124 | Reprivatisierung gesellschaftlichen Risiken

„ ‚Heilen‘ in diesem Sinne und in dieser Gesellschaft bedeutet, Menschen an Zwecke, die sie verwerfen oder ihnen nichts gelten, anzupassen, sie (wieder) fügsam zu machen, ein Rad, das abgesprungen ist, wieder an den Wagen anzuschrauben. Nach diesem Schema arbeitet zum Beispiel die Psychoanalyse: Sie ist ein Zufluchtsritual.“

(Franca und Franco Basaglia: Befriedungsverbrechen)

Seit ein paar Tagen finden sich beinahe täglich Fotos der aktuellen Abiturienten in der lokalen Tageszeitung. Ich bin regelmäßig erstaunt über ihr Outfit: Die jungen Frauen tragen lange Kleider, die jungen Männer Anzüge und Krawatten. Alle oder die meisten scheinen angepasst und brav zu sein und geben Anlass zu großen Hoffnungen auf eine Karriere im Bestehenden. Eine erfreuliche Ausnahme bilden die Abiturienten der Gesamtschule Gießen-Ost, die schon immer etwas anders war. Sie sind durch die Bank leger gekleidet und haben sich nicht aufgebrezelt. Wie eine Endmoräne aus dem „kurzen sibirischen Sommer der Reformen“ (Robert Kurz) liegt die Ostschule in der inzwischen anders gewordenen pädagogischen Landschaft. Sogar die Liebigschule, deren Abiturjahrgang unlängst wegen übler Abitur-Motto-Vorschlägen bundesweit in die Schlagzeilen geraten war, präsentiert ihre erfolgreichen Abiturienten in feinstem Zwirn. Man ist stolz, dem Ruf einer „Eliteschule“ gerecht geworden zu sein und einen guten Notendurchschnitt erreicht zu haben. Acht Schülerinnen und Schüler erreichten die „Traumnote“ 1,0.

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Beim Frühstück auf dem Balkon beobachte ich, wie eine junge Mutter ihren Nachwuchs ins Lastenrad packt, um ihn in den Kindergarten zu bringen. Mit einer Engelsgeduld schafft sie es schließlich, beide Knaben gleichzeitig auf dem Gefährt zu platzieren und ihnen die Helme aufzusetzen. Minutenlang gibt es ein Mordsgeschrei, aber dann legt sie ab mit ihrem Fahrradschiff und seiner kostbaren Fracht.

Auf dem Schreibtisch vor mir steht ein Sektglas mit Lavendelblüten drin, die wunderbar duften und blau leuchten. Ich habe sie gestern an der Lahn am Straßenrand gepflückt. Hab mir auch nochmal den Bauch mit Wildkirschen vollgeschlagen, die immer besser schmecken, je reifer sie werden. Über mir im Baum krakeelten die Stare, die es nicht so gern sehen, wenn ihnen jemand ihr Futter klaut. Es sind aber genug Kirschen für alle da, zumal ich an die höher hängenden Früchte gar nicht drankomme.

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Gestern Morgen habe ich mein repariertes Rad aus der Werkstatt abholen können. Ich überquerte die Lahn, als noch ein Hauch morgendlicher Kühle spürbar war. Die Jungs in der Jugendwerkstatt haben Weißwandreifen aufgezogen, was der ursprünglichen Bereifung eines Hollandrads einigermaßen nahe kommt. Bei der Weiterfahrt merkte ich, dass mit der Schaltung etwas nicht richtig eingestellt ist. Da werde ich dieser Tage nochmal nachschauen lassen müssen. Ich gehe davon aus, dass diese Bereifung für den Rest meiner Tage ausreicht. Ich fuhr zu meiner Badestelle, die ich um diese Tageszeit für mich allein hatte. Endlich sah ich mal wieder einen Eisvogel, der dicht über dem Fluss Richtung Marburg vorüberfltzte. Es erfüllt mich stets mit Freude, wenn es mir vergönnt ist, einen Eisvogel zu sehen. So kurz vor den Sommerferien haben Lehrer ihre Schüler ausgewildert und in Kanus gesetzt. Jetzt gurken sie in großen Mäandern über den Fluss und die Luft ist voll von ihrem Stimmbruchgekreische. Ich hoffe, dass sie zum Schulschluss verschwinden und dann wieder Ruhe einkehrt.

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Die steigende Hitze lässt auch den Aggressionspegel steigen. Die ohnehin große allgemeine Gereiztheit erfährt noch einmal eine Steigerung. Gereiztheit ist eine Form der Allergie ohne festumrissenen Gegenstand, eine profuse und diffuse Stimmungslage, ein Affekt, der gleichsam schielt. Der Bruchteil einer Sekunde zögern beim Anfahren an der grünen Ampel genügt, um ein Hupkonzert auszulösen. Viele Leute sind noch mehr bereit als sonst, sich wegen Kleinigkeiten an die Gurgel zu gehen. In Form von Nervosität, Ärger und Gereiztheit werden wir vom Alltag pausenlos mobilisiert, aber für eine unsichtbare Schlacht. Wir haben es nicht mir einem einzelnen Gegner zu tun, sondern tausend undeutlichen Widrigkeiten, auf die unser Körper ganz von allein  reagiert.

