„Der Mensch kann nicht leben ohne zu hoffen. Der Mensch ist ein prospektives Wesen. Wenn ich jetzt glauben müsste, dass ich in der nächsten Stunde nicht mehr sein werde und es kein Morgen für mich gibt, dann habe ich auch keine Gegenwart mehr. Die Gegenwart stirbt ab, wenn sie nicht gleichsam als Stufe erlebt wird, die zum Morgen führt.“
(Manès Sperber)
„2016 habe ich erklärt, dass ich eure Stimme bin. Heute füge ich hinzu, dass ich euer Krieger bin. Ich bin eure Gerechtigkeit. Und für diejenigen, die benachteiligt und betrogen wurden, bin ich eure Rache.“
(Donald Trump im März 2023)
Gestern Abend sah ich auf „Arte“ die Dokumentation „Harris oder Trump? Amerika hat die Wahl“. Am 5. November ist es so weit. Wenn man diesen Film gesehen hat, fragt man sich, wie man auch nur einen Augenblick in Erwägung ziehen kann, Donald Trump zu wählen. Was mich noch einmal in Staunen versetzte, war der Umstand, dass Trump alles ungefiltert rauslässt. Da muss man nichts mühsam entschlüsseln und deuten, er sagt es offen und unverblümt. Wie bei einem Psychotiker oder Kleinkind fehlen bei ihm die Mechanismen, die bei „normalen“ Erwachsenen dafür sorgen, dass peinliche Aussagen verschwiegen oder umformuliert werden. Wir schalten zwischen einen aufsteigenden spontanen Impuls und dessen Umsetzung eine Pause der Besinnung ein, die oft dazu führt, dass die Realisierung eines Vorhabens oder die Äußerung eines Gedankens unterbleibt. Es ist, als würde das Unbewusste Donald Trumps sich direkt in Sprache umsetzen und artikulieren. Die Psychoanalytiker würden arbeitslos, wenn das bei allen Menschen so funktionieren würde. Trump plappert los, lässt alles raus, was ihm in den Sinn kommt, lässt pausenlos Klöpse los, bei deren Artikulation „normale“ Menschen vor Scham im Boden versinken würden. „Die Migranten sind samt und sonders Vergewaltiger und Diebe und schlachten die Hunde und Katzen ihrer anständigen amerikanischen Nachbarn.“ Vielleicht liegt hier das Geheimnis seines Erfolges: Durch seinen Mund artikuliert sich das kollektive Unbewusste der Leute, er drückt aus, was sie fühlen, aber nicht zu sagen wagen. Das hat Leo Löwenthal im Sinn gehabt, als er davon sprach, die faschistische Propaganda betreibe „umgekehrte Psychoanalyse“. Sie nimmt die Menschen einfach als das, was sie sind und redet ihnen nach dem Mund. Unbewusste Regungen, Neigungen und Tendenzen werden verstärkt und manipuliert, anstatt sie ins Bewusstsein zu heben und über sich aufzuklären. Die Zurückhaltung „normaler“ bürgerlicher Politiker sorgt dafür, dass zwischen unbewusste Regungen und deren Artikulation Unterbrechungen und Filter eingebaut werden, sodass man gezwungen ist, den Subtext ihrer Aussagen, das heißt das, was sie eigentlich meinen, mühsam zu dechiffrieren.
***
Je verschwurbelter und unpräziser die Rede heutiger Jugendlicher ist, desto häufiger wird das Wort „genau“ verwendet und als Füllwort eingeflochten. Oft, so scheint mir, dient es auch als eine Art Selbstvergewisserung. Am Ende von einem Satz wird eine kleine Pause eingelegt, die mit „genau“ überbrückt wird. Das ist mir auf Kundgebungen besonders aufgefallen, wo Rednerinnen und Redner irgendeinen Text abspulen und alle naslang ein „genau“ einbauen. Auch im Radio ist es bei jungen Sprecherinnen immer häufiger zu hören. Gerade eben hörte ich es im Deutschlandradio Kultur von einer Moderatorin, die per Telefon ein Interview führte. Alles ist unfixiert wie Quecksilber, und je „volatiler“ die Verhältnisse werden, wie ein anderes Modewort heißt, desto häufiger wird das Wort „genau“ verwendet. Wie beim ständigen Gebrauch des Wörtchens „gern“, den ich in einer der letzten Folgen der DHP gegeißelt habe, reagiert auch beim ubiquitären Gebrauch von „genau“ mein semantischer Rauchmelder. Übrigens ist auch die Floskel „keine Ahnung“ immer noch in Gebrauch. Das unablässig in die Rede eingestreute „keine Ahnung“ ist dabei von einer erschreckenden Ehrlichkeit. Die Floskel drückt ungewollt die Wahrheit über eine Generation aus, die im Banne der elektronischen Medien im Begriff ist, sprachlich und intellektuell zu verelenden.
***
Heute steht mir wieder ein Klinikbesuch bevor. Um halb zehn habe ich einen Termin in der Neurologie der Uniklinik. Der Neurologe, mir dem ich neulich zu tun hatte, möchte, dass ich mit einer Kollegin spreche, die Neuropsychologin ist. Bin gespannt, wie das wird und was da passiert. Erst musste ich wieder durchs Nadelöhr der Anmeldung. Die Frau, die dort hinter einer Plexiglasscheibe hockte, trug einen aufgemalten Blutfleck auf der rechten Wange, der mich darauf brachte, dass heute das unsägliche Halloween begangen wird. Die Bemalung passte gut zum mürrischen Gesichtsausdruck und der schlechten Laune der Frau.
