„ … und ebenso erschienen mir damals auch die Verzweifelten, die Elenden und Enttäuschten quer durch alle Zeiten miteinander verbunden.“
(Christoph Ransmayr)
Mein körperlicher Zustand affiziert natürlich auch die Seele, wie man früher sagte. Alle moderneren Begriffe sind mir zu technizistisch und sollen Machbar- und Beherrschbarkeit suggerieren. Das mühsame Umherschlurfen macht mich mitunter trübsinnig und schwermütig. Dagegen hilft ein Bad in der Lahn. Was aber soll im Winter werden?
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Vor der Pforte des botanischen Gartens berät ein Paar, das hörbar aus Sachsen stammt, darüber, ob man angesichts der fortgeschrittenen Tageszeit den Parkautomaten noch mit Münzen füttern müsse. „Die Zettelhexen sind doch längst daheeme“, befand die Frau, und damit war die Diskussion zuungunsten der Gießener Stadtkasse entschieden.
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Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken sagte nach dem für die Ampelparteien desaströsen Ausgang der Wahlen in Thüringen und Sachsen: „Olaf Scholz ist unser starker Bundeskanzler und er wird unser starker Kanzlerkandidat sein.“ Man habe das Ruder schon einmal herumgerissen und werde das auch vor der nächsten Bundestagswahl schaffen. Auch Karl Lauterbach wiederholte in einer Fernsehsendung am Tag nach den Wahlen sein Kanzler-Lob: „Olaf Scholz ist der beste Bundeskanzler, den wir je gehabt haben.“ Er handele überlegt und bedächtig und sei ein überaus intelligenter Mensch. Lauterbachs Fazit: „Wir sind mit ihm sehr gut aufgestellt.“ Brave Parteisoldaten und -soldatinnen loben ihren Chef und halten ihm bis in den gemeinsamen Untergang die Stange. Ich glaube allerdings auch nicht, dass es mit einer neuerlichen Auswechslung des Spitzenpersonals getan ist. Diese Übung praktizierte die SPD nun schon seit längerer Zeit. Die Liste der ausgewechselten Parteivorsitzenden ist lang. Das Problem der SPD ist ein strukturelles und durch neues Führungspersonal nicht zu beheben. Die SPD war einst eine Arbeiterpartei und hat ihr Klientel, nachdem man seine Belange lange Zeit hartnäckig ignoriert hat, an die AfD verloren.
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Der Wasserhahn im Bad tropft und tropft. Immer wieder versuche ich ihn festzuziehen. Das Tropfen gemahnt mich an das Verrinnen meiner Lebenszeit.
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Das Gelb in den Bäumen breitet sich aus. Gestern riss eine kräftiger Wind gegen Mittag Blätter von den Ästen der Bäume an der Lahn und wehte sie über den Fluss, wo sie davontrieben. Ich mag es zu sehen, wie die Enten auf dem Wasser niedergehen und das Rauschen ihrer Landung zu hören. Wer hat die kleinen Enten vom Fluss gerissen? Von Tag zu Tag werden es weniger. Die Hauptverdächtigen sind nach wie vor: Bussard, Wels, Hecht, Rotmilan und Reiher. Der Fuchs hat ja nur beim Landgang Zugriff, aber auch er ist als Tatverdächtiger nicht auszuschließen. Wenn die Entchen näherkommen und um den Steg kreisen, höre ich ein leises Fiepen oder Piepsen. Wenn es Kätzchen wären, würde ich sagen: Sie schnurren. Jetzt, im beginnenden Herbst, sind die Tage an der Lahn besonders kostbar. Jeder kann der letzte sein – wie ja überhaupt jeder Tag der letzte sein kann. Seit meinem Herzkasper ist das für mich kein Kalauer und Gemeinplatz mehr, sondern eine existenzielle Erfahrung.
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Das hätte Erwin Strittmatter bestimmt gefallen. Gestern lag sein in blass-grünes Leinen gebundenes Buch „Schulzenhofer Kramkalender“, das 1989, als die DDR in den letzten Zügen lag, im Aufbau-Verlag erschienen ist, auf einer Treppe, die zur Lahn hinabführt. Es lag aufgeschlagen zwischen der grau-weißen Feder eines Reihers, Nussschalen, Brennnesseln, Gundermann und wilder Minze. Die Äste einer Eiche reichten fast bis zur Treppe hinab. Libellen flogen umher und ließen sich auf einem Busch nieder, dessen Äste ins Wasser hingen. Das Wasser des Flusses plätscherte an die unterste Treppenstufe. Es gibt Bücher, die sollte man im Freien lesen, weil sie auch dort entstanden sind. Strittmatter reitet und wandert durch das Ruppiner Land in Brandenburg und notiert in ein Heft, was ihm unterwegs auf- und einfällt. Die Reiherfeder liegt nun als Lesezeichen im Buch von Strittmatter, und zwar beim Abschnitt 139, das „Die Feder“ überschrieben ist. Auch heute werde ich nicht ohne „Notizbuchbeute“ nach Hause kommen, auf die auch Strittmatter stets bedacht war. Neben der Tastatur liegen auf einem braunen Tellerchen außerdem ein blaue Feige, die an einem hiesigen Baum gewachsen ist, und Haselnüsse, die ich die Lahn entlang aufgelesen habe.