Ich reagiere zum Beispiel gereizt, wenn ich in unserer Tageszeitung lese, dass am Wochenende mal wieder diese saudumme „Nachttanzdemo“ stattfindet. Angedroht wird, dass man dafür demonstrieren wolle, die städtischen Parkanlagen im Sommer für „kulturelle Zwecke“ nutzen zu dürfen, was im Klartext heißt: zum ohrenbetäubend lauten Abspielen von Bumsmusik. Natürlich wird das nicht so genannt, sondern vom Park als einer „Oase der Kultur“ gesprochen. In Wirklichkeit geht es den Veranstaltern darum, die gesamte Innenstadt in eine einzige Partyzone zu verwandeln und alle Beschränkungen einzureißen, die dem Konsumismus und der Durchökonomisierung noch gesetzt sind. Nachttanzdemo heißt für mich eine zusätzliche Nacht mit Ohrenstöpseln, einen nach Pisse stinkenden Park und Tage, an denen man kaum mit dem Rad fahren kann, weil überall zerbrochenes Glas herumliegt. Es wird in näherer Zukunft auch um die Nutzung des „Blumen-Corso“ gehen. Ich habe davon berichtet, dass Frau Rinn ihren Blumenladen am Rande des Parks nach vielen Jahren aufgegeben hat. Mit Schrecken erinnere mich an ein oder zwei Wochenenden, an denen dort eine sogenannte Pop-up-Bar gastierte, die das ganze Viertel mit Techno beschallte und Pizza verkaufte. Niemand hatte damals daran gedacht, dass sich in der Nachbarschaft ein Altenheim befindet und dessen Bewohner ein Recht auf Ruhe und Schonung besitzen. Auch jetzt ist, wenn es um die „kulturelle Nutzung“ des Parks geht, von ihnen nicht die Rede. Alles wird dem „unendlichen Spaß“ geopfert, der ja bei Lichte betrachtet nur eine Facette des unendlichen Konsums darstellt.

Heute machen die „Angewandten Theaterwissenschaften“ Krach in unserer Nachbarschaft. Irgendjemand macht immer Krach. Im Internet erfahre ich: „Die Studierenden des internationalen Master-Studiengangs Choreographie und Performance laden zu den diesjährigen ‚Rough Proposals‘ ein, einer experimentellen Plattform für Performances, Installationen, Work-in-Progress-Präsentationen und Interventionen. Vom 3. bis 6. Juli 2025 erhalten Besucherinnen und Besucher Einblicke in aktuelle künstlerische Recherchen sowie Denk- und Arbeitsweisen.“ Warum es dazu gehört, schon in der Mittagszeit das ganze Stadtviertel mit Techno-Musik zu beschallen, erschließt sich mir nicht. „Vor 22 Uhr können wir da nichts machen“, erklärt mir ein freundlicher Polizist am Telefon und rät mir, mich ans Ordnungsamt zu wenden. Dort nimmt wohlweislich niemand ab. Meine Anrufe gehen ins Leere. Das weiß natürlich auch die Polizei, weshalb die nicht gut auf das Ordnungsamt zu sprechen sind. „Die genehmigen das und stellen sich dann tot“, kommentierte der freundliche Polizist. Die Wut des Bürgers, die in diesem Fall meine Wut ist, dreht sich im Kreis und findet keinen Adressaten. Auch so etwas macht krank und geht an die Kapillaren.

Gegen Abend wurde die Musik, wenn man den Lärm so nennen will, lauter und lauter. Ich hoffte darauf, dass wenigstens um 22 Uhr Schluss damit wäre. Aber weit gefehlt. Verschiedene Anrufe bei der Polizei ergaben, dass man den Theaterwissenschaftlern von Seiten des Ordnungsamtes eine Genehmigung bis 24 Uhr erteilt hat. Irgendwann müssen Menschen ja auch mal schlafen, aber daran war bei dem Lärm natürlich nicht zu denken. Selbst bei geschlossenen Türen und Fenstern war der Krach noch laut zu hören. Bei der gegenwärtigen Hitze möchte man abends und nachts eigentlich Fenster und Türen weit aufreißen. Ich wohne 250 Meter von der Lärmquelle entfernt und wurde derbe beschallt. Um 24 Uhr muss wohl die Polizei angerückt sein und es wurde über Lautsprecher palavert, bis dann endlich die Musik verstummte und Ruhe einkehrte. Das darf auf keinen Fall noch zwei weitere Nächte so weitergehen. Zumal ja am Samstag auch noch diese unsägliche Nachttanzdemo läuft, und auch die hat eine Lizenz zum Lärmen bis 24 Uhr. Müssen solche Partys inmitten von Wohngebieten stattfinden? Die Uni verfügt über Räumlichkeiten am Stadtrand, die man für solche Zwecke nutzen könnte. Die Leute von der Stadt, die solche Genehmigungen erteilen, wohnen wahrscheinlich auf dem Land und bekommen die Folgen der von ihnen erteilten Genehmigungen nicht mit. Oder noch ärger: Ihnen liegt etwas daran, Bürger gegen die rot-grüne Stadtregierung aufzubringen und sie der AfD in die Arme zu treiben. Alles scheint möglich. Erschreckend am eigenen Leib zu erleben, wie Verschwörungserzählungen entstehen und von einem Besitz ergreifen. Hitze, Lärm und erfahrene Ohnmacht können einen in den Wahnsinn treiben.

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Die elenden Blutverdünner, die ich seit meiner Thrombose und meinem Herzkasper einnehmen muss, führen dazu, dass es bei jeder kleinen Berührung, die mehr ist als ein sanftes Streicheln, zu Einblutungen unter der Haut kommt. Es bilden sich hartnäckige Flecken, die lange brauchen, um sich zurückzubilden. „Meine Totenflecken“, nenne ich die Einblutungen, die erst rot, später lila werden.

