106 | Moderner Midas-Kult

„Ich kann gar nicht soviel fressen, wie ich kotzen möchte.“

(Max Liebermann)

Seit ich heute Morgen im Radio gehört habe, dass Bruce Springsteen heute 75 Jahre alt wird, höre ich Stücke von ihm. Gerade lief „The Ghost of Tom Joad“, eines meiner Lieblingslieder. Herzlichen Glückwunsch!

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In der Nachbarschaft hat jemand die Kohleheizung angeworfen. Der Gestank, der sich in der ganzen Straße verbreitet, belegt die Dringlichkeit, mit dieser Form des Heizens Schluss zu machen.

Im Herbst fallen abends die Krähen aus dem Umland in die Stadt ein. Gestern ließen sie sich auf dem Arm eines Krans nieder, der in der Nachbarschaft aufgebaut ist, und unterhielten sich. Sie hockten dicht an dicht, und so fanden Hunderte auf dem Arm Platz. Ihr Gekrächze und Keckern war weithin zu hören. Irgendwann erhoben sie sich und flogen davon.

In der Stadt sehe ich, wie ein kleiner Junge mehrfach gegen das Bein einer Bronzestatue tritt, die zum Ensemble der drei „Schwätzer“ gehört. Besser als gegen das Bein der Mutter, dachte ich. Auch das habe ich in letzter Zeit einige Male gesehen. Die Statue wehrt sich noch weniger als die Mütter. Der begleitende Vater kommentiert das Verhalten seines Sohne nicht. Diese Gleichgültigkeit der Eltern, die eine Erziehungsverweigerung darstellt, ist verheerend. Niemand reagiert auf irgendetwas, alles ist erlaubt und damit auch egal.

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Vielerorts ist in den Tagen nach der Wahl in Brandenburg zu hören: „Das ist gerade nochmal gut gegangen.“ Dieses Verhalten gegenüber der rechten Gefahr erinnert mich an den Film „Hass“ von Mathieu Kassovitz. Dort springt ein Mann im obersten Stockwerk eines Hochhauses aus dem Fenster und ruft – im freien Fall begriffen – bei jedem Stockwerk, an dem er vorbeifliegt: „Bis hierhin ist es gut gegangen.“ Entscheidend, so der bittere Schlusssatz des Films, sei aber nicht der Flug, sondern die Landung. Wie die aussieht, sollten wir eigentlich wissen.

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Wie es scheint, war der Sonntag der letzte Badetag an den Lahn für dieses Jahr. Wir haben ihn bis zur Neige ausgekostet. Die Saison hat spät begonnen, weil der Frühsommer kühl und verregnet war, aber der August und der September haben uns dann für alles bis dahin Entgangene entschädigt. Ich habe tolle Tage am Fluss erlebt, für die ich dankbar bin.

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„Die Menschheit braucht ein neues Wozu“

(Heiner Müller)

Der Vorstand der Grünen ist zurückgetreten. Ricarda Lang und Omid Nouripour wollen, wie sie auf der kurzen Pressekonferenz sagten, „den Weg für einen Neustart freimachen“. Ihre Presseerklärung triefte von falschem Pathos: „Wir sind dankbar, dass wir dieser großartigen Partei dienen durften“ und so weiter. Ein entsetzliches Gesülze, es hätte nicht viel gefehlt, und die beiden hätten zu weinen angefangen. Irgendjemand merkte gestern zu recht an, der Rücktritt von Lang und Nouripour gleiche dem Verhalten eines abstiegsbedrohten Bundesligavereins, der den Zeug- und den Platzwart entlasse, statt den Trainer und den Vorstand. Will sagen: Die wahren Verursacher der grünen Misere sind Baerbock und Habeck, die dank des Bauernopfers des Parteivorstands ungeschoren bleiben sollen. So sieht es offenbar auch die Grüne Jugend, die unter Protest die Partei verlassen und sich selbständig machen will. Es brauche eine „politische Kraft, die dafür kämpft, die Wirtschaft endlich in den Dienst der Menschen zu stellen“ und sich um ihre Sorgen kümmere, heißt es in einer Erklärung, die der zehnköpfige Vorstand der Nachwuchsorganisation am Donnerstag abgab.

