70 | Statistiken bluten nicht

»Der Mensch wird – in dieser Gesellschaft – überflüssig, vorher schwinden seine Fähigkeiten.«

(Max Horkheimer)

Gestern fand an der Ausgrabungsstätte der Alten Synagoge eine Art Führung statt, die vom Stadtarchäologen durchgeführt wurde. Am Sonntagvormittag versammelten sich circa 100 Gießener Bürger rund um die Grube, in der die Grundmauern des 1938 niedergebrannten jüdischen Gotteshauses freigelegt worden sind. Das Wetter passte zum Ort und zum Anlass. Es war kalt, windig und regnerisch. Frierend standen die Menschen um die Grube. Gruben haben immer etwas Gruseliges und diese hier ganz besonders. Auch dann, wenn keine Gebeine zum Vorschein gekommen waren, war es doch wie auf dem Appellplatz von Buchenwald. Was freigelegt und ans Licht geholt wurde, ist ein Teil der verdrängten deutschen Geschichte. Ob wir wollen oder nicht, geht uns das etwas an, auch wenn viele glauben, dass sie sich davon losreißen können. Da der Stadtarchäologe kaum zu verstehen und das, was er zeigen wollten, von etwas weiter weg nicht zu sehen war, Wetter und Ort zum Frösteln waren, wohnte ich der Veranstaltung nicht bis zum Ende bei, sondern trollte mich nach einer Weile. Ich floh ins Warme. Jedenfalls äußerlich.

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In seinem Essay „The Nightmare That Is a Reality“, der Anfang 1944 im New York Times Magazine erschienen ist, schrieb Arthur Koestler über die Vernichtung der Juden, die damals noch kaum jemand für möglich hielt: „Bis jetzt sind drei Millionen gestorben. Es ist der größte uns überlieferte Massenmord der Geschichte; und es geht täglich, stündlich weiter, so regelmäßig wie das Ticken Ihrer Uhr … Ein Hund, der von einem Auto überfahren wird, erschüttert unser emotionales Gleichgewicht und unseren Verdauungsapparat, doch eine Million in Polen ermordeter Juden verursachen nichts als ein leichtes Unwohlsein. Statistiken bluten nicht, es ist das Detail, was zählt. Wir sind unfähig, den ganzen Prozess mit unserem Bewusstsein wahrzunehmen; wir können nur kleine Ausschnitte der Realität aufnehmen.“ Das Ausmaß des Verbrechens überstieg das Vorstellungsvermögen der meisten Menschen, andere hielten den Massenmord an den Juden für einen Propagandatrick der Regierung, um den nicht sehr populären Kriegseintritt der Amerikaner zu rechtfertigen. Verhalten wir uns heutigen Massenmorden gegenüber grundsätzlich anders?

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„Während ich, bevor Karrer verrückt geworden ist, nur am Mittwoch mit Oehler gegangen bin,  gehe ich jetzt, nachdem Karrer verrückt geworden ist, auch am Montag mit Oehler. Weil Karrer am Montag mir mir gegangen ist, gehen Sie, nachdem Karrer am Montag nicht mehr mit mir geht, auch am Montag mit mir, sagt Oehler, nachdem Karrer verrückt geworden ist und in Steinhof ist.“

(Thomas Bernhard: Gehen)

Mannomann, hab ich heute Nacht schlecht geschlafen. Manchmal, wenn in meinem Kopf zu viel los ist, finde ich einfach nicht in den Schlaf und schrecke dann, wenn ich endlich in Schlaf gefallen bin, dauernd wieder auf. Ich habe in den letzten Tagen mal wieder in den Kriegstagebüchern von Ernst Jünger gelesen, der sich 1942/43 als Kriegsbeobachter in der Ukraine und im Kaukasus aufhielt. Er schildert die Kriegsgeschehnisse und -gräuel mit der ihm eigenen Kälte und sprachlichen Präzision. Der heutige Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, ähnelt dem damaligen auf eine verblüffenden Weise, nachdem es zwischendurch mal so schien, als bestünden heutige Kriege aus zuckenden Lichtblitzen und präzisen, sogenannten „chirurgischen Schlägen“, die natürlich am Boden nie so präzise waren, wie man uns weismachen wollte. Jüngers Tagebuchaufzeichnungen, die unter dem Titel Strahlungen erschienen, wühlen mich auch deswegen so auf, weil mein Vater sich im Zweiten Weltkrieg ebenfalls in dieser Kampfzone, die Jünger als „große Knochenmühle“ bezeichnet, aufgehalten hat und ich von Jünger etwas erfahre, worüber mein Vater stets geschwiegen hat.

Vielleicht lag es aber auch nur an dem Föhn-Wetter gestern, dass ich nicht schlafen konnte. Heute soll es wieder kalt werden. Temperaturschwankungen von annähernd zwanzig Grad sind schwer zu verkraften. Heute musste ich die Bank aufsuchen, um eine Überweisung zu tätigen. Das ist leichter gesagt, als getan. Die letzten Jahre habe ich unter Mühen gelernt, an Automaten Geld abzuheben und Überweisungen zu tätigen. Kaum hatte ich die Technik einigermaßen kapiert und mir angeeignet, werden nun die Automaten schon wieder durch neuere ersetzt. Sie bestehen nur noch aus einem großem Touchscreen Monitor, der auf Berührung reagiert. Bei meinem letzten Besuch war wenigstens noch ein alter Automat in Betrieb, heute gab es nur noch die neuen. Der Bildschirm schlug mich in die Flucht. Ich griff zu einem Überweisungsformular, trug die erforderlichen Angaben ein und warf es in einen dafür vorgesehenen Kasten. Beim Rausgehen sah ich eine alte Dame, die genauso verstört umherirrte wie ich. Auch sie verstand die Welt nicht mehr, die sich in einem immer rasanteren Tempo ändert. Wie soll einer und eine da mitkommen? Kaum hat man etwas gelernt, ist es schon wieder veraltet und passee. Irgendwann ist unsere Fähigkeit, Neues aufzunehmen erschöpft. Sollten wir uns nicht irgendwann einmal aufraffen und den ganzen verselbständigten Wahnsinn stoppen und wieder auf menschliche Maße zurückführen? Aber wie kann man das von diesen Digitalzombies erwarten, die den ganzen Tag hinter ihren Geräten herlaufen und auf Bildschirme starren? Wie heißt es in  Steinbecks Früchte des Zorns: Vielleicht hat das Ganze die Form eines Verhängnisses angenommen, das „überhaupt nicht von Menschen gemacht“ ist? Schon der enteignete Pächter bei Steinbeck scheitert beim Versuch, einen Verantwortlichen auszumachen, und verirrt sich im Labyrinth der Abstraktionen. Das Zugleich von vor sich hin nullenden Nullen, die gerade zum Zusammenbruch der Silicon Valley Bank geführt haben, und archaischer Gewalt, wie sie im Krieg Russlands gegen die Ukraine praktiziert wird, ist schier zum Verrücktwerden. Und das System der blind vor sich hin nullenden Nullen, zusammenbrechenden Banken und sterbenden Kaufhäuser erscheint den Menschen in der Ukraine und anderen Weltregionen als Reich der Freiheit, das sie herbeisehnen. Wie heißt es in einem Lied der Gruppe Fehlfarben: Wir wollen hier raus, sie wollen hier rein! Nicht verrückt zu werden, wird jedenfalls von Tag zu Tag schwieriger. Es fällt mir immer noch schwer zu akzeptieren, dass alles sinnlos ist.