Ursula wird heute von ihrer Schule verabschiedet und hat viel Aufwand getrieben, ihre Kolleginnen am letzten Tag zu bewirten. Ab Morgen ist sie dann Rentnerin, was auch die eingespielte Balance zwischen uns, unser unter anderen Bedingungen ausgebildetes homöostatisches Gleichgewicht, verändern wird. Hoffentlich finden wir einen guten Umgang mit der neuen Situation. Wenn man da keinen für beide akzeptablen modus vivendi findet, können Beziehungen zerbrechen. Ich habe das am Beisiel eines Freundes erlebt, der sich im Verlauf von sich länger hinziehenden unschönen Szenen das Leben genommen hat.

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Weiter in meiner unsystematischen Chronik der Gewalt. Ein 20-jährige Syrer hat am Donnerstag in einem ICE von Hamburg nach Wien drei Menschen mit Hammer und Axt attackiert. Insgesamt wurden fünf Mitreisende verletzt, später auch der Angreifer selbst. Bei den Verletzten handelt es sich den Angaben zufolge um eine Frau aus Syrien und ihren Sohn, sowie einen weiteren Syrer und eine vierte Person. Die Verletzten sind laut Polizei 15, 24, 38 und 51 Jahre alt. Ob Opfer und Täter sich kannten, ist bisher unklar. Wir hoffen insgeheim auf eine solche Täter-Opfer-Beziehung, weil uns das eher einleuchtet als ein Akt blinder Gewalt und eine völlig zufällige Wahl der Opfer.

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Im Lebensmittelmarkt begegnen sich heute Morgen zwei ältere Frauen aus der Nachbarschaft. „Hasde einigermaße geschloofe, Else?“ „Nee“, erwidert Else, „des war a Mordskrach heut nacht.“

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Das erste Spiel der DFB-Frauen bei der Europameisterschaft war wie der Auftritt von Schlagerfuzzi Wolfgang Petri, der die deutschen Fußballerinnen vor Turnierbeginn besuchte. Auf so eine Musik folgt so ein Spiel. Das passte.

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Ich hatte meine Bemerkungen zum Festival der Theaterwissenschaftler auch der Zeitung angeboten, für die ich seit vielen Jahren einmal im Monat eine Kolumne schreibe. Diese erscheinen unter der Überschrift „Unser absurder Alltag“, und das schien mir auch eine passende Überschrift für meine Klage über den Lärm. Der mich betreuende Redakteur antwortete mir kurz und knapp: „Ich kann den Text leider nicht verwenden.“ Er leite meinen Text zum unendlichen Spaß und Lärm gern an einen Kollegen weiter, der heute unter der Rubrik „Stadtgespräch“ darauf eingegangen ist. Innerstädtische Events, schreibt er, gingen nun mal mit der einen oder anderen musikalischen Beschallung einher. „Postwendend laufen auch in der Redaktion erste Beschwerden über die Lautstärke ein. Und ja, der dort gespielte Techno ist sicherlich nicht jedermanns Sache. Aber hier darf das Motto wohl auch lauten: Zusammenleben ist keine Einbahnstraße. Gegenseitige Rücksichtnahme ja, doch gerade auch in einer lebendigen Stadt muss Platz sein für Dinge, die vielleicht nicht jedem gefallen. Denn es wird immer jemand geben, der sich beschwert, selbst wenn ihm hunderte gegenüberstehen, die eine Veranstaltung schätzen.“ Das werde auch bei der Nachttanzdemo heute Abend wieder so sein. Fehlt nur der Ratschlag, der mir schon oft erteilt wurde: Wenn Sie ihre Ruhe haben wollen, ziehen Sie aufs Land. Gern wird an dieser Stelle auch darauf verweisen, dass Leben nun mal mit Lärm verbunden sei. Stille sei etwas für Nekrophile. Merke: Dezibel ist eine Maßeinheit zum Messen von Schallwellen, nicht von Lebendigkeit. Ein paar Anmerkungen zum Kommentar des Redakteurs kann ich mir nicht verkneifen. Ein einziger Mensch kann gegen Tausende im Recht sein. Dass etwas von Menschenmassen begrüßt und gutgeheißen wird, heißt nicht, dass es gut und richtig und vor allem wahr ist. Massen können sich irren. Das sollte eine Lehre aus dem Faschismus sein. Georg Elser hat gegen Millionen Deutsche, die dem Führer zugejubelt haben und ihm bis Stalingrad gefolgt sind, Recht gehabt. Dass also etwas den Beifall vieler findet, ist kein Grund, es zu begrüßen. Der Faschismus kommt nicht immer und nur in Braunhemden und Stiefeln einher, es gibt auch einen zeitgenössischen „konsumistischen Enthemmungsfaschismus“. Der sinnlos vor sich hin produzierende Spätkapitalismus räumt im Dienste des Absatzes des produzierten überflüssigen Krams hemmende Barrieren beiseite und feiert diesen Vorgang als Weltoffenheit, Diversität und Vorurteilslosigkeit. Der von Wirtschaft und Gesellschaft propagierte „flexible Mensch“ soll alle Hemmungen ablegen, damit er zu allem fähig werde. So ist es denn auch. Noch eine Bemerkung zur Einbahnstraße und Rücksichtnahme. Ich denke, dass ich mit meinen monologischen Tätigkeiten des Lesens und Schreibens niemandem auf die Nerven geht. Die werden still betrieben und ziehen niemand anderen in Mitleidenschaft. Niemand ist gezwungen, Texte von mir zu lesen. Man kann die Seite im Gießener Anzeiger einfach überblättern. Deswegen hinkt der Vergleich. Wenn andere es lieben, bis Mitternacht laut Musik abzuspielen, dann hat das Einfluss auf das Leben vieler und die können sich dem nicht entziehen. Das „Stadtgespräch“ des Redakteurs ist ein peinlicher Versuch, sich an junge Leute anzuwanzen, die ihrerseits die Zeitung mit Missachtung strafen. Sie machen stattdessen lieber Krach und wischen über ihre Smartphones. Die Anschmeiße der Zeitung an die jugendlichen Nichtleser, also letztlich ihre Totengräber, erinnert mich an jene Buchhandlung, die für die Nachbarschaft Onlinebestellungen auch von Büchern annimmt. Wenn der Gießener Anzeiger beschließen sollte, auf den Wellen des Zeitgeistes zu surfen, werde ich mir überlegen müssen, ob das noch der Ort ist, an dem Texte von mir erscheinen können und sollen.