Für die Grünen gilt, was ich zum Vorgehen der SPD angemerkt habe: Man kann strukturelle Konflikte und Probleme nicht durch den Austausch von Führungspersonal lösen. Der bringt nur dann etwas, wenn das neue Personal für einen inhaltlichen Kurswechsel steht. Dieser von vielen Parteien präferierte Therapieansatz erinnert an den Versuch, einen Krebskranken mit einem Hühneraugenpflaster zu kurieren. Das war die Karl-Kraus-Definition von Sozialdemokratie, die auch auf alle ihre Ableger zutrifft, zu denen auch die Grünen gehören. Am Horizont taucht die alte und inzwischen verpönte Frage auf, ob sich die Krisen, welche die kapitalistische Produktionsweise immer wieder in allen möglichen Varianten hervorbringt, lösen lassen, wenn man an der kapitalistischen Produktionsweise und am Industrialismus festhält? Es bräuchte einen tiefgreifenden Umbau der gesellschaftlichen Verhältnisse und des Verhältnisses zur Natur, anders und billiger ist Rettung nicht zu haben. Das muss ab und zu gesagt werden, auch wenn es niemand mehr hören mag. Das Elend derer, die den Kapitalismus reformieren und zivilisieren wollen, besteht seit eh und je darin, dass sie um einer breiten Zustimmung willen den Menschen keinen reinen Wein einschenken und so tun, als könne man den Bären waschen, ohne seinen Pelz nass zu machen. Der radikale Umbau der Gesellschaft ist dringlicher denn je.

Das Bedürfnis nach Kohärenz ist ein tief in den Menschen verwurzeltes und wird von der bestehenden Gesellschaft des losgelassenen Marktes nicht befriedigt. Schmerztabletten, Tranquilizer und Supermärkte halten auf Dauer keine Gesellschaft zusammen, Geld und Konsum sind ihrem Wesen nach nihilistisch. Die Frage vieler Menschen: Wozu lebe ich, was hat mein Leben für einen Sinn? wird von dieser Gesellschaft entweder ignoriert oder mit konsumistischem Sinnersatz abgespeist. Sneakers, Handtaschen,  Smartphones, Flugreisen und immer größere Autos stiften keinen wirklichen Sinn. Gestern sah ich, wie eine Mutter, die ihren Kindern dick mit buntem Zucker überzogene Donuts gekauft hatte, draußen vor dem Laden zu ihnen sagte: „Lasst uns mal schnell ein Foto machen.“ Und sie stellten sich in der typischen Selfiepose zusammen, reckten ihre Gesichter und die klebrigen Gebäckstücke in Richtung Kamera und bleckten die Zähne. Zeitig werden heutige Kinder in den Midas-Kult des Kapitalismus eingeübt und lernen Befriedigungsersatz als Entschädigung für die eigentlichen Wünsche und Bedürfnisse zu akzeptieren. 

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Die Krankenkasse sandte mir dieser Tage eine Aufforderung zu, eine Zuzahlung zu einer empfangenen Leistung – meinem kürzlichen Krankenhausaufenthalt – zu entrichten. Da ich mit Schulden immer noch schlecht leben kann, ging ich an einem der nächsten Tage zur Geschäftsstelle dieser Krankenkasse – mit dem passend abgezählten Betrag in der Hosentasche. Als ich mein Anliegen vorgebracht hatte, starrte die Mitarbeiterin mich an, als hätte ich die Geschäftsstelle mit geöffnetem Hosenstall – oder noch Schlimmerem – betreten. Der Betrag müsse überwiesen werden, erklärte sie mir, sie hätten hier gar keine Kasse mehr. Selbst wenn sie wolle, sie könne das Geld in bar gar nicht annehmen. Es ist verrückt: Ich musste also nebenan in die Bank gehen, dieser einen Überweisungsauftrag erteilen, die dann die Kohle nach nebenan überweist. Ein Beitrag zur viel gepriesenen und allseits geforderten Entbürokratisierung und Vereinfachung von behördlichen und geschäftlichen Vorgängen.

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Innerhalb weniger Tage ist die Wassertemperatur der Lahn auf 14 Grad gesunken, und da auch die Luft kühl ist, hält sich meine Lust auf ein Bad im Fluss in Grenzen. Heute vor einer Woche saßen und lagen wir noch auf dem Steg in der Sonne und tauchten in den Fluss ein. Das wird dann als das letzte Bad des Jahres in Erinnerung bleiben. Aber, wer weiß das schon. „Die Erinnerung ist wie ein Hund, der sich hinlegt, wo er will“, schrieb Cees Nooteboom eingangs seines Romans „Rituale“.