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Heute Nacht fiel mir plötzlich ein, woher der Begriff „Durchhalteprosa“ stammt. Adolf Muschg, den ich sehr verehre, sprach vor Jahrzehnten einmal in einer Rede oder einem Zeitungsartikel von den „Papierblumen meiner Durchhalteprosa“. Wozu schlaflose Nächte doch gut sind!

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Auf der Suche nach der Quelle in älteren Texten von Muschg stieß ich auf einen Satz von ihm, den ich vor über vierzig Jahren in dem Band Literatur als Therapie? gefunden und unterstrichen habe: „Ich hatte, wie jeder wenig Behauste, nicht weggehen gelernt (die drohende Katastrophe!) – ich reiste noch immer nicht gern. Also musste ich reisen, wie ein Kind im Dunkeln pfeifen muss.“ Ich habe häufig von meiner Reise-Phobie berichtet und darauf verwiesen, dass früh traumatisierte Menschen in besonderer Weise darauf angewiesen sind, dass sich ihre Umwelt nicht verändert. Solche traumatisierenden Erlebnisse machen das Kind nicht „um eine Erfahrung reicher“, sondern verletzen den Gesamtzusammenhang seiner bisherigen Erfahrungen, ja drohen seine Erfahrungsfähigkeit insgesamt zu beschädigen. Sie hängen an Wohnungen, Häusern, Stadtvierteln in einer Weise, welche die „normalen“ Bindungen an die eigene Umgebung weit übersteigt. Was die Veränderung der Um- und Mitwelt betrifft, fühlen wir Heimatlosen – und deswegen auf Heimat besonders Angewiesenen – uns in letzter Zeit ziemlich in die Enge getrieben. Mal abgesehen von unserer besonderen Empfindlichkeit hat das Tempo der gesellschaftlichen Veränderungen sich aber derart beschleunigt, dass auch die „Normalen“ ab und zu von Schwindelgefühlen befallen werden. Ich habe diese Form der „sozialen Seekrankheit“ häufig bei Gefangenen beobachtet, die ich nach langer Haftzeit auf ihren ersten Ausflügen in die Welt jenseits der Mauern begleitet habe. Sie bewegten sich, als schwanke der Boden unter ihren Füßen. Das Tempo des Wandels ist schlicht zu hoch und wir müssen schleunigst die Notbremse ziehen, damit die äußere Welt eines Tages wieder zu unseren inneren Texten passt und die Raserei aufhört. Die Desynchronisation von Welt und Seele, von Realitäts- und Identitätsstruktur ist die Ursache vieler moderner Leiden, die von der Pharmaindustrie auf Dauer nicht kompensiert, geschweige denn behoben werden können. Ich habe allerdings wenig Hoffnung, dass Welt und Seele, um bei dieser altertümlichen Formulierung des Gegensatzpaares zu bleiben, jemals wieder kommensurabel werden. Künstliche Intelligenz wird mehr und mehr an unsere Stelle treten. Roboter kennen solche Probleme nicht. Die Technik wird sich von ihren menschlichen Trägern und Begrenzungen vollends emanzipieren. Die gestrige Erfahrung in der Bank lieferte mir ein kleines Beispiel für diesen Prozess.

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Als wir Kinder waren, lag für uns der Zweite Weltkrieg bereits Äonen zurück. Für die Erwachsenen war er dagegen eben erst zu ende gegangen und die Erinnerung an ihn war noch frisch. Ich habe gelegentlich davon erzählt, dass wir in unserer Umgebung ständig auf Spuren dieses für uns rätselhaften Geschehens stießen, das wir aus den Erzählungen der Erwachsenen kannten oder besser: aus ihrem Schweigen erahnten. Ich habe gelegentlich schon von Onkel Ludwig erzählt, der ein hoher Wehrmachtsoffizier gewesen und durch eine schwere Kopfverletzung grausig entstellt war. Wenn er auf seinen Reisen durch Kassel kam, tauchte er für ein paar Stunden bei uns auf. Wir Kinder wurden ermahnt, ihn nicht so anzustarren, was natürlich nicht fruchtete. Ein paar Häuser weiter standen die Überreste eines zerbombten Hauses, in dem wir trotz strenger Verbote spielten und herumkletterten. Wer hatte hier gewohnt, was war aus den Bewohnern dieses Hauses geworden? Manchmal stießen wir im Schutt auf Spuren vergangenen Lebens. Wenig später wurden wir in der Schule mit kaum zu begreifender Kaltblütigkeit auf den nächsten Krieg vorbereitet, der aller Wahrscheinlichkeit nach ein atomarer Krieg sein würde. Wir sollten im Alarmfall unter die Tische kriechen und uns die Schultaschen über unsere Köpfe halten. Da es für den kommenden Krieg aber kein Muster gab, statteten unsere Lehrer ihn mit den Bildern des letzten aus. Das Gespenst eines russischen Überfalls begleitete uns die ganze Kindheit hindurch. Durchs sogenannte Fulda-Gap würden die Truppen des Warschauer Paktes einfallen, und das lag direkt vor unserer Haustür. Die Kuba-Krise riss diese Bedrohung aus der Abstraktion, und meine Stiefmutter begann, Kellerräume mit Lebensmittelvorräten vollzustopfen. Noch Jahre lang bekamen wir Söhne nach Besuchen zu Hause die Taschen mit steinhart gewordenem Honig, Corned Beef und Pumpernickel in Dosen vollgepackt, bis unsere Wohngemeinschaften streikten und den Verzehr mit Verweis auf die doch irgendwie begrenzte Haltbarkeit ablehnten. Russischen Soldaten konnte und musste man alles zutrauen. Sie hatten, so wurde immer wieder erzählt, kleine Kinder an Scheunentore genagelt und Frauen jeden Alters vergewaltigt. Die damals höchst aktuelle Kriegsfurcht kam erst nach 1989 etwas zur Ruhe. Nun aber steigen in der Folge des russischen Überfalls auf die Ukraine wie durch ein Steigrohr die ganzen alten Schreckensbilder wieder auf und schieben sich über die Bilder, die wir allabendlich präsentiert bekommen und die russische Soldaten ja auch tatsächlich liefern. Bestimmte Nachrichten oder Bilder bohren längst verschüttete Schichten unseres Bewusstsein oder Unbewussten an, die sich dann wie Verstärker an die gegenwärtig gesehenen Bilder anschließen. Über all solche Prozesse sollten wir uns im Klaren sein und uns Rechenschaft ablegen.

