71 | Die Schlange, der Riss und der Tod

„Dummheit ist von allen nachwachsenden Energien die zuverlässigste.“                                                 

(Sten Nadolny)

Auf dem Alten Friedhof saß ein junger Mann auf einer Bank und fütterte die Eichhörnchen, „meine“ Eichhörnchen. Sie wuselten in größerer Zahl um ihn herum und schienen vertraut mit ihm. Bei mir stellten sich umgehend  Eifersuchtsgefühle ein. Als er sah, dass auch ich Nüsse mit mir führte, fühlte er sich bemüßigt Äußerungen zu tätigen, die seine Priorität in Sachen Eichhörnchen-Fütterung betonten. „Heute bevorzugen sie Erdnüsse“, sagte er. Wie zur Bestätigung wurde eine von mir ins Spiel gebrachte Walnuss ignoriert und einfach liegen gelassen. Er nahm das als Beleg für seine größere Vertrautheit mit den Tieren. Er behauptete nun, dass die Eichhörnchen 95 Prozent der von ihnen vergrabenen Nüsse nicht mehr wiederfänden. Feldversuche hätten das ergeben, er habe entsprechende Studien gelesen. Ich bezweifelte diese hohe Fehlerquote, ganz so dämlich und vergesslich seien die Hörnchen nicht. Ich konnte aber wissenschaftlich nichts gegen seine Behauptung aufbieten. Er beharrte auf seinen Zahlen und wiederholte sie eins ums andere Mal. Der junge Mann gab sich als Mitglied einer Verbindung zu erkennen, die ihr Hauptquartier direkt neben dem Friedhof hat. Ich habe unter dem rechten Augen eine Narbe, die von einer Jochbeinverletzung herrührt, die er aber für einen „Schmiss“ hielt. Er fragte, ob ich einer schlagenden Verbindung angehörte. Als ich verneinte und meine tiefe Abneigung gegen solche Vereinigungen zum Ausdruck brachte, ging unser Gespräch schnell zu Ende.

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Einem Abschnitt in Folge 70 der DHP ist ein Zitat von Léon Bloy vorangestellt, auf das ich in den Tagebüchern von Ernst Jünger gestoßen bin. Als ich nachschaute, wer dieser Léon Bloy eigentlich gewesen ist, stieß ich bei Wikipedia auf folgenden Hinweis: Gemeinsam mit Joris-Karl Huysmans (dem Guru von Michel Houellebecq) und Villiers de l’Isle-Adam bildete er einen freundschaftlichen Kreis, der sich Konzil der Bettler nannte. Der Name dieser Gruppe nimmt mich sehr für ihn ein, aber ich kenne ihn und sein Werk nach wie vor nicht. Zeitweise unterhielt er eine Liebesbeziehung mit einer Prostituierten, die dann dem Wahnsinn verfiel und in ein Irrenhaus eingeliefert wurde, wo sie 1907 starb. Ihr Tod stürzte Bloy in tiefe Verzweiflung.

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Ich wusste nicht und habe mir auch nicht vorstellen können, dass Ernst Jünger und Erich Mühsam sich gekannt haben: der konservative Anarch und Krieger und der gewaltfreie Anarchist. Welten schienen zwischen ihnen zu liegen, die mir unüberbrückbar vorkamen. Darauf gestoßen bin ich in den Strahlungen von Jünger, wo dieser von einer Hausdurchsuchung im Frühjahr 1933 berichtet, in deren Folge Jünger Manuskripte und Briefe verbrannte. Jünger vermutete damals, dass „man Briefe des alten Anarchisten Mühsam bei mir suchte, der eine kindliche Neigung zu mir gefasst hatte und den man auf so schauerliche Weise ermordete. Er war einer der besten und gutmütigsten Menschen, denen ich begegnet bin.“ Vielleicht bestand zwischen dem deutschnationalen Anarch und dem jüdischen Anarchisten eben doch eine unterirdische Anziehung und ein wechselseitiges Interesse aneinander. Als ein Akteur der Münchner Räterepublik saß Mühsam nach deren Niederschlagung 1919 fünf Jahre in Festungshaft. Nach einer Amnestie wieder auf freiem Fuß, engagierte er sich für politische Gefangene, schrieb Theaterstücke, Gedichte und Satiren. 1933 wurde Erich Mühsam in das KZ Oranienburg bei Berlin gebracht, wo er in der Nacht vom 9. auf den 10. Juli 1934 grausamst zu Tode geprügelt wurde. Die Charakterisierung Mühsams durch Jünger ist im ersten Teil etwas von oben herab, so als wolle er seinen Anhängern gegenüber klarstellen, dass er nichts dafür könne, dass Mühsam ihn gemocht habe. Das Interesse des beinahe zwanzig Jahre älteren Mühsam an ihm als Ausdruck einer „kindlichen Neigung“ zu interpretieren, scheint mir arrogant und abwertend. Wobei Mühsam selbst dieser Charakterisierung vielleicht sogar zugestimmt hätte. Er hätte wahrscheinlich nichts dagegen gehabt, wenn man ihm attestiert hätte, dass er sich etwas Kindliches bewahrt hatte. Auf den durchschnittlichen Erwachsenenhabitus hat er vermutlich keinen Wert gelegt. Der zweite Teil der Charakterisierung Mühsams nimmt mich dagegen für Jünger ein. Dass er als soldatischer Mensch und Gallionsfigur des deutsch-nationalen Lagers Mühsam als einen „der besten und gutmütigsten Menschen, denen ich begegnet bin“, beschreibt, zeugt von Souveränität. 

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„Der Konsumismus hat zynisch eine Welt vernichtet und sie in eine vollkommen irreale verwandelt, wo keine Wahl zwischen Gut und Böse mehr möglich ist. Eine Entscheidung hat allerdings doch stattgefunden: die für die Versteinerung, für den Mangel an Mitleid. Es war das Fernsehen, das auf der praktischen Ebene das Zeitalter des Mitleids abgeschlossen und das hedonistische Zeitalter eingeleitet hat. Ein Zeitalter, indem Jugendliche, die ebenso anmaßend wie frustriert sind aufgrund der Dummheit und gleichzeitigen Unerreichbarkeit der ihnen von der Schule und dem Fernsehen gebotenen Modelle, unaufhaltsam dazu neigen, entweder aggressiv bis zum Verbrechen oder passiv bis zum Unglücklichsein zu werden (was keine geringere Schuld ist).“

(Pier Paolo Pasolini)

