72 | Machnos Erben

„Wir werden die Diener dieser Megamaschine. Die Produktion steht nicht mehr in unserem Dienst, sondern wir stehen im Dienst der Produktion. Und aufgrund der gleichzeitigen Professionalisierung aller möglichen Dienstleistungen werden wir unfähig, für uns selbst zu sorgen, unsere Bedürfnisse selbst zu bestimmen und sie selbst zu befriedigen. Wir werden von Experten bevormundet und entmündigt.“

(André Gorz)

ChatGPT, was ist denn das nun schon wieder? Schafft sich der Mensch nun endgültig selber ab? Hat er das nicht längst getan? Die Menschen werden in dem Maß blöder, wie die Dinge und Maschinen intelligenter werden. Die modernen Naturwissenschaften haben im Interesse der Naturbeherrschung und des Profits die Welt auf eine Summe gesetzmäßiger Mechanismen reduziert, die auf mathematische Formeln gebracht werden können. Dieses Denken, heißt es in André Gorz‘ Kritik der ökonomischen Vernunft, bringt schließlich eine Maschine hervor, „die das Denken der Äußerlichkeit durch die Äußerlichkeit dieses Denkens selbst ersetzt und seitdem als Bezugspunkt für den menschlichen Geist dient: der Computer, gleichzeitig Rechenmaschine und ‚künstliche Intelligenz‘, Maschine zur Komposition von Musik, zum Schreiben von Gedichten, zur Krankheitsdiagnose, zur Übersetzung, zum Sprechen … Die Fähigkeit zum Entwurf von Maschinen begreift sich schließlich selbst als Maschine; der Geist, der in der Lage ist, wie eine Maschine zu funktionieren, erkennt sich in der Maschine wieder, die in der Lage ist, wie er selbst zu funktionieren – ohne zu begreifen, dass in Wirklichkeit die Maschine nicht wie der Geist funktioniert, sondern nur wie jener Geist, der gelernt hat, wie eine Maschine zu funktionieren.“

Habe vergessen daran zu erinnern, dass André Gorz am 9. Februar 100 Jahre alt geworden wäre, wenn er sich nicht am 22. September 2007 gemeinsam mit seiner schwer kranken Frau Dorine in ihrem Haus in Frankreich das Leben genommen hätte. Ich empfehle jedem, den wunderbaren Brief an D. zu lesen, in dem André Gorz die Geschichte ihrer Liebe beschrieben hat. Sie schloss natürlich gemeinsame Ziele und Gedanken ein: „In dieser Hinsicht herrschte zwischen uns stillschweigendes Einvernehmen. Wir hatten dieselben Werte, ich meine dieselbe Auffassung dessen, was dem Leben Sinn verleiht oder ihm den Sinn zu rauben droht.“ Ich lese André Gorz zu Ehren noch einmal sein Buch Zur Strategie der Arbeiterbewegung im Neokapitalismus, das auf Deutsch im Jahr 1967 in der Europäischen Verlagsanstalt erschienen ist. Gleich zu Beginn heißt es da: „Es gibt nicht eine Krise der Arbeiterbewegung, sondern eine Krise ihrer Theorie. Die Ursache dieser Krise … liegt vor allem darin, dass unmittelbare wirtschaftliche Forderungen nicht mehr genügen, um den radikalen Antagonismus der Arbeitnehmer als gesellschaftlicher Klasse gegenüber dem Kapitalismus  auszudrücken und zu konkretisieren.“ Es gelte nicht nur, die Gesellschaftsordnung und das Wirtschaftssystem in Frage zu stellen, sondern die gesamte kapitalistische Zivilisation, ihre Prioritäten, ihre Wertordnung, ihre Kultur oder Unkultur. Wie man sieht, ist Gorz hochaktuell. Auch sein frühes, ganz im Banne Sartres geschriebenes Buch Der Verräter ist grandios und hat zumindest auf mich einen nachhaltigen Einfluss ausgeübt.

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In der Ausgabe der FAZ vom 9. April stieß ich auf eine Artikel, den ich Machnos Erben genannt hätte, der in FAZ aber Die linken Krieger der Ukraine überschrieben ist. Er berichtet über ukrainische Anarchisten, die an der Front gegen die russischen Invasoren kämpfen. Sie reihen sich in einen Kampf ein, der in ihren Augen ein antiimperialistischer Befreiungskrieg gegen Russland ist. Ihre Einheit ist ein bunt zusammengewürfelter Haufen ganz verschiedener Menschen, die der Kampf eint. Lastiwka und Jan, die beiden in dem Artikel porträtierten Anarchos, betätigen sich als Drohnenpiloten und spähen russischen Stellungen aus. Für die Haltung vieler westlicher Linken, die gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und für Verhandlungen mit Putin eintreten, haben sie wenig Verständnis. Wer einer bedrohten Demokratie Waffen verweigere, spiele den Feinden der Freiheit direkt in die Hände und mache sich zu deren Komplizen. „Man verhandelt nicht mit jemandem, der dich gerade vergewaltigt“, sagt Xenia, eine Genossin der beiden. Natürlich sehen sie auch, dass der Krieg sie verändert, sie härter macht und ihr Antlitz entstellt. Man muss aufpassen, dass die kriegerischen Mittel nicht die Ziele vergiften und zerstören. Dass sie diese Gefahr sehen, immunisiert sie partiell gegen sie.