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„Er glich dem Blatt, das ein Knabe mit der Rute vom Zweig herunterschlägt, weil es ihm als Vereinzeltes auffällt.“

(Robert Walser)

Zwei 12 beziehungsweise 13 Jahre alte Mädchen aus dem nordrhein-westfälischen Freudenberg haben gestanden, am 11. März ihre 12-jährige Freundin Luise mit zahlreichen Messerstichen getötet zu haben. Es soll sich um einen Racheakt für irgendwelche vom späteren Opfer ausgesprochenen Beleidigungen gehandelt haben. Bei dieser „Begründung“ kann es sich aber auch um einen nachträglich formulierten Text handeln, der einen Akt nackter und sinnloser Gewalt in irgendeine Logik einbetten soll. Oft sind Rechtsanwälte und Erwachsene an diesem Akt der Nachproduktion von Motiven beteiligt. Die jungen Täterinnen oder Täter sagen einen Text auf, den man mit ihnen einstudiert hat. Bei Gewalttaten, von Kindern an Kindern begangen – in diesem Fall auch noch von Mädchen an Mädchen – ist die Empörung groß. Statt über die Ursachen kindlicher Gewalt zu sprechen, wird lautstark eine Absenkung des Strafmündigkeitsalters gefordert. So als hätten die Freudenberger Mädchen den zum Stich mit dem Messer erhobenen Arm wieder sinken lassen, wenn ihnen klar gewesen wäre, dass man sie für ihre Tat zur Verantwortung ziehen und einer Bestrafung zuführen könnte. Abschreckung funktioniert umso weniger, je mehr Emotionen und Affekte bei einer Tat im Spiel sind. Zahlen sind die Spur, die gelebtes Leben in den Aufzeichnungen der Wissenschaft und in Presseberichten hinterlassen. Von 100.000 deutschen Mädchen bis 14 Jahre wurden im Jahr 2019 knapp 60 einer Gewalttat verdächtigt. Bei den Jungen waren es in derselben Altersgruppe mit gut 230 fast vier Mal so viele. Körperliche Gewalt ist nach wie vor überwiegend männlich, wenn auch die Mädchen in jüngster Zeit aufholen. 19 Kinder sind im Jahr 2021 einer „Straftat gegen das Leben“ verdächtigt worden, darunter waren fünf Mädchen. Halten wir fest: Tötungsdelikte, begangen von Kindern, sind glücklicherweise nach wie vor selten. Das ist allerdings kein Grund zur Beruhigung.

Die Täterinnen sind, wie immer man es dreht und wendet, Kinder dieser Gesellschaft. Ihre Gewalt stammt nicht von einem fremden Stern, sondern ist das Resultate einer Kindheit, die angefüllt ist mit Bildern der Gewalt und die in einer Gesellschaft stattfindet, die selber auf Gewalt basiert und tagtäglich Gewalt produziert. Wie viele Morde hat ein 13-jähriges Kind am Bildschirm bereits gesehen? In und an deutschen Schulen wird viel Gewalt praktiziert und auch hervorgerufen. Es wird in einem Ausmaß gemobbt und verletzt, das wir uns nur schwer vorstellen können. Kinder haben häufig eine feine Witterung für kleinste Zeichen von Differenz. Gegen Abweichungen von der Norm wird oft gnadenlos vorgegangen. Jedes dritte Kind ist von Mobbing-Attacken betroffen – als Opfer. Durch die sogenannten sozialen Medien haben Mobbing- und Dissing-Attacken eine enorm breite Resonanz und schlagen ganz anders und beinahe unentrinnbar auf die Opfer durch. Via Social Media sind Kinder und Jugendliche den Nachstellungen und Beleidigungen rund um die Uhr ausgesetzt. Mitunter wissen die Opfer nicht mehr weiter und bringen sich um. Zwei Fälle sind mir in Erinnerung geblieben. So wurde im Januar 2019 vom Tod eines elfjährigen Mädchens in Berlin Reinickendorf berichtet, das in der Schule massiv gemobbt worden war. Es verletzte sich nach der Schule in seinem Zimmer so schwer, dass es im Krankenhaus an den Folgen der Verletzungen starb. Aus ähnlichen Gründen hat sich bereits im Jahr 2015 in Darmstadt-Kranichstein ein elfjähriges Mädchen vor einen Zug geworfen. Sartres Bemerkung aus dem Theaterstück Bei geschlossenen Türen leicht abwandelnd ließe sich formulieren: „ … die Hölle, das sind die Gleichaltrigen“. Warum dieser Ausflug in den Dschungel des Mobbing? Eine ältere und provokante These von Peter Brückner aufgreifend, die er  im Kontext von Kindstötungen entfaltet hat, und auf unsere Thematik anwendend könnte man sagen: Mobbing ist der „Breitensport“, dem sich die seltene „Spitzenleistung Mord“ mit verdankt. Diese Spitzenleistungen sind nur möglich, wenn entsprechende, wenngleich bescheidenere und für sich genommen nicht sensationsreife Fähigkeiten und Fertigkeiten vermasst sind. Förderlich für die Entwicklung von Spitzenleistungen ist ferner ein günstiges öffentliches Klima, das sich unterm Neoliberalismus entwickelt und ausgebreitet hat. Diese Gewalt stimulierende sozialdarwinistische Atmosphäre hat der amerikanische Psychologe Robert Stern anhand folgender Geschichte illustriert: Zwei Jungen begegnen irgendwo in den amerikanischen Wäldern einem aggressiven Grizzlybären. Während der eine in Panik gerät, setzt sich der andere seelenruhig hin und zieht sich seine Turnschuhe an. Da sagt der in Panik Geratene: „Bist du verrückt? Niemals werden wir schneller laufen können als der Grizzlybär.“ Und sein Freund entgegnet ihm: „Du hast Recht. Aber ich muss nur schneller laufen können als du.“ Ich habe mich im Jahr 2019 im Magazin Auswege unter der Überschrift Sündenböcke – Fragmente einer Sozialpsychologie des „Mobbing“ ausführlich zum hier besprochenen Thema geäußert: https://www.magazin-auswege.de/tag/eisenberg/

