69 | Das braune Raunen

„In jedem Faschismus steckt die Erlaubnis, inneres Leid mit äußerlich zugefügtem zu verwechseln und sich für dieses mit Gewalt zu entschädigen.

(Wilhelm Genazino)

Gießen ist eine einzige Baustelle. Alles ist ständig verstopft, der Autoverkehr kommt zum Erliegen, aber die Leute ziehen keine Konsequenzen daraus. Sie stürzen sich jeden Tag aufs Neue wie die Lemminge über die Stadtgrenzen ins Gewühl. Als suchten sie insgeheim den Stau als etwas Lustvoll-Erregendes. Wenn der Verkehr stockt, achten die Leute nicht mehr darauf, Kreuzungen und Fußgängerüberwege freizuhalten, was immer wieder zu wütenden Hupkonzerten und Brüllereien führt. Fängt einer mal an zu hupen, fallen viele andere ein und wollen zeigen, dass auch sie über eine Hupe verfügen. U hatte gestern am späten Nachmittag einen Termin, zu dem sie mit dem Auto fahren wollte. Nachdem sie bis zur nächsten Kreuzung zwanzig Minuten gebraucht hatte, brach sie den Versuch ab und kehrte völlig entnervt nach Hause zurück. Sie sagte den Termin ab. Das Fahrrad ist das einzige Verkehrsmittel, mit dem man sich in der Stadt noch fortbewegen kann. Ansonsten herrscht der von Paul Virilio schon vor dreißig Jahren vorhergesagte „rasende Stillstand“. Die Mobilisierung und Beschleunigung, die mit der Industrialisierung in die Welt kam, endet in einer allumfassenden Agonie. Alles schlägt immer offenkundiger in Wahnsinn um. Die Welt schließt sich zu einem gigantischen Irrenhaus zusammen. Das hält Verkehrsminister Wissing nicht davon ab, allabendlich ein Loblied auf das Automobil und den Individualverkehr anzustimmen. Wie man diesem heute noch Vernunft zusprechen kann, ist mir vollkommen rätselhaft. Zumal die FDP auf diesem Feld mit der AfD konkurriert, die das komplette Syndrom, zu dem als ein Symptom die Vergötterung des Autos gehört, viel glaubwürdiger vertritt. Die FDP klammert sich wie ein Ertrinkender an ein Boot, das sinkt, weil es schon seit Längerem ein Leck hat.

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Wenn man mit offenen Ohren durch die Stadt geht, kann man allenthalben ein populistisch-verschwörerisches Raunen vernehmen. Gestern sah ich zwei ältere Männer, die stehengeblieben und ins Reden gekommen waren. Der eine berichtete von etwas, das er am Vorabend im Fernsehen gesehen und gehört hatte. Der andere sagte darauf: „Du darfst nicht alles glauben, was die sagen!“ Es war weniger der Inhalt dieses knappen Hinweises, dem man ja zustimmen könnte, sondern der Tonfall, in dem er vorgetragen wurde. Als verfüge der Warner über geheime Hinweise und Kenntnisse. Ein paar Meter weiter kam mir ein Mann entgegen, der ein Schild umhängen hatte, auf dem stand: „Jesus kommt wieder – jetzt!“ Auch er verfügte ganz offenbar über ein geheimes Wissen, vom dem er die anderen in Kenntnis setzen wollte. Er möchte uns warnen: „Das jüngste Gericht, die letzte Schlacht zwischen Gut und Böse, steht unmittelbar bevor! Du solltest dich rechtzeitig auf die richtige Seite stellen.“

