„Je mehr die Bekenner die Falschheit ihres Glaubens ahnen, desto begeisterter halten sie an ihm fest. Das starre Vorurteil schlägt in Fanatismus um. Zum Geschäft des Demagogen gehört es, edle Losungen zu finden, die zugleich der Feindschaft ein Objekt versprechen.“
(Max Horkheimer: Über das Vorurteil)
In der Wochenendausgabe der SZ vom 5./6. Oktober 2024 stieß ich auf einen Artikel von Josef Wirnshofer zum Thema „Messerangriffe“, mit dem ich mich in der DHP aus jeweils aktuellen Anlässen mehrfach beschäftigt habe. Er kolportiert nicht nur das Gerücht über die Zunahme der Messerattacken, sondern wartet mit Zahlen auf. Die Kriminalstatistik weist für das Jahr 2023 deutschlandweit 13.844 Messerangriffe aus, zwölf Prozent mehr als im Vorjahr. Auch die Berliner Charité, für mich eine glaubwürdige Quelle, meldet sich zu Wort: „Normalerweise würden sie dort 50 bis 55 Stichverletzungen im Jahr behandeln – so viele hätten sie 2014 schon im ersten Halbjahr gehabt.“ Kriminologen registrieren insgesamt eine steigende Gewaltbereitschaft: „Die Menschen gehen gewaltsamer miteinander um, und Messerangriffe sind eines der Symptome.“ Der Anteil Nichtdeutscher an den Tatverdächtigen liegt im Schnitt bei 50 Prozent, ein Umstand, der von den Rechten weidlich ausgenutzt wird und ihnen in die Karten spielt. Wir haben alle noch Alice Weidels Brandrede aus dem Bundstag aus dem Jahr 2018 im Ohr, wo sie von „alimentierten Messermännern und anderen Taugenichtsen“ sprach. Der fremde Messerstecher, der aus dem Nichts und von hinten auf mich einsticht: Diese Vorstellung mobilisiert eine mitgeschleppte archaische Angst. In Feld der Kriminalität und der Gewalt ist es schwer, eine Balance zwischen Bagatellisierung und Verleugnung einerseits und Hysterie und Übertreibung andererseits zu finden. Mit einer Leugnung des Problems ist niemandem gedient, vor allem nicht den prospektiven Opfern. Die Lösung des Problems liegt weit außerhalb und unterhalb polizeilich-staatlicher Maßnahmen. Wir bräuchten eine solidarische, egalitäre Gesellschaft, mit Freundlichkeit als vorherrschendem Kommunikationsstil, die den Menschen weniger Bosheit einpresst, die sich gegen Sündenböcke entlädt. Unter den Bedingungen einer sich auflösenden bürgerlichen Gesellschaft wäre alles andere als ein Anstieg der Gewalt ein Wunder.
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Auf dem Alten Friedhof zog ich meine Lederjacke aus und legte sie neben mir auf die Bank, auf der ich in der Herbstsonne saß. Ich betrachtete die Jacke, die mir nach alle den Jahren immer noch gut gefällt und die ich gern trage. Auch Brecht hätte Gefallen an ihr gefunden, denke ich manchmal. Es existiert ein Foto von ihm, auf dem er eine ähnliche Lederjacke anhat. Ich schätze ihr weiches Leder, die solide Verarbeitung, die Knöpfe und das glänzende Futter. Ich habe diese Jacke vor ungefähr fünfzehn Jahren in einem holländischen Secondhand-Laden für 7,50 Euro erstanden, das weiß ich noch wie heute, weil ich erstaunt war über den günstigen Preis. Irgendein Niederländer hatte die Jacke auf einem Italien-Urlaub in Florenz erstanden und wahrscheinlich ein Vermögen für sie bezahlt. Von der florentiner Herkunft zeugte ein im Inneren der Jacke eingenähtes Schildchen, auf dem auch die Jahreszahl ihrer Herstellung vermerkt ist: 1957. Die Jacke ist also inzwischen rund 70 Jahre alt und nur unwesentlich jünger als ich. Der Vorbesitzer war entweder zu dick geworden und passte nicht mehr hinein oder er trennte sich von ihr, weil das Futter in der linken Tasche ein Loch hatte. So etwas ist ja für manche Leute ein Trennungsgrund. Ich führte die Jacke am Abend auf dem Campingplatz meinen holländischen Freunden vor. Ich zeigte Gerda das zerrissene Futter und sie erbot sich, es zu reparieren. Ihre Reparatur hat bis heute gehalten. Da Gerda inzwischen gestorben ist, sind das Futter und die Jacke eine schöne Erinnerung an sie. Heute hatte ich gleich drei Mal Anlass an Gerda zu denken: Ich mahlte den Kaffee in einer hölzernen Handmühle, die ich von ihr bekommen habe, zog die Jacke an, deren Futter sie repariert hat, und bestieg dann das wundervolle Hollandrad, das sie mir überlassen hat, als sie sich ein neues, elektrisch verstärktes Rad gekauft hatte. Es ist heute der Gerda-Gedenktag.