Vieles war und ist also absehbar und wurde seit Jahren vielfach warnend beschworen. Aber wenn dann geschieht, was zu erwarten war, ist die Aufregung groß und man macht trotz aller Erkenntnisse die Kinder – allein – für ihr Fehlverhalten verantwortlich. Darin, dass das in dem Freudenberger Fall wegen der Minderjährigkeit der Täterinnen juristisch nicht funktionieren wird, liegt auch eine Chance, sich mit den wirklichen Ursachen der Gewalt auseinanderzusetzen. Man wird in diesem Fall also Schuld nicht individuell zurechnen und abwickeln können. Die Gesellschaft, in der eine solche Tat möglich wurde, hätte als Ganze auf der Anklagebank Platz zu nehmen. Wir hätten zu fragen: Wollen wir die Art und Weise, wie Kinder und Jugendliche heranwachsen, weiter den ökonomischen Funktionsimperativen unterordnen und zulassen, dass auf Kindheit und Jugend der Kälteschatten von Elend, Bindungslosigkeit und Indifferenz fällt? Was nach außen manchmal noch aussieht wie eine Familie, ist in Wahrheit oft nur das bloße Nebeneinander von Einsamkeiten und eine Ansammlung von gleichgültigen Warencharakteren. Wenn wir nichts dagegen unternehmen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn dem unwirtlichen Schoß dieser Gesellschaft mehr und mehr verwilderte Wesen entspringen, deren Verhalten von kalter Schonungslosigkeit, moralischer Indifferenz und einer frei flottierenden Aggressivität geprägt sein wird. Meiner Beobachtung nach kann man von einer zeitgemäßen Form der Kindesaussetzung sprechen. Kaum der Wiege entstiegen, werden Kinder vor Bildmaschinen gesetzt und mit der Flut der Bilder allein gelassen. Da viele Familien keinen Schon- und Schutzraum mehr bieten, der schädliche Umwelteinflüsse von den Heranwachsenden fernhält, werden wir nicht umhinkönnen, nach neuen geschützten und schützenden Räumen zu suchen, in denen Kinder ihre Reifungsprozesse absolvieren und zu menschlichen Wesen heranwachsen können. Gegenwärtig drohen sie, wie Peter Sloterdijk einmal gesagt hat, aus dem Mutterleib direkt in die Gesellschaft des entfesselten Marktes zu stürzen und moralisch zu verwildern. Dem Geld ist, salopp gesagt, alles egal. Und das Geld ist, wie es bei Heinrich Heine heißt, „der Gott unserer Zeit“ – und Christian Lindner ist sein Prophet.

Trotz aller nun vorgetragenen Erklärungs- und Deutungsversuche wird eine Tötung wie die von Freudenberg immer etwas Rätselhaftes bewahren. Sie bleibt erschütternd und schwer zu begreifen. All unsere Erklärungen reichen an das Geschehen letztlich nicht heran, sondern dienen in erster Linie dem Zweck, ein eigentlich unfassbares Ereignis irgendwie begreifbar werden zu lassen. Wir wollen am Ende sagen können: „Aha, das ist es also!“, und zur Tagesordnung und unserer Normalität zurückkehren. Es ist allerdings eine Normalität, aus der der Mord hervorgegangen ist und jederzeit erneut hervorbrechen kann.

(Der Passus über den Mord von Freudenberg ist unter der Überschrift Wenn Kinder Kinder töten auch in der Ausgabe 12/2023 der Wochenzeitung der Freitag erschienen.)

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Ich habe in den letzten beinahe schon frühlingshaften Tagen auf einer Bank auf dem Alten Friedhof gesessen und Helga Schuberts Buch Der heutige Tag gelesen. Sie, die selbst 83 Jahre alt ist, berichtet darin vom Zusammensein und -leben mit ihrem dementen und pflegebedürftigen Mann, den sie Derden nennt – eine Name, der sich von der, den ich liebe herleitet. Obwohl der Alltag voller Widrigkeiten und Mühen ist, möchte sie keinen Tag und keine Sekunde missen und freut sich stets aufs Neue über das Zusammensein mit ihm. So oft es geht schiebt sie ihn im Rollstuhl durch Feld und Wald. „Einmal sahen wir am Dorfausgang zwei Pferde, regungslos in die gleiche Richtung nach oben starrend, und folgten ihrem Blick: Da war eine Montgolfiere. Ohne die Pferde hätten wir sie nicht bemerkt.“ Es sind solche Kleinigkeiten und scheinbare Nebensächlichkeiten, die das Buch so lesenswert machen. Als Helga Schubert 2020 den Ingeborg Bachmann-Preis erhielt, hatte mir Birgit Vanderbeke von ihr erzählt und mir die Lektüre ihrer Bücher ans Herz gelegt. Birgit ist leider inzwischen gestorben, und ihre Empfehlung ist dadurch zu einer Art Vermächtnis geworden. Ich bin froh, dass ich es angenommen habe. Helga Schuberts Buch ist der Bericht von einer Liebe, die sich dem Tauschprinzip nicht unterwirft und vor auftauchenden Schwierigkeiten nicht kapituliert, sondern dem Geliebten auch dann noch die Treue hält, wenn dieser sie manchmal nicht einmal mehr erkennt. Sich seiner zu entledigen, ihn wegzugeben, wie ihr häufig geraten wird, kommt für sie nicht in Frage. Und zwar nicht aus preußischem Pflichtgefühl, sondern wegen nicht erlöschender Liebe. Das Buch trägt deshalb zu Recht den Untertitel: Ein Stundenbuch der Liebe.