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„Raskolnikow kann die Last seiner Schuld nicht ertragen und bejaht die Bestrafung, um Frieden zu finden. Es ist die wohlbekannte Situation, in der die Schuld die Strafe sucht. Bei Kafka ist diese Logik umgedreht. Derjenige, der bestraft wird, kennt den Grund der Bestrafung nicht. Die Absurdität der Strafe ist so unerträglich, dass der Angeklagte,, um Frieden zu finden, nach einer Rechtfertigung für die Züchtigung sucht: Die Strafe sucht die Schuld.“

(Milan Kundera: Die Kunst des Romans)

Nachdem kurz vor Mitternacht der Techno-Tsunami der Nachttanzdemo über uns hinweggegangen war, konnte ich auch nach dem Verstummen der Musik länger nicht einschlafen. Der Lärm hatte den Puls hochgetrieben und es dauerte eine ganze Weile, bis ich zur Ruhe fand und runter kam. Ich drückte mir Ohrenstöpsel in die Gehörgänge und schaltete die Klingel ab, auf die in solchen Nächten gern mal gedrückt wird. Den dritten Tag in Folge musste ich nun Techno-Gewummer über mich ergehen lassen. Ich fühle mich – als „Geistesmensch“ im Sinne Thomas Bernhards – wie ein Guantanamo-Häftling, der zur Strafe wegen irgendetwas, meisten wegen nichts, rund um die Uhr mit ohrenbetäubender Musik traktiert wird, um ihm ein Geständnis zu entlocken. Irgendwo las ich mal, dass man im alten China Kriminelle, die sich eines besonders schweren Verbrechens schuldig gemacht hatten, durch Lärm hingerichtet hat. Der Verurteilte wurde unter eine große Glocke gelegt, die anschließend vom Henker geschlagen wurde. Es soll der qualvollste Tod sein, den ein Mensch erleiden kann. Ungefähr so fühle ich mich manchmal in dieser Stadt – wie unter einer chinesischen Hinrichtungsglocke. Aber welchen Verbrechens habe ich mich schuldig gemacht? Wie bei Kafka ist der Bestrafte gezwungen, selbst nach seiner Schuld zu suchen und der Bestrafung einen Sinn abzugewinnen.

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„Es gibt keine freie Gesellschaft ohne Stille, ohne einen inneren und äußeren Bereich der Einsamkeit, in dem sich die individuelle Freiheit entfalten kann. Wenn es in einer sozialistischen Gesellschaft kein Privatleben, keine Unabhängigkeit, keine Stille, keine Einsamkeit gibt, nun, dann ist sie eben keine sozialistische Gesellschaft! Noch nicht.“

(Herbert Marcuse: Über Revolte, Anarchismus und Einsamkeit, Zürich 1969)

So, jetzt scheint die dreitägige Lärmoffensive vorüber zu sein, fürs Erste jedenfalls. Was bleibt, ist der städtische Grundlärm, der ja schlimm genug ist. Der Philosoph Theodor Lessing gründete im Jahr 1908 in Hannover den ersten „Deutschen Antilärm-Verein“. Der Durchschnitts-Lärmpegel in den Industrieländern ist seit Lessings Zeiten pro Jahr um rund ein Dezibel gestiegen. Hätten wir also nicht triftige Gründe, flächendeckend „Antilärmvereine“ ins Leben zu rufen und für ein Recht auf Stille einzutreten? Das Zusammenleben vieler Menschen auf immer engerem Raum wird nie ohne einen gewissen Lärmpegel möglich sein, aber es gibt so viele überschüssige, sinnlose und vermeidbare Lärmquellen: getunte Autos und Motorräder, Bluetooth-Boxen, Autokorsos bei Hochzeiten und nach siegreichen Fußballspielen und so weiter. Rücksichtnahme lässt sich nicht von oben dekretieren. Rücksichtslosigkeit wurzelt in der Grundstruktur einer warenproduzierenden und auf Konkurrenz basierenden Gesellschaft. Relative Stille wird es erst in einem befriedeten und versöhnten Gemeinwesen geben können, das seine industriellen Truppen aus der Natur zurückgezogen hat. Solange selbst Straßenfeste von vermeintlich kritisch-alternativen Leuten mit dröhnender Bumsmusik begangen werden und es nur dieser Lärm ist, den Außenstehende davon mitbekommen, habe ich wenig Hoffnung auf Besserung.