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Dieser Tage wurde und wird von Seiten der Industrie energisch vor der AfD gewarnt. Sie schade dem Wirtschaftsstandort Thüringen, Sachsen und Deutschland insgesamt. Da stellt sich mir erneut eine Frage, die ich schon oft gestellt habe: Was wäre, wenn die AfD dem Wirtschaftsstandort nützen würde? Wäre ihr Programm dann akzeptabel?
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Im Moment scheinen sich alle Handwerker der Region in unserer Straße zu versammeln. Und alle haben ihre lärmintensivsten Maschinen dabei und benutzen sie auch. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wann ich zum letzten Mal unter Bedingungen von erträglichem Lärm – von Ruhe kann man hier in der Stadt sowieso nicht sprechen – auf dem Balkon gesessen habe.
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Schon wieder kam es in der USA zu einer Schießerei an einer Schule. Im Bundesstaat Georgia kamen am Mittwoch (04.09.24) mindestens vier Menschen ums Leben, als ein 14-Jähriger Schüler das Feuer auf Mitschüler und Lehrer eröffnete. School-Shootings gehören in den USA zur traurigen Folklore und ereignen sich beinahe täglich. Paul Auster hat sein letztes Buch dem Thema der Verbreitung von Schusswaffen in den USA gewidmet: Bloodbath Nation, Hamburg 2024. Ich habe dieses Buch im „Freitag“, Ausgabe 14/2024, besprochen.
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Ich lasse es mir nicht nehmen, jedem Passanten, der mit dem Handy in der Hand an meinem Haus vorüber läuft – und das sind neun von zehn – ein vernehmbares „Vollidiot“ zuzurufen. Von den sicheren Höhen des Balkons aus. Es bezieht sowieso niemand auf sich und schon gar nicht auf seinen Handygebrauch. Die meisten sind inzwischen mit ihren Handys verwachsen, auf sie zu verzichten, gliche einer Amputation. Dabei gibt es Smartphones noch nicht einmal zwanzig Jahre! Ich höre meine Freunde, als ihnen mein Schimpfen auf diese Dinger auf die Nerven ging, noch sagen: „Du wirst sehen, das ist eine Mode, die schnell vorübergeht.“ Von wegen, es handelte sich um eine anthropologischen Mutation. Der homo sapiens entwickelte sich unter unseren Augen zum homo telephonans, dann im nächsten Schritt zum homo digitalis.
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Eine Nachbarin lädt von Amazon gestern gelieferte Pakete heute Morgen auf ihr Lastenrad, um sie zurückzuschicken. Die Null nullt, der Kapitalismus als sich verwertender Wert funktioniert als quasi kybernetisches System, als blanke Tautologie. Symbolisch dargestellt von dieser Nachbarin, die davon natürlich nichts ahnt.