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Die Wahlen in Österreich endeten mit einem Triumph der Rechtspopulisten. Die sogenannte Freiheitliche Partei Österreichs hat mit beinahe 30 Prozent der Stimmen die Wahl gewonnen. Da die anderen Parteien sich aber noch zieren, mit der FPÖ und Herrn Kickl zu koalieren, wird die Bildung einer Regierung ähnlich schwierig wie in den ostdeutschen Bundesländern, wo niemand offen mit der AfD kooperieren will. Wobei die FPÖ in Österreich in der Vergangenheit bereits mehrfach an Regierungen beteiligt war. FPÖ-Chef Herbert Kickl selbst war von 2017 bis 2019 Bundesminister für Inneres, bis er im Zusammenhang mit der sogenannten Ibiza-Affäre zurücktreten musste. FPÖ und AfD besetzen ähnliche Themen und vertreten inhaltlich, besonders beim Thema Migration und Einwanderung, verwandte Positionen. Kickl propagierte im Wahlkampf eine „Festung Österreich“, die für Fremde uneinnehmbar sein soll. Auch in Österreich sind viele junge Wähler der rechten Propaganda auf den Leim gegangen. „Ich kann gar nicht soviel fressen, wie ich kotzen möchte“, möchte ich mit den auf Hitler bezogenen Worten von Max Liebermann kommentieren.

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Der Niedergang der Grünen lässt sich wie der der SPD – so meine These –  nicht durch den Austausch von ein paar Köpfen aufhalten. Der Höhenflug der Grünen, der 2018 mit der bayerischen Landtagswahl einsetzte, war getragen von der Hoffnung, der Kapitalismus ließe sich mit ihrer Hilfe ökologisch umbauen und seine destruktive Dynamik bändigen. Die Annahme war, die Grünen könnten sich in der nächsten Zeit als neue hegemoniale Formation herausbilden, die den Kapitalismus modernisiert und vor sich selber schützt. Dieser war und ist dabei, einige der Äste abzusägen, auf denen er selber sitzt und den Planet gegen die Wand zu fahren. Geht der Planet vor die Hunde, geht auch der Kapitalismus vor die Hunde. Den klügeren Repräsentanten der herrschenden Klasse dämmerte das damals und sie suchten nach politischen Kräften, die den Untergang abwenden könnten. Die Grünen empfahlen sich als eine politische Kraft, die die Selbstzerstörung der bürgerlichen Gesellschaft aufhalten und den Kapitalismus retten könnte. Das ist das Geheimnis ihres damaligen Erfolges. Diese historische Konstellation habe ich im Jahr 2018 im GEW-Magazin Auswege mit dem alten griechischen Begriff „Kairos“ zu charakterisieren versucht: „Hype oder Kairos? Thesen zum Höhenflug der Grünen“. Die multiplen Krisen der letzten Jahren haben diese Hoffnung zerplatzen lassen. Inzwischen ist dieser Umbau auch politisch nicht mehr gewollt und es findet auf ganzer Linie eine Rückwendung zum Industrialismus und zum Wachstumsfetischismus statt. Auch der elende Krieg in der Ukraine hat manche Entwicklung unterbrochen und um Jahre zurückgeworfen. Der historische Wind, der den Grünen in die Segel gefahren war, weht nicht mehr oder schlimmer: Er hat die Richtung gewechselt. Im Augenblick kann man sich kaum vorstellen, dass es in absehbarer Zeit noch einmal zu einer ähnlichen Konstellation kommen wird. Die Grünen sind für viele Menschen zur Inkarnation alles Schrecklichen geworden. Von allen Seiten wird ihnen die Schuld an allem Möglichen zugewiesen. Viele Leute fühlen sich überfordert und wollen von Klimawandel nichts mehr hören. Sie glauben, sie könnten den Klimawandel zum Verschwinden bringen, wenn sie die Grünen in die Wüste schicken. Sie haben die klassische Rolle des Sündenbocks. Die Grünen haben sicherlich auch Fehler gemacht, kein Zweifel. Ihr Stimmanteil bei Wahlen ist wieder auf rund zehn Prozent gesunken ist, ihre großstädtische Stammwählerschaft. Sie sind einem klassischen Mechanismus zum Opfer gefallen: Man straft den Boten für die unangenehme Nachricht, die er bringt.