Die Zahl der Straftaten in Deutschland ist im vergangenen Jahr um 11,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. Das wurde heute Morgen in den Nachrichten unter Berufung auf die Polizeiliche Kriminalstatistik mitgeteilt, die Bundesinnenministerin Nancy Faeser am heutigen Donnerstag in Berlin vorstellte. Den Nachrichten zufolge wurden bundesweit etwa 5,6 Millionen Straftaten begangen. Die Fallzahl sei im Vergleich zu 2019, dem letzten Jahr ohne Corona-Einschränkungen, um 3,5 Prozentpunkte gestiegen. 57,3 Prozent der Straftaten werden demnach aufgeklärt. Auch die Zahl der Tatverdächtigen ist 2022 gegenüber dem Jahr 2021 um 10,7 Prozent auf 2,1 Millionen gestiegen. Auffällig ist dabei ein Anstieg von 35,5 Prozent bei tatverdächtigen Kindern. 2022 waren es 93.095, 2019 mit 72.890 deutlich weniger. Häufigste Tat bei Kindern und Jugendlichen ist Diebstahl, gefolgt von Körperverletzung, Sachbeschädigung und Rauschgiftkriminalität. Alles andere als dieser Anstieg bei den Jugendlichen wäre auch verwunderlich. Einige gutmeinende Kriminologen, die bei spektakulären Straftaten von Jugendlichen gebetsmühlenartig darauf hingewiesen haben, dass die Kriminalität bei Jugendlichen rückläufig sei, werden sich etwas Neues überlegen müssen. Mit solchen Verharmlosungen erweist man der vermeintlich guten Absicht einen Bärendienst. Die gute Absicht besteht darin, nur ja kein Wasser auf die Mühlen derjenigen zu leiten, die schon immer mit dem Schreckbild des delinquenten Jugendlichen, gern auch mit Migrationshintergrund, Stimmung gemacht und eine diffuse Kriminalitätsangst geschürt haben. Diese kommt immer der politischen Rechten zugute, deren Stammland die „innere Sicherheit“ ist. Die Steigerung der Zahl der von Jugendlichen begangenen Straftaten wird nun mit dem „Corona-Stress“ begründet, was immer das sein soll. Ich denke, sie verweist eher auf Veränderungen in der moralischen Landschaft, auf Schwächen in der Über-Ich- oder Gewissensbildung, auf die Erosion oder Korrosion der inneren Selbstzwangapparatur, wie Norbert Elias es genannt hat. Dagegen ist so schnell kein Kraut gewachsen, weil dahinter tiefgreifende soziale und sozialpsychologische Prozesse liegen, die sich per Dekret nicht ändern lassen. Das diesem Abschnitt vorangestellte Motto von Paoslini weist die Richtung. Ich bin auf diese Zusammenhänge in Folge 43 der DHP, die den Titel Auf der Höhe des Zorns trägt, genauer eingegangen. Auch in meinem im Jahr 2000 erschienenen Buch Amok – Kinder der Kälte ist ein Kapitel zum Thema Jugendkriminalität enthalten, das in seinen Kernaussagen noch aktuell ist. Ich bin fest davon überzeugt, dass es auch in diesem Feld darauf ankommt, den Dingen und den Tatsachen ins Auge zu sehen, auch wenn die daraus gewonnen Erkenntnisse noch so schmerzhaft sind. Mit falscher Rücksichtnahme und Sentimentalität ist hier nichts gewonnen. 

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Gestern wurde Tina Hassel vom ARD-Hauptstadtstudio nach den Ergebnissen der tage- und nächtelangen Beratungen der drei Koalitionsparteien im Kanzleramt befragt. Sie sprach dann von Olaf Scholz als „der Panzler“. Ein Versprecher, der manche Deutung zulässt und eröffnet.

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„Man sollte sich lieber fragen, ob dieser Tod einen tiefen Riss im Leben des Jungen verursacht hat.“

(Jean Paul Sartre)

Als ich in den letzten Tagen so über den Alten Friedhof schlurchte und dabei die tauben, pelzigen Füßc kaum heben konnte, dachte ich plötzlich: Jetzt befindest du dich genau in dem Zustand, den man dir als Strafe für deine frühen Separationsversuche auferlegt hat. Als meine Mutter im Sterben lag, war ich vier Jahre alt. Mein Vater saß im Krankenhaus in Kassel an ihrem Sterbebett und kolportierte später, dass sie in ihrer letzten Stunde zu ihm gesagt habe. „Pass mir auf den Jungen auf, sonst landet er im Gefängnis.“ Natürlich habe ich mich später gefragt, was meine Mutter veranlasst haben könnte, ihrem vierjährigen Sohn eine derart düstere Prognose zu stellen. Sie war Fürsorgerin, wie man damals noch sagte, und hatte vor dem Krieg und im Krieg beruflich mit schwierigen Kindern und Jugendlichen zu tun gehabt. Es gehörte auch zu jener Zeit schon zum sozialpädagogischen Wissensbestand, dass Waisenkinder häufig auffällig werden und eine „antisoziale Tendenz“ entwickeln. Viele Lebensläufe führten vom „Waisenhaus ins Zuchthaus“, wie ein bekanntes Buch von Wolfgang Werner betitelt ist. Vielleicht war es einfach dieses Wissen, das sie diesen folgenreichen Satz sagen ließ. Jedenfalls schleuderte man mir die ganze Kindheit über, wann immer ich etwas getan hatte, was ich nicht hätte tun sollen, diesen Satz entgegen. Und selbst, wenn meine Mutter diesen Satz gar nicht gesagt hätte und er zu meiner pädagogischen Disziplinierung erfunden worden wäre, er hat sich wie eine Prophezeiung auf mein Leben gelegt und dafür gesorgt, dass ich tatsächlich im Gefängnis „gelandet“ bin. Allerdings habe ich der Mutter dabei ein gewissermaßen Sartre‘sches Schnippchen geschlagen. Ich habe meine ursprüngliche Wahl, die man durch die Kolportage jenes ominösen Satzes in mich eingesenkt hat, revidiert und „überschritten“, indem ich es dann doch vorzog, nicht als Insasse, sondern als Mitarbeiter ins Gefängnis zu gehen. Auf eine vertrackte Weise habe ich dennoch der mütterlichen Prophezeiung nachträglichen Gehorsam geleistet.