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Der schottische Autor John Niven, dessen Roman „O Brother“ bei mir ganz oben auf dem Stapel der zu lesenden Bücher liegt, hat in einem Text, der in der Süddeutschen Zeitung vom 21./22. September erschienen ist, von einer Erfahrung berichtet, die ich so ähnlich auch mehrfach gemacht und über die ich an dieser Stelle verschiedentlich berichtet habe. Man weist Mitbürger oder Mitbürgerinnen auf ein sozial schädliches Verhalten oder einen eklatanten Regelverstoß hin – bei mir ist es meist ein Parken auf dem Radweg – und erntet ein eigenartiges Grinsen, das „schuldbewusst, stolz und trotzig“ zugleich ist und soviel sagen soll: „Ich weiß, dass ich hier etwas Falsches tue, und ich weiß, dass du es weißt, aber ich tue es trotzdem.“ Bei Niven entgleist der Diskurs in der Folge, wie es mir auch schon mehrfach passiert ist. Aber es bleibt bei einem wütend gebrüllten: „Was hat das überhaupt mit dir zu tun? Verpiss dich!“ Eine Szene, die sich so oder so ähnlich, täglich tausendfach abspielt und von einer wachsenden Indifferenz, Aggressivität und zwischenmenschlichen Feindseligkeit kündet.
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Die CDU als einzig überlebende sogenannte Volkspartei gerät immer mehr und öfter in die Rolle der Retterin der Demokratie, an deren Demontage sie zuvor tatkräftig mitgewirkt hat und auch weiter mitwirkt. Vor allem im vormaligen Osten der Bundesrepublik präsentiert sie sich als Bollwerk gegen Rechts und einzigen Widerpart der AfD. Eine traurige Gestalt wie Mario Voigt gerät in Thüringen in die Rolle des Retters von Demokratie und Rechtsstaat. Am Abend des 7. Oktober war ich auf einer Gedenkveranstaltung für die Opfer des Hamas-Überfalls vor einem Jahr. Der Hauptredner auf dieser Veranstaltung auf dem Kirchenplatz in Gießen war auf Einladung der Jüdischen Gemeinde Volker Bouffier, der vormalige Hessischen Ministerpräsident von der CDU. Er hat sich dieser nicht einfachen Aufgabe routiniert und angemessen entledigt, da gab es nichts auszusetzen. Dennoch bleibt bei mir ein gewisses Unbehagen darüber, dass die Omas gegen Rechts und die CDU die letzten antifaschistischen Bollwerke sein sollen. In der Vergangenheit ist gerade die Hessische CDU nicht in dieser Rolle aufgetreten. Die CDU Hessen hatte in den 1980er-Jahren illegale Parteispenden ins Ausland transferiert. Wenn die Partei die Spenden wieder zurückholte, wurden diese als „jüdische Vermächtnisse“ deklariert. Das wurde vor allem von den in Deutschland lebenden Juden mindestens als ruchlos und unverschämt erlebt. Bouffier trug als Hessischer Innenminister die Verantwortung für diverse Verschärfungen des Polizeirechts und behinderte aktiv die Aufklärung des Kasseler NSU-Mordes an Halit Yozgat und der Rolle des Verfassungsschutzes in diesem Zusammenhang. Bouffier ist zweimaliger Gewinner des „Big Brother Awards“, der für fragwürdige und verletzende Eingriffe in das Privatleben der Bürger verliehen wird. Aber das scheint alles vergeben und vergessen. Das Gedächtnis der Menschen ist ein merkwürdiges und kurzatmiges Ding.