Aus meiner Zeit im Gefängnis weiß ich, dass zur Psychologie gern gegriffen wird, wenn einem sonst nichts mehr einfällt und man nicht mehr weiter weiß. Ich wurde ohne längere Wartezeit von einer jungen Frau aufgerufen und abgeholt. Sie führte mich in ihr Büro und erklärte mir ihren Auftrag und was sie mit mir vorhabe. Nach einer kurzen Eingangsplauderei begann sie mit ihrem Testprogramm. Ob ich bereit sei mitzumachen, fragte sie, und ich antwortete mit einem abgewandelten Fritz Teufel-Kalauer: „Wenn‘s der Diagnosefindung dient.“ Ich sollte geometrische Figuren nachzeichnen, Zahlen durch Bleistiftstriche miteinander verbinden und lange Ketten von Wörtern memorieren. Wie weiland in Rudi Carrells Sendung „Am laufenden Band“. Ich hatte nicht den Eindruck, dass ihr diese Mätzchen diagnostisch wirklich weiterhalfen. Aber sie war freundlich und so verlief die Zeit friedlich und angenehm. Es gab keine Resultate, die mich weiterbrachten. So gegen 11 Uhr trollte ich mich und ging in die Stadt zurück. Genauso ratlos wie zuvor.
***
Heute Morgen sah ich vom Balkon aus das Rotkehlchen, das mich seit Wochen mit seinem frühmorgendlichen Gesang erfreut, der, seit die anderen Vögel schweigen, besser zur Geltung kommt. Es saß auf dem Ast eines nah beim Haus stehenden Baumes und sah mich mit schief gelegtem Köpfchen an. Neugierig, wie Rotkehlchen nun mal sind. Hoffentlich bleibt es unserem Hinterhof treu. Es gibt nämlich neuerdings eine Katze, die hier herumschleicht.
***
Heute hat U eine alte Freundin in deren Mann zum Essen eingeladen. Sie verdirbt sich solche Tage durch eine Grundreinigung ihrer Wohnung, stundenlange Vorbereitungen und die Herstellung komplizierter Gerichte. Schon am Tag vorher sitzt sie am Computer und schaut nach Rezepten, die sie kurz darauf wieder verwirft, worauf die Suche von Neuem beginnt. „Du musst mir helfen“, stöhnt sie zwischendurch immer mal. „Wenn du weißt, wobei“, sag Bescheid, antworte ich darauf gewöhnlich. Ich habe ihr in dieser Jahreszeit zu einem Gericht mit Sauerkraut und Pökelfleisch und Stampfkartoffeln geraten, aber sie will unbedingt ein Kaninchen zubereiten. Aber wie? Provenzalisch oder mit Senfsoße? Heute Morgen ist sie bereits um sieben Uhr zum Wochenmarkt aufgebrochen, um auch ja ein Kaninchen zu bekommen. Sie bringt es fertig und kauft noch einen gusseisernen Bräter, den sie in einer der Kochanleitungen im Internet gesehen hat. Statt sich auf die Begegnung zu freuen und sie möglichst locker anzugehen, stresst sie sich ungemein. Je mehr die Zeit vorrückt, desto stärker gerät sie unter diesen selbst erzeugten Druck. Meist liegen dann die Nerven blank, und es entsteht zwischen uns eine gereizte Stimmungslage.
***
„So ist das. Man macht dies, man macht das, und auf einmal war’s ein Leben.“
(Bernhard Schlink)
Nach einem langen Gespräch mit Freunden beim gestrigen Abendessen sprang meine Hirnantilope heute Nacht zu dem Satz von Bernhard Schlink, den ich diesem Passus vorangestellt habe. Er ging mir nicht mehr aus dem Sinn und beschäftigte mich noch lang, nachdem der Tisch abgedeckt und die Freunde gegangen waren. In seiner Kürze formuliert er eine Grundtatsache unseres Lebens, auf die ich auch in der DHP immer wieder zurückkomme. Der Schweizer Dichter Ludwig Hohl hat sie in seinen „Notizen“ einmal so formuliert: „Alles, was wir handeln, muss, wenn es Wert haben soll, vom Betrachtungspunkt der Kürze unseres Lebens aus gehandelt sein.“ Weiter heißt es bei ihm: „Denn nicht die Uhr misst die Länge eines Lebens; sondern das, was drin war.“ Mein Herzkasper hat mir die Dringlichkeit des Problems noch einmal anders und neu vor Augen geführt. Was kann ich in der Zeitspanne, die mir noch bleibt, und unter den Bedingungen meiner eingeschränkten Möglichkeiten mit meinem Leben noch anfangen?
Heute gehe ich zum Beispiel bei herbstlichem Sonnenschein die Eichhörnchen auf dem Alten Friedhof besuchen. Sie nahmen meine mitgebrachten Nüsse gern an, im Handumdrehen waren sie in der Wiese verbuddelt. Es müssen schließlich Vorräte angelegt werden für den bevorstehenden Winter. An dessen Nahen gemahnte auch das Geschrei der Kraniche, die in hellen Scharen gen Süden zogen. So viele Kranich-Formationen wie heute habe ich lange nicht gesehen. Das lag wahrscheinlich am sonnigen Wetter, das ideale Flugbedingungen bot.
***
Es gibt Tage, da scheinen in der Fußgängerzone genau soviel Tauben wie Menschen unterwegs zu sein. Jedenfalls kommt es mir manchmal so vor. Zwischen Tauben und Menschen hat sich im Laufe der Zeit eine Symbiose entwickelt. „Symbiose“ nennt man die Koexistenz von Individuen zweier verschiedener Gattungen, aus dem sich für beide Vorteile ergeben. Die Vorteile, die wir Menschen von den Tauben einmal gehabt haben, stammen aus unserer agrarischen Vergangenheit und sind in Vergessenheit geraten, wir sehen nur noch den Nutzen, den die Tauben aus der Symbiose schlagen. Tauben haben eine schlechte Presse, sie gelten als Schädlinge, als „Ratten der Lüfte“. Ihr Kot verunziert wie ein weißer Schimmelüberzug das Pflaster. Neulich sah ich einen jungen Vater, der auf eine solche Stelle deutete und seinem Kind voller Abscheu erklärte: „Das ist Tauben-Kacke, das ist Bäh!“ Der Kot dieser Tiere zerfrisst Autos, Hauptbahnhöfe und Einkaufszentren und vergiftet und infiziert jeden, der den Exkrementen näher kommt. So das Gerücht über die Taube, die deswegen auch gern vergiftet wird, wie es in einem Chanson von Georg Kreisler satirisch besungen wird.