Eine Passage aus Oskar Maria Grafs autobiographischem Roman Wir sind Gefangene fiel mir ein. Er erzählt dort vom Auftauchen seltsamer Prediger, Waldschraten und Vegetariern im München der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Sie raunten in der Stadt den Passanten zu: „Der Zuckerbäcker ist der größte Verbrecher.“ „Christenmenschen predigten in Versammlungen, Nacktkulturanhänger verteilten ihre Kundgebungen, Individualisten und Bibelforscher, Leute, die den Anbruch des tausendjährigen Reichs verkündeten, und Käuze, die für Vielweiberei eintraten, eigentümliche Darwinisten und Rassentheoretiker. Theosophen und Spiritisten trieben ein harmloses Unwesen. Einmal nachts ging ich über den Stachus. Ein magerer Mensch schoss auf mich zu, steckte mir hastig einen Zettel zu und lief eilends in der trüben Dunkelheit weiter. Ich trat unter eine Laterne und besah den Wisch. Nichts weiter stand darauf als: ‚Der Jude spricht dazwischen! Deutsche, besinnt euch!‘ Zu alledem stieg die Gärung in den Massen immer mehr.“ Graf schildert, wie er auf seinen nächtlichen Streifzügen gelegentlich einem gewissen Adolf Hitler begegnete, der inzwischen aus dem Lazarett in Pasewalk entlassen worden und wieder in München gelandet war. Haltlos streunte er umher. Seine Welt war untergegangen und er suchte, wie viele andere auch, nach Orientierung und Zugehörigkeit. Noch war seine Stunde nicht gekommen, noch war alles in der Schwebe und unfixiert wie Quecksilber. Noch wären auch andere Aneignungsformen des Erfahrungs- und Gefühlsrohstoffs möglich gewesen. Warum es Hitler und den Nazis gelang, ihn sich anzueignen und nicht der Linken ist ein bis heute nicht wirklich gelöstes Rätsel. Bei Ernst Bloch finden sich Antwortversuche. Ich habe mich vielfach zu diesem Thema geäußert und will das hier nicht wiederholen. Ein größerer Versuch zu diesem Thema findet sich im dritten Band der Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus unter der Überschrift: Das große Unbehagen der kleinen Leute. (Seite 146 ff) Wichtig scheint mir: Solange die Verhältnisse fortbestehen, aus denen der Faschismus erwuchs, besteht die Gefahr der Wiederholung. Die gegenwärtige „Gärung in den Massen“ ist jedenfalls nicht zu übersehen. Und wieder scheint es so zu sein, dass nicht wir, die Linken, es sind, die die von der Selbstzerstörung der bürgerlichen Ordnung freigesetzten Prozesse aufgreifen und ihnen eine emanzipatorische Richtung geben. Wie die Dinge heute liegen, werden es Rechte, Populisten und Faschisten sein, die davon profitieren werden, wenn sich der Zorn der betrogenen Menschen und der geprellten Jugend eines Tages entlädt.

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Ich höre gerade The Dark Side of the Moon von Pink Floyd. Die Platte ist heute vor 50 Jahren erschienen und spielt auch in meinem Leben eine gewisse Rolle. Als ich in meinen dreißiger Jahren häufig in Italien war und einen Walkman dabei hatte, habe ich die Kassette oft eingelegt und an exponierten Plätzen in den Bergen oberhalb des Gardasees gehört. Ich saß in der Abendsonne auf einem Stein, ließ meinen Blick über den See und die gegenüberliegende Bergkette schweifen und versank in der Musik von Pink Floyd. Gelegentlich trug mich die Musik aus der Kurve und ich musste weinen. Irgendwann war das Band so verdullert und abgenudelt, dass es nichts mehr hergab.

Lutz Seiler, der in der DDR aufgewachsen ist, hat in der Süddeutschen Zeitung vom 3. März 2023 darüber geschrieben, wie Pink Floyd sein Leben betraten. Er hatte eine der heiß begehrten Kopien ergattert und legte die Kassette aus dem Chemiefaserwerk Friedrich Engels immer wieder in den Rekorder. „Es war schon Nacht, wenn mich der Bannstrahl traf. Verstanden habe ich nichts – nur gehört. Hören, hören und hören, im finsteren Kinderzimmer …“ Immer wieder auf Play drücken und „Us and Them“ hören. Auch Lutz Seiler weinte gelegentlich, wenn er Pink Floyd hörte: „Jeder weiß, was geschehen kann, wenn Musik einen wesentlichen Punkt trifft in uns, der vorher ohne Ausdruck war. Der aber vielleicht schon immer existierte, egal ob wir davon wussten oder nicht. Und manchmal bleibt es so, ein Leben lang. Etwas trifft den Punkt. Mehr ist dazu nicht zu sagen, mit Worten ist da nichts zu machen.“

Freunde von mir, die in der Psychiatrie arbeiteten, als diese sich in den siebziger Jahren für Experimente und Neues öffnete, erzählten mir, dass sie die Musik von Pink Floyd mit Patienten hörten und sie bei diesen intensive Reaktionen auslöste. „Schizo-Musik“ nannten sie das. Es war die Zeit, als die Spontis den Anti-Ödipus von Deleuze und Guattari lasen und versuchten, es „strömen und fließen“ zu lassen. Dass Stücke von Pink Floyd es vermochten, eingefrorene psychische Prozesse aufzutauen und Körperpanzerungen aufzusprengen, spürte auch ich am eigenen Leib. Manchmal war es mir des Pathos auch ein bisschen zu viel. Pink Floyd erschien mir dann als Richard Wagner der Rockmusik, mit all den Ambivalenzen, die dieser Musik anhaften und mit denen sie historisch belastet ist. Sei‘s drum, ab und zu, wenn mir melancholisch und regressiv zumute ist, lege ich Pink Floyd in Pompeii auf und lasse es fließen.