Der Tod der Mutter hat meinem Leben und meinem Verhältnis zur Welt einen Riss verpasst, der sich trotz aller späteren vertrauensbildenden Maßnahmen nie mehr ganz geschlossen und aus mir einen Zaungast und Beobachter des Lebens gemacht hat. Sie war gegangen ohne Verabschiedung, ohne eine letzte Umarmung, ohne ein Wort der Erklärung und des Trostes. Ich fühlte mich im Stich gelassen und war wütend. Dann aber gab ich mir – wie alle Waisenkinder – die Schuld am Tod der Mutter. Angewidert von meiner Gegenwart hatte sie sich in ihre himmlischen Gemächer zurückgezogen, von wo aus sie mich nun unablässig beobachtete, wie die Erwachsenen mir versicherten. „Wäre ich nur ein besserer, ergebenerer Sohn gewesen, hätte ich besser gehorcht, wäre ich nicht so trotzig gewesen, wäre sie sicher noch da“, dachte oder besser: empfand ich, denn denken konnte ich damals noch nicht. Dass meine Mutter vor mir geflohen war, bewies nur, dass an mir nichts Liebenswertes war. Irgendetwas stimmte nicht mit mir, da musste irgendetwas Schlimmes, Abstoßendes und Böses in und an mir sein. Wie konnte ich das je wieder gut machen? Wer schuldig geworden ist, muss bestraft werden und gehört ins Gefängnis. So ergab die Prophezeiung für mich plötzlich einen Sinn. Eine imaginäre Schuld sehnte sich nach Strafe. Schon früh geriet mein Leben ins Gravitationsfeld von Gefängnissen und ich habe schließlich die Hälfte meines Lebens in einem Gefängnis verbracht. Nach meiner Entlassung aus dem Knast traten prompt die Taubheitsgefühle in meinen Beinen verstärkt in Erscheinung. Gibt es da einen Zusammenhang? Das Resultat der Taubheitsgefühle weist die Richtung, in der die Lösung des Rätsels möglicherweise zu suchen und zu finden ist. Die eben aufgelisteten Gründe für meine Schuld müssten um eine entscheidende Dimension ergänzt werden: Hätte ich nicht versucht, mich schrittweise von der Mutter zu lösen und der Welt zuzuwenden, wäre sie geblieben. Durch meine Verselbständigungsversuche habe ich sie so erzürnt, dass sie sich zurückgezogen hat. Der Weg in die Welt würde mir nun auf immer versperrt sein. Wenn ich ihren Rückzug überleben würde, dann nur um den Preis einer radikalen Selbsteinschränkung. Eigentlich hätte ich als depressiver Mensch in einer psychiatrischen Anstalt landen müssen. Diesem Schicksal konnte ich unter großen Anstrengungen entgehen. Ich habe mir im Laufe der Jahre diverse kleine Freiheiten erkämpft, die im ursprünglichen Strafvollstreckunsgplan nicht vorgesehen waren.

Mein Schreiben wendet sich ja an die Welt, auch das fällt eigentlich unter das mütterliche Verbot. Ich umgehe dieses, indem ich an Orten veröffentliche, an die mir kaum jemand folgt und wo meine Texte vor einer breiteren Rezeption geschützt sind. Alle früher mal ergangenen Einladungen zu Fernsehauftritten und Vorträgen habe ich konsequent ausgeschlagen. Ich habe dabei aus meiner inneren Not eine Tugend gemacht, indem ich meine mediale Abstinenz zum Ausdruck einer Kritik an den Medien erklärte, die ja auch ihre Berechtigung hat. Aber im Grunde hatte ich Angst. Was habe ich für Energien aufgewendet, um die Medienvertreter abzuschütteln! Nach jedem Amoklauf, meinem Spezialgebiet, hagelte es Interviewanfragen und Einladungen in Talkshows. Ich zog mich aufs Schreiben zurück, das in der Abgeschiedenheit meines Zimmers stattfand, und wimmelte alles andere ab. Ich habe das so gründlich getan, dass man mich heute gar nicht mehr behelligt. Mein Bewegungsradius ist denkbar gering. Ich bewege mich auf ein- und ausgetreten Pfaden in einem kleinen Radius um meinen Wohnort herum. Selbst die Fahrten nach Holland habe ich in der Corona-Zeit eingestellt. Weil ich ja taube Beine habe und mich nicht mehr richtig bewegen kann. Dabei ist die Kausalität vielleicht genau andersherum: Ich habe die pelzigen Füße, um einen Grund zu haben, mich nicht fortzubewegen und der Welt zuzuwenden! Manchmal denke ich: Vielleicht sind das alles nur die Hirngespinste eines Menschen, der unter den Einfluss der Psychoanalyse geraten ist, und es ist in Wahrheit so, dass ich einfach mal einen Neurologen aufsuchen sollte. Der wird mich in die Röhre schieben und eine Diagnose stellen. Eventuell könnte er oder sie sogar Abhilfe oder doch Linderung schaffen. Das Symptom symbolisiert eine verdrängte Erinnerung an ein traumatisches Ereignis und verdeckt es zugleich. Die Hoffnung, Symptome würden sich verflüchtigen, wenn man ihrem Sinn auf die Spur kommt, hat sich länger schon als Illusion erwiesen. Auch am Ende dieses Versuchs, dem Symptom meiner tauben Füße auf die Schliche zu kommen, sind meine Füße noch genauso pelzig wie zuvor. Sartre hat in seinem wunderbaren Freud-Drehbuch die Hoffnung des jungen Freud auf die Heilkraft von psychoanalytischer Detektivarbeit so ausgedrückt: „Beim ersten Hahnenschrei verschwinden die Vampire: Sie können das Licht nicht ertragen.“ So einfach ist es leider nicht.

Einem Besuch beim Neurologen steht allerdings etwas entgegen, das ich, seit ich das Wort kenne, meine Iatrophobie nenne: eine ausgeprägte Furcht vor und Abneigung gegen Ärzte. Diese hängt mit den eben angedeuteten Geschehnissen in meiner frühen Kindheit aufs Engste zusammen.

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„Der Blick erlischt, ein großer weißer Körper gleitet aus der Welt hinaus; eine Leere entsteht in der Fülle, die Dinge haben einen unmerklichen Abstand, das Kind distanziert sich. … Seine Entwicklung ist einige Monate oder einige Tage vor dem notwendigen Augenblick stehengeblieben, wo man sich von den Armen der Eltern losreißt, um sich nach draußen zu wenden; die fortschreitende Loslösung wird nicht stattfinden, die Mutter hat eifersüchtig deren Geheimnis bewahrt.“

(Jean Paul Sartre)