Ich kann mich an Zeiten erinnern, da wurden Taubeneier verzehrt und an Festtagen kamen gebratene Tauben auf den Tisch. Es war nicht viel dran, aber sie schmeckten köstlich. Im der alten Erzählung vom Schlaraffenland fliegen einer faulenzenden Menschheit gebratene Tauben ins Maul. Tauben sind schön anzusehen und gelten nicht erst seit Picasso als Symbole des Friedens und der Liebe.
Tauben halten sich mit Vorliebe an Orten auf, an denen für sie etwas zu holen ist. Am Pommes-Stand fällt ab und zu ein Kartoffelstäbchen zu Boden, jemand lässt an der Bratwurstbude ein halbes Brötchen zurück. Manchmal entbrennt wegen eines zu Boden gefallenen Stücks einer Laugenbrezel ein Streit. Mehrere Tauben zerren von verschiedenen Seiten an dem Brezelfragment. Ansonsten trippeln sie mit ruckelnden Köpfen und pickend über das Pflaster. Ungerührt vom Strom der Passanten und dem Tumult des Konsums. Manchmal erheben sie sich über die Fußgängerzone und drehen, zu größeren Schwärmen vereinigt, ein paar Runden über den Dächern, aus Jux und Dollerei und purer Freude am Fliegen. Dann kehren sie zurück und setzen ihre Suche nach Nahrung fort.
Die Tauben werden immer tollkühner. Sie halten kaum noch Abstand zu Menschen, trippeln zwischen ihren Füßen umher und fliegen dicht über ihre Köpfe hinweg. Oft sieht man Menschen, die darüber erschrecken und zusammenfahren. Neulich habe ich miterlebt, wie zwischen einer Frau, die Tauben mit Brotkrumen fütterte, und einem etwas heruntergekommen wirkenden Mann ein heftiger Streit entbrannte. Der Mann ging drohend auf sie zu und brüllte: „Sie müssen diese ekelhaften Viecher nicht auch noch füttern.“ Passanten schritten ein und hinderten den Mann daran, handgreiflich zu werden. Lange war sein Schimpfen noch zu hören.
Euch ist sicher auch schon aufgefallen, mit welcher Begeisterung kleine Kinder hinter Tauben her rennen und sie aufscheuchen. Kaum dem Kinderwagen entstiegen, rennen und stolpern die Dreikäsehochs hinter Tauben her und drangsalieren sie. Ab und zu bin ich versucht, mich einzuschalten und zu sagen: „Lasst doch die Tiere in Ruhe!“ Meist verkneife ich mir das, weil ich keinen Ärger mit den Eltern bekommen möchte, die sich jede Intervention von außen verbitten: „Halten Sie sich da raus, das ist mein Kind!“ Stattdessen denke ich darüber nach, woher diese eigenartige Lust an der Taubenverfolgung rühren mag und was die Kinder an ihnen fasziniert.
Die Taubenhatz beschert Kindern, die der Macht der Erwachsenen ausgeliefert sind, eine erste Erfahrung eigener Macht. Schnell kriegen die Kleinen mit, dass Tauben sich nicht wehren. Es gibt Wesen, die sind noch kleiner als sie und fürchten sich vor ihnen. Endlich haben andere Wesen auch mal Angst, nicht nur sie. Der Grundstein eines Mechanismus‘ wird gelegt, von dem diese Gesellschaft zehrt und lebt. Ich fürchte, es ist der Plisch und Plum-Mechanismus, den Wilhelm Busch so trefflich in Szenen gesetzt hat. Paul und Peter werden vom Lehrer Bokelmann mit einer Haselrute gezüchtigt. Sie unterwerfen sich und stehen mit gefalteten Händen vor ihm. Sich bei der Hand haltend gehen sie nach Hause. Dort ergreifen sie nun ihrerseits eine Rute und schlagen auf Plisch und Plum ein, ihre Hunde, bis auch die Männchen machend vor ihnen stehen. So pflanzt sich die Macht fort. Nach oben buckeln, nach unten treten: das bezeichnet das Bild der autoritären Aggression. Jeder ist in Machtverhältnisse eingespannt und bekommt als Entschädigung jemanden präsentiert, der unter ihm steht und getreten werden kann und darf. Hier sollten vernünftige Eltern und Lehrer zeitig gegensteuern und diesen Mechanismus unterbrechen, bevor er sich einschleift.
Zurück zu den Tauben. Vor vielen Jahren las ich während eines Italien-Urlaubs Irmgard Keuns Roman „Nach Mitternacht“, dessen Handlung im Frankfurt der Nazi-Zeit angesiedelt ist. Susanne und ihr Freund Franz haben nach langem Suchen Räume gefunden, in denen sie einen Tabakladen aufmachen und wohnen können. Susanne erzählt: „Als Paul zum ersten Mal das Fenster unseres zukünftigen Zimmers öffnete und die Hand hinausstreckte, ließ eine weiße, fliegende Taube einen Klatsch Taubenmist auf seine Hand fallen. Da freute sich Paul in seiner stillen Art, denn Taubenmist bedeutet Glück und Geld.“ Am Mittag desselben Tages schlenderte ich durch eine oberitalienische Stadt, und eine Taube schiss mir auf die linke Schulter. Es schien, als wäre ich unvermittelt in den Roman hineingeraten. So richtig glücklich hat mich der Taubenschiss nicht gemacht, aber Glück existiert ja sowieso nur für Momente, nicht als Dauerzustand. Es blitzt auf und weicht dann wieder dem normalen Mittelelend, das nach Sigmund Freud unser Schicksal ist und uns in einer Sehnsuchtsspannung hält, aus der Träume emporwachsen. Solange Menschen unfrei sind, werden sie träumen – tagsüber und des nachts. Die Traumwelt ist der Projektionsraum unserer Sehnsucht.