Die ukrainischen Anarchisten haben mit Russland beziehungsweise der Sowjetunion eh noch eine historische Rechnung offen. Der Anarchist Nestor Machno, der den russischen Agraranarchismus repräsentierte und seine Massenbasis in der Ukraine besaß, kämpfte mit einer rund 15.000 Männer umfassenden Revolutionsarmee an der Seite der Roten Armee und bewahrte sie einige Mal vor verheerenden Niederlagen. Mit tatkräftiger Unterstützung der Machnowtschina gelang es Ende 1920, die letzten Reste der Weißen Armeen von sowjetischem Territorium zu vertreiben. Wie später im Spanischen Bürgerkrieg wurden in den von Machnos Reiterarmee befreiten Gebieten Landkommunen eingeführt und das Geld abgeschafft. Klar, dass das den Bolschewiki ein Dorn im Auge war.

Lenin machte den Anarchisten zunächst ein Angebot zur Mitarbeit: „Wir billigen ihre Methode nicht, aber wir achten sie hoch wegen ihres Opfermuts und ihrer Treue.“ Nachdem man nach dem Ende des Bürgerkriegs ihren Opfermut und ihre Treue nicht mehr benötigte, besannen sich die Bolschewiki auf den Satz des revolutionären Polizeipräsidenten während der Commune in Lyon über Bakunin: „Welch ein Mann! Am ersten Tag  ist er ein wahrer Schatz; am zweiten sollte er erschossen werden.“ Lenin und Trotzki zögerten nicht, dieser Empfehlung zu folgen. Statt Machno und den Anarchisten für ihren Einsatz im Kampf um die Errungenschaften der Oktoberrevolution zu danken, begannen die Bolschewiki nach dem Sieg im Bürgerkrieg umgehend mit deren gnadenloser Verfolgung. Machnos Männer in der Ukraine wurden von den Bolschewiki zu Kriminellen und Banditen erklärt und von der Roten Armee gnadenlos gejagt. Machno gelang es, das Land zu verlassen, und er schlug sich fortan in Paris als Arbeiter durch. Dort wurde er gelegentlich von den spanischen Anarchisten Durruti und Ascaso besucht und er versuchte, sie in ihrem Kampf für einen freiheitlichen Kommunismus zu unterstützen, dessen Niederlage im Spanischen Bürgerkrieg nicht zuletzt auf das Konto sowjetischer NKWD-Leute geht, die in Spanien ihren Kampf gegen Anarchisten und Trotzkisten fortsetzten. George Orwell hat in seinem Buch Mein Katalonien von den verheerenden Folgen dieses Bruderkampfes berichtet. Diese Erfahrung war der Auslöser für Orwells antistalinistisches Engagement. Was außerdem von Orwell zu lernen wäre: Dass Pazifismus angesichts eines mörderischen Feindes „objektiv profaschistisch“ ist: „Wenn du die Kriegsanstrengung der einen Seite untergräbst, dann hilfst du automatisch der anderen. Es gibt keine Möglichkeit, irgendwie außerhalb eines solchen Krieges zu bleiben.“ Das ist eine Lehre aus dem Spanischen Bürgerkrieg für die heutige Situation um Russland und die Ukraine.

Nach dem traurigen Ende des Spanischen Bürgerkriegs schien es mit dem Anarchismus vorbei zu sein. Er überlebte in kleinen Grüppchen und in den Köpfen und Herzen einzelner Menschen.  Rossana Rossanda reiste Anfang der 1960er Jahre im Auftrag der italienischen Kommunistischen Partei, deren Zentralkomitee sie angehörte, nach Spanien, um sich ein Bild vom Kampf gegen Franco zu machen. Sie fuhr zunächst nach Barcelona, wo sie sich auch mit Genossen von der CNT, der einst stolzen und großem anarchistischen Gewerkschaft, treffen wollte. „Gibt es die hier?“, fragte sie. „Ja, aber mit Kommunisten reden sie nicht.“ „Mit wem reden sie?“, fragte sie weiter. „Mit niemandem“, erhielt sie zur Antwort. Sie redeten dann doch mit der italienischen Genossin. Man traf sich in einem abgelegenen Dorfgasthaus. Die CNT war einmal die stärkste Kraft Spaniens gewesen, mit anderthalb oder gar zwei Millionen Mitgliedern. „Wie viele seid ihr, wollt ihr mir das verraten?“ „Wir sind fünfundachtzig.“ „Fünfundachtzig, wo?“ „Fünfundachtzig insgesamt, hier in Katalonien, praktisch nur hier in Barcelona.“ Ihre Organisation war zerstört. „Es ist sehr schwer, zu fünfundachtzig zu sein“, fügte er hinzu. „Wahrscheinlich haben wir viele Fehler begangen.“ Und: „Die Jungen kommen nicht zu uns. Sie verstehen uns nicht.“