Unmittelbar nach dem Tod der Mutter, den man vor mir verbarg und den ich deswegen nicht einmal ansatzweise begreifen konnte, verfiel ich eine Art von stuporöser Erstarrung. Die Welt schien mit der Mutter untergegangen zu sein. „Der Junge ist wieder abwesend“, sagten die Erwachsenen, und fuhren mir mit der Hand scheibenwischerartig durchs Blickfeld, um mich in die Realität zurückzuholen. So vor sich hin zu träumen wurde nicht geduldet. Über allem lag der Schatten ihrer Abwesenheit, ich hatte kein Mandat zum Leben mehr. Der Stupor wurde zu meinem Modus des Kontaktes zur Welt, für die man mir urplötzlich das Visum entzogen hatte. Vorher waren die Welt und die Mutter eins gewesen, alle Dinge spiegelten ihren Blick und warfen ihn auf mich zurück. Jetzt war da eine alles füllende Leere, die sich als innere Watte in mir breit machte. Die Welt verschwand in einem opaken Nebel, ihre Bedeutung erodierte, ich fühlte mich entwirklicht und meines Sinns beraubt. Ich wurde krank, brütete über der Abwesenheit, die mir niemand und nichts vertreiben konnte. War ich schon zu Lebzeiten der Mutter ein wenig pummelig gewesen, wurde ich nun dick und umgab mich mit einer Schicht aus traurigem Fett, die der körperliche Ausdruck meiner inneren Leere und Konturenlosigkeit war. Auch ich musste eines Tages in die Schule und reagierte auf diese Realitätszumutung mit Erbrechen und nicht enden wollender Übelkeit. Man flößte mir Kümmeltee ein und nahm mir den Blinddarm raus. In der Folge erkrankte ich an einer Gelbsucht und musste lange Knäckebrot, Zwieback und Quark essen. Jahrelang hatte ich erhöhte Temperatur, für die sich trotz eifrigen Suchens eine organische Ursache nicht finden ließ. Die unterdrückte Wut und Trauer über den Tod der Mutter verwandelte sich in Eiter, der aus riesigen, fünfmarkstückgroßen Furunkeln aus mir herausquoll. Man kappte mir die Mandeln, ein Eingriff, der bis heute mein Verhältnis zu Ärzten überschattet. Ein in einem abgedunkelten Raum sitzender, weißgekleideter Mann mit einer Art Grubenlampe um den Kopf geschnallt schneidet mir im Rachen herum, und ich spucke Unmengen von Blut in eine Nierenschale. Ärztliche Hilfeleistung erlebte ich als eine Form von Körperverletzung und Strafe für mein In-der-Welt-Sein. Ich wollte ja anders werden, wusste aber nicht, wie ich das anstellen sollte. Ich hätte alles darum gegeben, meinem Vater zu gefallen, schließlich durfte ich nicht riskieren, auch ihn noch zu verlieren und in die Flucht zu schlagen. Aber ich konnte nicht anders, die Welt sagte mir nichts, ihre Imperative blieben mir fremd und unverständlich. Der Vater wird sich angesichts des kleinen agonisierenden „Dicken“, wie ich bald nur noch genannt wurde, gefragt haben, wie er zu so einem Sohn gekommen ist. Ich litt unter seinen fortwährenden Ermahnungen: „Beweg dich, tu etwas, träum nicht!“ Er übernahm die Regie, er gab Hinweise, deutete dahin, zeigte dorthin, und hielt mich zur Mitarbeit an, worauf ich nur mechanisch reagieren konnte. Er animierte mich zu sportlichen Betätigungen. Ich wusste aus dem Durchblättern alter Familienfotoalben, dass Vater in seinen jungen Jahren ein begeisterter und guter Turner gewesen war, während ich am Reck hing wie der berühmte „nasse Sack“. Ich ahnte, wie er mich gern haben wollte, wusste, dass er Dicksein und Dicke verabscheute, konnte diesen Erwartungen aber nicht nachkommen. Ich lebte in ständiger Sorge, von ihm nicht akzeptiert und gemocht zu werden. Niemand baute mir eine Brücke in die Welt, über den Abgrund, den der Tod der Mutter aufgerissen hatte. Der Wolf aus Prokofievs „Peter und der Wolf“ verfolgte mich bis in die Träume und verkörperte meine diffuse Angst. Eine wohlmeinende Nachbarin spielte mir diese Platte immer wieder vor, und dachte, mir damit etwas Gutes zu tun. Die Musik wurde der Soundtrack der Prozesse, die sich in meinem Innere abspielten. Die Folge war: Kein Körperteil durfte beim Schlafen über den Bettrand hinausragen,das biss der Wolf ab. Ich klammerte mich an den Zipfel der Bettdecke und streichelte mir mit ihm die Innenfläche der Hand, eine körperliche Reminiszenz an das mit der Mutter oft gespielte Spiel: „Hier hast du einen Taler, kauf dir ein Kälbchen, Kälbchen hat ein Schwänzchen, das macht diedeldiedeldenzchen.“ Weiter erhöhte Temperatur, wieder und wieder auf Tuberkulose untersucht. Ich verfügte über keinen Reizschutz der Außenwelt gegenüber, und so reagierte mein Körper mit einer Art von vegetativem Daueralarm. Meine Stiefmutter ließ sich weder von meiner erhöhten Temperatur noch von meinem Erbrechen vor Schulbeginn beeindrucken. Ein universaler Simulationsverdacht begann sich um mich herum breitzumachen, und so gab ich es irgendwann auf und fügte mich in mein Schicksal. In den ersten Schuljahren der Volksschule, wo ich wegen meines Dickseins und meiner Unbeholfenheit ständig gehänselt wurde, entwickelte ich mich zu einem berüchtigten Schläger und entdeckte die Wut als Ausweg aus der Angst: Lieber Schrecken verbreiten als ständig in Angst zu leben. Vor dem Antritt jeder noch so kleinen Reise musste ich mich weiterhin übergeben. Ich hatte nie die Erfahrung gemacht, mich in der Gewissheit entfernen zu können, wieder zurückkehren zu können, und zurückkehren zu dürfen in der Gewissheit, mich erneut entfernen zu können. So fürchtete ich immer das Schlimmste: Nach deiner Rückkehr wird nichts mehr so sein, wie du es verlassen hast. Über dem Reisen lag die Furie des Verschwindens. Was habe ich nicht für Anstrengungen unternommen, um den Antritt einer Reise zu verhindern. Einmal trat ich mir am Vorabend vor der Fahrt in ein großes sommerliches Pfadfinderlager einen rostigen Nagel in den Fuß, was natürlich zur Folge hatte, dass ich zu Hause bleiben durfte. War ich allerdings dann doch endlich einmal von zu Hause fort, wollte ich nicht mehr zurück und begrüßte nach der Heimkehr meinen Teddy mit den Worten: „Da bin ich leider wieder.“ In den Sommerferien, die ich oft bei meiner Patentante Luise verbrachte, lernte ich das Radfahren, bestand aber vor Antritt jeder noch so kleinen Radtour darauf, dass man Heftpflaster mitnehmen müsse. Heftpflaster wurde zum Symbol eines übersteigerten Sicherheitsbedürfnisses, das sich als Folge der Verlusterfahrung und eines basalen Ur-Misstrauens eingestellt hatte. Ein Pflaster über dem Riss. Mit 13 Jahren wurde ein mich die ganze Kindheit begleitender Alptraum, in dem ich aus schwindelnden Höhen ins Bodenlose falle, Wirklichkeit. Im Rahmen einer idiotischen Mutprobe bei den Pfadfindern, zu denen man mich geschickt hatte, damit sie mich aus meiner stuporösen Erstarrung und merkwürdigen Indolenz aufscheuchten, stürzte ich aus beträchtlicher Höhe von einem Baum und verbrachte anschließend ein gutes halbes Jahr mit diversen Knochenbrüchen auf der Kinderstation eines Krankenhauses, das ich als komplette Hölle erinnere. Der Vater brachte mir abends die Hausaufgaben vom Tage ans Krankenbett, auf dass ich bloß ja mitkäme und kein Schuljahr versäumte. Wie ich die Schule, ein humanistisches Gymnasium, bis zum Abitur überstand, ist mir bis heute ein Rätsel geblieben. Um meinen schulischen Leistungen auf die Sprünge zu helfen, legte mir der Vater mitunter aus der Zeitung ausgerissene Anzeigen für offene Lehrstellen auf den Frühstückstisch, und diese Drohung reichte, um mich, wie es genannt wurde, „am Riemen zu reißen“. Ich lebte in einer nach der Wiederheirat meines Vaters entstandenen großen Familie, in der ich mich fremd und wie im Exil fühlte, eine mitgeschleppte, schwierige Altlast aus einer vergangenen Epoche des väterlichen Lebens. „Nichts wie weg hier“, wurde schließlich meine oberste Maxime und ich erklärte die Bremer Stadtmusikanten zu meinen geheimen Heroen: „Etwas Besseres als das hier findest du überall!“