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Hab gestern Abend den Film Die Spitzenklöpplerin noch einmal gesehen, den der Schweizer Regisseur Claude Goretta im Jahr 1977 mit Isabelle Huppert in der Hauptrolle gedreht hat. Diese ist vor ein paar Tagen 70 Jahre alt geworden. Es ist interessant, wie sich die Wahrnehmung eines Films im Laufe der Jahre verändert. Ich bin sicher, dass ich den Film gestern ganz anders gesehen und interpretiert habe als in den 1970er Jahren, als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe. Ich habe inzwischen Didier Eribons Buch Rückkehr nach Reims und vor allem die Romane von Annie Ernaux gelesen, die mich für die Wahrnehmung von Klassenunterschieden und -grenzen sensibilisiert haben. Die Schlüsselszene scheint mir nun die zu sein, in der Beatrice und Francois dessen Eltern besuchen und der Klassenunterschied zwischen den beiden offen zu Tage tritt. Als der Vater Beatrice fragt, was sie denn so mache, verhindert er, dass sie erzählen kann, dass sie als Friseuse arbeitet, weil er sich dessen schämt. Wohlgemerkt: Nicht sie schämt sich, sondern der Philosophiestudent aus gutem Hause schämt sich und ist zu feige, seinen Eltern gegenüber zuzugeben, dass er eine Friseuse liebt. Prompt verschluckt Beatrice eine Gräte und bekommt einen Hustenanfall. Diese Szene markiert den Bruch zwischen den beiden und leitet das Ende ihrer Beziehung ein. Es gelingt ihnen letztlich nicht, die Klassengrenzen zu überwinden, ihre Liebe scheitert an den schmählichen Gesetzen der Soziologie und der Herkunft. Das Schlimmste ist, dass Francois den Keim der Unzufriedenheit in Beatrices Leben getragen hat. Er wollte sie zu sich emporziehen und redete ihr systematisch ein, dass es kein Leben sei, alten Damen den Kopf zu waschen. Beatrice wird bedeutet, dass sie eine andere werden soll und muss. Gleichzeitig vermag er nicht, ihr einen gangbaren Weg von hier nach dort aufzuzeigen. So gerät sie mehr und mehr in die Lage von Buridans Esel, der sich nicht entscheiden kann und zwischen zwei Heuhaufen verhungert. Beatrice erleidet in der Folge einen Zusammenbruch und landet schließlich in einer psychiatrischen Anstalt. Als Francois sie dort besucht, gelingt es ihnen nicht, die Geschichte ihrer Beziehung zu besprechen. Beatrice erzählt von einem neuen Partner, mit dem sie zusammen sei und die weißen Windmühlen von Mykonos besucht habe. Am Ende des Films geht die Kamera über die Wände des Speisesaals der Klinik und man sieht dort ein Plakat hängen, auf dem die Mühlen von Mykonos abgebildet sind. Das Letzte, was der Zuschauer zu sehen bekommt, sind die traurigen Augen von Beatrice und ihre zerbrechliche, fast durchsichtige Gestalt, die sich in den Gängen der Anstalt verliert. Neben der privaten Geschichte einer gescheiterten Liebesbeziehung ist der Film auch ein Abgesang auf Hoffnungen der 68er Zeit, Klassengrenzen voluntaristisch aufheben und überspringen zu können. Letztlich ein traurig-melancholischer Film – mit einer grandiosen Hauptdarstellerin. Bis zum 13 Mai ist der Film in der Arte-Mediathek verfügbar.

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„Es ist schon später, als du glaubst.“       

(Léon Bloy)

Am Ende des sonntäglichen Kulturmagazins ttt kam der italienische Biologe Stefano Mancuso zu Wort, der eine ganze Reihe von Büchern über die Welt der Pflanzen verfasst hat. Am Ende des Gesprächs sagt er sinngemäß zu den heutigen Bemühungen, die Welt zu retten: „Ein bisschen Stadtbegrünung reicht nicht. Auch mit technologischen Lösungen ist es nicht getan. Das wird doch nichts. Es ist im Grunde ganz einfach: Reißen wir für den Anfang dreißig Prozent der Straßen ab und pflanzen stattdessen Bäume.“ Der Mann, der eine Professur in Florenz innehat, sprach mir aus der Seele, und ich bin froh, einen Bruder im Geiste kennengelernt zu haben. Es geht um mehr, als die Kohlendioxidemissionen mittels Geo-Ingineering zu verringern. So etwas nannte man früher den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. Wir brauchen wahrhaftigen und umfassenden Naturschutz, ein vollkommen anderes Verhältnis zur Natur, die wir nicht länger nur als Rohstoffreservoire betrachten dürfen, das es ab jetzt etwas behutsamer und nachhaltiger auszuschlachten gilt. Solange wir Natur als Ressource betrachten und behandeln, wird das nichts mit der Rettung des Planeten. Leute, die von „Natur- und Umweltmanagement“ sprechen, haben nicht begriffen, dass es darum geht, die Natur vor jedwedem Management und dem Terror der Ökonomie zu bewahren. Die von der FDP propagierte „Technologieoffenheit“ will einfach so weitermachen wie bisher. Den Leuten wird suggeriert: „Ihr müsst an eurem Lebensstil nichts ändern! Lasst euch von den Grünen nicht verrückt machen. Ihr müsst halt nur E-Fuels tanken und schon könnt ihr weiter mit 150 Sachen über zehnspurige Autobahnen brausen.“ Was wir eigentlich dringend benötigten, wäre Technologieverschlossenheit. Schon im Jahr 1979 sagte der Ethnologe Hans Peter Duerr in einem Interview: „Ich glaube, dass etwas weniger mehr wäre. Wir leben, um mit Lévi-Strauss zu sprechen, in einer zu ‚heißen‘ Kultur, wir leben zu schnell, zu aufwendig, zu brutal, zu spitz, zu metallen … Das gilt auch  für unsere Wissenschaft, die in ihrer Maßlosigkeit und Aufdringlichkeit alles das totschlägt, was eine etwas sanftere Stimme hat und was sich vor Laboratoriumsbeleuchtung und verkrampften Fragestellungen zurückzieht.“

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Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren; es ist die Zeit der Monster.