Das änderte sich um 1968 herum für eine Weile. In Teilen der antiautoritären Revolte lebte der Anarchismus wieder auf, verschwand aber mit deren Auflösung wieder im Untergrund. Dass viele Leute interessiert den bewaffneten Kampf der Roten Armeefraktion mit dem Begriff Anarchismus verbanden, hat ihm nachhaltig geschadet. Der Anarchismus ist womöglich wie Giersch, der, wenn er einmal irgendwo Fuß gefasst hat, immer wieder kommt. Soviel antikommunistische und anti-anarchistische Herbizide kann man gar nicht versprühen, um ihn endgültig zu eliminieren. Solange Menschen unglücklich sind, werden sie träumen, und mancher Traum erzählt nicht vom neuen Handy und schnellen Auto, sondern vom Glück freier Menschen in einer freien Gesellschaft, von einer Gesellschaft ohne Konkurrenz, Herrschaft und Gewalt. Wenn ich mich so umschaue unter unseren Mitmenschen, kann ich allerdings wenig erkennen, das in diese Richtung deutet und Anlass zur Hoffnung gibt.

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Arthur Honegger (siehe Folge 71)schildert Heime und Anstalten als Brutstätten der Rohheit und Kriminalität. Wer vorher nicht kriminell war, wurde es hier. Nach drei Jahren in der Arbeitserziehungsanstalt bekam er vom Direktor 86 Franken und 25 Rappen ausbezahlt. Dann stand er mit einem Segeltuchkoffer, in dem er „ein einziges Hemd, ein Paar Socken und ein Überkleid“ aufbewahrte, auf dem zugigen Bahnhof und fuhr in eine ungewisse Zukunft. Dass er sein Leben gemeistert hat und etwas aus dem gemacht hat, was man mit ihm gemacht hatte, grenzt an ein Wunder. Die Fertigmacher – ein tolles, weil erschütterndes Buch!

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„Denn der kleine Pfad ist verschwunden, der Bach mit den Sumpfdotterblumen fort, ebenso die Quelle und der Graben mit dem Goldmilzkraut, das Waschhaus steht nicht mehr, nie wieder können Kinder dort am Samstagabend im Zuber gebadet werden und hinterher heiß und reingeschrubbt in Frühjahrskühle, Herbstregen oder Winterschnee den ‚Ein reines Herz‘-Pfad nach Hause laufen. All das ist nicht mehr, nur in der Erinnerung einiger weniger lebt es noch.“

(Astrid Lindgren)

Heute ist U zum ersten Mal in die Lahn eingetaucht. Bei acht Grad Wassertemperatur habe ich mein erstes Bad im Fluss nochmal aufgeschoben. Ich habe U hinterher natürlich mächtig bewundert und auch um ihre Erfahrung beneidet. Auf dem Heimweg sahen wir dann auch noch ein Eisvogelpärchen. Die beiden saßen am Ufer auf Ästen und lauerten auf Beute. Wenig später flogen sie in ihrem üblichen Tempo davon und verschwanden hinter der nächsten Flussbiegung. Wir warteten eine Weile, ob sie vielleicht zurückkämen. Dem war aber nicht so. Am Wegesrand pflückten wir die ersten Wildkräuter der Saison für den abendlichen Salat. Es wird unabweisbar Frühling. Schon heute Morgen hatte beim Frühstück eine Krähe zum geöffneten Fenster in U‘s Küche hineingeschaut. Sie hüpfte übers Dach, legte den Kopf schief und schaute uns skeptisch an, so als wollte sie fragen: „Was macht ihr denn hier? Gibt‘s hier was zu holen?“ Abends waren von den drei Nüssen, die wir ausgelegt hatten, noch zwei da. Sie waren eigentlich für das Eichhörnchen gedacht, das neuerdings über die Dächer turnt, aber wenn sie der Rabe geholt hat, ist das auch in Ordnung.

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In der Woche nach Ostern traten wir die vertraute Fahrt über die Landstraßen nach Nordhessen in den Kellerwald an. Der Edersee war bis zum Überlaufen gefüllt. Manche Uferregionen erinnerten an Mangrovenwälder, Büsche und Bäume waren von Wasser umspült. Die ersten warmen Tage werden das schnell beenden und den Pegel sinken lassen. Unter den Wasservögeln herrschte ein reges Treiben, die aus dem Süden zurückgekehrten Rotmilane kreisten über dem See und den angrenzenden Wäldern. Zwei Störche flogen auf der Suche nach einem geeigneten Nistplatz vorüber. Nachts drangen die traurigen Rufe des Käuzchens vom Wald herüber. In einer der ersten Nächte hatte ich einen meiner Implantat-Träume, was stets ein Anzeichen für eine Selbstwertkrise ist. In diesen Träumen befinden sich Hohlräume unter meiner Haut, meist an Armen und Händen. In meinem jetzigen Traum waren Oliven in meinen Handrücken eingebacken. Diese konnte man mit Hilfe eines Hölzchens herauspolken und essen. Wie Rosinen aus einem Kuchen. Wo sie gesessen hatten, entstanden Löcher, über denen Haut nachwuchs. Diese Träume hatte ich in bestimmten krisenhaften Lebensphasen immer wieder. Ich lernte sie zu deuten und erblickte in ihnen einen Hinweis darauf, dass viele Bestandteile unseres und meines Ichs sich als non-ego, als fremd-entfremdetes Implantat erweisen. Herrschaft wandert in Gestalt von vielen kleinen und größeren trojanischen Pferden in uns ein, und eh wir uns versehen, leben wir ein weitgehend fremdbestimmtes, entfremdetes Leben. Was ist das eigentlich, was wir meinen, wenn wir Ich sagen?  Kann und darf ich – ohne rot zu werden – Ich sagen? Der englische Psychoanalytiker Winnicott nannte den Niederschlag der Entfremdung in unserem Inneren „falsches Selbst“, das das „wahre Selbst“ überwuchert und manchmal verdrängt. Am Ende halten wir das falsche Selbst für unser wahres Selbst, womit die Entfremdung gar nicht mehr als Entfremdung erlebt werden kann und damit perfekt wird. Auf eine perverse Weise scheint sie damit aufgehoben zu sein. Diesen Zustand nannte der französische Soziologe Henri Lefebvre „Entfremdung zweiten Grades“.