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„Die Gesellschaft trifft überall – auf der Straße, in den Berufen, in der Familie usw. – auf eine Vielzahl von Problemen, und die Psychiater sind die Funktionäre der sozialen Ordnung. An ihnen ist es, diese Störungen zu beheben. Sie sind die Funktionäre der öffentlichen Hygiene.“

(Michel Foucault)

Ein alter Berliner Freund und Genosse – ich merke, wie ich zögere, das Wort „Genosse“ zu verwenden, zu viel Missbrauch und Schindluder ist mit ihm getrieben worden – schrieb mir dieser Tage: „Ich bin gesund, habe im Moment nix zu befürchten. Hoffe aber auch, dass ich in dieser heutigen scheußlichen Welt nicht noch endlos leben muss. Als wir uns vor einem halben Jahrhundert auf den Weg machten, hofften wir, eine bessere Welt erreichen zu können, davon sind wir heute weit entfernt.“ Das trifft exakt auch meine Gefühlslage. Vielleicht, wahrscheinlich, ziemlich sicher haben wir‘s verkackt, und man kann nur noch versuchen, es halbwegs anständig zu Ende zu bringen und den Prozess der Selbstzerstörung einer Gesellschaft und einer ganzen Zivilisation zu protokollieren. Wer bilanziert eigentlich die Folgen von Resignation und Enttäuschung, die den Weg der Linken begleiten und viel menschliches Leid hervorgerufen haben? Es sind nicht nur die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, die verändert werden müssen, es ist der Industrialismus, der uns gefangen hält. Die Produktivkräfte selbst sind zu Destruktivkräften geworden. 200 Jahre industrieller Kapitalismus und Sozialismus mit ihrem Raubbauverhältnis zur inneren und äußeren Natur haben ausgereicht, den Globus sturmreif zu schießen und die Welt an den Rand des Abgrunds zu bringen. Menschen haben diesen Prozess in Gang gesetzt und Menschen könnten ihn auch stoppen und den eingeschlagenen Kurs ändern. Aber sie wollen es mehrheitlich nicht. Mit Bierflasche in der Hand und Technomusik im Ohr taumeln sie flexibel, mobil und gut gelaunt auf den Abgrund zu. Wer hätte heute noch die Chuzpe, Emil Cioran zu widersprechen, der schon vor Jahrzehnten schrieb: „Indem die Natur den Menschen zuließ, hat sie viel mehr als einen Rechenfehler begangen: ein Attentat auf sich selber.“ Es wird inzwischen gar nicht mehr so getan, als ließe sich der Klimawandel noch aufhalten, es geht nur noch darum, sich einigermaßen gegen seine Folgen zu wappnen. Gerade sind in Texas in der Folge von sturzflutartigen Regenfällen rund einhundert Menschen umgekommen, andernorts brennen die Wälder. Die Temperatur in den Städten steigt und steigt, also begrünen wir die Dächer, pflanzen ein paar Bäume und installieren Trinkbrunnen. Für diese fragwürdigen Abwehrmaßnahmen wird der Begriff „Resilienz“ verwendet, der mehr und mehr zu einer sozialdarwinistischen Reparaturkategorie verkommt. Ursprünglich bezeichnete er einmal jene geheimnisvolle und erstaunliche menschliche Fähigkeit, mit allerhand Widrigkeiten des Lebens fertig zu werden und unvermeidliche Lebenskrisen zu meistern. Jetzt dient er der Reprivatisierung gesellschaftlicher Risiken und Konflikte. Es ist das Geschäft einer herrschaftskonformen Psychologie und Psychiatrie, die Reprivatisierung wissenschaftlich zu begründen und therapeutisch zu begleiten, indem Resilienz-Workshops für jeden angeboten werden, der dafür bezahlt.

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„ … ich fürchte, das warme Leben in mir zu erkälten an der eiskalten Geschichte des Tags, und diese Furcht kommt daher, weil ich alles, was von Jugend auf Zerstörendes mich traf, empfindlicher als andere aufnahm, und diese Empfindlichkeit scheint darin ihren Grund zu haben, dass ich im Verhältnis mit den Erfahrungen, die ich machen musste, nicht fest und unzerstörbar genug organisiert war.“

(Friedrich Hölderlin)

Vorn im Park liegt zusammengerollt ein Mann – halb auf dem Weg, halb in den Büschen. Er trägt heruntergekommene Klamotten, sein T-Shirt ist aus der Hose gerutscht und gibt ein Stück des Rückens frei. Eine leere Flasche liegt neben ihm im Gras, etwas weiter ein schwarzer Beutel mit Hundekot. Passanten gehen vorüber, einer zieht seinen Hund weg, der zu dem Mann hindrängt. Mütter mit Kindern machen einen Bogen um die Gestalt. Hat jemand nachgesehen, ob der Mann noch lebt? Es gab Zeiten, da hätte man sich um den Mann gekümmert, inzwischen haben wir uns an den Anblick von herumliegenden Elendsgestalten gewöhnt. Die Fähigkeit zum Mitleid, sofern sie sich unter den herrschenden Bedingungen überhaupt noch entwickelt hat, kapituliert vor der Masse des sichtbaren Elends. Sollen sich die Profis um diese Leute kümmern! Hat jemand die Rettung verständigt? Irgendjemand wird das schon getan haben, beschwichtigen wir unsere inneren Stimmen, mit denen das Gewissen sich meldet. Wie lange noch? Ein Freund hat neulich in einem ähnlich gelagerten Fall die 112 gewählt und um Hilfe für einen Obdachlosen gebeten. Als die Rettung eintraf, habe einer der Sanitäter ausgerufen: „Oh nein, nicht schon wieder der!“ Meinem Freund gegenüber erklärte er, dass sie innerhalb der letzten Woche drei Mal wegen dieses Mannes gerufen worden und ausgerückt seien. Dem Mann sei nicht zu helfen, er müsse einfach aufhören zu saufen. Es fehlte nicht viel und mein Freund hätte sich für seinen Notruf entschuldigt. Oder man hätte ihm den Einsatz in Rechnung gestellt. Da, wo einmal Mitgefühl war, wächst einem nach solchen Erfahrungen eine Hornhaut auf der Seele, die gegenüber weichen Regungen unempfindlich macht.