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Am Donnerstag, dem 5. September 2024, ist in München ein Mann mit einer uralten Schweizer Armeewaffe samt aufgepflanztem Bajonett aufgefallen, weil er sich in der Nähe des israelischen Generalkonsulats herumtrieb. Dieses blieb an diesem Tag geschlossen, weil in der Stadt eine Gedenkveranstaltung aus Anlass des Jahrestages des Olympiaattentats von 1972 geplant war. Der Täter wirkte desorientiert und wusste offenbar nicht weiter. Er lief scheinbar rat- und ziellos umher. Dann begann er zu schießen. Es entwickelte sich ein Schusswechsel mit der Polizei, in dessen Verlauf der junge Mann aus Österreich getötet wurde. Er soll achtzehn Jahre alt gewesen sein und ursprünglich aus Bosnien stammen. In Österreich war er bereits als Islamist aufgefallen und von den Behörden registriert worden. Normalerweise planen Attentäter und Amokläufer ihre Taten akribisch, und der chaotische Ablauf der Ereignisse wunderte mich. Schon am Abend, als ich zum wiederholten Mal die Bilder gesehen hatte, kam mir der Gedanke: Was, wenn das, was aussieht wie ein Scheitern, in Wahrheit die Realisierung einer Absicht war? Was, wenn es sich um einen Fall von „suicide by police“ handelte? Ein Täter, der sich in einer seelischen Ausnahmesituation befindet und es nicht fertig bringt, selbst Hand an sich zu legen, legt es darauf an, dass die Polizei ihn tötet. Es ist in jedem Fall ein spektakulärer Abgang vor laufenden Kameras und unter den Augen der Öffentlichkeit. Bei nahezu allen heutigen Taten spielt der „mediale Narzissmus“ eine mehr oder weniger dominante Rolle. Es geht im Kern um die Erzeugung von Bildern und das Sich-in-Szene-Setzen des Täters. Wenn es dem Täter vorrangig um den Überfall auf das israelische Generalkonsulat gegangen wäre, hätte er ja sein museales Gewehr wieder einpacken und nach Hause fahren können, um es an einem anderen Tag erneut zu versuchen. Aber das sind nur Spekulationen. Ich vermute, dass auch in diesem Fall die Motive des Täters im Dunklen bleiben werden. Die Fledermäuse schwirren umher und liefern unserer Phantasie reichlich Nahrung. Auch meiner.
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Die Farben und Formen der Blätter, die auf dem Fluss treiben, faszinieren mich. Es gibt rote, gelbe, grüne, braune Blätter, es gibt runde, ovale, längliche, herzförmige, es gibt Blätter mit gezackten Rändern. Gelegentlich packt der Wind ein Blatt, das bereits auf dem Wasser liegt, und treibt es wie ein winziges Segelboot ein Stück vor sich her. Einige violette Blütenblätter befinden sich auch im Blätterteppich. Eine rote Vogelbeere schaukelt zwischen den Blättern, auch eine Haselnuss entdecke ich, bekomme sie aber nicht zu fassen. Fische springen und erzeugen Kreise auf der Wasseroberfläche, die langsam vergehen. Ein Blatt schwebt heran, sinkt aufs Wasser, kreiselt dort eine Weile, bis es versinkt. Die Dinge sind menschlich, hat Sartre einmal gesagt, und so erblicke ich im kreiselnden und schließlich versinkenden Blatt eine metaphorische Darstellung unserer und meiner Existenz.
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Folgenden Tags saß ich auf dem Steg und wollte, nachdem ich ein Bad genommen hatte, den Strittmatter zu Ende lesen. Als nur noch zwei Seiten übrig waren, legte ich das Buch zur Seite. Ich hatte Angst, dass das Buch zu Ende gehen würde und wollte mir den Rest noch aufsparen. Als ich irgendwann aufstand, stieß ich versehentlich an das Buch und es rutschte in die Lahn. Ich griff schnell danach und bekam es zu fassen, bevor es versinken konnte. Aber es war natürlich dennoch vollkommen durchnässt, der lindgrüne Leineneinband aufgeweicht. Ein Trost war mir der Gedanke, dass es Strittmatter sicher gefallen hätte, dass sein Buch, das zu großen Teilen draußen spielt und Geschichten von Unterwegs erzählt, ins Wasser gefallen war und von mir gerettet wurde. Ich las die restlichen Seiten im feuchten Zustand und legte das Buch dann zum Trocknen in die Sonne. Auch jetzt liegt es auf dem Balkon auf einem Tisch, um weiter zu trocknen. Später werde ich es mit dicken Büchern beschweren, um zu verhindern, dass es sich wellt. Spuren seines Bades in der Lahn werden bleiben, was aber nicht schlimm ist und zu ihm passt. Bücher aus volkseigener Verlagsproduktion werden solche Unfälle überstehen, hoffe ich. „Schulzenhofer Kramkalender“ ist jedenfalls eins der schönsten Bücher, das ich in letzter Zeit gelesen habe, und ein ein Beispiel dafür, wie man über Natur schreiben kann, ohne in Idolatrie und peinliche Romantizismen zu verfallen. Da ist schon die Freundschaft Strittmatters zu Brecht vor.