Um auf den Ausgangspunkt zurückzukommen: Ärzte sind für mich aufs Engte mit dem Trauma des Verlustes meiner Mutter verbunden; jeder Arztbesuch stellt in gewissem Sinn eine Retraumatisierung dar. Immer erlitt ich beim Betreten einer Praxis Schweißausbrüche, einmal floh durchs geöffnete Fenster des Wartezimmers. Im Laufe meiner Erwachsenenlebens bildeten sich die Ängste etwas zurück. Ich begegnete kompetenten, verständnisvollen, freundlichen Ärzten. Lange Jahre hatte ich das Glück, dass mein Hausarzt zugleich ein Freund war. Er gab mir Termine in den Abendstunden, wo wir immer Zeit fanden, über dies und das zu sprechen. Er war ein guter Arzt in dem Sinn, dass er sich für die Gesamtheit meiner Lebenswirklichkeit interessierte und meine Symptome in ihrem Kontext verortete und deutete. Er war genauso alt wie ich, wie hatten eine gemeinsame Geschichte in der linken Bewegung und verstanden uns gut. Zu ihm ging ich schließlich sogar gern. Da er in meinem Alter ist, ging er parallel zu mir in Ruhestand. Er stellte mich eines Tages seinem Nachfolger vor, der fachlich gut sein mag, mit dem ich aber, wie man so sagt, nicht warm wurde. Seit einigen Jahren bin ich nun ohne Arzt und unterziehe mich auch keinen sogenannten Vorsorgeuntersuchungen mehr. Seit fünf Jahren hat man mir kein Blut abgenommen. Ich bin mir natürlich der Gefahr bewusst, die meine Iatrophobie mit sich bringt. Ich meide nicht nur ‚schlechte‘ Ärzte, sondern Ärzte überhaupt, also auch mögliche ‚gute‘. Das birgt die Gefahr, dass rechtzeitige Diagnosen nicht gestellt und sich abzeichnende pathologische Entwicklungen nicht frühzeitig erkannt werden können. Immerhin habe ich mich in letzter Zeit in meinem Bekanntenkreis schon mal nach ‚guten Ärzten‘ erkundigt und mir einige Adressen aufgeschrieben. Wenn man zum ersten Mal einen Arzt oder eine Ärztin aufsucht, dann geschieht das fast immer auf Empfehlung von jemand, einem Verwandten oder Freund. Eine solche Empfehlung schlägt eine Brücke zu einem Unbekannten und schafft einen Vertrauensvorschuss. Vor ein paar Nächten träumte ich von einem gelungenen Arztbesuch. Das sind kleine Zeichen der Hoffnung. Es ist schmerzhaft zu sehen und zu erfahren, dass ich trotz meiner 72 Jahre noch immer der kleine verlassene Junge bin, der nicht weiß, wie ihm geschieht und voller Angst ist. Und nun büße ich peu à peu die Fähigkeit zu gehen ein, also genau die Fähigkeit, die mich damals instand gesetzt hatte, mich von der Mutter ab- und der Welt zuzuwenden. Es ist zum Verrücktwerden; hört das denn nie auf? Wie alt muss man werden, dass die Eltern endlich von einem ablassen?

Die Welt hatte sich mir gegenüber als übermächtiges Bollwerk hingestellt, das mich zur Anpassung nötigte. Welcher Spielraum für eigene Entscheidungen bleibt einem Mensch unter solchen Bedingungen? Später, viel später, stieß ich bei Sartre auf eine Bemerkung, die mir einen Tritt in den verzagten Arsch verpasste: „Ich bin davon überzeugt, dass der Mensch immer etwas aus dem machen kann, was man aus ihm macht. Heute würde ich den Begriff der Freiheit folgendermaßen definieren: Freiheit ist jene kleine Bewegung, die aus einem völlig gesellschaftlich bedingten Wesen einen Menschen macht, der nicht in allem das darstellt, was von seinem Bedingtsein herrührt.“ In diesem Sinne habe ich kleine Schritte in Richtung Freiheit gewagt und auch hinbekommen. Sonst wäre ich Insasse einer Irrenanstalt oder tatsächlich Zuchthäusler geworden.