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Der Gipfel des Zynismus: Ein notorischer Kriegsverbrecher schlägt einen notorischen Menschenrechtsverächter und Völkerrechtsverletzer für den Friedensnobelpreis vor. Schrecken die denn vor gar nichts zurück? Das wirklich Schlimme ist: Alles ist vorstellbar und im Bereich des Möglichen. Hoffentlich waltet in Stockholm noch ein Rest Vernunft. Ein Mann, der auf Erdbeerfeldern Jagd auf migrantische Arbeiterinnen und Arbeiter machen lässt, gehört vor ein Tribunal und nicht zum Kreis derer, die für den Friedensnobelpreis in Frage kommen. Was für eine Chuzpe, Donald Trump zu nominieren!

Kant würde zur gegenwärtigen völkerrechtlichen Lage sagen: Wenn immer mehr Staaten mit dem Völkerrecht wenig bis nichts anfangen können, wenn ihr Handeln mit ihm kaum etwas zu tun hat, spricht das gegen das, was sie tun, nicht gegen das, was getan werden sollte. Es ist nicht das Völkerrecht, das es zu ändern oder aufzugeben gilt!

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Heute fuhr ich mit dem Rad auf den Wochenmarkt. Direkt vor mir öffnete eine Autofahrerin ihre Autotür, der Alptraum jedes Radfahrers. Ich konnte gerade noch bremsen und ausweichen und wäre um ein Haar gestürzt. Ich brüllte vor Schreck und weil ich mich über die achtlose Autofahrerin ärgerte. Diese hatte nicht das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, und forderte mich auf, weiterzufahren und mich nicht so anzustellen. Schließlich sei ja nichts passiert. Ich hätte ein Wort der Entschuldigung angemessen gefunden. Es herrscht Krieg auf den Straßen. In den Augen vieler Autofahrer sind Radfahrer nichts als „Ungeziefer der Straße“ (Adorno).

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Gerade hatte ich Gefallen an der Physiotherapie gefunden und gewisse Fortschritte gesehen, da gibt die Therapeutin ihre Praxis auf. Sie hat mir mit ihrer direkten und zupackenden Art gut gefallen und gut getan. Sie stammt ursprünglich aus dem Erzgebirge und sprach ein wunderbares gemäßigtes Sächsisch. „Mitte finden“, war ihr Lieblingskommando. Sie hat die Praxis in meiner Nachbarschaft seit der Maueröffnung betrieben und ist nun müde. Sie hat zwei junge Nachfolgerinnen gefunden, die die Praxis weiterführen. Sie ist, wenn überhaupt, auch nur durch zwei Menschen ersetzbar. Ich hoffe, dass ich auch zu einer der Nachfolgerinnen einen guten Draht finde.

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Ziemlich genau vor fünf Jahren habe ich begonnen, meine tagebuchartigen Notizen und Alltagsbeobachtungen unter dem Titel „Durchhalteprosa“ zu veröffentlichen. Die erste Folge erschien Ende Juni 2020 und trug den Titel „Die Melancholie des Scheiterns“. Als Motto hatte ich zwei kurze Sätze von Alfred Döblin vorangestellt: „Die Menschen wollen uns nicht. Die Menschen wollen Ruhe.“ Das Thema des Scheiterns durchzieht die DHP von Anfang an und bis in die neueste Folge, die in den nächsten Tagen erscheinen wird. Da sich Melancholie mit der gewerkschaftlichen Haltung pausbäckig-optimistischen Tuns nicht gut verträgt, hat die GEW, die meine Texte ursprünglich in ihrem Onlineportal publiziert hat, mir irgendwann gekündigt, und wir haben die DHP seit Anfang 2023 in eigener Regie herausgebracht. Wolfgang Polkowski sei noch einmal Dank dafür! Ohne ihn wäre ich aufgeschmissen gewesen und das Projekt eines eigenen Blogs wäre wie ein Mehlklößchen ins Gebüsch gekullert.

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Ein kleiner Nachtrag zum Thema Rolltreppen, die in der letzten Folge der DHP eine gewisse Rolle spielten. Heute vor 100 Jahren, also am 11. Juli 1925, nahm das Kölner Warenhaus Tietz die erste Rolltreppe Deutschlands in Betrieb, die damals „Roll-Fußsteige“ genannt wurde. Die Rolltreppe und die Kaufhäuser, in denen sie zum Einsatz kamen, galten einmal als Sinnbild der Moderne, ihr ständiges Nicht-Funktionieren am Gießener „Elephantenklo“ und die Krise der Kaufhäuser interpretiere ich als Symbol ihrer Krise und ihres Stockens. Nichts funktioniert  mehr richtig, die Moderne kommt an ihr Ende. Kaufhäuser schließen und Rolltreppen laufen nicht mehr.