Manchmal sehe ich von meinem Küchenfenster aus eine einzelne Taube auf dem Ast eines Baumes im Hinterhof sitzen. Dann fällt mir der Film des Schweden Roy Andersson ein, der „Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach“ heißt. Der Vogel beobachtet die Menschen und wundert sich über ihr merkwürdiges Treiben. Auch wenn diese Taube nur eine Nebenrolle spielt, solltet ihr euch diesen Film bei Gelegenheit einmal anschauen. Es ist einer der schrägsten und besten Filme, die ich kenne, ein Film über uns und unseren absurden Alltag.
***
Fast auf den Tag vor 23 Jahren ist Thomas Brasch gestorben, den ich sehr verehrt habe. Hier ein Gedicht von ihm über den Krebs, das in dem 1980 erschienenen Gedichtband „Der schöne 27. September“ enthalten ist:
Ratschlag
Das beste Mittel gegen Krebs, sagt mir mein Freund L.S.:
die Hoffnung fahren lassen, die Frauen schlagen,
die Freunde hintergehen, denn diese Krankheit ist
die Strafe für Freundlichkeit in einer unfreundlichen Welt. Warum sonst
frisst er, die jedem über jede Straße helfen
und dankbar sind für jeden Tritt,
die ihre Frauen streichelnd
dem Freund vertrauen. Glaube einem Freund,
sagt er, die Stimme zittert, seine Hand greift
nach dem Knie der blonden Nachbarin, aus seinen Augen
starrt mich an
das unbekannte Tier.
Thomas Brasch ist 2001 in Berlin an Krebs gestorben. Vielleicht war auch er zu freundlich für diese unfreundliche Welt.
***
„Wenn Trump eine Lesebrille in der Hand hielte und behauptete, das hier ist ein Rasenmäher, dann würde rund die Hälfte des Landes sagen: Stimmt, eindeutig ein Rasenmäher.“
(Boris Herrmann/Christian Zaschke)
Heute finden die Wahlen in den USA statt, von deren Ausgang so einiges abhängt. Der von mir sehr geschätzte Autor Dave Eggers erzählt in seinem Trump-Roman „Der größte Kapitän aller Zeiten“ von einem Schiff, auf dem es jeder und jede zum Kapitän bringen kann. Boris Herrmann und Christian Zaschke fassen den Eggers-Roman in der Süddeutschen Zeitung vom 2./3. November 2024 unter der Überschrift „Herr der Lügen“ so zusammen: Als der aktuelle Kapitän abdankt, beschließen die Passagiere, die am wenigsten geeignete Person zu seinem Nachfolger zu ernennen. „Eine Person, die noch nie selbstlos gehandelt hat, sondern immer nur an sich selbst denkt. Jemanden, der absolut nichts über Navigation weiß. Jemanden, der unter einer Uhr steht und über die Uhrzeit lügt. Kurz: Wäre es nicht eine ausgezeichnete Idee, den größte Idioten des Schiffes zum Kapitän zu machen? Die Mehrheit der Passagiere stimmt begeistert zu.“ So könnte es heute auch in der Wirklichkeit laufen, fürchte ich. Und dieses Mal kann niemand behaupten, er habe nicht gewusst, wer da zur Wahl steht und was für ein Idiot Trump ist. 30.000 öffentlich geäußerte Lügen wurden von der Washington Post während seiner ersten Amtszeit registriert. In seinem Fall darf man den Begriff „Idiot“ durchaus im landläufigen Sinn verstehen und muss nicht das altgriechische Verständnis bemühen, demzufolge der „Idiot“ ein Mensch ist, der sich nur für seine privaten Belange und nicht für das Gemeinwohl interessiert. Aber auch diese Fassung des Begriffs trifft auf Trump zu. Ich habe Orwells „1984“ aus dem Regal gezogen und auf den Tisch mit den zu lesenden Büchern gelegt.
***
Die Weltnaturkonferenz im kolumbianischen Cali ist ergebnislos zu Ende gegangen. Sie scheiterte an Fragen der Finanzierung dringend notwendiger Maßnahmen. Eine Blamage, die ein schlagendes Licht auf der Stand der Dinge wirft.
Kaum ist diese Konferenz gescheitert, steht das nächste gigantische Projekt ins Haus: Die Weltklimakonferenz, die dieses Jahr vom 11.11. an in Aserbaidschans Hauptstadt Baku stattfindet. Tausende mit dem Flugzeug angereiste Konferenzteilnehmer werden sich tagelang mit Fragen der Finanzierung beschäftigen und erleben, wie die USA unter Trump mal wieder aus dem Klimaabkommen austreten. Eine weitere teure Farce, die vor allem dazu dient, einem autokratisch regierten Land zu weltweiter Aufmerksamkeit zu verhelfen.
***
„Das ist nicht mehr aufzuholen“, kommentierte der ARD-Wahlexperte Jörg Schönenborn den Vorsprung von Trump am Morgen nach den Wahlen in den USA. Das war das Erste, was ich hörte, als ich das Radio einschaltete. Obwohl ich es befürchtet hatte, traf mich die Nachricht hart. Man hört ja nie auf zu hoffen. Nach den Nachrichten stellte sich mir mal wieder die bange Frage, wie viel enttäuschte Hoffnungen ein Mensch aushalten kann und wann es zu viel ist. Auch in diesem Feld scheint es einen Kipppunkt zu geben. Mit jeder enttäuschten Hoffnung stirbt etwas in uns. Irgendwann erstickt das Gewicht des Toten die Kraft unserer Lebenstriebe. Finsternis bedeckt die Erde. Woran soll unsere Hoffnung noch andocken? Immerhin: Das Rotkehlchen trillert auch heute vor meinem Fenster zum Hof.