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Ein typisches heutiges Mittelschichtehepaar führt seine beiden Söhne zur Garage, in der das Lastenrad abgestellt ist. Sie sind, schätze ich, eineinhalb und drei Jahre alt. Sie tragen beide Schirmmützen, sorry: Basecaps, mit dem Schirm in den Nacken gedreht. Die Mutter sagt etwas zu dem älteren der beiden, was diesem offenbar missfällt. Er brüllt wütend los, rennt dann auf seine Mutter zu und tritt ihr mit Schmackes vors Bein. So weit ich es vom Balkon verfolgen kann, bleibt die Attacke des Söhnchens ohne Reaktion. Beides, der Tritt gegen das Bein als auch die ausbleibende Reaktion der Eltern auf den Tritt, lassen für die Zukunft Schlimmes befürchten. Die Botschaft, die diese Kinder erhalten, lautet: „Wenn alles möglich und erlaubt ist, ist alles egal. Tu, was du willst! Es herrscht freier Markt.“
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Olaf Scholz‘ Siegesgewissheit ist ungebrochen. Er gehe fest davon aus, sagte er im ZDF Sommerinterview, dass er auch der nächste Bundeskanzler sein und bei der Bundestagswahl im nächsten Jahr ein starkes Mandat bekommen werde. Er erinnerte daran, dass die SPD auch vor der letzten Bundestagswahl schier hoffnungslos zurück lag und dann doch stärkste Partei wurde. Der möglicherweise entscheidende Unterschied ist aber der, dass die Menschen jetzt über mehrjährige Erfahrungen mit Olaf Scholz verfügen, 2021 war er für viele ein unbeschriebenes Blatt, auf das sie ihre Hoffnungen eintragen konnten.
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In Thüringen erzielte die AfD unter jungen Leuten zwischen 18 und 24 Jahren mit 38 Prozent einen höheren Stimmenanteil als in jeder anderen Altersgruppe. Die rechtsextreme Partei war auch in Sachsen bei den Jungen überdurchschnittlich stark. In Thüringen stimmten 38 Prozent und in Sachsen 35 Prozent aller Männer für die AfD, im Vergleich zu 27 Prozent und 26 Prozent aller Frauen. Auf die Frauen ist also noch einigermaßen Verlass, aber von der Annahme, jugendliche Wähler gäben ihre Stimme mehrheitlich ökologisch und sozial sensibilisierten und fortschrittlichen Parteien, werden wir uns bis auf weiteres verabschieden müssen. Der Jugend steht, könnte man in Ernst Blochs Worten sagen, „der Kopf, durch Betrug, im Nacken“ und sie weiß nicht mehr, „was es mit dem Traum nach vorwärts auf sich hat“. Die Linke muss sich allerdings den Vorwurf gefallen lassen, es versäumt zu haben, die Träume nach vorwärts zu bebildern und der jugendlichen Sehnsucht Namen, Begriffe und vor allem Bilder zu liefern. Das gelingt heute den Rattenfängern von rechts offenbar viel besser.
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„ … da ich ein absolut unverbesserlicher und sentimentaler Romantiker bin …“
(Herbert Marcuse)
Goethe ließ 1817 Caspar David Friedrich fragen, ob er für ihn die von einem Engländer vorgenommene Klassifizierung der verschiedenen Wolkenformen malen könne. Und obwohl Friedrich viel an der Anerkennung durch Goethe lag, antwortete dieser mit einem „Nein“. An der Ausdehnung der Vermessung der Welt auf den Himmel und also an seiner Entzauberung mag er sich nicht beteiligen. Wolken sind für den naturbeherrschenden neuzeitlichen Verstand und Blick nichts als „Kondensationsprodukte“, während für Friedrich der Himmel ein Mysterium und ihn zu malen eine Art Gottesdienst darstellt. Die Natur als Andachtsraum, nicht als Ressource und Objekt der Aneignung und Ausbeutung durch den Menschen. Ich habe in der DHP verschiedentlich meine Sympathien für die Romantik und ihr Naturverständnis zu erkennen gegeben und gestehe nun, dass ich auch in diesem Fall Partei für Caspar Davon Friedrich ergreife, der sich an dem Vorhaben, am Himmel Ordnung zu schaffen, nicht beteiligen möchte. Wer Ordnung schafft, will beherrschen. Die Indianer (sagt man nicht mehr, ich weiß) wussten, dass man, wenn die Landvermesser auftauchen, die Flucht ergreifen oder zum Angriff übergehen muss. Sie sind die Vorboten der Zerstörung, wenn man sie ihr Werk beginnen lässt, ist man verloren.
