen und Ambivalenz, die ja zum Wesen der demokratischen Kultur gehören und ihre Essenz ausmachen? Wo kurzer Prozess gemacht werden soll, wird bald gar keiner mehr gemacht, hat die geschichtliche Erfahrung gelehrt.

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In Folge 81 der DHP habe ich geschrieben: „Über allen linken Aktivitäten sollte die Maxime stehen, dass die Grundrechte und die Menschenwürde eines jeden und einer jeden bedingungslos zu verteidigen sind. Wenn wir uns darauf verständigen könnten, wären wir schon einen guten Schritt weiter. Vielleicht müssen wir wieder ganz von vorn beginnen und uns auf basale und ganz einfach klingende Dinge besinnen. Zurück zu einem Punkt, der vor den vielen falschen Abzweigungen in der Geschichte der Linken seit 1789 liegt.“

Die Passage aus dem „Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil, auf die ich mich hier – ohne mir dessen in diesem Moment bewusst gewesen zu sein –  bezogen hatte, lautet: „Und eines Tages ist das stürmische Bedürfnis da: Aussteigen! Abspringen! Ein Heimweh nach Aufgehaltenwerden, Nichtsichentwickeln, Steckenbleiben, Zurückkehren zu einem Punkt, der vor der falschen Abzweigung liegt!“ Es steckt unglaublich viel drin in dieser knappen Passage aus dem 8. Kapitel, das „Kakanien“ überschrieben ist! Sie lädt zum Nachdenken und Assoziieren ein. Der etwas weitere Kontext, aus dem der Satz stammt, lautet so: „Man fährt Tag und Nacht in ihr und tut auch noch alles andre darin; man rasiert sich, man isst, man liebt, man liest Bücher, man übt seinen Beruf aus, als ob die vier Wände stillstünden, und das Unheimliche ist bloß, dass die Wände fahren, ohne dass man es merkt, und ihre Schienen vorauswerfen, wie lange, tastend gekrümmte Fäden, ohne dass man weiß wohin. Und überdies will man ja womöglich selbst noch zu den Kräften gehören, die den Zug der Zeit bestimmen. Das ist eine sehr unklare Rolle, und es kommt vor, wenn man nach längerer Pause hinaussieht, dass sich die Landschaft geändert hat; was da vorbeifliegt, fliegt vorbei, weil es nicht anders sein kann, aber bei aller Ergebenheit gewinnt ein unangenehmes Gefühl immer mehr Gewalt, als ob man über das Ziel hinausgefahren oder auf eine falsche Strecke geraten wäre. Und eines Tages ist das stürmische Bedürfnis da: Aussteigen! Abspringen! Ein Heimweh nach Aufgehaltenwerden, Nichtsichentwickeln, Steckenbleiben, Zurückkehren zu einem Punkt, der vor der falschen Abzweigung liegt! Und in der guten alten Zeit, als es das Kaisertum Österreich noch gab, konnte man in einem solchen Falle den Zug der Zeit verlassen, sich in einen gewöhnlichen Zug einer gewöhnlichen Eisenbahn setzen und in die Heimat zurückfahren.“

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Nachdem er mehrere Schlaganfälle erlitten und sich aufs Land zurückgezogen hatte, starb Lenin am 21. Januar 1924, also vor 100 Jahren. Zuvor hatte er Stalin zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei gemacht und ihm eine Machtfülle zugestanden, die nun nicht mehr zurückzunehmen war. Lenin fürchtete, dass Stalin „es nicht immer verstehen wird, von dieser Macht vorsichtig genug Gebrauch zu machen“. In seinem sogenannten Testament schrieb Lenin weiter: „Stalin ist zu grob, und dieser Mangel, der in unserer Mitte und im Verkehr zwischen uns Kommunisten durchaus erträglich ist, kann in der Funktion des Generalsekretärs nicht geduldet werden. Deshalb schlage ich den Genossen vor, sich zu überlegen, wie man Stalin ablösen könnte …“ Nur Lenin selbst hätte seine Entscheidung, Stalin in eine derartige Machtposition zu hieven, korrigieren und rückgängig machen können. Dass er das nicht getan hat, ist sein geschichtliches Versagen. Es kostete Millionen von Menschen das Leben. Nachdem Lenins Frau Nadeschda Krupskaja das Dokument nach Lenins Tod dem Zentralkomitee übergeben hatte, wurde von der Parteiführung versucht, seinen Inhalt geheim zu halten. Publik gemacht wurde das Dokument erst nach Stalins Tod. Lenin hatte durch seine eigene Praxis den Weg in die Unterdrückung und den Terror gebahnt, insofern war dieser Versuch, ihn vom Totenbett aus zu stoppen, verlogen und kam zu spät. Der Ungeist war aus der Flasche und breitete sich mit den bekannten verheerenden Folgen über das ganze Land aus und vergiftete die Linke weltweit – mit Auswirkungen bis in die Gegenwart, wie wir gerade sehen und erleben. Ich fasse mich in diesem so wichtigen Punkt so kurz, weil ich mich an anderer Stelle mit Lenin und seiner Rolle in der Revolution ausführlicher beschäftigt habe. Der Text „Der Kommunismus, der aus der Kälte kam“ ist auf dem ehemals von Konstantin Wecker betriebenen Blog „Hinter den Schlagzeilen“ noch abrufbar: https://hinter-den-schlagzeilen.de/der-kommunismus-der-aus-der-kaelte-kam und auch im dritten Band meiner „Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus“ enthalten. Schon 1974, als der Leninismus in der westdeutschen Linken im Schwange war, habe ich zu einem von Franz Neumann herausgegebenen Band über „Politische Theorien und Ideologien“ einen Text über Lenin beigesteuert, den ich heute noch – ohne mich schämen zu müssen – lesen kann: „Lenin: Theorie und Revolution“.

Zum Schluss sei es noch einmal gesagt: Wenn wir als Linke noch einmal eine Chance haben wollen, müssen wir uns radikal von den sowjetischen Lügen befreien! Die alte Linke muss erst gestorben sein, und wir müssen ihr einen Pflock durchs Herz treiben, bevor sie – als libertäre Linke – auferstehen kann.