***
Im Gießener Anzeiger fand sich am 5. November ein Artikel über einen Professor an der Technischen Hochschule Mittelhessen, der sich zu den Chancen der örtlichen „Eventbranche“ äußerte. Gießen schöpfe sein kulturelles Potenzial nicht aus und könne ruhig intensiver „an einer eigenen Marke feilen“. Gießen „verkaufe sich deutlich unter Wert“ und sei in puncto Selbstvermarktung „nicht gut aufgestellt“, so der Professor. Ein großer Hemmschuh seien die Bewohner der Stadt, die sich bei Events oftmals über Ruhestörung beschwerten. Der Professor verliert kein Wort über die kulturelle Verelendung, die mit der Durchökonomisierung der Städte einhergeht. Das Sterben der Innenstädte setzte ein, als die großen Ketten den lokalen Einzelhandel zu vertreiben begannen. Die Spekulation blühte, die Mieten stiegen ins Unermessliche, immer mehr inhabergeführte Geschäfte kapitulierten. Wie Goldgräber fielen die Franchise-Unternehmen über die aufgegebenen Geschäftsräume her und überzogen die Innenstadt mit Handy-, Donuts- und Bubbletea-Läden. Sie stecken ihre Claims ab, schürfen nach dem schnellen Geld und ziehen weiter, wenn sie nichts mehr abwerfen. Sie hinterlassen leere Räume und Geschäftsruinen. Alle Fußgängerzonen zwischen Flensburg und Garmisch gleichen sich inzwischen, sie unterscheiden sich nur noch durch die unterschiedliche Anordnung der gleichen Läden und die Anzahl der Leerstände. Je homogener die Städte werden, desto mehr ist von Diversität und Nachhaltigkeit die Rede. Die Wissenschaft, die unser THM-Professor vertritt, blendet all diese gesellschaftlichen Zusammenhänge aus und biedert sich auf eine peinliche weise beim Kommerz an. Muss eine Stadt sich überhaupt verkaufen, hat sie einen „Wert“? Wer so redet, hat sich bereits verkauft und seinen Kopf ans Kapital verschachert. Wer die Stadt zu einer Bühne für ständig wechselnde Events machen möchte, was gern mit Belebung verwechselt wird, für den ist die Bevölkerung mit ihren Ruhebedürfnissen ein hemmender Faktor. Wer ein beschauliches Leben sucht und Ruhe haben will, sollte in entsprechende Ghettos – der Professor zieht es vor, von „ausgewiesenen Wohnvierteln“ zu sprechen – ausweichen oder abgeschoben werden. Mit direkten Anschlüssen an Altersheime, Hospize und Friedhöfe. Gegen Leute wie unseren Professor sollten wir daran erinnern, dass Städte mehr sein sollten als ein Aufmarschgebiet der Waren, in dem Menschen außerhalb ihrer Existenz als Konsumenten nur als Störung und Hemmnis vorkommen. Gießen braucht kein neues Festivalgelände und noch mehr Feierzonen, sondern Rückzugsräume, Zonen der Stille und Besinnung. Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich Wissenschaft, wie sie unser Fachhochschulprofessor propagiert, zutiefst verabscheue. „Kopflanger“ des Kapitals hat Brecht solche Leute genannt.
***
Ein junges Mittelschichtpaar zieht sein etwa zweijähriges Kind in einem Bollerwagen über den Seltersweg. Der Vater hat die eine Seite des Griffs der Deichsel, die Mutter die andere in der Hand. Auf der Ladefläche thront ihr Früchtchen und daddelt auf einem Tablet herum, auf dessen Display bunte Figuren zu sehen sind. Eine zeitgenössisches Familienidyll. Immer häufiger werden Bildmaschinen zur Kontrolle und Ruhigstellung des Nachwuchses eingesetzt. Gelegentlich sieht man Kinder so lange schreien, bis ihnen die genervten Eltern ein Gerät in die Hand drücken. Bildmaschinen kommen auch als Einschlafhilfen zum Einsatz. Im Internet werden entsprechende Apps für Babys und Kinder angeboten. Was das Aufwachsen vor Bildschirmen, also eine Gerätesozialisation bedeuten, welche psychischen Strukturen sich auf diesem Weg ausbilden oder auch nicht, werden wir erst später sehen, wenn die Folgen zu Tage treten. Die Elternfiguren verblassen und treten hinter den Geräten zurück. Therapeuten werden in Zukunft ihre Erstinterviews nicht mehr mit der Frage beginnen: Wie war Ihr Verhältnis zu Ihren Eltern, sondern mit der Frage: Mit welcher App sind Sie aufgewachsen? In welchem Alter bekamen Sie ihr erstes Smartphone?
Neben den individuellen psychischen Folgen hat die frühe Gewöhnung an digitale Medien auch gesellschaftliche Auswirkungen. Sie legt die Axt an die Wurzeln der Demokratie, die ja, wie wir wissen, ohne Demokraten nicht funktionieren kann. Demokrat ist man nicht von Geburt an, sondern man wird es durch die Ausbildung kritischer Urteilsfähigkeit. Demokratie ist eine Gesellschaftsform, die erlernt und eingeübt werden muss, wie Oskar Negt nicht müde wurde zu betonen. Das Vermögen der kritische Urteilskraft bildet sich aus durch Lesen, Gespräche und Auseinandersetzung mit leiblich anwesenden Menschen und vor allem durch Nachdenken. Die frühe Eingewöhnung in die Bedienung von Tablets und Handys und der Umgang mit Plattformen wie Tiktok, Instagram und so weiter zerstören die subjektiven Voraussetzungen von Demokratie. Sie sind, worauf John Niven in einem Text zum neuerlichen Wahlsieg Trumps gesagt hat, „ein weltweiter Tummelplatz für Lügen und Empörung“. Insofern lenkt das Starren auf die AfD und den Rechtsextremismus von anderen Prozessen ab, die der Demokratie viel gründlicher das Wasser abgraben als Björn Höcke und die AfD das können.