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„Solange du lebst, sei glücklich, weil allein das Glück des Lebens würdig ist, sonst vegetierst du würdelos …“
(Imre Kertész)
Ich hatte immer gesagt: Solange es nur den Untersatz des Kopfes betrifft, und nicht den Kopf selbst, mag es noch hinnehmbar sein. Gemeint ist der Zerfall und der Niedergang meines Körpers. Gestern nun teilte mir ein Neurologe an der Uni-Klinik mit, dass die Bilder des MRT zeigten, dass mein Hirn von Mottenfraß befallen ist. „Hirnatrophie“ nennt sich das und kann eine normale Begleiterscheinung des Alterns sein. Das wisse man in meinem Fall noch nicht. Man müsse das im Auge behalten und weiter verfolgen. Ich erschrak und verspürte den Impuls zu fliehen. Der freundliche Arzt will mir einen Termin bei einer Psychologin besorgen, die Tests mit mir durchführen soll, um die Diagnose präzisieren und das Ausmaß der Katastrophe bestimmen zu können. Die Ochsentour durch die Klinik nimmt und nimmt kein Ende. Ich hätte mich darauf gar nicht einlassen dürfen. Die Riesenmaschine gibt einen nicht mehr frei, wenn sie einen erst mal am Wickel hat. Ein Termin zieht den nächsten nach sich. Alle stochern im Nebel und wollen es nicht zugeben. Rat- und Hilflosigkeit kann nicht eingestanden werden.
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Der Einsturz der Carolabrücke in Dresden hat etwas Hochsymbolisches, das weit über Dresden hinaus weist. Die Menschen, die zum Ort des Unglücks strömten, hatten mindestens eine diffuse Ahnung davon, dass weit mehr einstürzt als eine Brücke, wenn eine Brücke einstürzt. Wir bewegen uns auf unsicherem Terrain, jeden Moment kann der Boden unter uns nachgeben, wegbrechen, sich öffnen. Der Brückeneinsturz nährt die Angst vor der jederzeit möglichen Katastrophe: Man kann aus der Welt fallen. Nichts ist mehr sicher, auf nichts Verlass, wo ich gestern noch ging, stand oder fuhr, klafft heute ein Abgrund. An Materialermüdung und Korrosion können auch ganze Gesellschaften zerbrechen. Wir befinden uns mitten in diesem Zusammenbruch. Alles ist vom Einsturz bedroht und muss mehr oder weniger künstlich gestützt und zusammengehalten werden. Das gelingt immer weniger. Die Bindemittel, die Gesellschaften und Menschen zusammenhielten, funktionieren nicht mehr. Geld und Markt allein können Gesellschaften auf Dauer nicht zusammenhalten, sie benötigen ein verbindendes und verbindliches ideelles „Wozu“. Einstürzende Brücken nähren die Zweifel an der Gangart des Fortschritts, die in Deutschland traditionell eher nach rechts ausschlagen, weil keine anderen, zum Beispiel anarchistischen, Aneignungsformen entwickelt wurden, die ja durchaus möglich und denkbar wären.
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Die Talkshows und Nachrichtensendungen der letzten Tage zeigen, wie rasant ehemals der AfD vorbehaltene Positionen von den Parteien der sogenannten „bürgerlichen Mitte“ übernommen werden. Was vor Jahren noch als rechtsextrem galt, ist inzwischen Mainstream. Die Parteien der „bürgerlichen Mitte“ überbieten sich darin, Forderungen der AfD zu erfüllen. „Das Reich der niederen Dämonen“, als das Ernst Niekisch den Nationalsozialismus bezeichnete, dehnt sich in die Mitte der Gesellschaft aus und verallgemeinert sich. Die AfD wird dadurch allerdings nicht verschwinden, sondern erst recht triumphieren. Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis ihr der marode bürgerliche Laden in die Hände fällt. Gemäß der Hegel-Marx‘schen Geschichtsphilosophie müsste der überreife Apfel den sozialistischen Kräften in den Schoß oder vor die Füße fallen, aber diese Annahme hat sich als fataler Irrtum erwiesen. Dass die Vorstellung vom objektiven und ehernen Gang der Geschichte falsch und verhängnisvoll war, das hätten die Linken spätestens nach dem Triumph des Nationalsozialismus einsehen müssen. Max Horkheimer zog in seinem Buch „Dämmerung“ schon früher den Schluss: „Die sozialistische Gesellschaftsordnung wird von der Weltgeschichte nicht verhindert, sie ist historisch möglich; verwirklicht wird sie aber nicht von einer der Geschichte immanenten Logik, sondern von den an der Theorie geschulten, zum Besseren entschlossenen Menschen, oder überhaupt nicht.