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Kris Kristofferson ist gestorben. Ich verehre ihn vor allem wegen seiner Rolle in Michael Ciminos Film „Heavens Gate“ aus dem Jahr 1980, einem Spätwestern, der sich kritisch mit der amerikanischen Gewaltgeschichte und Fremdenhass auseinandersetzt. Dieser Film hat seinem Regisseur den Ruf eines Nestbeschmutzers eingetragen. Ich erinnere mich, wie erschüttert ich war, als ich den Film zum ersten Mal gesehen habe. Er dauert dreieinhalb Stunden und ist harter Tobak. Ich mag Kristofferson als Schauspieler auch wegen seiner Rolle in Sam Peckinpahs Film „Pat Garrett jagt Billy the Kid“ aus dem Jahr 1973. Als Musiker und Sänger habe ich Kristofferson nur am Rande wahrgenommen. 

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Die tödlichen Messerattacken von Mannheim und Solingen haben das Sicherheitsgefühl vieler Bürger nachhaltig erschüttert. Dieses Unsicherheitsgefühl wird von interessierten politischen Kräften nach Kräften geschürt und in Forderungen nach einer Militarisierung der inneren Sicherheit umgemünzt. Mehr Polizeipräsenz auf Straßen und Plätzen, schärfere Grenzkontrollen und weniger Zuwanderung sollen das erschütterte Vertrauen der Bürger restabilisieren. „Vertrauen“, schreibt Philipp Blom, „ist die Grundwährung jeder Gesellschaft, jedes Marktplatzes und jedes Justizsystems, jeder Regierung und jeder persönlichen Begegnung und jedes Gesprächs.“ Ich muss mich im städtischen Alltag darauf verlassen können, dass niemand unmotiviert mit einem Messer auf mich einsticht, dass meine Mitmenschen sich an Vereinbarungen halten und Regeln des Zusammenlebens beachten. Sonst gerät die Geschäftsgrundlage des Alltagslebens ins Wanken. Wir sind dabei, in einen solchen Zustand einzutreten oder sind es längst. Die Unterschrift vieler unter dem Gesellschaftsvertrag ist gefälscht oder nie geleistet worden. Ohne sie ist aber ein halbwegs zivilisiertes Miteinander nicht möglich, und es droht ein Zustand, der uns nur die Wahl zwischen verschiedenen Formen der Barbarei lässt. Am wahrscheinlichsten ist der Eintritt in ein digitales Panoptikum, das keinen unserer Schritte unbeobachtet lässt und die Spielräume für „abweichendes Verhalten“ zum Verschwinden bringt – eine trübe Melange aus autoritärem Staat und künstlicher Intelligenz.

Die Lagebeschreibung Peter Brückners, die er 1972 im Vorwort zur Neuausgabe von „Freiheit, Gleicheit, Sicherheit“ formuliert hat, besitzt nach wie vor Gültigkeit: „Wenn eine soziale Ordnung, die wir als Bedingung unseres Lebens vorfinden, Überleben und geschichtliche Errungenschaften nicht mehr sichert, sondern sich in eine Bedrohung des Überlebens wie der Errungenschaften verkehrt, wenn Leben, Denken, Hoffen, Lieben … gleichsam mürrisch in ihrer Haut werden und ihre Lebenstätigkeit sich zu vielen entfremdet, dann bilden sich großflächig gesellschaftliche Unruhezustände aus, deren Potential dem Sog der Regression entrissen und planvoll in Richtung auf die nun geschichtsangemessene, emanzipatorische Zukunft gewendet werden muss.“ Die Zerstörung und Selbstzerstörung von Normen bürgerlicher Kultur ist in den 50 Jahren, die seit der Entstehung des Brückner‘schen Textes vergangen sind, weiter fortgeschritten. Letzte Nacht konnte ich auf der Straße vor meinem Haus beobachten, welche Formen von Aggression und Zerstörung dieser Prozess freisetzt. Mehrfach bedrohten sich da junge Männer mit dem Schlimmsten und brüllten die übelsten Beleidigungen. Die Verrohung der Verkehrsformen ist weit fortgeschritten und wohl kaum noch zu stoppen. Sie ist die subjektive Entsprechung des losgelassenen Marktes und passt insofern genau zu dieser Gesellschaft.