Ich assoziierte die Löcher unter meiner Haut mit den Kratern, die die Furunkel hinterließen, von denen ich nach dem Tod meiner Mutter in der späten Kindheit heimgesucht wurde. An verschiedenen Stellen meines Körpers bildeten sich schmerzhafte Eiterherde. Wenn diese manchmal erst nach Wochen „reif“ waren, schnitt mein Vater sie unter Zuhilfenahme einer Rasierklinge auf und drückte sie mehrfach aus, bis nach einigen Tagen aller Eiter abgeflossen war. Dieser Eiter stellte für mich „das Böse“ dar, das in mich eingedrungen war und das in Gestalt der Furunkel aus mir herausfloss. Auf verschlungenen Pfaden war dieses „Böse“ für den Tod meiner Mutter verantwortlich. Ich habe in der letzten Folge der DHP davon erzählt, wie mir diese Codierung des Todes meiner Mutter nahegebracht wurde. So betrachtet war es logisch, dass die Furunkel nach dem Tod der Mutter auftraten und mich über etliche Jahre quälten. Die Narben der Geschwüre sind noch heute sichtbar. Als ich dieser Tage am Edersee spazieren ging, sah ich auf einem Weg am Ufer ein Stück der Straße, auf dem parallel verlaufende Bohrungen im Asphalt zu sehen waren, eine Art zweireihiger Perforation. Unwillkürlich erinnerte mich diese Stelle des Straßenpflasters an jene Pflaster, mit denen die Furunkel meiner Kindheit bedeckt wurden. Durch die Löcher des Pflasters sah man die schwarze Zugsalbe, mit der die heranreifenden Furunkel bestrichen wurden. Den Geruch dieser Salbe habe ich noch heute in der Nase. Man sieht, dass meine Probleme wie blinde Passagiere die Reise in den Kellerwald mitgemacht haben. Es gibt kein Entkommen, sie folgen einem überall hin.

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Aus eigenem schmerzhaften Empfinden kann ich sagen: Verbitterung entsteht aus ungelebtem Leben, nicht genutzten Gelegenheiten und versäumten Chancen.

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Die Süddeutsche Zeitung sprach mit Christina Lapis, der Leiterin eines Bärenreservats in Rumänien. Anlass des Gesprächs war der Tod eines Joggers, der in den italienischen Alpen von einem Bär angegriffen und getötet worden ist. Frau Lapis wagte es darauf hinzuweisen, dass es der Jogger war, der in die Heimat des Bären eingedrungen ist und ihn in seinem Lebensraum gestört hat: „Ein Bär greift normalerweise keine Menschen an. Ich weiß das. Es passiert nichts. Außer man rennt, bewegt sich hektisch oder stört die Tiere anderweitig. Vielleicht hat der Bär im Trentino sich gefürchtet. Ein Bär will nicht töten, aber er hat Kraft. Der Mann, der nun getötet wurde, hat gewissermaßen das Haus des Bären betreten. Der Bär hat sich gewehrt. Vielleicht wollte sich der Bär auch nur verteidigen.“ Frau Lapis würde dem Bär jedenfalls Asyl gewähren und ihn in Reservat aufnehmen.

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Als wir auf einem Spaziergang auf einer Bank saßen und in die Sonne blinzelten, trat wenige Meter von uns entfernt ein Fuchs aus dem Wald und schnürte den Waldrand entlang. Wir durften ihn eine Weile beobachten, bis er in den Sträuchern verschwand. Wir erlebten diese Begegnung als ein Geschenk.

Im Lebensmittelmarkt im nächsten Ort trat ein Mann, der sich auf einen Rollator stützte, an die Kasse und fragte die Kassiererin, ob das Porree sei. Er trug einen militärischen Kampfanzug und hielt eine mickrige Stange Lauch in der Hand. Das gab der Szene etwas Groteskes. Ja, das sei Lauch oder auch Porree. Was er denn damit vorhabe? „Die Mutti braucht das für eine Suppe“, sagte der vielleicht fünfzigjährige Mann. Da sei aber für eine Suppe ein bisschen wenig, wandte die Kassiererin ein. „Den Rest hat die Mutti schon besorgt“, antwortete der Mann. Später sah ich ihn unten beim Feuerwehrhaus mit anderen ein wenig heruntergekommen wirkenden Gestalten auf einer Bank sitzen. Sie hatten sich im Getränkemarkt Bierdosen aus dem Angebot besorgt, die sie nun verlöteten. „Wartet ihre Mutter nicht auf den Lauch?“, fragte ich im Vorübergehen. „Das hat Zeit“, erwiderte der Mann und prostete mit mit der Bierdose zu.