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Nicht erst seit dem russischen Überfall auf die Ukraine frage ich mich, was sich für links haltende Leute veranlasst, Russland und Putin die Treue zu halten. Sollte es für uns Linke nicht selbstverständlich sein, dass wir auf der Seite der Angegriffenen, Bombardierten und Vergewaltigten stehen? Auf eine mögliche Antwort stieß ich der Solschenizyn-Biographie von Pierre Daix, die 1974 auf Deutsch erschienen ist. Der französische Kommunist und Résistancekämpfer Daix, den die Nazis nach Mauthausen deportiert hatten, hatte sich lange geweigert, die Existenz von Konzentrationslagern in der Sowjetunion zur Kenntnis zu nehmen. Erst nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts stellte er sich der Wahrheit und fragte sich: Woher stammte meine Weigerung, historische Wahrheiten zur Kenntnis zu nehmen? Seine schmerzhafte Antwort lautete: „In diesem Falle hätte meine Deportation nach Mauthausen und der Tod so vieler meiner Kameraden in der Zeit des Faschismus für mich keinen Sinn mehr gehabt. Aus Furcht, von nun an mit dem Bewusstsein leben zu müssen, dass der Kommunismus zu dieser Schande geführt hatte, habe ich lange Zeit meine Augen vor der Wahrheit verschlossen.“ Plötzlich dämmerte Daix, dass er eine ganze Weile mit den Wölfen geheult hatte und dass die nach Stalins Tod endlich aus den sowjetischen Lagern Heimkehrenden seine Brüder und Schwestern waren. Es sind also Gründe des Selbstschutzes, die einen vor der Wahrheit zurückschrecken lassen. Es ist schmerzhaft zu realisieren, dass man sein halbes Leben im Banne einer Lüge gelebt hat. Da hält man trotz besseren Wissens eisern daran fest. Sonst bräche die eigene Welt zusammen. Ich vermute, dass das auch ein verschwiegenes Motiv unserer heutigen Putinisten ist, die eigentlich realisieren müssten, dass sie ihr ganzes Leben ein falsches Bild von der Sowjetunion und Russland gehabt haben. Einen Aphorismus von Nietzsche leicht abwandelnd und auf unserer Fall bezogen könnte man sagen: Die historische Wahrheit und der Stolz liegen im Streit miteinander. „Es ist so gewesen“, sagt die historische Wahrheit. „So kann es auf keinen Fall gewesen sein“, erwidert der Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich gibt die historische Wahrheit nach.

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Gestern merkte ich, was für eine Qual es mittlerweile ist, mir die Fußnägel zu schneiden. Vor allem auf der Seite, auf der ich eine künstliche Hüfte eingesetzt bekommen habe. Im Anschluss war ich völlig fertig und es tat mir alles Mögliche weh. Plötzlich sprang meine Hirnantilope zu einer Szene, die ich am Strand von Bogliaco am Gardasee vor vielen Jahren einmal beobachtet habe. Im Schatten eines Feigenbaumes, von dessen Früchten ich mich tagsüber nährte, saßen zwei alte Männer auf einer Bank und schnitten sich wechselseitig die Zehennägel. Beide kamen mit ihren Händen nicht mehr in die Nähe ihrer Füße. Es war ein tröstliches Bild der Solidarität und gegenseitigen Hilfe. Sie sammelten die abgeschnittenen Späne auf einer Zeitung, die sie im Anschluss über einem Abfallbehälter ausschüttelten. Dann taperten sie an ihren Stöcken gemeinsam in die Hafenkneipe und tranken einen Roten. Manchmal sah ich sie abends nochmal, wenn sie auf dem Rückweg in ein Altersheim waren, das die Familie Feltrinelli am See unterhielt. „Die Erinnerung ist wie ein Hund, der sich hinlegt, wo er will“, heißt es eingangs von Cees Nootebooms Roman Rituale. Was mir die Antilope ist, ist Nooteboom der Hund.

Zeichnung: Christel Stroh

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Picasso hat die terroristische Macht des Geldes aufgehoben, indem er sich eine eigene Währung schuf. Er zeichnete sein eigenes Geld. Wenn er in einem Restaurant aß, überließ er dem Wirt oder dem Kellner das Papiertischtuch, auf das er eine Taube oder einen liegenden Akt gezeichnet hatte, und der Wirt oder der Kellner waren überglücklich. Einmal warf ihm ein Torero in der Arena von Arles seine Kappe zu. Picasso zeichnete etwas auf die Kappe und warf sie zurück. Der Torero verkaufte sie später und erwarb vom Erlös ein Haus. Das und noch viel mehr erfährt man in dem wunderbaren Film Picassos Friseur, den man auf YouTube anschauen kann.