(Antonio Gramsci)

Gerade lese und höre ich Nachrichten über die Waldzustandserhebung des Jahres 2022. Klimawandel und Trockenheit setzen den Bäumen weiter zu. Nur ein Fünftel von ihnen kann als gesund bezeichnet werden, der Rest ist mehr oder weniger marode und pfeift auf dem letzten Loch. Fichten wird es bald nicht mehr geben. Vor 15 Jahren, als ich zum ersten Mal wieder am Edersee war, habe ich noch vom Duft des Harzes geschwärmt, das die Hitze aus ihrer Rinde austreten ließ. Ich habe ihn noch in der Nase. Es war für mich der Geruch des Sommers und des mit ihm verknüpften Glücks. Was wird das für ein Leben sein, wenn kein Harz mehr aus den Bäumen tropft und seinen würzigen Duft verbreitet, kein Salamander mehr über den Weg huscht und kein Rotkehlchen mehr schwätzend auf einem Ast am Wegesrand sitzt oder uns hüpfend ein paar Schritte begleitet? Melancholie ist keine krankhafte psychische Störung, sondern die angemessene Haltung angesichts einer stürzenden Welt und einer sich auflösenden Gesellschaft, aus deren Zerfall nichts Neues mehr entsteht, sondern nur eine diffuse Aggressivität und Feindseligkeit. Der große französische Soziologe Emile Durkheim hat einen solchen Zustand der Selbstzerstörung einer Kultur als Anomie bezeichnet. Antonio Gramsci sprach von einem Interregnum: Das Alte stirbt und das Neue ist noch nicht geboren. Ein Begriff, der immer noch die Hoffnung transportiert, aus dem Zerfall des Alten können etwas Neues entstehen. Dafür gibt es im Moment kaum Anzeichen. Was wir erleben, ist, dass Institutionen, die bisher das Zusammenleben leidlich gesichert haben, gleichsam abfaulen, was Frustration freisetzt und eine Wut erzeugt, die keine Richtung hat. Dieses Potenzial muss dringend dem Sog der Regression entrissen und in eine aufklärerische Richtung gebracht werden. Aber wer kann das nach Lage der Dinge hierzulande bewerkstelligen? Ich hoffe, dass das in Frankreich in den nächsten Tagen und Wochen gelingt, sonst könnten am Ende Marine Le Pen und ihr Rassemblement National von der Krise profitieren, was für ganz Europa ein fatales Signal wäre und dem rechten Populismus mächtigen Auftrieb gäbe. Dann bräche wieder die Zeit der Monster an, vor denen Gramsci uns warnen wollte.

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Gestern rief mich ein Freund aus einem Gießener Krankenhaus an, in dem er als Pfleger arbeitet. Ein alter Freund und Genosse sei dort eingeliefert worden, und ich könne oder solle mal nach ihm schauen. Er wirke auf das Personal ein wenig seltsam. Die Krankenhäuser sind auf den ersten Blick völlig verändert und heruntergekommen. Es herrscht ein einziges Chaos und riesiges Durcheinander, Betten überall auf den Fluren, ein babylonisches Sprachgewirr. Wie in einem Land in einem der vielen Krisengebiete der Welt, dachte ich, ein Anblick, wie wir ihn jeden Abend in den Nachrichten zu sehen bekommen. H. hat eine Thrombose und hängt am Tropf. Neben ihm liegt ein noch älterer Mann, der den ganzen Tag Fernsehen schaut. In einer unerträglichen Lautstärke. H. ist ein höflicher Mensch und erträgt es klaglos. Dabei würden Kopfhörer schnell Abhilfe schaffen können. Ich habe ihm immerhin zu einem Stationshandy verholfen, mit dem er nun seine Frau kontaktieren kann. Seine Hauptsorge gilt seiner Katze, von der er nicht weiß, wo sie steckt und wer sie versorgt. Seine Frau ist selbst pflegebedürftig und ans Bett gebunden. Sie kann sich um nichts kümmern, natürlich auch nicht um seine heißgeliebte Katze. „Katzen wissen sich zu helfen“, versuchte ich ihn zu beruhigen, „und eine schlaue Professorenkatze wie deine erst recht.“ Ich war froh, als ich das Krankenhaus wieder verlassen und mit dem Rad nach Hause fahren konnte. Unter heutigen Bedingungen kann man froh sein, wenn man dort nicht eingeliefert wird. Arbeiten möchte man dort allerdings auch nicht.