Unten im Tal betreibt ein älterer Mann mit dem Aussehen eines in die Jahre gekommenen Hippies eine Autoreparaturwerkstatt. Ich betrat sein Büro, weil ich ihn fragen wollte, ob er sich meinen alten Volkswagen mal anschauen könnte. Der springt in letzter Zeit manchmal nicht oder erst nach längerem Georgel an. Der Mann saß hinter einer dieser Corona-Wände aus Plexiglas und verzehrte sein Mittagsbrot. Die Sonne spiegelte sich in der Scheibe und er war kaum zu erkennen. Leider habe er diese Woche keine Zeit, sagte er, er müsse zu einem Motorradrennen in die „Tschechei“.

Auf dem Rückweg ins Dorf hörte ich über den Wiesen die erste Feldlerche des Jahres. Ich konnte sie vor der gleißenden Sonne nicht ausmachen, aber freute mich über ihren trillernden Gesang.

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„We are all waves of the same sea“ 

(Mark Tobey)

Am nächsten Tag fuhren wir bei sonnigem, aber eiskalten Wetter nach Kassel. Während U in einem vietnamesischen Lokal eine Suppe zu sich nahm, besuchte ich eine Buchhandlung, die ich noch aus Schulzeiten kenne. Zuvor hatten wir auf dem Gang in die Stadt bemerkt, dass der linke Buchladen unterhalb des Bebelplatzes nicht mehr existiert. Als ich Mitte der 1970er Jahre beim Prolit-Buchvertrieb arbeitete, habe ich manche Rechnung an die ABC-Buchhandlung in Kassel adressiert. Der Laden entstand, wie so viele linke Projekte, mit dem Aufschwung der Linken und scheint nun mit deren Niedergang untergegangen zu sein. Ein pro-palästinensisches Café, am dem wir auf dem Weg in die Innenstadt vorüberkamen, existiert noch. „Danke Taring Padi“, stand auf einem Plakat, das im Eingangsbereich aufgehängt war. Das ist jene Künstlergruppe, deren antisemitische Bildsprache auf einem großen Bild namens People’s Justice die Krise der documenta 15 mit ausgelöst hatte. Die Buchhandlung Vietor, in der ich mich nun umsah, wirkte ziemlich ausgestorben. Während der halben Stunde, die ich dort verweilte, betrat noch ein anderer Mensch den Laden und erstand eine Geburtstagskarte. Ich wartete darauf, dass U ihr Mittagsmahl beendete,  und hatte Zeit. Ich blätterte in einem neuen Buch von Ralf Rothmann, das eine Auswahl seiner Notizen aus den letzten Jahrzehnten versammelt und Theorie des Regens heißt. Rothmann gehört, wie eingefleischte Leser und Leserinnen der DHP wissen, zu meinen zahlreichen literarischen Heroen. Gleich auf der ersten Seite las ich: „Irgendwann werde ich besonnen sein; irgendwann werde ich vernünftig sein und tot.“ Und dann steht da: „Auf den Autobahnbrücken meiner Jugend am Ortsrand, besoffen vor Sehnsucht, fühlte ich mich immer zurückgelassen – während unter mir alles in die Ferne flitzte.“ Diese beiden Sätze schrieb ich mir in der Buchhandlung raus – aus seinen Notizbüchern wanderten sie in sein Buch und von dort wiederum in mein Notizbuch. Dieser Weg der Sätze gefiel mir. Vor ein paar Tagen hatte ich auf Deutschlandfunk Kultur einen lobenden Beitrag von Marko Martin über ein gerade erschienenes Bändchen aus dem Nachlass von Stefan Zweig gehört, der mich neugierig gemacht hatte. Als ich den Laden gerade verlassen wollte, fiel mein Blick auf das Inselbändchen mit dem Bild von Claude Monet vorn drauf, das Angler auf der Seine bei Poissy heißt. Ich erstand das schmale Bändchen und war froh. Die Insel-Bücherei, eine der schönsten Buchreihen deutscher Sprache, ist von Stefan Zweig angeregt worden und anfänglich wurden ihre Beiträge von ihm mit ausgewählt, erfuhr ich dieser Tage bei Hermann Kesten.

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Am nächsten Tag wurde es plötzlich warm. Ich saß auf einer Bank oberhalb des Sees und begann sogleich, im Bändchen von Zweig zu lesen. Ich kenne den 1881 in Wien geborenen Stefan Zweig als Verfasser der Schachnovelle, des autobiographischen Romans Die Welt von gestern, den ich sehr schätze, gerade weil er nicht nur seine Biographie zum Thema hat, sondern die einer ganzen Generation und Epoche, und den Band Sternstunden der Menschheit, der etliche historische Miniaturen versammelt. Unlängst las ich daraus noch einmal die Episode Der versiegelte Zug, die schildert, wie Lenin in Begleitung von 32 anderen russischen Revolutionären mit Hilfe des Deutschen Kaiserreichs, das ein virulentes Interesse an einer Destabilisierung und Schwächung des Kriegsgegners Russlands hatte, im April 1917 in einem plombierten Zug nach Sankt Petersburg transportiert wurden und dort der Revolution Beine machten. Außerdem weiß ich seit Langem von der Beziehung Stefan Zweigs zu Sigmund Freud. Anfänglich war Zweig Freuds Patient und Schüler, später wurden sie Freunde und Weggefährten und Brüder im Geist. Zweig sprach im September 1939 in einem Londoner Krematorium letzte Worte am Sarg von Sigmund Freud.