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»Denn alle Verdinglichung ist ein Vergessen …“

(Brief von Theodor W. Adorno an Walter Benjamin aus dem Jahr 1940)

Die folgenden Sätze von Imre Kertész, die sich in seinem Buch Ich – ein anderer finden, lesen sich, als wären sie auf die in Gießen freigelegten Überreste der Alten Synagoge bezogen. Zur Erinnerung: Die rot-rot-grüne Stadtregierung tendiert, was man so hört, zum Zuschütten der Grundmauern. (Siehe Teil 68 Schliemann‘sche Funde) Als der ehemalige Auschwitz- und Buchenwald-Häftling Kertész Anfang der 1990er Jahre die Ruinen der Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin besuchte, notierte er: „Als täte sich plötzlich ein geheimer Keller auf, dringt die ganze Verwüstung und Verheerung der letzten Jahrzehnte an die Oberfläche. In ein paar Jahren wird sie verschwunden sein, wird sich alles, alles ändern – die Menschen, die Häuser, die Straßen; die Erinnerungen werden eingemauert, die Wunden zugebaut sein, der moderne Mensch mit seiner berüchtigten Flexibilität wird alles vergessen haben, wird den trüben Bodensatz seiner Vergangenheit wegfiltern, als wär’s Kaffeesatz.“

Das Vergessen ist eine Begleiterscheinung der Verdinglichung, die sich mit dem Warentausch ausbreitet und schließlich universalisiert. Die Verdinglichung kommt dadurch zustande, dass im Tausch abstrahiert wird: Die qualitativ verschiedenen, aus unterschiedlichen Arbeitsprozessen hervorgegangenen Produkte müssen, damit sie auf dem Markt getauscht werden können, auf einen gemeinsamen Nenner gebracht, also entqualifiziert werden. Die Sphäre der Zirkulation, in der der Warentausch sich vollzieht, ist das Eldorado des Vergessens, weil von der Genese der Produkte und ihrer Verschiedenartigkeit systematisch abgesehen wird. Das Vergessen ist in der bürgerlichen Gesellschaft eine mächtige Energie, die in der Lage ist, alles zu absorbieren und zu verschlingen – ein gigantischer Nebel, in dem alles zu einem form- und konturenlosen Präsens verschwimmt. Es droht, heißt es bei Adorno, das „Schreckbild einer Menschheit ohne Erinnerung“. Das Schlimmste ist: Ohne Erinnerung an die Vergangenheit gibt es auch keine Zukunft. Alles droht auf immer so zu bleiben wie es ist. In einem Brief Adornos an Horkheimer aus dem Jahr 1957 heißt es: „In allen Bewegungen, welche die Welt verändern möchten, ist immer etwas Altertümliches, Zurückgebliebenes. Das Maß dessen, was ersehnt wird, ist immer bis zu einem gewissen Grade Glück, das durch den Fortschritt der Geschichte verloren gegangen ist. Wer sich ganz auf der Höhe der Zeit befindet, ist immer auch ganz angepasst, und will es darum nicht anders haben.“

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Heute Nacht träumte ich, dass jemand eine Henkerschlinge an meine Wohnungstür gehängt hatte. Es war ein schneeweißer Strick mit einer fix und fertig und korrekt geknüpften Schlinge. Da ich ja seit Langem schon mit dem Selbstmordgedanken lebe, fühlte ich mich im Traum nicht bedroht, sondern eher beschenkt und der Sorge enthoben, weiter darüber nachgrübeln zu müssen, wie ich es denn nun anstellen könnte. Das Problem beim Suizid hat Klaus Mann präzise benannt: Wer sich umbringen will, muss zuvor aus allen Bindungen heraustreten. Sie hindern einen, zur Tat zu schreiten. Der Suizid ist ja auch ein Gewaltakt gegen diejenigen, mit denen man in Beziehung steht und die einen mögen, ja sogar lieben. Wer allein ist, hat es hier leichter.

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Den ganzen Winter über hat es nicht so viel geschneit, wie in den letzten Stunden. Dabei stehen auf meinem Schreibtisch bereits die ersten entlang der Lahn gepflückten Osterglocken und leuchten gelb in mein Arbeitszimmer, in dem es ohne sie genauso trist wäre wie draußen vor dem Fenster.

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Noch immer das hölzern pedantische Volk,
Noch immer ein rechter Winkel
In jeder Bewegung, und im Gesicht
Der eingefrorene Dünkel.

Sie stelzen noch immer so steif herum,
So kerzengrade geschniegelt,
Als hätten sie verschluckt den Stock
Womit man sie einst geprügelt.