***
„Meine eigene Lösung: Bücher schreiben. Die Revolution in den Kopf zurücknehmen, aus dem sie gekommen ist. Dort schützen, aufbewahren, für neue Gelegenheiten trainieren.“
(Gerhard Zwerenz)
Die Ereignisse überschlagen sich. Am Tag des Wahlsieges von Donald Trump in den USA trennte sich Olaf Scholz von Finanzminister Lindner und hielt vor der Presse eine für seine Verhältnisse hoch emotionale Rede. Wobei die Emotionalität dadurch gedämpft wurde, dass er den Text vom Teleprompter ablas. So isser halt, unser Kanzler: Wenn emotionale Regungen, dann vom Teleprompter. Unklar ist, wie es nun weitergeht. Die Ampel hat jetzt nur noch zwei Farben und keine Mehrheit mehr im Parlament. Es wird wohl auf Neuwahlen hinauslaufen. Lindner provozierte der Rauswurf und verlässt das sinkende Schiff der Ampel, weil er sich von einem neuen Schiff unter dem Kapitän Friedrich Merz bessere Überlebenschancen für sich und die FDP erhofft. Man kann nur hoffen, dass die FDP den Sprung ins Parlament nicht noch einmal schafft.
Patti Smith schreibt nach dem Wahlsieg von Trump: „Es gibt Zeiten in unserem Leben, in denen wir uns zurückziehen müssen, nicht um uns zu verstecken, sondern um uns selbst zu heilen.“ Dann aber schließt sie mit den Worten: „Zurück an die Arbeit.“
Jeder Maulwurf hat sein sous terre, sagte Marx und zog sich nach dem Abflauen des revolutionären Zyklus von 1848 in den Lesesaal des Britischen Museums zurück, um das Kapital zu schreiben und sich theoretisch auf die Auseinandersetzungen der Zukunft vorzubereiten. Das würde für uns heute heißen: Die weniger verbliebenen kritischen Intellektuellen hätten sich in Zeiten der politischen Windstille und stillgestellter Klassenkämpfe auf den Hintern zu setzen und an einer kritischen Theorie des gegenwärtigen Kapitalismus zu arbeiten, damit wir, wenn die Kämpfe wieder aufflackern, in er Lage sind, den Kämpfenden dabei zu helfen, ihre Lage zu erkennen und den Nebel, der über den Verhältnissen liegt, zu lichten. Der Marxismus kann nach dem Verständnis von Ernst Bloch wie eine Rauch verzehrende Lampe wirken, die den Blick auf die Verhältnisse freigibt. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass er sich wirklich auf der Höhe der Zeit befindet und nicht der Entwicklung hinterherhinkt, wie er es seit Langem getan hat und bis heute tut. „Eine Theorie, welche die Praxis des Kapitalismus nicht eingeholt hat, kann schwerlich eine Praxis anleiten, die darauf abzielt, den Kapitalismus aufzuheben“, heißt es in einem der letzten Texte von Herbert Marcuse.
***
Heute vor 85 Jahren, am 8. November 1939, verübte der Uhrmacher Georg Elser ein Attentat auf Hitler, der im Münchner Bürgerbräukeller, wie auch in den Jahren zuvor, des Putschversuchs von 1923 und der dabei „gefallenen Kameraden“ gedenken wollte. Hitler musste die Veranstaltung wegen Nebels früher als geplant verlassen. Er trat die Rückreise nach Berlin mit dem Zug an, statt mit dem Flugzeug. Dreizehn Minuten nach seinem vorzeitigen Abgang explodierte die Bombe planmäßig und tötete acht und verletzte 57 Personen, aber eben nicht den eigentlichen Adressaten. Georg Elser wurde beim Versuch, die Schweizer Grenze zu überschreiten, festgenommen und zu Verhören durch die Gestapo nach München gebracht. Später war er als „Sonderhäftling des Führers“ im KZ Sachsenhausen und Dachau inhaftiert. Zwei Wochen vor der Befreiung des Lagers durch die Amerikaner hat man ihn dort ermordet. Er hatte aus eigenem moralischen Antrieb gehandelt und hatte keinerlei Hintermänner oder Auftraggeber, wie die Nazis vermuteten und aus ihm herausfoltern wollten. Er durfte nicht als Einzelner gehandelt haben, sondern als ausführendes Organ einer groß angelegten internationalen Verschwörung. Ein beinahe vergessener Mann, dieser Georg Elser, dessen Attentat, wenn es denn gelungen wäre, vielleicht nicht den den Krieg, aber womöglich den Überfall auf die Sowjetunion und den Massenmord an den Juden verhindert hätte. Heute Abend erinnert der Historiker Wolfgang Benz, der ein Buch über Elser geschrieben hat: „Allein gegen Hitler. Leben und Tat des Johann Georg Elser“, erschienen im Jahr 2023 bei C.H. Beck in München, hier in Gießen an Elser.