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Der erste der neun in diesem Band versammelten Texte, die aus den letzten beiden Jahren vor Zweigs Suizid stammen, erzählt von der Begegnung mit einer diogenesartigen Figur während Zweigs Salzburger Jahren. Er begegnet diesem ärmlich gekleideten Mann auf einem Gang mit seinem Hund Kaspar. Der Mann erkennt am Gang und Verhalten des Hundes, dass mit ihm etwas nicht stimmt. „Er hat eine Zecke, der arme Kerl“, diagnostiziert er, und wenig später entfernt er diese auf einer Parkbank. Nach diesem kleinen chirurgischen Eingriff entfernt sich der Mann prompt, ohne Zweig Gelegenheit zu geben, ihm für seine Hilfe zu danken und ihm etwas schenken zu können. Als er zu Hause von seiner Begegnung mit dem seltsamen Fremden berichtet, erkennt die Köchin ihn sogleich als den stadtbekannten Anton. Was dieser denn für einen Beruf ausübe und was er eigentlich mache, wollte Zweig wissen. „Nichts“, antwortete die Köchin ärgerlich, als hätte Zweig sie persönlich beleidigt. „Was braucht der einen Beruf?“ Im Fortgang der Geschichte lernt Zweig diesen Anton und seine Einstellung zum Leben ein wenig näher kennen. Und wir mit ihm. Hier sei nur soviel verraten, dass dessen Haltung zu Eigentum und Geld Zweig nachhaltig beeindruckt hat. „Wenn alle Menschen untereinander dies Geheimnis der Reziprozität des Vertrauens lernten, müsste es keine Polizei geben, keine Gerichte, keine Gefängnisse und kein Geld.“

Es folgt die Schilderung einer Episode aus Zweigs Schulzeit, die ich vor allem deshalb interessant finde, weil sie eine Kontrasterfahrung zum heutigen Breitensport Mobbing schildert, das häufig viel rabiater verfährt als in der von Zweig geschilderten Episode. Der Vater eines Mitschülers wird wegen betrügerischer Finanztransaktionen verhaftet. Sein sogenanntes Geschäft hatte sich als gigantischer Schwindel herausgestellt und viele kleine Leute um ihre Ersparnisse gebracht. Sein Sohn, der ein glänzender Schüler ist und deswegen, weil ihm eine große Karriere im diplomatischen Dienst bevorzustehen schien, von den Mitschülern „Metternich“ genannt wird, bleibt daraufhin zwei Wochen lang der Schule fern. Er schämte sich seines Vaters. Als er dann plötzlich wieder in der Schule auftaucht, gelingt es den Mitschülern nicht, Kontakt zu ihm zu finden und ihn zu trösten. Er bleibt isoliert und einsam. Dann verschwindet er ohne eine Erklärung abzugeben. Er zieht in eine andere Stadt, wo er eine Lehre als Apotheker beginnt. Stefan Zweig macht sich noch fünfzig Jahre später Vorwürfe, dass sie dem Mitschüler in seiner Bedrängnis nicht beigesprungen sind und ihn in einem kritischen Augenblick im Stich gelassen haben. Er lernte aus dieser frühen Erfahrung, „dass man niemals zögern sollte, dem ersten Impuls zur Hilfeleistung zu gehorchen, denn ein Wort oder eine Tat aus Mitgefühl hat nur wirklich Wert im Augenblick der höchsten Not.“