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In der Fußgängerzone sitzen das ganze Jahr über junge Leute am Boden, schütten Bier aus Dosen in ihre Köpfe und hören extrem laute und grässliche Bumsmusik. Meist liegen Hunde neben ihnen auf Decken und eine Shitwolke wabert um sie herum. Ihrem Outfit nach handelt es sich um Punks oder das, was davon übrig geblieben ist. Für die Anwohner ist das sicher eine echte Landplage. Gegen Mittag kommt manchmal eine Polizeistreife vorbei und fordert sie auf, für die Mittagsstunden die Musik leiser zu stellen. Mit mäßigem, höchstens kurzfristigem Erfolg. Vor ein paar Tagen sah ich ein kleines Kind, noch ein wenig wacklig auf den Beinen und mit Windeln in der Hose. Es war dem Kinderwagen entstiegen, hatte sich torkelnd ein paar Meter von seiner Mutter entfernt und stand nun staunend vor den lärmenden bunten Gestalten. Es zeigte mir dem Finger auf diese, wobei es seinen Blick der Mutter zuwandte, als wollte es fragen: „Was ist das? Was sind das für Leute?“ Kinder wundern sich noch, während wir Erwachsenen uns mit all dem alltäglichen Wahnsinn um uns herum abgefunden haben. Wir nehmen den Irrsinn gar nicht mehr als Irrsinn wahr. Menschliches Strandgut, das der späte Kapitalismus ausspuckt und in den Fußgängerzonen der größeren Städte anspült. „Surplusbevölkerung“ heißt das im zynischen Jargon der Ökonomen: menschliche Arbeitskraft, die nicht nachgefragt wird. Leben auf Neben- und Abstellgleisen. Diese Leute werden nicht einmal mehr ausgebeutet. Mit einer stoischen Toleranz oder auch Gleichgültigkeit nehmen die „anständigen Bürger“ es hin, dass ihnen hier demonstriert wird, dass man sein Leben nicht damit zubringen muss, es sich zu verdienen und man auch ohne Arbeit leben kann. Ausgestorben scheinen die alten Männer, die mit erhobenem Stock auf die Faulenzer losgehen und lautstark fordern, dass jeder wieder ein Arbeitsbuch haben sollte. Denken wird es schon der eine oder die andere, aber artikuliert wird der Unmut nur ganz selten. Manchmal denke ich, dass die Aufregung und die Beschimpfungen von früher den jungen Leuten mehr Ehre erwiesen und Anerkennung – wenn auch eine negative – gezollt haben, als die Indifferenz von heute. Man kann machen, was man will, niemand nimmt Notiz davon, alle Provokationen gehen ins Leere. Die gröbsten Beleidigungen sind besser als überhaupt keine Resonanz. Das erste Mal begriff ich diese Dialektik der Missachtung, als ein Gefangener auf meine Frage, ob er von seinem Vater geschlagen worden sei, antwortete: „Schön wär‘s!“

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Vor dem gestrigen Fußballländerspiel gegen Peru, dem ersten nach der aus deutscher Sicht verkorksten Weltmeisterschaft, war viel vom Neustart die Rede, von Leidenschaft, Kampfgeist, Mentalität, Wille und Gier. Sogar der Begriff Gier, sonst eher negativ konnotiert, mutierte zu einem positiven Topos. Auch die Anmoderation des Spiels war geprägt von einem Vokabular, das mich fatal an die Sprache der Nazis erinnerte, bei denen es unter Bezug auf Fichte hieß: „Charakter haben und deutsch sein ist ohne Frage gleichbedeutend.“ Eine deutsche Nationalmannschaft muss einen Charakter haben, sonst kann sie nicht deutsch genannt werden. Kriegerische Metaphern machen sich überall breit, es ist in vielen gesellschaftlichen Feldern eine Militarisierung der Sprache zu beobachten. Auch und vor allem im Sport. Es ist zum Fürchten und zum Gruseln. Dazu kommt dann noch der blonde Hitlerjunge Schlotterbeck und all die anderen Abgeschorenen und Ausrasierten. Welten liegen schon rein optisch zwischen den Mannschaften der siebziger Jahre und den heutigen. Ich hab die Glotze dann ausgeschaltet und in der zweiten Halbzeit noch einmal reingeschaut. Was ich sah, war zum Abgewöhnen. Kampf und Krampf, Blut floss über das Gesicht von Gnabry, Ginter hatte ein blaues Auge. Die Atmosphäre ist mit Krieg aufgeladen. Mein semantischer Rauchmelder meldet jedenfalls sein Wochen Alarm.

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Der junge Isaak Babel brachte von ihm verfasste Geschichten zum großen Maxim Gorki und bat ihn, sie zu lesen und ihm mitzuteilen, was er von ihnen hielte. Gorki hielt nicht viel von diesen Geschichten und sagte zu ihm: „Es ist ganz offensichtlich, dass Sie, mein Herr, nichts richtig kennen, aber an vielem herumrätseln. … Gehen Sie unter die Menschen.“ Babel befolgte seinen Rat, schloss sich im Bürgerkrieg der Reiterarmee des Generals Budjonny an, schrieb darüber und wurde ein großartiger Schriftsteller. Babel wurde 1894 in eine jüdische Familie in Odessa hineingeboren. In den Zeiten des Großen Terrors wurde er denunziert und der Spionage bezichtigt. Man brachte ihn in die berüchtigte Lubjanka nach Moskau, wo man ihn so lange folterte, bis er gestand, Mitglied einer trotzkistischen Gruppierung gewesen zu sein, für die ihn Ehrenburg und Malraux bei einem Aufenthalt in Paris angeworben hätten. 1940 wurde er vom Geheimdienstoffizier Wassili Blochin ermordet. Ralf Rothmann hat Babels Ende in seinem Buch Hotel der Schlaflosen beschrieben. Die Geschichte wird aus der Perspektive des Genickschussspezialisten Blochin erzählt, der in der Lubjanka routiniert seinem Henkerhandwerk nachgeht. An manchen Tagen erschießt er dort im Keller mit seiner deutschen Walther-Pistole bis zu 350 Menschen. Um seine Uniform vor Blutspritzern zu schützen, trägt er bei der Ausübung seines Handwerks eine lederne Metzgerschürze. „Habt ihr den Babel schon unten? Isaak Babel?“, fragt er an diesemTag seine Gehilfen. Blochin ist Literaturliebhaber und möchte sich Babels Buch Die Reiterarmee signieren lassen, das seine Frau Natalja ihm geschenkt und das er tatsächlich auch gelesen hat. Er hat es an diesem Tag extra in seine Aktentasche gesteckt und in die Lubjanke mitgenommen. Er lädt Babel zu einer Henkersmahlzeit ein und teilt die Piroggen mit ihm, die seine Frau ihm eingepackt hat. Wegen der Spuren der Folterungen kann Babel mit den Händen nichts greifen und muss die Brocken der Pirogge mit dem Mund aus dem Papier aufnehmen. Auch der Aufforderung seines Henkers, ihm Die Reiterarmee zu signieren, kann er nicht Folge leisten, weil die Folterer ihm die Hände zerschlagen haben und er den Füller nicht halten kann. „Dann machen wir es eben so“, sagte Blochin und drückte die Fingerkuppen, an denen sich keine Nägel mehr befanden, in ein Stempelkissen und dann auf die erste Seite des Buches unter den Namen des Verfassers: „Ich wette, so eine Signatur hat niemand in der ganzen Sowjetunion.“ Dann drückte Blochin seine Papirossa aus und entsicherte die Waffe. Babel „starb lautlos, sank hin wie ein Haufen Kleider“.