***
Der November ist für mich mit seinen verhangenen Tagen, an denen sich der Nebel nicht auflöst, der Monat der Melancholie. Ich fuhr mit meinem Vater in unserem Lloyd von Kassel aus nach Arolsen zum Grab meiner Mutter. Frierend und ratlos stand ich auf dem Kiesweg vor dem Grab, an dem Vater sich zu schaffen machte und das mir nichts sagte. Ich hatte kaum innere Bilder meiner allzu früh gestorbenen Mutter, die unter diesem Grabstein liegen sollte. Unterwegs hatte er im Wald Tannenzweige geschnitten, mit denen er nun das Grab bedeckte, um die Pflanzen – und symbolisch wohl auch seine Frau und meine Mutter – vor Frost zu schützen. Ich habe in Folge 15 der DHP unter der Überschrift „Ich traue beiden nicht“ von diesen Friedhofsbesuchen berichtet und will das hier nicht wiederholen. Geblieben ist mir das Nachgefühl der Melancholie und Trostlosigkeit, das mich jedes Jahr im November und in der Vorweihnachtszeit beschleicht. Melancholie und ihre große Schwester, die Depression, haben in der Arbeitsgesellschaft eine schlechte Presse, weil sie quer zum pausbäckigen Tun und chronischen Optimismus liegen, die den Kapitalismus von innen her antreiben. Die Melancholie ist der steinerne und unheimliche Gast, der die bürgerliche Geschäftigkeit gelegentlich heimsucht und mit ihrer Nachtseite in Berührung bringt. Sie ist, woran der junge Peter Sloterdijk einmal erinnert hat, eigentlich kein psychiatrisches Phänomen, zu dem die bürgerliche Ordnung sie erklärt hat, sondern ein Thema der Philosophie. Der Melancholiker lässt die existentielle Erfahrung der Schwere und Sinnlosigkeit zu und schüttet eine Prise Traurigkeit in die Manie der Arbeitsgesellschaft.
***
Vor ein paar Tagen betrat ich die Praxisräume einer Krankengymnastin in meiner Nachbarschaft, um zu fragen, ob sie Zeit hätte, mich zu behandeln. Zu meiner großen Überraschung sagte sie, sie beobachte vom Fenster ihrer Praxis aus seit Längerem, wie ich mich durch die Gegend schleppe und habe sich gelegentlich schon gefragt, wann ich bei ihr auftauche, um etwas dagegen zu unternehmen. Ob das gelinge, wisse sie natürlich nicht, aber wir könnten einen Versuch unternehmen. Das von mir mitgebrachte Rezept stamme aus einem abgelaufenen Quartal und ich müsse ein neues besorgen. Sie sei jetzt erst mal eine Woche auf einer Fortbildung, danach werde sie sich bei mir melden, wenn irgendjemand einen Termin nicht wahrnehmen könne. Ich müsse ja nur die Straße überqueren, so dass wir relativ spontan Behandlungstermine vereinbaren könnten.
***
Der größte Gewinner von Trumps Wahlsieg ist Elon Musk. Die Aktien seines Unternehmens Tesla legten am Mittwoch nach der Wahl in New York um 15 Prozent zu und bauten ihre Jahresgewinne damit auf 32 Prozent aus. Musks Vermögen stieg damit nach der Wahl laut Bloomberg um 26,5 Milliarden Dollar auf 290 Milliarden Dollar. Da kann man man schon mal ein paar Millionen als Werbegeschenke unter Trump-Wählern verlosen. Trump will Musk damit beauftragen, den Staatsapparat abzubauen und die öffentliche Verwaltung drastisch zusammenzukürzen. Reiche Leute brauchen keinen Staat, allenfalls seine bewaffneten Kräfte, um die Armen in Schach zu halten.
***
Olaf Scholz‘ Optimismus, er könnte, ja werde auch der nächste Kanzler sein, ist eigentlich nur noch in psychiatrischen Termini beschreibbar. Nichts deutet darauf hin, dass diese Annahme auch nur halbwegs realistisch ist. Niemand aus seiner näheren Umgebung traut sich, ihn mal beiseite zu nehmen und reinen Wein einzuschenken. Spitzenpolitiker neigen dazu, sich mit Claqueuren zu umgeben, und so erfahren sie nichts über die Wirklichkeit. Wie in Andersens Märchen traut sich niemand dem Kaiser zu sagen, dass er nackt ist.
***
„Das große Unbehagen der kleinen Leute“ heißt ein Essay von mir aus dem Jahr 2017. Er beschäftigt sich mit dem Aufstieg des rechten Populismus, der Frage, über welche Fähigkeiten und Eigenschaften ein Demokrat verfügen sollte und müsste, welchen Anteil die Linke am Erfolg des Populismus hat und ob es einen linken Populismus geben könnte. Der Text ist aktueller denn je und er erscheint mir auch sieben Jahre nach seinem Erscheinen noch des Lesens wert: https://www.magazin-auswege.de/data/2015/01/Eisenberg_Das_grosse_Unbehagen_print.pdf Ich halte diesen Essay für einen meiner besten. Es heißt dort unter anderem: „Demokratische Einstellungen und Haltungen wird man eher bei Menschen finden, die unter hinreichend guten Bedingungen aufgewachsen und mit sich befreundet sind. Wer das Verschiedene in sich selbst akzeptiert, wird es auch draußen akzeptieren können. Demokratie ist keine Gesinnungsgemeinschaft von Gleichen, sondern eine Gesellschafts- und Lebensform, die die Entfaltung von Verschiedenheit und den geregelten Austrag von Konflikten ermöglichen soll. Die psychischen Voraussetzungen der Demokratie bestehen in einer, wenn nicht bei allen, aber doch bei einer Mehrheit anzutreffenden Ich-Stärke, die vor allem die Fähigkeit beinhaltet, mit Ambivalenzen, Schwebezuständen, offenen Fragen und Konflikten umgehen zu können. Diese reifen, dialektischen Ich-Funktionen, die Menschen befähigen, unlösbare Widersprüche prüfend in der Schwebe zu belassen, Dissens und Verschiedenheit zu ertragen, nach Kompromiss und vernünftigem Ausgleich zu suchen, stehen auf dem Spiel, wenn Massen von Menschen unter dem Druck von Angst und aufkeimender Wut auf einfachere Mechanismen der psychischen Regulation regredieren.