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In einer Einführung in die psychosomatische Medizin fand ich im Kapitel über den Herzinfarkt den Hinweis: „So können der Bluthochdruck auf unterdrückte feindselige Gefühle und das durch triebhaftes Essen verursachte Übergewicht unter anderem auf die Angst hinweisen, einen geliebten Menschen zu verlieren.“ Die Katastrophe, die du für die Zukunft befürchtest, ist in Wahrheit längst eingetreten! Diese Erfahrung aus Gesprächen mit Gefangenen fällt mir zum letzten Teil dieses Eintrags ein. Was in meinem Fall soviel heißen soll, dass der Verlust eines geliebten Menschen weit zurückliegt. Als ich vier Jahre alt war, starb meine Mutter. Das ist die Urszene meines Lebens, die es komplett überschattet. Alles andere ist Wiederholung. Ob dieser frühe Verlust auch zur Vorgeschichte meinen jetzigen Infarkts gehört, weiß ich nicht. Aber ich denke immerhin darüber nach, und das allein ist ja bereits ein Hinweis, dass etwas daran sein könnte.
Meine Hypothese, dass es der ewige Lärm und speziell das permanente Geheul der Martinshörner ist, was mich gereizt und krank macht, erinnert mich an einen Witz aus der Zeit der Antipsychiatrie, der ungefähr so geht: Ein Mann schaut in einem psychiatrischen Krankenhaus aus dem Fenster und sieht Männer, die mit Motorsägen Bäume fällen. „Warum werden diese wunderbaren alten Ulmen gefällt“, fragt er einen Arzt. „Wir müssen Platz schaffen für einen Erweiterungsbau“, erwidert dieser. „Warum müssen Sie anbauen?“, fragt der Besucher weiter. „Weil immer mehr Menschen verrückt werden“, erläutert der Arzt. „Warum werden so viel mehr Menschen verrückt“, hakt der Besucher nach. „Weil Ulmen gefällt werden“, antwortet der Arzt lakonisch. So etwa ist es mit der steigenden Zahl von Herzinfarkten wegen des Lärms, den die Rettungswagen verursachen, die Herzinfarktpatienten ins Krankenhaus transportieren.
Es gibt Leute, die mir vorwerfen, dass ich meine feindseligen Gefühle zu wenig unter Kontrolle habe und sie nicht hinreichend unterdrücke. Meine Ventil ist das Schreiben. An den Worten hängen Gondeln, in die ich portionsweise meine Wut hineinpacke. Wie oft habe ich Leute in der Phantasie schon erwürgt oder erschlagen oder gevierteilt und geteert und gefedert! Ich gebe mir Mühe, meine Wut zu sublimieren und werfe nur symbolische Bomben auf die Wirklichkeit: meine Worte und Sätze.
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Wenn das Gemeinwohl nichts anderes ist als die Summe einzelner betriebswirtschaftlicher Kosten-Nutzen-Kalkulationen und der Strategien zur privaten Nutzenmaximierung, darf man sich nicht wundern, wenn das, was man früher Gesellschaft nannte, zerfällt und ihre Institutionen absterben. Irgendwann gibt es nur noch Märkte und gegeneinander isolierte Konkurrenten, Warenbesitzer und Warenanbieter mit warenförmiger Identität: Geldsubjekte.
Die kapitalistische Produktionsweise löste die traditionellen Formen von Gemeinschaftlichkeit auf, in die die Menschen fest eingebunden waren und die die Spielräume ihres Verhaltens rigide begrenzten, und verwandelt sie tendenziell in soziale Atome, lauter vereinzelte Einzelne, deren Unabhängigkeit sich nach einem Marxschen Verdikt als gegenseitige Gleichgültigkeit und Indifferenz verwirklicht. Auf alle zwischenmenschlichen Beziehungen fällt der Kälteschatten der Konkurrenz, die die Beziehung zum Anderen mit einer latenten Feindseligkeit durchtränkt. Er ist der potentielle Gegenmensch, der durch seine bloße Existenz meine Durchsetzungs- und damit Lebenschancen schmälert und bedroht. Ich kann mich nur durchsetzen, indem ich viele andere rücksichtslos übergehe und aus dem Feld schlage. Eine kalte Schonungslosigkeit wird den Menschen in warenproduzierenden Marktgesellschaften zur zweiten Natur. Das Rattenrennen wird notdürftig pazifiziert durch den über der Gesellschaft errichteten „Leviathan“ Staat, der die Konkurrenz in den Grenzen der durch den Tausch gesetzten Vertrags-Logik hält, und eine dem einzelnen implantierte Moral, die seine Aggressionen bändigt und ein Mindestmaß an zwischenmenschlicher Rücksichtnahme sicherstellen soll, ohne die gesellschaftliches Leben unmöglich würde. Dieses Mindestmaß ist gegenwärtig in Gefahr, unterschritten zu werden. Wechselseitiger Respekt und Rücksichtnahme schwinden dramatisch. Das Leben wird unerträglich. Dem ist mit Dekreten und staatlichen Maßnahmen schwerlich beizukommen. Was im Feld der Moral abgestorben ist, ist tot und künstlich nicht wiederzubeleben.