Der Die Angler an der Seine betitelte Text beginnt mit der Schilderung einer Beobachtung aus dem vierten Jahr der Französischen Revolution. Am Tag der Hinrichtung von Ludwig XVI. strömten Menschenmassen zur Place de la Concorde, wo das Blutgerüst aufgebaut war. Gleichzeitig, so vermeldet empört ein zeitgenössischer Chronist, standen nur einen Steinwurf von der Guillotine entfernt Angler am Ufer der Seine und warfen ihre Angeln aus – unbekümmert wie an jedem anderen gewöhnlichen Tag. Sie hatten keinen Blick für das historische Geschehen in ihrem Rücken, sondern starrten nur auf ihren schwimmenden Kork. Aus dieser Episode entwickelt Stefan Zweig 1941 eine Grundregel dessen, was man später „Aufmerksamkeitsökonomie“ genannt hat. Wenn Menschen über längere Zeit einer allzu großen Dosis an Dramatik ausgesetzt sind, büßen sie die Fähigkeit zur Wahrnehmung ein und stumpfen ab. Auf der der Welt zugewandten Seite ihrer Seele wächst ihnen eine Hornhaut, die sie gegen fremdes Leid unempfindlich macht. Diese seelische Hornhaut sichert ihnen ihr Überleben. Sie brächen sonst unter dem Daueransturm schrecklicher Bilder zusammen. In geschichtlich verdichteten Zeiten, wo die Ereignisse sich überstürzen, ziehen viele Menschen ihre Aufmerksamkeit vom historischen Geschehen ab und wenden sich den kleinen Dingen ihres Alltags zu. Mit Blick auf seine Zeitgenossen von 1940 stellt Zweig angesichts der Hitlerschen Angriffskriege und Annexionen eine ähnliche Tendenz fest: „Je länger das Weltdrama vor unseren Blicken dauert, je grausamer seine Szenen werden, je aufregender seine Episoden, umso mehr lässt unsere Fähigkeit des inneren Miterlebens nach. Das fortwährende Denken an den Krieg zerstört das Denken, und je mehr unsere Zeit an Mitgefühl von uns fordert, umso weniger vermag die schon erschöpfte Seele ihr zu bieten.“ Zur Illustration bringt Zweig ein Beispiel aus seinem eigenen Erleben im britischen Exil. Als wenige Monate vor dem Krieg das Unterseeboot Thetis sank und rund hundert Menschen mit in den Tod riss, war das ganze Land tagelang erschüttert. Theater, Cafés und Kinos blieben leer, weil alle an das Schicksal der in den Tod gerissenen Menschen dachten und mit deren Angehörigen fühlten. „Vierzig Millionen Engländer lebten in und mit diesen neunzig, hundert Menschen während zwei oder drei Tagen, eine ganze Nation spannte schmerzhaft alle ihre Sinne wegen dieses einen einzigen winzigen Bootes der riesigen Flotte.“ Kurze Zeit später begann der Zweite Weltkrieg, und nun sank jede Woche mindestens ein U-Boot. „Doch die ursprüngliche Kraft des Mitfühlens verbrauchte sich immer mehr mit jeder Wiederholung.“ Je länger die Katastrophe sich hinzog, desto „ungerechter wurde die Proportion zwischen Leiden und Mitleiden“. Mit Erschrecken stellt Stefan Zweig diese Ermüdung der Fähigkeit zum Mitleiden auch an sich selber fest.

Unvermittelt fühlen wir Leserinnen und Leser uns unter die giftigen Bäume unserer eigenen Abstumpfung katapultiert. Geht es uns heute nach einem Jahr Krieg in der Ukraine nicht ähnlich? Macht sich nicht auch bei uns Müdigkeit und ein Verlust der Empathie breit? Und der Wunsch, die Ukrainer mögen doch bitte endlich klein beigeben und Frieden schließen, damit wir wieder unsere Ruhe und unseren Nachtschlaf finden. Hatten die Bilder der auf den Straßen von Butscha zurückgelassenen Leichen bei vielen Entsetzen und seelische Erschütterung ausgelöst, tritt nach zahllosen weiteren Bildern von Trümmern und Leichenbergen das ein, was Herbert Marcuse als „Normalisierung des Grauens“ bezeichnet hat. Die Opfer der Bomben- und Drohnenangriffe werden in einem Atemzug mit  Börsen- und Sportnachrichten genannt. Alles steht auf einer Ebene und erhält das gleich Gewicht. Auch das trägt zur Abstumpfung bei. Viele schauen gar nicht mehr hin, wenn in den Abendnachrichten der Ukraine-Teil beginnt. Eines Tages gleichen auch wir den Anglern an der Seine. Wir hoffen, dass wir selbst verschont bleiben, und gehen unseren Alltagsbeschäftigungen und Vergnügungen nach. Glück ist für uns wie für die alten Griechen, wenn der Pfeil den Nebenmann trifft. Gerade wir Linken sollten aber daran festhalten: Glück existiert entweder für (fast) alle, oder für (fast) keinen. Was immer irgendwo auf der Welt einem unserer Mitmenschen angetan wird, wird uns allen angetan.

Die Tendenzen zu einer Appeasementpolitik gegenüber den frühen Annexionen Hitlers (und heute den Annexionen und Kriegsgräueln der russischen Armee) basierten auf einer trüben Mixtur aus Indolenz, Abstumpfung und der Illusion, wenn man sich nur ruhig verhielte, könne man Kompromisse erreichen und unbehelligt bleiben. Gegen diese anzukämpfen war eine Intention der späten Texte von Stefan Zweig. Er erhebt seine Stimme gegen das „große Schweigen“ aus Gleichgültigkeit. Die neun Texte, die der Band versammelt, sind von rund 80 Jahren geschrieben worden, lesen sich aber zum Teil, als stammten sie aus der Gegenwart. In ihrem Universalismus und moralischen Pathos mögen sie vielen heute vorkommen, als stammten sie von einem anderen Stern. Das spricht allerdings nicht gegen Stefan Zweig, sondern zeugt davon, wie heruntergekommen die heutige Linke moralisch und sprachlich ist und was wir uns alles, im wörtlichen Sinn, haben abmarkten lassen. Ich kann dieses sorgfältig und liebevoll edierte Bändchen von knapp 80 Seiten, das keineswegs eine Stefan Zweig-Resteverwertung ist, nachdrücklich zur Lektüre empfehlen.