“ Und diese „zum Besseren entschlossenen Menschen“ existieren gegenwärtig nicht in hinreichender Zahl und Qualität. Das macht das Elend der Linken aus und ist die traurige Wahrheit. Die eschatologische Vorstellung, die Geschichte bewege sich quasi automatisch „nach vorn“ und „zu uns hin“, hat die Funktion eines „Ermutigungselixiers“. Diesen Begriff hat Otto Rühle für den objektivistischen Marxismus der Zweiten Internationale geprägt, der den Status einer säkularen Religion besaß, die den Massen versicherte, dass der Sozialismus auch ohne ihr Zutun kommen werde. Sie müssten lediglich der Parteilinie folgen, die Füße stillhalten und pünktlich ihre Mitgliedsbeiträge entrichten. Diese über Jahrzehnte propagierte und eingeübte quietistische Haltung trug entscheidend dazu bei, den Kampfeswillen zu lähmen und den Weg zum Sieg des Faschismus zu ebnen. Die bestorganisierte und -geschulte Arbeiterklasse Europas kapitulierte 1933 und gab über Nacht ihren Geist auf – wie immer gilt, was für alle gilt, nicht für jeden. Wo waren denn die Hunderttausende von Parteimitgliedern der KPD, ihre fünf bis sechs Millionen Wähler, der Rote Frontkämpferbund, die Straßen- und Betriebszellen? Sie waren passiviert durch einen Marxismus, der von Fatalismus kaum zu unterscheiden war und die ihm folgenden Massen zur Unterwerfung unter „objektive Gesetzmäßigkeiten“ anhielt. Das zur Fußtruppe der Notwendigkeit degradierte Proletariat wurde so nicht zum Totengräber der bürgerlichen Gesellschaft, wie das „Kommunistische Manifest“ es prophezeit hatte, sondern die zum Faschismus mutierte bürgerliche Gesellschaft wurde zum Totengräber von Kommunisten und Sozialdemokraten.
Der Historiker Volker Weiß hat vor Jahren bereits darauf hingewiesen, dass sich die Neue Rechte erfolgreich aus dem Fundus linker Traditionen und Theorien bedient. So hat man vom italienischen Kommunisten Gramsci gelernt, wie bedeutsam der Kampf um die „kulturelle Hegemonie“ ist und ihn nach beharrlichen Bemühungen inzwischen offenbar gewonnen. Der Bereich des Sagbaren wurde peu à peu ausgeweitet, Begriffe besetzt und Diskurse und Themen in der Öffentlichkeit platziert. Jürgen Elsässer und Götz Kubitschek haben auf diesem Gebiet ganze Arbeit verrichtet. Bei der Eroberung der kulturellen Hegemonie spielen die sogenannten „sozialen Medien“ eine große Rolle. Keine andere politische Kraft ist dort so aktiv und erfolgreich wie die AfD. Wie die letzten Wahlen zeigen, scheint es ihr auf diese Weise gelungen zu sein, die Köpfe der jungen Leute zu gewinnen und mit rechten Ideen zu füllen. Der Vorteil der Rechten besteht darin, dass ihre Denkweisen dichter an der bürgerlichen Normalität und den gängigen Denk-, Gefühls- und Affektgewohnheiten angesiedelt sind als die der Linken. Rechtes Denken muss ohnehin bestehende Ressentiment lediglich in Gang setzen und verstärken, während kritisch-linkes Denken einen Bruch mit den gängigen Denk- und Gefühlsmustern beinhaltet und es insofern deutlich schwerer hat. Wir müssen den steinigen Acker der Vorurteile mühsam bestellen, während die Rechten einfach ihren Mist ausbringen und unterpflügen und bald erste Früchte ernten können. Leo Löwenthal hat in seinen Studien über Vorurteile das Verfahren der Rechten, Ressentiments zu bewirtschaften, als „umgekehrte Psychoanalyse“ bezeichnet. Unbewusste Triebregungen, Konflikte, Neigungen werden verstärkt und manipuliert, anstatt sie ins Bewusstsein zu heben und über sich und ihre Herkunft aufzuklären. Das rechte Vorgehen ist ein durch und durch antiaufklärerisches und simples, während die linken Gegenkräfte lange und mühsame Wege gehen müssen. Es gilt immer noch, was Adorno in den frühen 1960er Jahren sagte: „Es hilft nur emphatische Aufklärung, mit der ganzen Wahrheit, unter striktem Verzicht auf alles Reklameähnliche.“
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Unverdrossen ignoriert das Rotkehlchen im Hinterhof das Schweigegebot der restlichen Vögel. Es schwätzt und trällert unermüdlich vor sich hin. Heute Morgen habe ich ihm bei geöffneter Balkontür vom Bett aus eine Weile zugehört. Das hat mir den Start in den Tag gut gemacht.
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Neulich sah ich in einer Reportage aus der östlichen Ukraine, die seit Jahren unter russischem Beschuss liegt und leidet, ein kleines Mädchen. Das Kind, das nur eine Welt im Krieg kennt, hatte das Gesicht einer Greisin.