(Heinrich Heine)

Als sich meine ehemaligen Klassenkameraden vor ein paar Jahren anlässlich des 50. Jahrestages des Abiturs trafen, schrieb einer von ihnen einen Text für die aktuelle Schulzeitung zur Erinnerung an unsere Schulzeit. Es war eine Lobhudelei, und ich fragte mich, ob ich eine andere Schule und eine andere Klasse besucht hatte als er. Es ist ein bekanntes Phänomen, dass Menschen die Schrecken und Torturen ihrer Kindheit irgendwann verleugnen und behaupten, die hätten eine schöne Kindheit gehabt. Niemand habe ihn Leid zugefügt oder sie gar geschlagen. Sie schützen ihre Eltern vor Kritik, schützen aber vor allem auch ihr inzwischen aufgerichtetes „falsches Selbst“, das sich der Anpassung an ursprünglich als unerträglich empfundene Zustände verdankt. Die in der Kindheit erlittenen Qualen verfallen einer Amnesie. Das Kind macht aus der Not der erzwungenen Unterwerfung und Anpassung eine Tugend und identifiziert sich mit den Eltern. Das auf diese Weise entstandene „falsche Selbst“ ist eine radikale Form der Selbstentfremdung. Um einen ähnlichen Vorgang scheint es sich auch im Falle der Idealisierung der eigenen Schulzeit zu handeln, die, um die eigene Anpassung und Unterwerfung nicht zu gefährden, die Erinnerung an erlittene Ungerechtigkeiten verdrängt. Ich war nie bereit, in diesen Chor mit einzustimmen und die Quälgeister von einst jetzt zum Gegenstand rührender Schulgeschichten zu machen. Mit Ernst Bloch kann ich sagen: „Das endlich bestandene Abitur war damals die Befreiung aus dem Zuchthaus.“ Wobei das Zuchthaus sowohl die Schule als auch das Elternhaus einschloss.

Es handelt sich in unserem Fall um ein altsprachliches Gymnasium, das vor Dünkel nur so strotzte. Das Motto war: „Wer unser Gymnasium absolviert hat, ist jedem anderen um ein Fünftel voraus.“ Das kann, wenn es denn jemals zutraf, nur an den Klassenprivilegien der Schüler gelegen haben, die meist aus gutsituierten, akademischen Elternhäusern stammten, nicht am Niveau des Unterrichts, den wir genossen. Unsere Lehrer waren gebrochene Gestalten, die gerade aus dem Krieg zurückgekehrt waren, in den sie begeistert und kritiklos gezogen waren. Ehemalige Wehrmachtsoffiziere und Parteigenossen, die aufpassen mussten, dass ihnen der Arm nicht immer noch reflexartig zum Deutschen Gruß hochzuckte. Wenn sie den Klassenraum betraten, hatten wir aufzustehen. Platz nehmen durften wir erst, wenn der Befehl Setzen! ergangen war. Manche bestanden darauf, dass wir sie während der Begrüßungszeremonie anblickten und ihrem Blick standhielten. Der Unterricht, den sie erteilten, war langweilig und erzog zu konformistischer Dummheit und Duckmäuserei. Sie verkleisterten unsere aufnahmebereiten Gehirne mit totem Wissen und bürgerlicher Ideologie, erstickten unsere Phantasie und die Freude am Lernen. Bis auf wenige Ausnahmen, die es auch gegeben hat und die ich immerhin erwähnen möchte. Der Direktor war ein dicker, behäbiger Mann mit einem mächtigen Bart, der Pfeife rauchend durch die Schule ging und sich etwas darauf zugute hielt, die meisten Schüler mit Namen zu kennen. Als die Haare Mitte der 1960er Jahre bei einzelnen Schülern länger wurden, drückte er diesen auf dem Schulhof fünf Mark in die Hand, verbunden mit der Auflage, schleunigst einen Friseur aufzusuchen und sich nach vollzogenem Fassonschnitt bei ihm vorzustellen. Die Ohren mussten frei sein, damit der ganze herrschaftskonforme Lehrstoff ungehindert in uns eindringen konnte. Es gab unter den Lehrern – es waren meiner Erinnerung nach ausschließlich Männer – alte Käuze und Sonderlinge, aber auch etliche Sadisten, die mit dem Schlüsselbund nach unaufmerksamen Schülern warfen und ihnen Kopfnüsse verpassten. „Eisenberg, ich schmier dich ab!“, kündigte einer von ihnen eine Serie von Ohrfeigen an. Verschiedentlich trat ich den Heimweg mit Nasenbluten an. Die Lehrer konnten ihre Grausamkeiten in der ruhigen Gewissheit begehen, dass ihnen von unseren Eltern kein Ungemach drohte. „Das wird schon seine Richtigkeit gehabt haben“, war der Kommentar meiner Eltern, wenn ich mit sichtbaren Spuren von Misshandlung nach Hause kam. Einmal hatte mich ein Lehrer am Ohr durch den Klassenraum gezerrt, was dazu geführt hatte, dass das Ohrläppchen eingerissen war. Ich hatte gehofft, dass der Aufbruch der 68er Jahre dazu geführt hätte, die eherne Regel zu durchbrechen, derzufolge ein Lehrer sich der Liebe seiner Schüler erst dann gewiss sein durfte, wenn er sie gezüchtigt hatte. Umso befremdeter war ich, als ich die Eloge meines ehemaligen Klassenkameraden las, der auch zum rebellischen Teil unserer Klasse gehört hatte und in einer Beatband spielte. Eine Form „nachträglichen Gehorsams“, wie Freud diesen rätselhaften Vorgang genannt hat. Nach einer Phase der Auflehnung gegen den Vater kehrt der Sohn reumütig zu ihm zurück und orientiert sein Leben von nun an am Vorbild und den Werten des Vaters. Es ist eine Variante der „Identifikation mit dem Aggressor“, die ich, wie gesagt, in unserer Generation so nicht vermutet hätte.