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„Werktage, gleichförmig aneinanderklebend.“
(Ketil Bjornstad)
Von einem Leseerlebnis möchte ich unbedingt berichten. Der Zufall hat mir aus einem dieser öffentlichen Bücherschränke den 2006 im Insel-Verlag erschienenen Roman des norwegischen Autors Ketil Bjornstad in die Hände fallen lassen. Das Herkunftsland des Autors, zu dessen zeitgenössischer Literatur ich wegen der Romane von Per Petterson eine tiefe Zuneigung gefasst habe, veranlasste mich, es an mich zu nehmen. Der Roman heißt „Vindings Spiel“ und erzählt die Geschichte des jungen Aksel Vinding, dessen Mutter bei einem Badeausflug vor seinen Augen ertrinkt. Dieses Ereignis katapultiert ihn aus seiner Ordnung der Dinge. „Ich bin sechzehn Jahre alt und habe Angst vor allem, was kommen wird. Nachts träume ich viel zu viele Träume.“ Er schmeißt die Schule und widmet sich ganz dem Klavierspiel. Die Liebe zur Musik hatte die Mutter in ihn eingesenkt und ist, wenn man so will, ihr Vermächtnis. Darüber findet er zu einer neuen Ordnung der Dinge und schafft es, weiterzuleben. Er verliebt sich in die kapriziöse und musikalisch hochbegabte Anja Skoog, die sich allerdings psychisch auf sehr dünnem und brüchigem Eis bewegt. Vindings Spiel hat mich eine Woche in Atem gehalten und mich fasziniert. Der Roman ist der erste Teil einer Trilogie, deren zwei mir fehlende Teile „Der Fluss“ und „Die Frau im Tal“ ich antiquarisch aufzutreiben versuchen werde.
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„Gegenwärtig ist es der Fremde und Migrant, der in dieses Schema gepresst wird und als Figur einer apokalyptischen Bedrohung aufgebaut wird, während die eigentlich apokalyptische Bedrohung unserer Zeit, der Klimawandel, unerwähnt bleibt.“
(Aleida und Jan Assmann
Der Niedergang der Grünen hängt auch damit zusammen, dass der Kampf gegen den Klimawandel in den letzten beiden Jahren unter dem Einfluss von Kriegen und mannigfachen Krisen auf der politischen Agenda weit nach hinten gerutscht ist. Um dieses Abrutschen hat sich Putin sehr verdient gemacht. Blutig geführte Kriege und Bombenterror lassen die Sorgen um den CO2-Ausstoß in den Hintergrund treten. Putin hat sich bei der Rettung der fossilen Produktionsweise große Verdienste erworben. Dringend nötige Veränderungen an unserer Art und Weise zu produzieren, zu konsumieren und zu leben sind ad calendas graecas vertagt. Daran tragen Robert Habeck und Ricarda Lang nun wahrlich keine Schuld. Menschen neigen dazu, allzu komplexe Probleme stromlinienförmig zu vereinfachen und eine Form der Vereinfachung von Problemen ist ihre Personalisierung. Der Austausch von Köpfen tritt an die Stelle von wahrhaften Lösungsversuchen. Und man präsentiert den enttäuschten Massen in Gestalt des Fremden und des Migranten einen Sündenbock, der als Gefäß für alle möglichen Bedrohtheits- und Unsicherheitsgefühle dient und den Vorteil besitzt, sicht- und greifbar zu sein. Auf Migranten kann man losgehen, was mit dem Kapitalverhältnis nicht so einfach geht.
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Morgen fahren wir für rund eine Woche an den Edersee. Das Wetter verspricht, angenehm zu werden und vielleicht lässt die Sonne auch Pilze wachsen. Außer einem verwurmten Maronenröhrling habe ich dieses Jahr noch keine gefunden. Wobei ich mit meinem unsicheren und wackligen Gang sehr vorsichtig sein muss und keine Hänge mehr besteigen kann. Ich könnte also nur die Pilze sammeln, die am Wegesrand stehen. Es wird der erste Besuch nach dem Tod des Pensionswirts sein und wir fragen uns beide, wie das sein wird. Sein bissiger, aber nie bösartiger Humor, das Geräusch des morgendlichen Holzhackens in der Scheune, das Tuckern des alten Traktors, sein kurzatmiges Schnaufen, womit man ihn stets orten konnte, der fahrbare Rasenmäher, mit dem er zwischen den Obstbäumen herumkurvte, das abendliche Bier unter dem Reneklodenbaum: Das alles wird es nicht mehr geben. Wenn ein Länder- oder Europapokalspiel anstand, sagte er nachmittags zu mir: „Du kannst gern kommen und mit uns das Spiel gucken. Ein Bier gibt es auch.“ Einladungen, die ich meist gern annahm, zumal U froh war, wenn ich sie in unserer Ferienwohnung nicht mit Fußball behelligte. Wenn ich so gegen 23 Uhr zurückkam, schlief U meist schon tief und fest.