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Seit mein Herz gestreikt hat, bindet dieses Organ große teile meiner Aufmerksamkeit und ich horche stetig in mich hinein. Das Urvertrauen in mein Herz ist flöten gegangen und wird wohl kaum wiederkehren. War da nicht gerade ein verdächtiges Stechen? Ein seltsamer Druck? Gab es nicht gerade einen Aussetzer? Was macht mein Puls? Ist der Blutdruck erhöht? Wenn man kein Messgerät besitzt: Woran merkt man das? Einmal ging ich vorn an der Ecke in die Apotheke, wo man den Blutdruck kontrollieren lassen kann, aber es war mir peinlich, mir in der Öffentlichkeit des Verkaufsraums die Manschette anlegen zu lassen. Das Herz ist nun nicht mehr der Sitz der Gefühle und weicher Regungen, sondern das Zentrum der Besorgnis. Mein ganzes bisheriges Leben war es einfach da, ich wusste ungefähr, wo es sitzt und schlägt, ansonsten nahm ich keine Notiz von ihm. Klopfte es nach sportlichen Anstrengungen mal heftiger, war ich sicher, dass sich das schnell wieder legen würde. Auf mein Herz war Verlass. Diese ruhige Gewissheit ist nun dahin.

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Wie Teile der Großindustrie sich gegen die AfD aussprechen, weil sie in ihr ein Investitionshindernis erblicken, so gibt es auch Leute, die die vermehrten und verschärften Grenzkontrollen kritisieren, weil sie Lieferketten unterbrechen und den freien Warenverkehr ins Stocken bringen. Dazu gehört auch die Ware Arbeitskraft, die an den Grenzen festgehalten und am pünktlichen Eintreffen am Arbeits- und Ausbeutungsplatz gehindert wird. Mich erinnert das an die von Sartre konstatierte Perversion im Menschenbild. „Die Tuberkulose hemmt die Produktion“, las er auf Plakaten, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Warschau zu sehen waren. Sartre sprach in diesem Kontext von einem „Fetischismus der Produktion“. Dieser ist überall dort anzutreffen, wo Waren produziert werden und der Tauschwert dominant ist. Nicht die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse ist vorrangiges Produktionsziel, sondern der Warenausstoß und der Profit. Kapitalismus ist massenhafte Güterproduktion mit daranhängenden Menschen, Sozialismus sollte massenhafte Produktion vom Beziehungen zwischen Menschen sein, mit daranhängender Güterproduktion. Diese Marxsche Unterscheidung ist im Realen Sozialismus schnell zuschanden geworden. Im Fetischismus der Produktion und der Perversion des Menschenbildes ähneln sich beide Gesellschaftssysteme wie eineiige Zwillinge, worüber uns ein Blick nach China belehrt.

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Bin schwer beeindruckt von der Verfilmung des Romans „Ein Mann seiner Klasse“, von Christian Baron, der dieser Tage in der ARD gezeigt wurde. Erstaunlich, wie nach all den Erziehungsverbrechen, die an ihm begangen wurden, ein Mensch mit menschlichen Eigenschaften aus ihm werden konnte, der sich für die Errichtung einer menschlichen Gesellschaft einsetzt. Wir lesen wechselseitig unsere Texte und sind uns bei einer Lesung in Marburg auch einmal begegnet. (Brancos Hosen, DHP 40)  Obwohl mein Vater einer anderen Klasse entstammte, waren seine Erziehungsmethoden nicht weniger gewaltsam. Ich habe in der DHP immer wieder von meinen Erfahrungen berichtet. Und von den irreparablen Beschädigungen und Verletzungen, die die Erziehungsgewalt bei und in mir angerichtet hat.