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Als ich meinen Text über den Kindermord von Freudenberg abgeschickt hatte, erreicht mich am nächsten Morgen die Mail einer Redakteurin, die mich bat den Text ein wenig zu kürzen. Dann hieß es weiter: „Aber vor allem wandte einer meiner Kollegen ein, dass soziale Medien durchaus auch Kreativität freisetzen wie Tiktok ect. und du das doch ein bisschen einseitig und kulturkritisch siehst.“ Der Einfachheit halber habe ich deswegen die Passage über den Zusammenhang von Mobbing und den sogenannten sozialen Medien gestrichen. Hinterher habe ich mich über mich geärgert. Man darf sich dem Zeitgeist nicht beugen und sich Wahrheiten nicht ausreden lassen. Nur um eine jüngere Leserschaft nicht zu verärgern, soll man den verheerenden Einfluss von Social Media auf das Bewusstsein und den Alltag von Heranwachsenden nicht erwähnen? Ich leugne nicht, dass diese Medien im Kontext von zeitgenössischen Protestbewegungen eine wichtige Rolle spielen, aber das ändert nichts daran, dass die Gesamtbilanz doch eher negativ ausfällt. Wie viele junge Leute bewegen sich im Kontext emanzipatorischer Bewegungen und wie viele geraten unter den Einfluss von Influencern? Das Buch von Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt über Influencer liefert dafür viele Belege. Dass Social Media im Kontext von Mobbing und Dissing eine große spielt, wird von niemandem, der sich mit diesem Phänomen befasst, bestritten. Aus dem Schutz der Anonymität heraus werden andere mittels Beleidigungen, Beschimpfungen, Verbreitung von Gerüchten oder Lügen und kompromittierenden Fotos oder Foto-Montagen drangsaliert. Die sozialen Medien fungieren als digitaler Pranger. Um ein Maximum an Nutzerzeit herauszuschlagen, fördern die Social-Media-Plattformen all jene Emotionen, die Menschen am längsten am Bildschirm halten, und das sind Häme, Schadenfreude, Hass und Niedertracht. Weil die Betreiber der Plattformen genau wissen, was sie tun und anrichten, schicken die Bosse aus dem Silicon Valley ihre eigenen Kinder auf Schulen, an denen Handys verboten sind. Social media legt die Axt viel gründlicher an den Baum der Demokratie, als Neonazis das je könnten. Sie höhlt ihn peu à peu aus und lässt jene menschlichen Fähigkeiten absterben, von deren Existenz wahrhafte Demokratie lebt. Welche sind das? Vor allem ist da kritische Urteilskraft zu nennen, die Befreiung von Vorurteilen, Zweifel gegenüber eingeschliffenen Denkgewohnheiten, analytische Schärfe, genaues Hinsehen, das Erkennen und Herstellen von Zusammenhängen. Wahrhafte Demokratie verlangt aber auch Mitgefühl, also die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinversetzen und die Welt aus ihrer Perspektive sehen zu können. Oskar Negt hat darauf hingewiesen, dass Demokratie auf die Existenz von Demokraten angewiesen ist, und Demokraten werden nicht geboren, sondern müssen zu solchen erzogen und gebildet werden. Menschen können zur Vernunft kommen, damit diese Möglichkeit sich entwickeln und entfalten kann, bedarf es gewisser Bedingungen. Vernunft und Demokratie müssen erlernt und eingeübt werden. Hier hapert es an allen Ecken und Kanten.

Wenn das Internet mehr und mehr zu einer Hass-Maschine verkommen ist, warum schafft es eine demokratische Gesellschaft nicht ab? Wenn feststeht, dass das Internet Haltungen fördert, die zutiefst undemokratisch sind, dass es die kritische Urteilskraft unterminiert, warum halten wir an ihm fest? Wie kann Demokratie im Zeitalter unbegrenzter Manipulierbarkeit erhalten bleiben? Unsere politische Klasse ist sich in einem Punkt einig: Mehr Glasfaserkabel müssen verlegt werden, um das Netz schneller zu machen. Man hört nichts oder wenig über die Gefährdungen der Demokratie. Warum liefern wir Kinder dieser Verblödungsmaschine aus und lassen es zu, dass sie früh angefixt und in die Abhängigkeit von Smartphones und Computerspielen getrieben werden? Wir wissen ja noch viel zu wenig darüber, was das Aufwachsen vor und mit Bildschirmen für die Heranwachsenden und die Entwicklung ihres Selbst- und Weltverhältnisses bedeutet. Kritische Neurologen warnen seit Jahren, dass auf diese Weise systematisch psychisch frigide Psychopathen herangezogen werden. Ich habe im Jahr 2018 unter dem Titel Digital idiots Lehrer und Schulen wegen ihrer weitgehend kritiklosen Mitwirkung an diesen Prozessen kritisiert und mir dafür den Vorwurf der Maschinenstürmerei eingehandelt. Da ich seit Längerem mit der Maschinenstürmerei liebäugele, kann ich mit diesem Vorwurf gut leben. Ich habe mich in der Vorbemerkung zum dritten Band meiner Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus mit der Frage beschäftigt: Brauchen wir einen neuen Maschinensturm? Neu frage ich aus dem Grund, weil es in England zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine breite soziale Bewegung gab, die unter den Namen Luddismus in die Geschichte der frühen Arbeiterbewegung eingegangen ist. Ich würde auf diese Frage auch fünf Jahre später noch mit Ja antworten.

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Gestern sah ich eine junge Frau mit ihrem vielleicht dreijährigen Sohn am Haus vorübergehen. Die Frau redete laut an ihr Handy hin. Das Kind ging ein wenig seitlich versetzt hinter ihr her. Es hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu. Es kann sich um einen Protest gegen den konkreten Gesprächspartner der Mutter gehandelt haben. Ich deutete diese kleine Pantomime des Jungen als Revolte gegen den Handyabusus seiner Mutter und der Erwachsenen. Sie machte mir Mut, dass vielleicht eines Tages doch so etwas stattfindet wie eine Auflehnung gegen den Digital-Terror.

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Manchmal spielt einem der Zufall ein Buch in die Hände, das genau in die augenblickliche Lebenssituation passt und einem wie gerufen vorkommt. In einem dieser öffentlichen Bücherschränke stieß ich auf einen Roman des Schweizers Arthur Honegger. Er kam 1924 als uneheliches Kind zur Welt und wurde seiner Mutter von Amts wegen weggenommen. Er kam in eine Pflegefamilie und wurde dann mit 14 Jahren für drei Jahre in eine Arbeitserziehungsanstalt eingewiesen. Die Reise dorthin beschreibt er eingangs seines Romans Die Fertigmacher. Sein Vormund saß die ganze Fahrt über stumm neben ihm und starrte vor sich hin. Die Anstalt Uitikon war ein langgezogener, kahler Bau, der schon äußerlich sofort als Anstalt erkennbar war. Der Vormund lieferte den Bub beim Direktor ab und verschwand. Der Junge sah ihn nie mehr wieder. Beim Abschied sagte er noch: „Jetzt bist du endlich da, wo du hingehörst.“ Und dann noch: „Du wirst noch im Zuchthaus enden.“ Als ich das las, war ich perplex. Einen ganz ähnlichen Satz hatte ich vor zwei Tagen als auf mich bezogene sinistre Prophezeiung meiner Mutter auf ihrem Sterbebett kolportiert. Nun begegnete ich ihm im Roman von Arthur Honegger wieder. Auch ihm gelang es, sich der Macht der Prophezeiung zu entziehen. Nach der Entlassung aus der Erziehungsanstalt arbeitete er als Bauernknecht, Kellner, Lokalredakteur und Parteisekretär der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz. 1974 erschien sein erstes Buch, das mir nun in die Hände gefallen ist und das ich gleich nach dem Fund im Botanischen Garten zu lesen begann. Ich werde euch vom Fortgang meiner Lektüre berichten. Honegger ist im Jahr 2017 im Alter von 92 Jahren in der Schweiz gestorben. Als die Buben in der Vorweihnachtszeit durchs Dorf zogen, erhielten sie von den Bauern gelegentlich Birnbrot, wahrscheinlich nicht das Glarner Birnbrot, das wir von Robert Walsers Begegnung mit Lenin kennen, aber vielleicht ein Birnbrot aus dem Zürcher Oberland, wo die Pflegefamilie ansässig war, in deren Obhut der kleine Arthur gegeben worden war.