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Trumps Aussage zur Wahl im November: „Nur noch dieses Mal, ihr müsst es danach nicht mehr tun. Vier Jahre, dann wird es repariert sein. (…) Wir werden es so gut repariert haben, dass ihr nicht mehr wählen müsst“, lässt sich ohne große Böswilligkeit als Ankündigung der Abschaffung der Demokratie und der Errichtung einer Autokratie deuten. Der Sturm aufs Kapitol soll vollendet werden, diesmal mittels Stimmzettel. Hoffen wir, dass Kamala Harris ihren augenblicklichen knappen Vorsprung in den Umfragen über die Ziellinie retten kann. Es hängt einiges davon ab. Es sind trübe Zeiten, in denen man für eine wie Kamala Harris sein muss.
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Der Hausrotschwanz wird Vogel des Jahres 2025. Daraus kann man schließen, dass es um ihn schlecht bestellt ist und wir uns wegen seiner Fortexistenz Sorgen machen müssen. Wie um viele andere unserer tierischen Mitlebewesen.
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„Unerbittlich war Brecht gegen notorische Dummköpfe.“
(Erwin Strittmatter)
Zwei Mädels im Buchladen. Die eine erklärt ihrer Begleiterin ihr Kriterium für ein gutes Buch. „Also, ich suche mir die Bücher in erster Linie nach der Farbe des Einbands aus, wenn das nicht reicht, schaue ich auf den Titel, und erst wenn ich mich dann immer noch nicht entscheiden kann, werfe ich einen Blick auf den Klappentext und das Autorenfoto.“
Beim Verlassen der Buchhandlung kommt mir eine Kleinfamilie entgegen. „So, hier wärmen wir uns jetzt mal ein bisschen auf“, verkündet der Papa. Das erinnerte mich an eine Bemerkung von Loriot, es gebe Menschen, die nur ein Platzregen zum Betreten einer Buchhandlung bewegen könne.
Draußen in der Fußgängerzone begegnet mir ein Mann , der gerade in sein Telefon hineinbrüllt: „Tu, was ich dir gesagt habe, verdammte Scheiße!“ Dann nimmt er das Gerät vom Ohr und schimpft laut vor sich hin. „Meine Fresse, was für eine dumme Fotze. Ich bin nur von Idioten umgeben!“. Wenn du nicht der Oberidiot bist, dachte ich. Leider habe ich es nicht laut gesagt. Mit einem Kieferbruch im Spital zu laden, war es mit nicht wert.
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„Mit vierundsiebzig und einem kleinen Katalog von Krankheiten und traurigen Erinnerungen denke ich nicht weniger als einmal am Tag daran, mich umzubringen.“
(Richard Ford)
Akustisch war die Woche am Edersee erfüllt vom Trompeten der Kraniche, die in lockeren V-Formationen und in langen Schnüren das Dorf auf ihrem Flug gen Süden überquerten. Die Blicke der Dorfbewohner und Spaziergänger gingen sehnsuchtsvoll Richtung Himmel, wenn das Trompeten der Kraniche die Luft erfüllte. Wie gern würden viele von ihnen die kalte Jahreszeit in wärmeren Gefilden verbringen und einfach so aus dem Alltag davonfliegen! Entronnen dem Terror der Ökonomie und der Nützlichkeit. Obwohl sie das nicht so ausdrücken würden.
Während eines meiner Spaziergänge bot sich mir ein seltenes Schauspiel. Rotmilane sammelten sich zum Aufbruch in ihre Winterquartiere und kreisten in einer großen Gruppe über den Feldern oberhalb des Dorfes. Es mögen so an die zwanzig dieser seltenen Vögel gewesen sein. Sie stießen ihre charakteristischen Schreie aus. Es war ein imposantes Schauspiel, den großen Vögeln zuzusehen, wie sie in den Luft lagen und sich immer höher in den blauen Himmel schraubten. Dass diese Faszination durch die Vorliebe von Diktatoren für Greifvögel diskreditiert ist, ist mir durchaus bewusst, aber ich finde trotz alledem, dass der Anblick der kreisenden Vögel mit ihrer riesigen Spannweite ein großartiges Schauspiel ist, dessen Ästhetik ich mich nicht verweigern kann und will.