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„Mit welchem Recht maßen es die Menschen sich an, ihresgleichen zu töten?“

(Cesare Beccaria, 1764)

Am 19. Mai 1822 überfielen acht arme Bauern und Tagelöhner aus dem Hessischen Hinterland ein „Geldkärrnchen“, das an diesem Tag von Gladenbach nach Gießen fuhr. Es war geplant, dass der Überfall in der Subach, einem Hohlweg in der Nähe von Mornshausen, stattfinden sollte. Nach sechs vergeblichen Versuchen glückte der Überfall. Die Beute betrug 10.466 Gulden. Nach der Aufteilung entfielen auf jeden 800 Gulden, was dem Tageslohn von zehn Jahren entsprach. Ihr plötzlicher Reichtum wurde den Tätern zum Verhängnis, denn sie fielen durch ihre Ausgaben auf. Das führte dazu, dass man die Täter bald ermittelt hatte und ins Kriminalgefängnis nach Gießen überführte. Einem von ihnen gelang die Flucht, zwei andere nahmen sich während der Haft das Leben. Den verbliebenen fünf Einmal-Räubern machte man den Prozess. Am 24. März 1824 verhängte das Hofgericht in Gießen gegen sie die Todesstrafe durch das Schwert. Ein halbes Jahr später, am 7. Oktober 1824, wurde das Urteil vollstreckt, nachdem ein nach Darmstadt gesandtes Gnadengesuch vom Landesherrn abgelehnt worden war. Was für eine überschüssige, zusätzliche Grausamkeit, zum Tode Verurteilte ein halbes Jahr auf die Vollstreckung des Urteils warten zu lassen! Die Obrigkeit setzte den Schlussakt des Dramas und die Rache des Souveräns auf dem Marktplatz groß in Szene. Man führte die Verurteilten zum Richtertisch, der da aufgebaut war, wo die Gießener heute an den Markttagen Brötchen und Gemüse einkaufen. Die Urteile wurden noch einmal verlesen und über jeden der Stab gebrochen. Das ist keine Metapher, sondern man brach über den Köpfen der Verurteilten jeweils einen schwarzen Stab in zwei Teile und warf sie ihnen vor die Füße. Symbolisch wurde damit dargestellt, dass sie ihr Leben verwirkt hatten und nun nichts mehr zu retten war. Dann zog man, wie der Chronist Carl Franz vermerkte, mit einer großen Menschenmenge und angeführt von Seelsorgern zum Richtplatz, der sich draußen vor der Stadt in Richtung Marburg befand. Dort war das Blutgerüst aufgebaut, auf dem der Scharfrichter seines Amtes walten sollte. Karl Bruno Leder hat in seinem 1980 erschienen Buch „Todesstrafe“ den Ablauf einer Hinrichtung wie folgt beschrieben: „Außer dem Block befindet sich auf dem Schafott sehr oft, später sogar obligatorisch, ein Sandhaufen, vor dem der Verurteilte dann niederkniet. Man fesselt ihm die Hände, meist auf dem Rücken, schneidet ihm die Nackenhaare und verbindet ihm die Augen mit einer weißen Binde. Alle diese vorbereitenden Tätigkeiten werden von den Knechten des Henkers ausgeführt. Der Meister selbst rührt dazu keine Hand. Er hat bis dahin abseits gestanden und die Vorbereitungen beobachtet. Nun tritt er vor und zieht unter seinem Mantel das Richtschwert hervor. Anders als beim Hängen, das er meist von seinem ersten Gehilfen, dem sogenannten Löw‘, ausführen lässt, vollstreckt er eine Enthauptung immer mit eigener Meisterhand. Der Verurteilte, der bis zum letzten Augenblick betet, gibt oft dem Henker ein Zeichen, dass er bereit sei zu sterben. Man erwartet von ihm, dass er den Kopf hoch erhoben hält und so den Hals dem Schwertschlag preisgibt. Bringt er dazu nicht die Kraft auf, so muss ein Knecht des Henkers den Kopf an den Haaren hochhalten. Der Meister legt seinen Mantel ab, tritt hinter den Delinquenten, fasst das Schwert mit beiden Händen und lässt es blitzend durch die Luft sausen. Mit einem einzigen Streich – so lautet jedenfalls die Vorschrift – schlägt er dem Verurteilten den Kopf ab. Der Körper des Enthaupteten sinkt nach vorn; aus dem Halsstumpf sprudelt in dickem Strahl das Blut. Der Kopf rollt über das Schafott. Der Henker hebt ihn an den Haaren hoch und zeigt ihn dem Volk.“

Die Gießener Hinrichtung wird ähnlich abgelaufen sein und verlief ohne besondere Vorkommnisse, wie das Protokoll vermerkte. Als letzter starb Hans Jacob Geiz, nachdem er mit ansehen musste, wie seine beiden Söhne hingerichtet worden waren. Die Köpfe fielen jeweils mit dem ersten Streich. Misslang das, konnte sich der Volkszorn schnell gegen den Henker richten. „Das Mitleid des Henkers liegt im sicheren Hieb“, heißt es lakonisch bei Ernst Jünger. In Gießen scheint an diesem Herbsttag nichts den Volksfestcharakter der Veranstaltung gestört zu haben, und nach vollzogenem Blutgericht zog man zurück in die Stadt.