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In Jüngers Tagebüchern bin ich auf rund vierhundert bisher gelesenen Seiten sicher schon zehn Mal auf Passagen gestoßen, in denen von Schlangen die Rede ist. Jünger scheint von diesen Tieren fasziniert gewesen zu sein. Nun muss man allerdings bedenken, dass Schlangen früher weiter verbreitet waren und man ihnen, sobald man die Stadt verlassen hatte, auf Schritt und Tritt begegnen konnte. Ein Bekannter Jüngers sitzt in Bayern auf einer Bank und betrachtet die Berge, als neben ihm von einem Baum eine Schlange zu Boden fällt. Er wäre dann gegangen, die Aussicht hätte ihm nicht mehr behagt. Ich habe bereits von meiner einzigen Begegnung mit einer Kreuzotter berichtet, allerdings im Augenblick ihres Todes. Ich war vielleicht sieben Jahre alt und Onkel Karl hatte mich auf eine seiner Wanderungen mitgenommen. Wir gingen so nebeneinander her. Der Onkel deutete auf irgendeine Pflanze am Wegesrand und nannte dann prompt ihren Namen. Plötzlich drückte er mich mit dem Arm zurück und forderte mich auf, stehen zu bleiben. Er hatte auf dem Feldweg vor uns eine Kreuzotter entdeckt, die zusammengerollt in der Sonne lag. Er nahm seinen knotigen Wanderstock und erschlug die Schlange mit einem wuchtigen Hieb. Dann packte er sie am Schwanzende und schleuderte sie in die nächste Wiesen. „Da wird sie der Habicht holen“, sagte er befriedigt. Bis heute hoffe ich darauf, noch einmal einem lebenden Exemplar zu begegnen. Sie sind in Deutschland bis auf wenige Regionen ausgerottet. In älteren Autobiographien kommt die Warnung von Kreuzottern häufig vor, zum Beispiel in Guntram Vespers autobiographischen Roman Frohburg. Wenn wir als Kinder in die Heidelbeeren gehen wollten, wurden wir ermahnt, immer erst mit einem Stock auf die Büsche zu klopfen und mit den Füßen fest aufzustampfen. Das würde die Schlangen, die dort womöglich lauerten, vertreiben. Vater zeigte mir am Edersee Schlangenhäute, die zwischen den Steinen am Ufer zu finden waren. Sie erinnerten an Pergamentpapier, in das wir unsere Vesperbrote einwickelten. Ringelnattern, die es hier in Wassernähe in großer Zahl gab, hatten sich gehäutet. Ab und zu sahen wir eine, die mit den typischen Schlangenbewegungen vor uns ins hohe Gras oder ins Wasser floh. Sie seien nicht giftig und nur für Frösche und Mäuse eine Gefahr, sagte Vater. Auch Ringelnattern sind inzwischen so gut wie ausgestorben, jedenfalls in meiner Umgebung. Gelegentlich begegne ich einer Blindschleiche, aber das ist ja keine Schlange, sondern eine Echsenart. Auch sie sind nach meiner Beobachtung in den letzten Jahren seltener geworden. In einer Fibel, die ich seit der Volksschulzeit aufbewahrt habe und die Vom Werden und Wachsen heißt, findet sich am Ende des Kapitels über Schlangen die Anweisung: „Eine Kreuzotter hat dich in den Fuß gebissen. Binde die Wunde ab! Zeichne, wie man eine Wunde abbindet!“ Wenn wir mit den Pfadfindern auf Fahrt gingen, hatte einer der Stammesoberen immer ein Serum dabei, für den Fall, dass jemand von einer Kreuzotter gebissen würde.

Ernst Jünger träumte häufig von Schlangen und liefert selbst eine Art Deutung: „Die Urkraft dieser Tiere liegt ja darin, dass sie Leben und Tod verkörpern, und dann auch Gut und Böse – im gleichen Augenblicke, in dem der Mensch durch die Schlange die Erkenntnis von Gut und Böse gewann, gewann er den Tod. Daher ist der Anblick einer Schlange für jeden ein Erlebnis ungeheuerlicher Art – fast stärker als des Geschlechts, mit dem er ja aber auch zusammenhängt.“ Schlangen symbolisieren das Unheimliche, das überall lauert, das Dunkle des Alltags. Höhlen sind ihre Aufenthaltsorte, man hebt einen Stein auf und darunter liegt eine zusammengerollte Schlange. Kurzum: Schlangen symbolisieren das Freudsche Unbewusste, die unheimliche Abgründigkeit der Welt, unsere heimlichen Wünsche. Dieter Wellershoff hat seine Frankfurter Poetik-Vorlesungen den Titel Das Schimmern der Schlangenhaut gegeben. Sie kreisen um die unheimliche Abgründigkeit der Welt und die Möglichkeiten, literarisch mit dieser umzugehen. Erfahrbar wird sie für uns, wenn wir aus unserer Ordnung der Dinge fallen und das Gefüge unserer Anpassung ins Wanken gerät. Was sich in diesen Augenblicken äußerer und innerer Labilität zeigt, nennt Wellershoff das Schimmern der Schlangenhaut. „Mythologisch gesehen ist die Schlange, die das Göttliche und das Dämonische, das Leben und den Tod bedeutet, ein Phänomen des Hell-Dunkels und der unheimlichen Gleichzeitigkeit von Verführung und tödlicher Bedrohlichkeit. Lange Zeit hat der kontrastreich gezeichnete Leib, unsichtbar für unser Auge, im Halbschatten oder Halblicht gelegen. Dann auf einmal, lautlos hervorkriechend, zeigt er sich uns in seiner zweideutigen Schönheit. Dieses lautlose und unerwartete Auftauchen einer verborgenen Gefahr ist ein Bild für Lebensaugenblicke, in denen Menschen erkennen, dass sie ein Problem haben, unabweisbar und nicht absehbar in seinen Konsequenzen. Das sind die Augenblicke, in denen Spannung auftritt, weil ein Lebensmuster vor seiner Revision oder vor seinem Zusammenbruch steht.“ Jünger hat zahlreiche solcher Momente erlebt und er liebte die Gefahr, vielleicht rührt daher seine Faszination von Schlangen.