Gern saß ich zur Mittagszeit in der herbstlichen Sonne auf der Bank vor dem Haus. Es war eine hölzerne, menschenförmige und menschenfreundliche Bank, die zum Sitzen und Verweilen einlud. Viele andere Bänke sind eher abweisend und menschenfeindlich. Lieblos zusammengezimmert, hart und unbequem, als wollte man den Leuten mitteilen: „Schleicht euch! Lasst euch bloß nicht auf dieser Bank nieder.“
Von der Bank aus hat man einen freien Blick aufs Vogelhäuschen, das in der Wiese zwischen den Obstbäumen steht. Die Kundschaft besteht hauptsächlich aus Meisen und Spatzen, die sich nach einem geheimen Rhythmus abwechseln. Ab und zu taucht ein Buntspecht auf, dem die anderen Vögel respektvoll Platz machen. Dabei scheint er ein verträglicher Zeitgenosse zu sein. Aber was wissen wir schon davon, was zwischen Vögeln so abgeht? Der Specht packt einen Sonnenblumenkern und fliegt mit ihm zum nächsten Baum, wo er ihn in einen Spalt im Stamm klemmt, um ihn besser öffnen zu können. Dann fliegt er wieder zum Vogelhäuschen, um einen neuen Kern zu holen. So geht das eine Weile, bis sein Appetit gestillt ist und er davon fliegt. Prompt kehren die kleineren Vögel zurück und machen sich über das her, was der Specht übriggelassen hat. Ein paar Meter vom Vogelhaus entfernt hat die Familie eine kleine Gedenkstätte für den Pater familias eingerichtet. Eine Kerze brennt neben einem Portrait von ihm. So kann Hilde sich, wenn ihr danach ist, ihrem Gatten nahe fühlen, ohne den ein paar Kilometer entfernten Friedhof aufsuchen zu müssen. Sie muss nur aus der Haustür treten und ein paar Schritte in die Wiese machen.
Die Luft duftete nach Pilzen, aber ich fand keine essbaren. Dafür aber Schlehen, aus denen U ein leckeres Gelee herstellte. Leider wurde es in den Gläsern nicht richtig fest. Das sei Glücksache, sagte Hilde, die Wirtin. Das aus dem Mund einer erfahrenen Gelee-Köchin zu hören, tröstete U, für die es das erste Schlehen-Gelee ihres Lebens war. Schmecken tut es auch so.
Wie angenehm war ehedem das Geräusch der durchs Gras sausenden Sensen – im Unterschied zum Jaulen der Motorsensen heute?
Auf den Spaziergängen trug ich meinen „Bodo Ramelow-Anorak“, den ich Mitte der 1970er Jahre bei Karstadt in Gießen erstanden habe, wo Ramelow eine kaufmännische Lehre absolvierte. Aber das hat eigentlich nichts miteinander zu tun, aber seit ich von Ramelows Lehre in der Gießener Karstadt-Filiale weiß, nenne ich den rostroten und unverwüstlichen Anorak „meinen Ramelow-Anorak“. Leider ist Bodo nicht ganz so unverwüstlich und es wird ihm seit einiger Zeit übel mitgespielt. Die Tage seiner politischen Wirksamkeit scheinen gezählt, mein Anorak ist auch nach fünfzig Jahren noch immer tiptop. Ein klein wenig ist die Farbe blasser geworden, was ihn aber noch attraktiver macht. Vor ein paar Jahren hat U mir eine Windjacke von einem Hersteller geschenkt, der sich viel auf seine Nachhaltigkeit zugute hält. Nach fünf Mal Waschen war von der Farbe kaum noch etwas zu erkennen und die Jacke ging insgesamt ins Stadium der Auflösung über. Ich habe sie zwar noch, kann sie aber nur noch dort tragen, wo mich niemand sieht.