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Wir dürfen nicht vergessen, dass wir uns im Jahr 1824 befinden und nicht im sogenannten finsteren Mittelalter. Fünfunddreißig Jahre waren seit der Französischen Revolution und der Verkündigung der Menschen- und Bürgerrechte vergangen, die Lehren von Beccaria, Montequieu und Voltaire waren zugänglich und verbreiteten sich über ganz Europa. Peu à peu wurden die Strafgesetzgebung humanisiert und die Eigentumsdelikte von der Liste der todeswürdigen Verbrechen gestrichen. Der Postraub in der Subach fand an der Schwelle zu einer justiziellen Zeitenwende statt. Im benachbarten Kurhessen wären die Räuber schon damals mit einer zeitigen Freiheitsstrafe davongekommen. Es ist eine Absurdität des an Absurditäten reichen Justizsystems, dass manchmal Zufälle der Geographie über Leben und Tod entscheiden. In Kurhessen hätten die Räuber eine gewisse Zeit ihres Lebens bei harter Arbeit und karger Kost im Gefängnis verbringen müssen. Im Geist der neuen bürgerlichen Zeit und der Aufklärung begann man, Schuld zu quantifizieren und in Zeit umzurechnen, die dem von einem Gericht schuldig Gesprochenen von seinem Lebenszeitkonto abgebucht wurde. Nach meiner Erfahrung bekäme man heute als Ersttäter für einen bewaffneten Überfall auf einen Geldtransport sieben Jahre.

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In der Subach waren halbverhungerte arme Schlucker zur Tat geschritten und wurden aus der Not heraus für einen Tag zu Räubern. Dieser eine Tag, an dem niemand schlimmer zu Schaden kam, kostete sieben von ihnen das Leben. Sie hatten den Kutscher und den begleitenden Landschützen in den Wald gestoßen und dort geknebelt und gefesselt auf den Boden gelegt. Dann brachen sie den Kasten auf, in dem das Geld lag und verließen den Tatort. Den beiden Überfallenen gelang es bald, sich von den Fesseln zu befreien. Sie wandten sich in den nächsten Ort und brachten das Verbrechen zur Anzeige. Die Dinge nahmen ihren geschilderten Lauf. Das Verbrechen hatte die etablierte Ordnung kurzfristig erschüttert, die Strafe und ihre Vollstreckung sollten sie wieder herstellen. Über dem Hinterland lagerten nun wieder das Schweigen und die leere Finsternis des Himmels.

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Zehn Jahre nach der Hinrichtung der Kombacher Räuber schrieben Georg Büchner und Ludwig Weidig, ein paar Kilometer von der Hinrichtungsstätte entfernt, den Hessischen Landboten, in dem sie den verelendeten bäuerlichen Menschen einen politischen Ausweg aus ihrer Lage aufzeigen wollten: „Friede den Hütten, Krieg der Palästen“ lautete Büchners und Weidigs Parole. Die Flugschrift ging in der andauernden Finsternis der hessischen Zustände unter und wurde von den Bauern, die sie auf ihrer Schwelle fanden, brav bei der Obrigkeit abgeliefert. Dem jungen und ungebundenen Büchner gelang – wie vor ihm dem David Briel, dem Tippgeber von Kombach – die Flucht, der Butzbacher Familienvater und Pfarrer Weidig wurde inhaftiert und nahm sich 1837 im Darmstädter Arresthaus nach langen seelischen und körperlichen Torturen das Leben. All das gehört zum geschichtlich unabgegoltenen Erbe, das seiner Erfüllung und Einlösung noch immer harrt. Die Formen des Elends haben sich gewandelt, das Elend selbst besteht fort. Bis auf den heutigen Tag.