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„Die Freunde, die sich hier trafen und umarmten. Sind fort, jeder zu seinen eigenen Fehlern.“

(W. H. Auden)

Wie schnell man vereinsamt! Seit sich die letzten politischen Bezüge aufgelöst haben, bin ich ganz auf mich zurückgeworfen. Die Freunde von einst haben sich zerstreut oder sind bereits gestorben. Ab und zu treffe ich zufällig mal jemanden in der Stadt und rede ein paar belanglose Worte mit ihm oder ihr. Das ist alles. Mein Telefon klingelt ein Mal in der Woche, und dann will mir jemand eine Solaranlage verkaufen oder meine Meinung zu diesem oder jenem erforschen. Ich hoffe, dass es bald wärmer wird und ich mich wieder überwiegend draußen aufhalten kann. Dann sitze ich am Fluss und bin von Vögeln umgeben, die mir lieber sind als die meisten Menschen. Oder hat meine Misanthropie etwas vom Verhalten des Fuchses, der die Trauben, an die er nicht herankommt, für sauer erklärt? Das sollte ich immerhin in Erwägung ziehen. So viel Selbstreflexion muss sein.

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„Die Unglücklichen sind gefährlich!“

(Johann Wolfgang von Goethe)

Wieder einmal gilt es, von einer amokartigen Tat zu berichten. Am Abend des 9. März schoss in Hamburg ein Mann zunächst von außen auf ein Gebäude, in dem sich Zeugen Jehovas versammelt hatten. Dann drang er in das Haus ein und begann, mit einer automatischen Pistole auf die Anwesenden zu schießen. Es starben acht Menschen, unter ihnen soll sich auch der Schütze befinden. Darüber hinaus wurden etliche Menschen verletzt. Eine Spezialeinheit der Polizei fuhr offenbar gerade zufällig an dem Gebäude vorbei, als die ersten von insgesamt weit über 100 Schüssen fielen, und war infolgedessen sehr schnell am Tatort. Ersten Berichten zufolge soll der Täter zwischen 30 und 40 Jahre alt und ein ehemaliges Gemeindemitglied der Zeugen Jehovas gewesen sein. In diesem Fall wird man wahrscheinlich eher von einem gezielten Racheakt als von einer Amoktat ausgehen müssen. Zum klassischen Amok gehört, dass keine spezifische Täter-Opfer-Beziehung existiert, sondern die Opfer blind und zufällig gewählt werden. Was den Racheimpuls ausgelöst hat, ist noch völlig unklar. Häufig sind es Zurückweisungserfahrungen und Kränkungen, die dem späteren Täter zugefügt wurden. Die nicht gerade demokratisch zu nennende sektenartige und theokratische Struktur der Zeugen Jehovas bietet kränkungsanfälligen und narzisstisch verwundbaren Mitgliedern gegenüber sicher jede Menge Reibungsflächen und Zündstoff. Die Ermittler gehen davon aus, dass der Täter am Ende seines mörderischen Wütens die Waffe gegen sich selbst richtete. Die ins Gebäude vordringenden Polizisten gaben selbst keine Schüsse ab. Sie hörten noch einen Schuss aus dem Obergeschoss des Gebäudes, wo man kurz darauf die Leiche des mutmaßlichen Täters fand.