Auf einen Spaziergang hatte U einen Artikel über einen neuen Roman mitgenommen, der sich mit Nabokovs „Lolita“ beschäftigt und den ich unbedingt lesen sollte. Als wir uns nach einer Weile in der Sonne auf eine Bank setzten, stellte ich fest, dass ich keine Lesebrille dabei hatte und den Zeitungsartikel ohne nicht lesen konnte. Da sagte U plötzlich: „Hier liegt eine Brille“. Jemand hatte eine Lesehilfe auf der Bank vergessen, die mir nun wie gerufen kam. Sie hatte genau die Stärke, die ich benötige. Ich wischte sie mit einem Taschentuch ein wenig ab und las das Interview mit Lea Ruckpaul, von der der Roman „Bye Bye Lolita“ stammt, der die Geschichte gewissermaßen gegen den Strich bürstet, indem sie die Perspektive des Mädchens Dolores einnimmt. Die Chance des erwachsenen Verführers und Missbrauchers, so verstand ich Ruckpaul, resultiert aus der Vernachlässigung des Kindes durch die Eltern. Der Missbrauchstäter profitiert davon, dass viele Eltern sich nicht um ihre Kinder kümmern und froh sind, wenn sie sich ihrer entledigen können. Viele Opfer entstammen zerbrochenen oder verwahrlosten Familien und suchen die Nähe anderer Erwachsener. Sie geben den Kindern, was ihnen ihre Eltern vorenthalten. Das deckt sich mit meinen Erfahrungen in der Zeit, die ich als Gefängnispsychologe tätig war und viel auch mit solchen Tätern zu tun hatte. Ich habe in meiner im Freitag erschienenen Serie „Berichte aus dem Dunklen“ unter der Überschrift „Im eigenen Spinnennetz“ den Fall eines solchen Täters beschrieben. Es gibt natürlich auch andere Täter, die sich ihrer Opfer mit manifester Gewalt bemächtigen, aber das Gros operiert nach dem hier beschriebenen Modus und im Nahbereich der Opfer. Das Ganze basiert auf einer für die Kinder nicht durchschaubaren Sprachverwirrung: Das Kind wünscht sich, in der Sprache der Zärtlichkeit angesprochen zu werden, sehnt sich nach Aufmerksamkeit und Berührung, der Erwachsene trägt seine Erregung in die Begegnung hinein und antwortet in der Sprache sexueller Leidenschaft. Aufmerksamkeit, Zuwendung und Sexualisierung bilden einen sich verfilzenden Zusammenhang, eine Art Spinnennetz, in dem die Kinder sich verfangen und aus dem sie nur schwer und ohne fremde Hilfe oft gar nicht herausfinden.
Die ganze Woche über las ich einen neuen Roman von Richard Ford, der einer meiner literarischen Heroen ist. Er heißt „Valentinstag“, und wir begegnen dort einer Figur aus anderen Romanen von Ford wieder: Frank Bascombe. Er ist inzwischen ein alter Mann geworden, der sich mit seinem todkranken Sohn Paul auf eine letzte Reise begibt. Sie mieten sich ein Wohnmobil und brechen zum Mount Rushmore in South Dakota auf. Mit dem ihm eigenen Humor erzählt Ford von der Reise, dem Zusammensein mit seinem ihm eigentlich fremden Sohn, den Lebensverhältnissen in der amerikanischen Provinz, dem Innenleben von Shopping Malls und Krankenhäusern: „Sextoys und Schnellfeuergewehre“. Gerade im Vorfeld der US-Wahl eine äußerst interessante Lektüre.
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„Was uns nicht zu Bewusstsein gebracht wird, kommt als Schicksal über uns.“
(C.G. Jung)
Der Aufenthalt am Edersee hat beim Versuch, ihn nachträglich schreibend festzuhalten, lauter lose Enden hinterlassen. Wie Us Stricken an einem Socken, von dem ich hoffe, dass ich ihn zu Weihnachten geschenkt bekomme. Ich habe inzwischen gelernt, mit losen Enden zu leben und unterliege immer weniger dem Zwang, diese prompt vernähen und verstecken zu müssen. Alles ist fragmentarisch und bleibt es auch im Versuch, es schreibend zu fassen. „Der Weltgeist ist partikular geworden“, hat Peter Brückner verschiedentlich gesagt und geschrieben. Der Versuch, die Wirklichkeit ihrem Begriff adäquat zu machen, hat in der Geschichte der Linken viel Unheil angerichtet. Was sich der Logik des Begriffs nicht fügen wollte, wurde ignoriert oder gewaltsam abgeschnitten. Ich habe im Folge 58 der DHP zu zeigen versucht, dass der Feldzug der Bolschewiki gegen die sogenannten Kulaken auch aus dem Umstand resultierte, dass die Bauern im starren Klassenschema des orthodoxen Marxismus keinen Platz hatten und es sie also nicht geben durfte. Obwohl der Begriffsimperialismus letztlich auf Hegel zurückgeht, hat dieser doch die Problematik seines Verfahrens erkannt und prägnant beschrieben: „Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen, heißt Wirklichkeit zerstören.“
Was für soziale Prozesse im Großen gilt, gilt auch im Mikrobereich menschlicher Beziehungen. Max Frisch hat in seinem Tagebuch 1946 – 1949 unter der Überschrift „Du sollst dir kein Bildnis machen“ darauf hingewiesen, dass die Liebe fähig sein muss, den geliebten Menschen als jemand zu erleben, der über sich hinauswächst und sich verändert. Sobald wir uns ein festes Bild vom anderen machen und ihn zwingen, diesem Bild zu entsprechen, töten wir die Liebe. Wir pressen den anderen mehr oder weniger gewaltsam in eine Identität, die wir für ihn entwickelt haben. Wir rücken sie oder ihn in eine für uns günstige Identitätslage. Was nicht hineinpasst und aus dem Rahmen fällt, wird wie beim attischen Wegelagerer Prokrustes abgeschnitten. Die Passage aus dem Tagebuch von Max Frisch gehört zum Schönsten, was über Liebe geschrieben worden ist.