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Albert Camus‘ Vater nahm kurz vor dem Ersten Weltkrieg in Algier an der Hinrichtung eines Mannes teil, der eine ganze Bauernfamilie, Eltern und Kinder, getötet hatte. Vater Camus war empört und fand das Todesurteil gegen den Mörder gerecht. „Er stand mitten in der Nacht auf, um sich mit vielen anderen Leuten zusammen ans andere Ende der Stadt auf den Richtplatz zu begeben. Was er an jenem Morgen sah, erzählte er keinem Menschen. Meine Mutter berichtet nur, dass er mit verstörtem Gesicht überstürzt nach Hause kam, sich ohne ein Wort der Erklärung einen Augenblick auf sein Bett legte und sich plötzlich erbrach. Er hatte eben die Wirklichkeit entdeckt, die sich hinter den hochtrabenden, bemäntelnden Redensarten verbarg. Anstatt an die hingemetzelten Kinder zu denken, hatte er nur noch den an allen Gliedern zitternden Körper vor Augen, den man  auf ein Brett geworfen hatte, um ihm den Hals durchzuschneiden.“ Vater Camus begriff, dass die Strafe genau so empörend ist wie das Verbrechen und dass dieser weitere Mord die der Gesellschaft zugefügte Schmach nicht nur nicht wieder gutmacht, sondern durch eine neuerliche Schmach verschärft. Camus bezeichnete die Todesstrafe in seinem Essay „Die Guillotine“ als „einen Schandfleck unserer Gesellschaft“.

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Ganz ähnlich erlebte George Orwell eine Hinrichtung, der er als junger kolonialer Polizeioffizier in Burma beiwohnte. Er schildert sie in einem Text, der „Einen Mann hängen“ heißt. Die Hinrichtung fand frühmorgens auf einem Gefängnishof statt. Der Gefangene, ein kleiner schmächtiger Mann mit einem buschigen Schnurrbart, hatte sich in sein Schicksal ergeben und ließ sich widerstandslos zum Galgen führen. Orwell ging hinter ihm und sah zu, wie der Mann scheinbar willenlos vor sich hin trottete. Plötzlich trat er zur Seite, um einer Pfütze auszuweichen. Diese kleine Ausweichbewegung ließ Orwell urplötzlich gewahr werden, dass da ein Mensch vor ihm ging, nicht lediglich ein verurteilter Delinquent. „Als ich den Gefangenen zur Seite treten sah, um der Pfütze auszuweichen, erkannte ich das Geheimnis, sah, welch ungeheuerliches Unrecht es ist, einem Leben gewaltsam ein Ende zu setzen, das in voller Blüte ist. … Er und wir waren Menschen, die zusammen einen Weg zurücklegten, welche die gleiche Welt erblickten, hörten, fühlten, begriffen,  und in zwei Minuten mit einem plötzlichen Knack, würde einer von uns nicht mehr da sein – ein menschliches Wesen weniger, eine Welt weniger.“ Orwell antwortete auf die Frage nach dem Sinn dieser Erfahrung mit der Gestaltung seines weiteren Lebenslaufs. Er kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg gegen die Faschisten, nach dem Hitler-Stalin-Pakt unermüdlich gegen die stalinistischen und anderen totalitären Lügen, schließlich bezog er nördlich von London ein Cottage, pflanzte Obstbäume und Rosen und widmete sich dem Schreiben unvergesslicher Bücher. Er starb 1950 im Alter von nur 46 Jahren an Tuberkulose.

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Arthur Koestler, der von der Franco-Justiz zum Tode verurteilt war und drei Monate in einer Zelle auf seine Hinrichtung wartete, schrieb in seinem Plädoyer gegen die Todesstrafe „Die Rache ist mein“: „Würden die Argumente zutreffen, die zugunsten des Galgens als des wirksamsten Abschreckungsmittels geltend gemacht werden, dann müssten öffentliche Hinrichtungen von größtmöglicher Abschreckungswirkung auf den Verbrecher sein. Und doch waren die öffentlichen Hinrichtungen, zu einer Zeit als Taschendiebstahl mit dem Tode bestraft wurde, als die Gelegenheit bekannt, bei denen Taschendiebe die reichste Beute unter den Zuschauern einheimsen konnten.“

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Glaube niemand, das Grauen sei vorüber. Die Zahl der Hinrichtungen weltweit hat im vergangenen Jahr deutlich zugenommen. Amnesty International dokumentierte nach eigenen Angaben für 2023 mindestens 1.153 Exekutionen in 16 Ländern. Das sei die höchste Zahl gerichtlich angeordneter Hinrichtungen seit 2015, heißt es in dem aktuellen Bericht.

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