Am Tag darauf erfuhr man, dass der mutmaßliche Täter 35 Jahre alt war und als eine Art Unternehmensberater gearbeitet hat. Zwischen ihm und der Gemeinde der Zeugen Jehovas soll es vor eineinhalb Jahren tatsächlich zum Bruch gekommen sein. Er habe damals die Gemeinde verlassen. Es existiert ein Buch, das er geschrieben hat. Es trägt den prätentiösen Titel: „Die Wahrheit über Gott, Jesus Christus und Satan“. Es hat den Anschein, als wollte er die ohnehin schon strengen Zeugen Jehovas auf der Über-Ich-Seite überholen, als seien sie ihm noch nicht streng genug. Anfang dieses Jahres meldete sich jemand anonym bei der Polizei und behauptete, Philipp F. sei psychisch krank, ohne jede Krankheitseinsicht und hege eine große Wut auf religiöse Menschen, besonders auf Zeugen Jehovas. Offenbar war Philipp F. ein allein lebender Fanatiker, und die sind am gefährlichsten, weil ihnen Berührungsfläche fehlt. Weil man dem Mann kurz zuvor einen Waffenschein ausgestellt hatte, bekam er nach diesem anonymen Hinweis unangemeldeten Besuch von der Polizei, der aber nichts Ungewöhnliches auffiel und die nach einem kurzen Gespräch wieder abzog. Was hätte sie auch tun sollen? Zum klassischen Profil des Amokläufers gehört, dass er von seiner Um- und Mitwelt als personifizierte Unauffälligkeit beschrieben wird. Deswegen geht Prävention, die an irgendwelchen im Verhalten zu Tage tretenden Auffälligkeiten ansetzen will, meist ins Leere. Anonyme Hinweise, das weiß ich aus meiner Arbeit im Gefängnis, sind nicht sonderlich beliebt. Es haftet ihnen das Odium des Denunziantentums an. Paradoxerweise gelten dann die Sympathien häufig dem anonym Angeschwärzten.

Die Selbsttötung des Amokläufers markiert eigentlich das klassische Ende eines Amoklaufs, wie er in alten Psychiatrielehrbüchern beschrieben wird. Dort taucht der Amoklauf denn auch meist im Kapitel über den „erweiterten Suizid“ auf, als dessen Unterform er häufig betrachtet wird. Wobei die Logik dieses Schlussakts manchmal eine andere ist, als man landläufig und auch unter Experten annimmt. Der sogenannte gesunde Menschenverstand vermutet, der Täter töte sich am Ende selbst aus Schuldgefühlen wegen dem, was er angerichtet hat. Die von ihm begangenen Morde seien die Ursache für seinen Suizid. Was wäre, wenn es genau umgekehrt wäre? Der Täter benötigt den Umweg über die Tötung anderer, um endlich Hand an sich legen zu können. Die Selbstmordabsicht ist die Ursache seiner Morde. Er schafft es nicht, einfach auf den Speicher zu gehen und sich aufzuhängen. Er muss sich erst durch seine mörderischen Handlungen in eine ausweglose Lage bringen, um es tun zu können. Im letzten Stadium seines Rachefeldzugs droht dem Täter die Kontrolle über die Situation zu entgleiten. Im Innern des Gebäudes herrschte ein unbeschreibliches Chaos, Flure und Treppenhäuser sind angefüllt von einer Stampede panikartig fliehender Menschen, die versuchen, sich irgendwo in Sicherheit zu bringen. Von draußen dringen Polizeisirenen zu ihm vor und signalisieren ihm, dass das Gebäude jeden Moment gestürmt werden kann. Er ist nicht mehr Herr der Lage wie zu Beginn des Amoklaufs, als sich alle Trümpfe in seiner Hand befanden. In diesem Moment, wo der Amoklauf an seinen kritischen Punkt gekommen ist, wird der Täter von Panik erfasst, die ihn endlich instand setzt, die Waffe gegen sich selbst zu richten. Er hat jetzt nur noch die Wahl, sich von den Sicherheitskräften erschießen zulassen oder sich selbst zu töten. Bleibt natürlich in all diesen Fällen die Frage, was den Täter in eine derartige Lage versetzt hat. Aus Anlass des 20. Jahrestags des Amoklaufs am Erfurter Gutenberg-Gymnasiums, der ebenfalls mit der Selbsttötung des Amokschützen endete, bin ich dieser Frage noch einmal nachgegangen. Und auch der Frage, womit es zusammenhängen mag, dass es in den letzten Jahren gehäuft zu solchen Amok-Taten kommt: https://www.telepolis.de/features/Massaker-an-Schule-in-Erfurt-2002-Ja-dann-ist-Schluss-7062118.html

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Bei der Urabstimmung der Gewerkschaft Verdi haben sich 86 Prozent der Mitglieder im aktuellen Tarifkonflikt für einen Streik ausgesprochen. Die Gewerkschaft fordert für die Mitarbeiter der Post wegen der enorm hohen Inflation 15 Prozent mehr Lohn. Da kommen die Nachrichten aus der Kozernspitze gerade zur rechten Zeit. Der Vorstandschef Appel präsentierte am Donnerstag für das Jahr 2022 einen Rekordumsatz von 94,4 Milliarden Euro sowie eine neue Bestmarke beim Betriebsgewinn. Wer hat den erwirtschaftet, wenn nicht die 200000 Beschäftigten der Post. Mit welcher Begründung will man ihnen nun ihre vollkommen angemessene Gehaltsforderung ablehnen? Man kann nur hoffen, dass die Gewerkschaftsbosse nicht einknicken und sich über den Löffel balbieren lassen.