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Heute morgen überholt mich auf dem Rückweg vom Einkaufen ein telefonierender Radfahrer auf der rechten Seite. Extrem dicht quetscht er sich er an mir vorbei, eine kleine Ausweichbewegung meinerseits hätte genügt, und wir wären beide gestürzt. Ich rufe ihm nach, er solle nicht rechts überholen, er hält mir über die Schulter seinen Mittelfinger hin. Spätestens da wusste ich, dass ich wieder in Gießen war.
Vorn im Park stand ein etwas heruntergekommen wirkender Mann und pinkelte mitten auf den Gehweg. Als der Strahl schwächer wurde und schließlich erlosch, seufzte er erleichtert, als hätte er es gerade noch bis hierher geschafft. Wenn man irgendwann derart schamlos ist, hat man es hinter sich, dachte ich, aber fand diesen Zustand nicht sonderlich erstrebenswert.
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Am Nachmittag traf ich in der Stadt die Frau eines Freundes. Sie komme gerade von einem Besuch im Krankenhaus, erzählte sie. H.-M. liege auf der kardiologischen Intensivstation, wo er wegen Herzrhythmusstörungen behandelt werde. Nach ihrer Beschreibung lag er exakt in dem Krankenzimmer, in dem ich vor sechs Wochen untergebracht war. „Am Ende des Ganges links“, beschrieb sie mir die Lage des Zimmers. Er habe es für diese Nacht noch für sich. Man habe heute einen Gefangenen auf sein Zimmer legen wollen, da dieser aber von zwei Beamten habe bewacht werden müssen, sei das aus Platzgründen nicht gegangen. Sie hoffen nun beide, dass sich daran übers Wochenende nichts mehr ändert. Ich bat sie, ihm beim nächsten Besuch Grüße und Genesungswünsche zu überbringen. Er ist ein freundlicher und kluger Kerl, der seine politische Nachsozialisation im Berlin der späten 1960er Jahre erfahren hat. Ich habe ihn im Georg Büchner-Club kennengelernt, den es leider nicht mehr gibt.
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Was für Deppen Donald Trump und Elon Musk doch sind. Da haben sich die beiden Richtigen gefunden: der reale Horror Clown und der mit Geld um sich schmeißende Dagobert aus Entenhausen und Grünheide. Das Schicksal der Welt soll in den Händen solch skurriler Gestalten liegen? Beide versuchen ihre Verrücktheit nicht einmal zu verbergen, sondern zelebrieren sie und stellen sie öffentlich zur Schau. Und die Hälfte der US-Bevölkerung liebt sie dafür. Trump will Musk allen Ernstes in sein Kabinett berufen und ihm ein Ministeramt anvertrauen. Das Ministerium für Geldvermehrung und Größenwahn wahrscheinlich.
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Die Konzentration der klimaschädlichen Gase in der Atmosphäre ist laut einem aktuellen Bericht der Weltwetterorganisation auf einen Rekordwert gestiegen. Seit Beginn der Messungen sei die Zunahme dieser Gase noch nie so stark und schnell erfolgt wie in den letzten 20 Jahren. Der CO2-Anstieg betrug seit 2004 etwa 11,4 Prozent – und 2023 lag er höher als im Jahr zuvor. Und dieses Jahr wird er höher liegen als im letzten Jahr. In Anlehnung an Herbert Achternbusch kann man sagen: Wir schlafen im Kanonenrohr und teeren unsere Blumenbeete. Die Autos werden immer zahlreicher und größer, wir fressen Angelhaken und japsen nach Luft.
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