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„Zwei Jungen begegnen in den Wäldern der USA einem aggressiven Grizzlybären. Während der eine in Panik gerät, setzt sich der andere seelenruhig hin und zieht sich seine Tennisschuhe an. Da sagt der in Panik geratene: ‚Bist du verrückt? Niemals werden wir schneller laufen können als der Grizzlybär.‘ Und sein Freund entgegnet ihm: ‚Du hast Recht. Aber ich muss nur schneller laufen können als du.‘“

(Robert Stern)

Die Logik von Ware und Geld begräbt alles unter sich und dringt bis in die Hohlräume dessen vor, was man früher einmal „Seele“ genannt hat. Die Welt schickt sich an, eine vollständig nach kapitalistischen Prinzipien von Ware, Tausch und Geld integrierte Welt zu werden. Die Menschen werden Tauschmaschinen und funktionieren nach der Warenlogik. Die Entfremdung wird total, weil und insofern die meisten Menschen ihre Entfremdung als Zustand des Mit-sich-identisch-Seins empfinden. Das nannte der französische Philosoph  und Soziologe Henri Lefebvre „Entfremdung zweiten Grades“. Den Menschen kommt noch das Bewusstsein ihrer Entfremdung abhanden und sie erleben die Funktionsimperative des spätkapitalistischen Systems als ihre intimsten Leidenschaften. Wir befinden uns längst nicht mehr im Zustand der Entfremdung, im Anders-Werden – da gab es wenigstens noch den anderen – und rückblickend erscheint die Entfremdung beinahe als ein goldenes Zeitalter. Es kommt zu einer, wenn man so will, perversen Versöhnung zwischen der Gesellschaft und ihren Bewohnern. Man kann jedenfalls nicht mehr behaupten, dass das Leben unter Bedingungen der Entfremdung den Menschen ein „unglückliches Bewusstsein“ macht, wie Hegel das subjektive Korrelat der Entfremdung nannte. Einzelnen schon, und das macht deren Lage umso verzweifelter. Obwohl Entfremdung und Ausbeutung objektiv fortbestehen, schwindet das subjektive Bewusstsein, entfremdet und ausgebeutet zu sein. Nur wenige Menschen wollen „sein“, die meisten wollen „haben“, um ein Begriffspaar von Erich Fromm aufzugreifen. Moral dankt ab und weicht einem zynischen Pragmatismus: „Was mich voranbringt und mir nützt, ist gut!“ Der Sozialdarwinismus liefert das Modell, das den zwischenmenschlichen Verkehr mehr und mehr bestimmt. Höflichkeit und Rücksichtnahme werden zu Störfaktoren und sterben ab. Eine moralverzehrende Moderne kommt an ihr logisches Ende und beginnt, sich selber aufzufressen und ihre zivilisatorischen Errungenschaften zurückzunehmen. Die Gesellschaft wird vollends kapitalistisch. So paradox es klingen mag: Je „diverser“ die Welt wird, desto homogener wird sie in Wahrheit. Alle Differenzen werden eingeebnet, alles wird vereinheitlicht, pasteurisiert und homogenisiert. Der Gebrauchswet stirbt ab zugunsten eines „totalitären Tauschs“. Dem Geld ist es schnuppe, ob einer oder eine schwul, lesbisch oder nichts von beidem ist oder welche Hautfarbe er oder sie hat. Das sind archaische Differenzen, Hauptsache, es lässt sich Gewinn aus seiner oder ihrer Arbeitskraft und Kreativität schlagen. Empathie und Kreativität sind die neuen Produktivkräfte des digitalen Kapitals. Das heutige Kapital macht und empfiehlt Yoga, worauf ich in Folge 123 der DHP hingewiesen habe.

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Eine Chance gebe ich dem Botanischen Garten noch, dann werde ich ihn meiden und auf den Alten Friedhof ausweichen. Dort sorgt eine gewisse Scheu dafür, dass die Besucher sich anständig benehmen. Jedenfalls im Normalfall. Gestern setzte ich mich im Mittelteil des Botanischen Gartens auf eine Bank, auf der man einigermaßen bequem sitzen kann, und begann Jurek Beckers Roman „Der Boxer“ zu lesen. Das ist der einzige Roman von Jurek Becker, den ich noch nicht gelesen habe. Der hinter Teil des Gartens ist seit etlichen Wort für das Publikum gesperrt. Erst lieferte drohender „Astbruch“ die Begründung für die Sperrung des schönsten Teils des Gartens, nun ist es die Anwesenheit des Eichenprozessionsspinners, dessen Raupen bei Berührung allergische Reaktionen der menschlichen Haut  hervorrufen können. Etwa hundert Meter Luftlinie entfernt und durch einen Zaun von mir getrennt, hockte ein junger Schwarzer auf einer Bank und telefonierte in einer Lautstärke, als gelte es, die Distanz nach Afrika rein stimmlich zu überbrücken. Immer wieder wurde sein Redefluss von einem wiehernden Kichern unterbrochen. Als er partout kein Ende fand, ging ich Richtung Zaun und versuchte ihm gestisch zu bedeuten, er möge etwas weniger laut telefonieren. Er deutete meine Bewegung als Begrüßung und winkte mir erfreut zu. Wenig später tauchte eine Großfamilie mit Migrationshintergrund und zahlreichen Kindern auf. Gegen den Besuch von Kindern im Botanischen Garten spricht gar nichts, sofern ihre Erwachsenen dafür sorgen, dass sie nicht über die Stränge schlagen und über Gebühr lärmen. Die Leute gestern ließen ihre Kinder einfach von der Leine, die ihre Freiheit nutzten, um wild herumzutollen. Sie fuhren mit ihren kleinen Fahrrädern über die  Wege und bremsten dass der Kies nur so wegspritzte. Ich wollte in Ruhe lesen und fühlte mich nach einer Weile doch vom Kindergeschrei daran gehindert. Ich rief einem der Erwachsenen aus einem Sicherheitsabstand zu, er möge doch dafür sorgen, dass die Kinder nicht so lärmten. Und das erwidert dieser Mann? „Halt die Fresse, sonst kommt ich mal zu dir rüber!“ Weil ich keinen Kieferbruch riskieren wollte, ließ ich es dabei bewenden und versuchte weiterzulesen. Eine junge Mutter kam mir ihrem vielleicht sechsjährigen Sohn vorbei. Dieser führte einen Ast mit sich, mit dem er immer wieder auf Pflanzen einschlug. Die Mutter ließ das Zerstörungswerk unkommentiert. Robert Walser hat mit der Sensibilität des Außenseiters in der Lust von Knaben, Blätter von Ästen herunterzuschlagen, eine Vorform der Jagd auf Minderheiten erkannt. In seinem Roman Der Räuber heißt es: „Er glich dem Blatt, das ein Knabe mit der Rute vom Zweig herunterschlägt, weil es ihm als Vereinzeltes auffällt.“ Eine junge Frau walkt im Botanischen Garten. Runde um Runde dreht sie, während sie unablässig telefoniert. Eigentlich setzt das Funktionieren eines solchen Gartens gewisse zivilisatorischen Errungenschaften und respektvolle Umgangsformen bei den Besuchern voraus. Eine Aufsicht ist zwar immer anwesend, bleibt aber in Reserve und schreitet nur in den wenigen Ausnahmefällen ein. Es sind in der Regel ältere Damen, die schon körperlich außerstande sind, grobe und gewaltbereite Mitmenschen zur Raison zu bringen. Wenn sich die Ausnahmefälle häufen oder gar zur Regel werden, kippt das eingespielte Gleichgewicht und der Universität wird eines Tages nicht anderes übrig bleiben, als den Garten für die Öffentlichkeit zu sperren. Ein botanischer Garten, der auf Security Leute angewiesen ist, ist nicht denkbar und würde seinen Charakter einbüßen. Vor circa zehn Jahren habe ich einen Text über den Garten geschrieben, der den Titel trug: „Eine Oase der Ruhe“. Er beginnt so: „Wer aus Richtung Seltersweg kommend die steinerne Pforte durchquert und in den Garten eintritt, taucht in eine andere Zeitzone ein. Sofort spürt man den Kontrast zum Lärm der Stadt und zum Tumult des Konsums. Intuitiv verlangsamt man den Schritt. Bänke stehen unter großen, alten Bäumen und laden zum sitzenden Verweilen ein. Die Bäume wirken wie eine Klimaanlage und sorgen dafür, dass es selbst bei großer Hitze erträglich ist. Noch immer kann man im botanischen Garten lesende Menschen antreffen.“ Inzwischen liest sich der Text leider wie ein Nachruf.