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„Netzer spielt nicht Fußball, er interpretiert ihn.“
(Jürgen Werner)
Am letzten Samstag, dem 14. September, ist Günter Netzer 80 Jahre alt geworden. Ein Mal habe ich ihn Mitte der 1960er Jahre im Kasseler Auestadion spielen sehen. Seitdem war er mein fußballerisches Idol. Netzer war es, der mit seinen langen Haaren und seiner extravaganten Spiel- und Lebensweise den Weg bahnte, dass auch wir Linken Fußball spielen durften, was vorher im Verdacht stand, ein reaktionäres Vergnügen zu sein. Wir haben ihm sogar seine Vorliebe für sehr teure Autos und Klamotten durchgehen lassen. Als 1974 in der berühmten gelben Reihe im Hanser-Verlag der von Dieter Kühn und Ludwig Harig herausgegebene Band „Netzer kam aus der Tiefe des Raumes“ erschien, war der Bann endgültig gebrochen und der Weg frei für eine linke Aneignung des Fußballs. Kritiker hielten uns vor, Netzer sei nichts als ein bürgerlicher „Bohemien“ und Fußball eine Ideologie, um die Massen von ihrer eigentlichen Bestimmung, den Klassenkampf zu führen, abzuhalten. Ich wünschte mir zu Weihnachten von meinen Eltern Helmut Kreuzers Klassiker „Die Boheme“ und kämpfte mich in den folgenden Tagen durch dieses aufregende Geschichtsbuch der Gegenkultur, zu der Günter Netzer angeblich gehörte.
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Heute Vormittag ging eine Frau an mir vorüber, die gerade halblaut vor sich hin sprach: „Gießen hat einfach kein Niveau!“ Wie zur Bestätigung brüllte vor einem Drogeriemarkt in der Innenstadt eine Frau ihrem Begleiter zu: „Jetzt kaufen wir erst mal sone Mundscheiße. Du stinkst nämlich aus dem Maul wie ne Kuh aus dem Arsch.“
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Es gibt eine Menge Leute, die sagen: „Lass den Höcke doch mal machen, dann wird man sehen, was die AfD zustande bringt und ob sie in der Lage ist, ein Bundesland zu regieren.“ Diese Leute tun so, als wären sie skeptisch, in Wahrheit sympathisieren sie mit der AfD und schicken andere vor, die das offen aussprechen. Ähnliche Stimmen und Haltungen gab es auch im Vorfeld von Hitlers Machtübernahme: „Lasst das Großmaul aus Österreich doch mal machen, der Spuk wird schnell vorbei sein.“ Er dauerte dann 12 Jahre und kostete Millionen Menschen das Leben. Die Haltung, Höcke mal machen zu lassen, ist zynisch und menschenverachtend jenen gegenüber, die von seinen Remigrations- und Ausgrenzungsplänen betroffen sein könnten und in realer Furcht leben. Wir sollten es nicht mit jenen halten, die aus einer komfortablen Position der Sicherheit heraus Zeit haben zu beobachten, ob die AfD scheitert, sondern mit jenen, die vom Rassismus der AfD und den auf der Lauer liegenden Neonazis akut bedroht sind. Alles, was jetzt noch notdürftig im Zaum gehalten wird, würde ja nach einer Machtübernahme der AfD von der Leine gelassen und könnte sich auf Kosten von Außenseitern und Fremden austoben.
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Hab eben im Park den kroatischen Bauarbeiter, den Mann mit dem Stock, getroffen. Er erzählte mir voller Empörung von seinen Erlebnissen am gestrigen Tag. Er habe um halb neun einen Termin beim Augenarzt gehabt, auf den er ein halbes Jahr gewartet habe. Er habe stundenlang im Wartezimmer gehockt und irgendwann Durst bekommen. In dieser Praxis werde den Patienten nichts zu trinken angeboten, so dass er zur Anmeldung gegangen sein und um ein Glas Wasser gebeten habe. „Das ist keine Kneipe hier“, habe man ihm mitgeteilt und seine Bitte abgewiesen. Er sei dann auf die Toilette gegangen und habe einen Schluck Wasser aus den Händen getrunken. Dann habe er sich wieder ins Wartezimmer gesetzt. Um halb zwei sei er endlich drangekommen. Beim Gehen habe man zwanzig Euro von ihm haben wollen für irgendeine Untersuchung wegen des Grauen Stars, die von der Kasse nicht bezahlt werde. Er habe aber kein Geld bei sich gehabt. Man habe den Chef gerufen und der habe ihm dann erlaubt, die 120 Meter bis nach Hause zu gehen, um das Geld zu holen. Er wolle nach diesen Erfahrungen mal schauen, ob es noch einen anderen Augenarzt in der Innenstadt gebe, den er zu Fuß erreichen könne. „Ich fürchte, die sind alle so“, sagte ich und wünschte ihm viel Glück bei seiner Suche. Was für ein unwürdiges Schauspiel man da mit einem alten Mann veranstaltet, der sich 45 Jahre lang krumm gelegt und unsere Straßen gepflastert hat.