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Seit Minuten höre ich von der Straße her das Brüllen eines Mannes. Er muss sich vorn bei der Apotheke aufhalten, deswegen kann ich nur einzelne Worte verstehen, nicht aber den Inhalt seiner Klage. Er hat keinen genauen Adressaten, deswegen richtet er seine Beschwerde an uns alle und niemand. Ungefähr fünf Minuten kann ich sein Schreien hören, dann verliert es sich irgendwo in der Stadt. Immer häufiger trifft man dort auf schreiende und brüllende Menschen. Erst vor ein paar Tagen sah ich eine junge schwarze Frau, die mit einer unglaublich hohen und schrillen Stimme vor sich hin schimpfte. Dabei waren ihren Gesichtszüge erstaunlich entspannt und keineswegs wutverzerrt. Sie schrie dermaßen durchdringend, dass sogar die Punks, die auch nicht gerade leise sind, sich wunderten. Das Schreien ist ein Symptom der Einsamkeit und Leere, von der die Schreienden umgeben und in der sie gefangen sind. Sie wissen nicht, an wen sie ihre Wut adressieren können, so brüllen sie die Fassaden der Häuser und die anonyme Masse der Passanten an. Ein Echo bekommen sie nicht, bloß Kopfschütteln und böse Blicke. Aber auch das ist ja ein Echo.

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Lars Gustafsson und Jan Myrdal erzählen in ihrem gemeinsam verfassten Buch Die unnötige Gegenwart folgende Geschichte:

„In einer kanadischen Fabrik gab es ein paar Arbeiterinnen, deren Aufgabe es war, Maschinenteile in Seifenwasser zu spülen. Tagein, tagaus standen sie dort und spülten, ihre Finger wurden deformiert, sie schmerzten immer mehr und verkrümmten sich durch Rheumatismus im fortgeschrittenem Stadium, was die unausbleibliche Folge ist, wenn man die Finger den ganzen Tag im kalten Wasser hat. 

Eines Tages kam ein neugieriger junger Ingenieur vorbei und prüfte die Wassertemperatur. Es war vermutlich der erste Ingenieur, der das jemals getan hat. 

„Aber das Wasser ist ja verdammt kalt, sagte er. Das muss anders werden. So geht das doch nicht. Ihr könnt ja Rheumatismus kriegen. Ab morgen lassen wir warmes Wasser in den Behälter fließen, dazu braucht nur etwas an einer kleinen Wasserleitung geändert zu werden.“                                            

Dies hatte einen gewaltigen Streik zur Folge, der sich über die ganze Fabrik ausdehnte.                                  

Das könnte unlogisch erscheinen, ist es aber nicht. Solange diese Arbeiterinnen ihre abscheuliche Arbeitssituation als notwendig ansahen, ertrugen sie sie. Unerträglich wurde es in dem Augenblick, als sie erkannten, dass dies alles völlig unnötig war. 

Der Tag, an dem die Völker Europas die gleiche Entdeckung machen wie die kanadischen Arbeiterinnen, wird ein entsetzlicher Tag sein.

Soweit sind wir uns einig.“

Wir werden, um Missverständnisse zu vermeiden, hinzusetzen müssen: Ein entsetzlicher Tag für die Herrschenden, für alle anderen möglicherweise ein befreiender, glücklicher Tag. Etwas von diesem Phänomen finden wir auch in der gewachsenen Streikbereitschaft in Deutschland, dessen Bevölkerung ja traditionell als nicht besonders streikfreudig gilt. Deutschland war lange „das Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten“, wie Ulrich Sonnemann einmal sagte. Qualifizierte Arbeitskräfte, Arbeitskräfte insgesamt sind knapp, und die glorreiche Marktwirtschaft sorgt unter solchen Bedingungen dafür, dass der Preis der Ware Arbeitskraft steigt. Die Macht der Arbeiterinnen und Arbeiter wächst in dem Maß, wie sie gebraucht werden und nicht so leicht ersetzt werden können. Die Angst vor Arbeitsplatzverlust sinkt, und das macht mutiger. Die enorm hohe Inflation führt dazu, dass die meisten Menschen Reallohneinbußen oder Einkommensverluste zu erleiden hatten und haben. Gleichzeitig hört man von Rekordgewinnen in etlichen Branchen und Industriezweigen. Arbeitskämpfe sind epiphanische Momente des Verstehens, wo es den Kämpfenden wie Schuppen von den Augen fällt und der Nebel sich lichtet, der über den Verhältnissen lag. Plötzlich sieht man klarer, erkennt Zusammenhänge und vor allem man macht im Kampf die Erfahrung öffentlichen Glücks. Wir sind viele, wir sind, wenn wir zusammenstehen, stark, wir können etwas durchsetzen und ändern! Karl Marx hat gezeigt, dass für die Herrschenden und Besitzenden alles verloren wäre, wenn jene Regeln, die uns als naturgegebene und unumstößliche präsentiert werden, plötzlich gestehen würden, dass wir sie ja selbst gemacht haben und also auch verändern können. Es ist ein Moment großen Glücks, wenn Menschen die Erfahrung machen, dass für unumstößlich gehaltene Kausalitäten zusammenbrechen und ihre Gültigkeit verlieren. Es ist die Erfahrung der Freiheit: Man kann ein anderer werden! Das ist neben realen Lohnsteigerungen der eigentliche Gewinn von Streikkämpfen. Deswegen lamentieren die Herrschenden und fordern von der Politik, Veränderungen am Streikrecht vorzunehmen. Die Erfahrung von Selbstermächtigung ist gefährlich und unerwünscht. Verbesserungen sollen, wenn überhaupt, von oben verabreicht und dürfen nicht von unten in eigener Regie erkämpft werden.

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