“ Ich beschreibe in diesem Text, dass und wie Verlusterfahrungen dem Populismus in die Hände spielen. Verlust von alten Gewissheiten, Gewohnheiten und Sicherheiten, Verlust von Status, Wohlstand und Arbeitsplätzen. Vielen Menschen wurden und werden die Grundlagen ihrer Lebensentwürfe unter den Füßen weggezogen. Sie machen die Erfahrung von „Sinnentzug“, den Alexander Kluge einmal so beschrieben hat: „Eine gesellschaftliche Situation, in der das kollektive Lebensprogramm von Menschen schneller zerfällt, als die Menschen neue Lebensprogramme produzieren können.“ Dieser Satz, mit dem Alexander Kluge sein Buch „Lernprozesse mit tödlichem Ausgang“ aus dem Jahr 1973 eröffnet, hat mir einen verstehenden Zugang von weit verbreiteten gegenwärtigen Leidenserfahrungen eröffnet. Das Kapital ist schnell und dynamisch, die Menschen sind eher langsam. Ihre Fähigkeit, innerhalb ihrer Lebenszeit und auf der Basis einer erworbenen Identitätsstruktur und charakterlicher Prägungen Veränderungen zu verarbeiten, ist begrenzt. Immer mehr Menschen machen angesichts des forcierten gesellschaftlichen Wandels die Erfahrung von „Sinnentzug“: Was sie in Kindheit und Jugend gelernt und verinnerlicht haben, passt irgendwann auf kein Lebensgelände mehr so richtig. Der forcierte gesellschaftliche Wandel erzeugt eine fortschreitende Desynchronisation von Identitäts- und Realitätsstruktur und lässt Menschen orientierungs- und heimatlos werden. Sie büßen das Gefühl der Kohärenz ein, das für die Lebensführung der Menschen elementar ist. Oskar Negt hat im Anschluss an den Medizinsoziologen Antonovsky Kohärenz wie folgt bestimmt: „Zur Kohärenz gehören drei Aspekte: die Fähigkeit, die Situation, in der man sich befindet, und die Zusammenhänge zu verstehen – also das Gefühl der Verstehbarkeit; weiterhin die Überzeugung, dass man das eigene Leben gestalten kann – das Gefühl der Handhabbarkeit; sowie schließlich der Glaube, dass das Leben einen Sinn hat – das Gefühl der Sinnhaftigkeit.“ Das Erleben vieler Menschen ist gegenwärtig vom Gegenteil bestimmt. Sie erleben die Gegenwart als Zugleich von Unverständlichkeit, mangelnder Handhabbarkeit und Sinnlosigkeit. Das ist nicht nur eine Quelle von Krankheiten und seelischen Nöten der verschiedensten Art, sondern auch der Nährboden von regressiven Sehnsüchten, die den Populismus speisen. Die Menschen sehnen sich nach einer äußeren Welt, die zu den inneren Texten passt, die sie kommentierend und interpretierend zu ihr sprechen. Sie wünschen sich, das das, was aus der Zukunft auf sie zukommt, sich ihrer Verarbeitungslogik fügt. Das ist eigentlich auch nicht zu viel verlangt. „Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren; es ist die Zeit der Monster“, hat Antonio Gramsci zwischen den beiden Weltkriegen in seinen „Briefen aus dem Kerker“ geschrieben. Wenn die Synchronisierung von Realitätsstruktur und Identitätsstruktur in absehbarer Zeit nicht gelingt und sich die Beunruhigung der Menschen nicht legt, treten wir ein in eine Epoche, in der, mit Gramsci gesprochen, die „Monster“ den Ton angeben und den Stil der politischen Auseinandersetzung bestimmen. Auch wenn wir die Gesichter und Namen der zeitgenössischen Monster noch nicht genau kennen, wissen wir doch, dass es eine Epoche der Grausamkeit und Barbarei sein wird und dass wir nichts unversucht lassen dürfen, die Herrschaft dieser Monster zu verhindern.
***
Die Lektüre der letzten Tage: „Unterhaltungen mit Bakunin“, gesammelt und zusammengestellt von Arthur Lehning, dem ehemaligen Leiter des Instituts für Sozialgeschichte in Amsterdam. Lehning war Anfang der 1930er Jahre Sekretär der „Internationalen Arbeiterassoziation“, einem Zusammenschluss anarchosyndikalistischer Gewerkschaften. Dann zog der auf der republikanisch-anarchistischen Seite in den Spanischen Bürgerkrieg und wurde Mitbegründer des „Internationalen Instituts für Sozialgeschichte“ in Amsterdam, das sich um die Sammlung von Dokumenten aus der Geschichte sozialer Bewegungen große Verdienste erworben hat. Er starb Anfang des Jahres 2000 in Frankreich. Er kämpfte zeitlebens für einen freiheitlichen Sozialismus oder Anarchismus. Immer wieder mal fuhren Freunde von mir nach Amsterdam, um im Archiv des Instituts für ihre Examens- oder Doktorarbeiten zu recherchieren. Manchmal hatte sie Glück und trafen Arthur Lehning an, der sie in ihrem jeweiligen Themengebiet beriet. Der Band zu Bakunin versammelt Texte unter anderem von Alexander Herzen, Pavel Annenkov, Ivan Turgenev, Wilhelm Weitling, Richard Wagner, der von der gemeinsamen Teilnehme am Maiaufstand von 1849 und den Barrikadenkämpfen in Dresden berichtet, und vielen anderen Weggefährten aus ganz verschiedenen Zeitabschnitten seines Lebens. Wer Bakunin und sein Leben und Werk kennenlernen möchte, greife zu diesem im Verlag Franz Greno von Arthur Lehning liebevoll und sorgfältig edierten Band. U hat ihn mir vor ein paar Jahren zum Geburtstag geschenkt.
Wer über neue Texte informiert werden möchte, kann hier den Newsletter abonnieren.
Erforderlich ist lediglich die E-Mail-Adresse. Die Angabe von Vor- und Zuname ist freiwillig.