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Ich war bei da Franco noch eine Abschieds-Pizza essen. Sie machen nächste Woche für dieses Jahr dicht. Man konnte heute noch prima draußen in der Abendsonne sitzen. An den Tischen neben mir saß ein Club älterer Männer, die alle in Grün gewandet waren und offenbar gemeinsam Radtouren unternehmen. Sie besprachen, was sie dieses Jahr noch für Projekte vorhaben. Das Wasser der Lahn hat sich stark abgekühlt, aber ich war nochmal drin und bin sehr froh darüber. Die Luft war erfüllt vom Rauschen der Blätter im Wind. Nichts anderes war zu hören. Selbst die Pfiffe der Eisvögel und das Krächzen der Krähen drangen nicht durch. Eine Frau in einem roten Kanu paddelte vorüber. Auf den nahen Uferwiesen ließ ein kleiner Junge seinen Drachen steigen. Das habe ich lange nicht mehr gesehen. Die Früchte der Eberesche leuchteten rot in der tief stehenden Sonne. Kurzum: Es war ein toller Nachmittag an der Lahn. Solange ich solche Tage erleben kann, macht das Leben Sinn und ist der Mühe wert. Als ich nach Hause radelte, stieg über den Bäumen im Osten ein orangener Mond auf. Heute Morgen stand er auf der anderen Seite über den Dächern, fahl und bleich, aber noch gut sichtbar.
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Mein Erschrecken, als ich entdeckte, dass im Botanischen Garten jemand knapp neben einem Weg, der zur Pforte führt, ins Gras geschissen hatte. Es sah aus wie ein Panik-Dünnschiss, aber das entschuldigt es nicht. Ein Taschentuch, mit dem der oder die Betreffende sich den Hintern abgewischt hatte, lag zusammengeknüllt daneben. Wenn es mir passiert wäre, hätte ich mir beim Personal eine Schippe besorgt und das Corpus Delicti vergraben. Der Schiss entweiht diesen Ort, der mir beinahe heilig ist. Wahrscheinlich ist das nur eine weitere Facette des Zerfalls, der überall um sich greift und alles erfasst.
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An der heutigen Wahl im Bundesland Brandenburg nehme ich stärker Anteil als an anderen Landtagswahlen. Es ist beinahe so, als entschiede sich dort das Schicksal des ganzen Landes, als stünde alles auf Messers Schneide. Und das Schicksal der SPD, deren Verschwinden in der Bedeutungslosigkeit mich nicht gleichgültig lässt, obwohl ich mit dieser Partei eigentlich nichts am Hut habe und ich um all ihre Schand- und Missetaten seit 1914 weiß. Dass Dietmar Woidke sich Auftritte der Berliner SPD-Spitze und des Kanzlers im Wahlkampf verbeten hat und dass er sein Schicksal als Politiker mit dem Wahlausgang verknüpft, imponiert mir. Ich drücke ihm den Daumen und werde den Wahlausgang heute Abend gespannt verfolgen.
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Die Wahl in Brandenburg ist gerade noch mal glimpflich ausgegangen. Die SPD landete ein Prozentpunkt vor der AfD, Woidke wird also Ministerpräsident bleiben können. Wenn man allerdings genauer hinschaut, merkt man, welch hohen Preis der SPD-Sieg gekostet hat. Er ging letztlich auf Kosten der Demokratie, die zu retten ja eigentlich das Ziel war. Die Linke und die Grünen werden aus dem Landtag verschwinden, weil ihre Wähler und Wählerinnen aus Angst vor einem Sieg der AfD SPD gewählt haben. Die heroische Haltung des Dietmar Woidke hat womöglich der Demokratie auf lange Sicht einen Bärendienst erwiesen. Wie im Übrigen auch der Narzissmus von Frau Wagenknecht. Das Verschwinden der Linken geht vor allem auf die Kappe ihres Bedürfnisses, sich ihrer Grandiosität zu vergewissern. Sie fehlte bei der Jubelfeier des BSW am Wahlabend. Es hieß, sie sei krank.