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Alte Friedhöfe gleichen Steinbrüchen. Manche Gedenk- und Grabsteine sind derart verwittert, dass man ihre Inschriften kaum noch entziffern kann. Auf dem Alten Friedhof fiel vor ein paar Tagen mein Blick im Vorübergehen auf einen solchen Grabstein, auf dem ich las: Robert von Schlagintiveil. Weil der Name sich mir als besonders eingeprägt hatte, gab ich ihn zu Hause in eine Suchmaschine ein und erfuhr, dass es sich um Robert von Schlagintweit handeln musste. Dieser war ein Forscher, der Mitte des 19. Jahrhunderts Indien und den Himalaya bereiste, was zu dieser Zeit ein ungeheures Abenteuer gewesen sein muss. 1864 erhielt er die erste Professur für Geographie an der Gießener Universität. Er starb 1885 und wurde auf dem Alten Friedhof beigesetzt. Unten auf dem Grabstein steht: Friede seiner Asche. Daraus schließe ich, dass Robert von Schlagintweit sich hatte einäschern lassen, was damals noch ausgesprochen selten war. Genauer gesagt war es eine Spezialität von Sozialdemokraten und anderen Freidenkern, die nicht an die Wiederauferstehung glaubten und diese Form der Beisetzung für ökonomischer und vor allem hygienischer hielten. Die erste Feuerbestattung in Deutschland fand 1874 in der städtischen Gasanstalt in Breslau statt. Gerade mal elf Jahre später ließ Robert von Schlagintweit seinen Leichnam einäschern. Ein Pionier der Feuerbestattung, kann man sagen, und trotz seiner adligen Herkunft höchstwahrscheinlich ein fortschrittlicher Mensch. Oder sollte man sagen: Ein Mensch, der mit der Zeit geht oder ihr ihr vorangeht.

Der Trend, seinen Leichnam verbrennen und in einer Urne bestatten zu lassen, markiert auch einen Anonymisierungsschub. Ernst Jünger, der in diesen Dingen ein genauer Beobachter war, erblickte wie sein Freund Carl Schmitt im Drang, sich verbrennen zu lassen, einen nihilistischen Zug. Im Kasseler Museum für Sepulkralkultur bekommt man vorgeführt, wie das bürgerliche Zeitalter mit seinem Kult des Individuums seinen Ausdruck auch in der Gestaltung der Grabstätten findet. Die alten Gebeinhäuser, in denen die Skelette und Knochen übereinandergehäuft aufbewahrt wurden, wurden abgelöst von individualisierten Grabanlagen mit ihren Stelen und Obelisken. Jedes Subjekt wird für sich beigesetzt, und auf dem Grabstein prangt für alle Zeiten der Name des Verstorbenen, häufig noch verbunden mit Angaben zur Person und ihrer Bedeutung. Ganz anders ist das in den neuen Bestattungswäldern, wo fünf bis sechs Urnen um einen Baum herum vergraben werden. Lediglich ein winziges Schild, das an den Baum geschraubt wird, verweist auf die dort Bestatteten, der exakte Ort ist schon bald nicht mehr erkennbar. Der epochale Unterschied springt mir jeden Mal ins Auge, wenn ich über den Alten Friedhof gehe und staunend vor den hoch-individualisierten Begräbnisstätten des bürgerlichen Zeitalters stehe. Auch auf dem Alten Friedhof gibt es inzwischen vereinzelte Bohrlöcher, in denen man Urnen versenkt hat. Sie werden oben mit einer steinernen Platte verschlossen, die die Größe eines Buches aufweist und auf der der Name des Verstorbenen und seine Lebensdaten festgehalten sind. Das markiert eine Übergangsform zur gänzlichen Anonymität im Bestattungswald. Eine Gesellschaft gibt sich auch in den Formen zu erkennen, wie sie mit ihren Toten verfährt. Noch im Tod und über ihn hinaus bekommen die Mitglieder der nachbürgerlich-spätkapitalistischen Gesellschaften mitgeteilt, dass sie herabgesetzt sind zu bloßen Funktionen innerhalb einer riesigen gesellschaftlichen Maschinerie, die letztlich auch ohne sie weiterläuft.