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„Nichts ist teurer, als überholte Verhältnisse am Leben zu halten, nichts ist kostspieliger als Nicht-Reform.“

(Oskar Negt)

Robert Habeck, der für die anstehende Energie- und Wärmewende steht wie kein anderer, zieht einen ungeheuren Hass auf sich. Die Boulevardpresse baut ihn systematisch zum Sündenbock auf. Man hetzt die verunsicherten Menschen mit dem Gerücht gegen ihn auf, er plane mit dem von ihm vorgelegten Gebäudeenergiegesetz, ihnen zum Jahresende die Heizungen „herauszureißen“. Wer sich weigere, dem drohten horrende Strafen. Das erfüllt in meinen Augen den Tatbestand der Volksverhetzung. Mehrfach hörte ich in den letzten Tagen den Satz: „Hoffentlich erschießt den bald einer!“ Oder: „Er gehört an den höchsten Ast gehängt!“ Was es mit dem Sündenbock auf sich hat oder hatte und wozu er dient, erläutert  J.M. Coetzee in seinem Roman Schande: „Die Sache mit dem Sündenbock funktionierte wirklich, als noch religiöse Kraft dahinterstand. Man lud dem Ziegenbock die Sünden der Stadt auf und trieb ihn hinaus, und die Stadt war gereinigt. Es funktionierte, weil alle, einschließlich der Götter, wussten, wie das Ritual zu verstehen war. Dann starben die Götter, und plötzlich musste man die Stadt ohne göttliche Hilfe reinigen. Statt Symbolen waren richtige Taten gefragt. Der Zensor war geboren, im römischen Sinn. Wachsamkeit hieß die Parole: die Wachsamkeit aller allen gegenüber. Reinigung wurde ersetzt durch Säuberungsaktionen.“ Einer muss herhalten für unser aller Sünden – und dieser Eine heißt im Moment Robert Habeck. Die simple und dumme Unterstellung: Wäre er weg, wäre alles wieder gut und die Welt in Ordnung. Hoffentlich passen seine Sicherheitsleute gut auf ihn auf. In den Hass auf Robert Habeck fließen auch antiintellektuelle Ressentiments ein, die schon immer Bestandteil rechten Denkens und Fühlens gewesen sind. Habeck ist ein „Studierter“, er hat Bücher geschrieben und einen Doktortitel erworben. Er kann in ganzen Sätzen reden, drückt sich gewandt und gewählt aus und manchmal rutscht ihm sogar ein Fremdwort raus. Fremdwörter sind einem bekannten Diktum Adornos zufolge „die Juden der Sprache“. Und das scheint es Pudels Kern. Vor ein paar Tagen hörte ich aus einer schwadronierenden Männerrunde vor einem Café den Satz: „Es würde mich nicht wundern, wenn der Habeck Jude wäre!“ Obwohl ich für die Partei Die Grünen keine sonderlichen Sympathien hege und ihren Höhenflug schon vor fünf Jahren kritisch kommentiert habe, musste ich in dieser Situation doch für Habeck eintreten. Diese mittels Falschmeldungen bewusst erzeugte Pogromstimmung gegen ihn ist einfach nur widerlich und erinnert an die mediale Vorbereitung des Dutschke-Attentats. Da fand sich am Ende ein verhetzter armer Schlucker, der aus Bayern anreiste und das von der Bildzeitung ausgesprochene Urteil vollstreckte. Hier der Link zu meiner Grünen-Kritik aus dem Jahr 2018: (https://www.magazin-auswege.de/data/2018/11/Eisenberg_Medialer_Hype_oder_gruener_Kairos.pdf)

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Mitunter tun die Leute so, als seien die geplanten Maßnahmen zum Klimaschutz eine Marotte der Grünen und speziell Robert Habecks, die man genauso gut lassen könnte und nur aus Böswilligkeit ergriffen werden. Ronen Steinke hat letzten Freitag in der Süddeutschen Zeitung daran erinnert, dass die Bundesregierung gegen geltendes Recht verstieße, wenn sie diese Maßnehmen nicht ergriffe. Sie tut das ohnehin viel zu spät und zu zögerlich. „Das Klima-Abkommen von Paris, wonach die Erderwärmung auf unter zwei und möglichst auf 1,5 Grad begrenzt werden soll, ist nach seiner Ratifizierung durch den Bundestag gemäß Artikel 59 des Grundgesetzes unmittelbar geltendes Bundesrecht.“ Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Umstand in seinem Klimabeschluss vom März 2021 noch einmal nachdrücklich bekräftigt: „Das Abkommen ist verbindlich; dagegen zu verstoßen, ist verboten.“ Die Bundesregierung, die gerade von ihrem eigenen Expertenrat für Klimafragen noch einmal daran erinnert wurde, dass sie ihre selbst formulierten Ziele laufend verfehlt, bricht also Recht. Das nur zur Erinnerung für jene, die davon auszugehen scheinen, die vom Umwelt- und Wirtschaftsministerium geplanten Maßnahmen seien lediglich Ausdruck links-grüner Gesinnung, ersonnen, um brave Bürger zu ärgern und ihres Eigentums zu berauben.

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Jupp Heynckes wird in diesen Tagen den Hörer seines Telefons nicht abnehmen oder nicht ans Handy gehen, wenn er auf dem Display sieht, dass der Anruf aus München kommt. Noch einmal wird er den von den Bossen in den Dreck gefahrenen Karren des FC Bayern nicht herausziehen, hoffe ich.