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Vor dreißig Jahren wurde die Kleinstadt Srebnenica in Bosnien und Herzegowina zum Schauplatz eines grauenvollen Massakers. Bosnisch-serbische Truppen hatten die Ortschaft im Juli 1995 eingenommen und ermordeten in der Folge fast 9000 überwiegend muslimische Bosniaken, vor allem Männer und Jungen. Die restliche Bevölkerung wurde vertrieben. Das Ganze ereignete sich unter den Augen von niederländischen UN-Soldaten, die dem Morden tatenlos zusahen. Bemerkenswert ist, dass wir im Umgang von Teilen der Linken mit diesem Völkermord einem ähnlichen Lavieren begegnen, wie wir es heute im Verhältnis zum Russischen Überfall auf die Ukraine erneut antreffen. Der Massenmord wurde geleugnet oder relativiert und Serbien die Rolle des Opfers zugebilligt. Es sind die gleichen Leute und Fraktionen innerhalb der Linken, die sich damals wie heute in der Kunst üben, den Opfern die Schuld zuzuweisen. Die zentrale serbische Erzählung lautet bis auf den heutigen Tag: Der Westen habe die Mär vom Völkermord in Srebnenica ersonnen, um die militärische Intervention der Nato im ehemaligen Jugoslawien zu rechtfertigen. Es ist und war beschämend.

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Ein Beamter der Ordnungspolizei ist an den Markttagen abgestellt, um auf dem Markt dafür zu sorgen, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Seine Haupttätigkeit besteht darin, Hunde vom Markt fernzuhalten und Radfahrer dazu aufzufordern, abzusteigen und ihr Rad zu schieben. Gestern beobachtete ich, dass er nebenbei auch Einkäufe erledigt. Seine Frau wird ihm einen Zettel mitgegeben haben, auf dem steht, was er mitbringen soll. Die Tüte mit den erledigten Einkäufen deponiert er bei einem Händler seines Vertrauens, damit er sie nicht den ganzen Vormittag mit sich herumschleppen muss. Was ich auch beobachtete, dass er für seine Einkäufe bezahlt. Ein Russe, der das mitbekäme, würde am Abend seinen Angehörigen am Telefon erstaunt berichten: „Stellt euch vor: Der Polizist, der hier auf dem Markt Dienst tut, bezahlt für seine Lebensmittel!“

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„Wir sahen, dass entgegen einer verbreiteten Meinung nicht der jüdische Charakter den Antisemitismus provoziert, sondern im Gegenteil der Antisemit den Juden schafft.“

(Jean-Paul Sartre: Überlegungen zur Judenfrage)

Das psychodynamische Geheimnis der Minderheitenjagd: Das, was die Menschen in sich selbst niederhalten, setzen sie aus sich heraus und bekämpfen es im Außen in Gestalt von Minoritäten und Abweichlern, denen das Verdrängte als Eigenschaft zugeschrieben und angeheftet wird. Ihre Verfolgung dient dem inneren Frieden der Verfolger und sichert deren Nachtschlaf. Es hat mit den Verfolgten nichts zu tun. Oder mit den Worten des Schweizer Schriftstellers Reto Hänny: „Äußeres weist innen auf Verschüttetes.“

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