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Eine neue Generation von Eichhörnchen ist noch nicht so zutraulich wie ihre Vorfahren. Wo sind die geblieben? Sie können ja nicht alle gleichzeitig gestorben sein. Die neuen und deutlich kleineren Hörnchen umkreisen mich, wahren aber immer einen gewissen Sicherheitsabstand. Sie nehmen die Walnüsse nicht aus meiner Hand entgegen. Ich rolle sie ihnen vor die Pfoten, sie beschnuppern sie, greifen sie auf und verschwinden dann mit ihnen auf den nächsten Baum oder in die Wiese.

Eine junge Frau schleppt eine Leiter mit sich, lehnt sie an Bäume und klettert zu den Brutkästen hinauf. Sie öffnet sie behutsam und schaut, ob die bewohnt sind. Anschließend tippt sie etwas in ihr Notebook und wendet sich dem nächsten Baum mit Kasten zu. Als sie an der Bank vorübergeht, auf der ich mich zum Lesen niedergelassen habe, frage ich sie, ob alle Kästen gut vermietet seien. Sie lacht und bejaht. Die meisten Kästen seien bewohnt und in einigen habe sie auch bereits ein Gelege vorgefunden. Kohl- und Blaumeisen und Kleiber seien bereits am Brüten. „Erschrecken sich die Tiere nicht, wenn Sie plötzlich den Kasten öffnen?“, frage ich. „Als höfliche Biologin und Vermieterin klopfe ich natürlich vorher an“ erwidert sie. Sie brütenden Vögel zögen sich auf den nächsten Baum zurück, zeterten von dort aus ein wenig, kämen dann aber schnell zurück. Sie ging dann weiter,  und ich tauchte wieder in die Lektüre des Romans von Honegger ein, die mich sehr fesselt und in Beschlag nimmt. Zur Jugendzeit von Honegger – und auch noch von mir – war im Grunde jeder Erwachsene berechtigt, Kinder zu züchtigen und zu schlagen, keineswegs bloß die eigenen. Und so wird die Hauptfigur des Romans eigentlich unablässig von irgendjemand geschlagen. Der Lehrer, der Pfarrer, der Nachbar, der Schaffner im Zug, alle halten sich an Kindern schadlos und machen sie zu ihren Prügelknaben.

Über das Urnengrab meines Freundes Uli krabbelten in langen Kolonnen Feuerkäfer. Die ersten Schmetterlinge wagten sich hervor und taumelten durch die kühle Frühlingsluft. Ein Zitronenfalter ließ sich auf einem Grab nieder, das mit Stiefmütterchen bepflanzt war. Er war nach wenigen Augenblicken inmitten der Blüten nicht mehr zu erkennen, von deren Nektar er trank. Überall flatterten Falter umher, als wäre sie alle auf einmal auf dem Winterschlaf erwacht. Eine Hummel flog mit sonorem Brummen von Blüte zu Blüte. Die Taschen an den Hinterbeinen waren bereits prall mit Pollen gefüllt und leuchteten hell. Ich wundere mich stets, dass so plumpe Tiere überhaupt fliegen können. Nach so einem „Probeliegen“ auf dem Alten Friedhof sage ich mir jedes Mal: Jetzt geht es darum, den Rest deiner Tage mit Anstand hinter dich zu bringen.

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Im bayerischen Wunsiedel ist am Dienstag in einem Kinderheim ein zehnjähriges Mädchen offenbar gewaltsam zu Tode gekommen. Nach tagelangen Ermittlungen gaben die Behörden am Karfreitag bekannt, dass ein elfjähriger Junge an der Tat zumindest beteiligt gewesen sein soll. Er wurde präventiv in einer gesicherten Einrichtung untergebracht.

Wir haben es möglicherweise mit einer sogenannten Resonanzstraftat zu tun. „Was die Mädchen in Freudenberg gemacht haben, das kriegen wir hier auch hin“, könnte das Motto gewesen sein. Vor allem das riesige mediale Echo auf die Tat von Freudenberg könnte zur Nachahmung animiert haben. Wir wissen seit Langem, dass man mit der Berichterstattung über solche Taten sehr sparsam und vorsichtig umgehen sollte. Genau das Gegenteil ist auch dieses Mal wieder passiert. Tagelang war von nichts anderem die Rede als vom „Kindermord in Freudenberg“. Ich würde so weit gehen, von einer Mitschuld der Medien zu sprechen. So viel Aufmerksamkeit ist für die Parias der Aufmerksamkeitsökonomie, die darunter leiden, nicht gesehen und wahrgenommen zu werden, ein verlockendes Angebot. Alles das muss, wie immer in solchen Fällen, im Konjunktiv und mit Vorbehalt formuliert werden. Dass ein Elfjähriger eine Zehnjährige ausgerechnet in einer Jugendhilfeeinrichtung umbringt, sprengt unser Vorstellungsvermögen. Auch mir, der ich aus dem Gefängnis einiges gewöhnt bin, fällt es schwer, mir eine solche Tat vorzustellen. Ein weiteres Kapitel in der „Universalgeschichte der Niedertracht“ (Jorge Luis Borges). Ansonsten gilt, was ich in Teil 70 über den Mord von Freudenberg gesagt habe.

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Es ist mal wieder Zeit für meinen Lieblings-Oster-Witz, den Peter Ustinov gelegentlich erzählt hat: Breschnjew betritt an Ostern sein Büro. Sein Sekretär murmelt ihm zu: „Christus ist auferstanden“. Das ist der traditionelle Ostergruß der Russen, den auch die Herrschaft der Kommunistischen Partei nicht auszumerzen vermochte. Breschnjew schaut ihn skeptisch an, sagt aber nichts. Wenig später verlässt er sein Büro. Auf dem Gang kommt ihm ein Politbüro-Mitglied entgegen und sagt laut: „Christus ist auferstanden, Genosse Generalsekretär“. Daraufhin brummt Breschnjew unwirsch: „Man hat mich bereits informiert.“