„Den Menschen dort (in New Orleans, G.E.) war anderes wichtiger als Produktivität und Effizienz, jene kläglichen Tugenden, die bewirken, dass die Menschen aneinander vorbeihasten und keinen Sinn mehr für die Aufmerksamkeiten und kleinen Freuden des Alltags haben.“
(Rebecca Solnit)
Gestern sind wir am Nachmittag über Land in die Wetterau gefahren. Wir waren bei alten Freunden von U eingeladen und saßen bis Anbruch der Dämmerung im Garten. Es wurde gegrillt und gab leckere Sachen zu essen. In einem künstlich angelegten kleinen Teich quakten Frösche und die noch vorhandenen Vögel gaben noch einmal alles. U und ihre Freundin B waren als Teenies im selben Leichtathletik-Verein und sind seither das, was man beste Freundinnen nennt. Es gab auch in ihrer Freundschaft Phasen, in denen sie sich voneinander entfernten, aber sie fanden stets wieder zueinander. Solche lebenslangen Freundschaften zu pflegen und aufrechtzuerhalten, scheint Frauen besser zu gelingen als Männern. Ich habe jedenfalls keinen solchen Lebensfreund. W, der Mann von U‘s Freundin, hat ähnliche musikalische Vorlieben wie ich. Er installierte eine Bluetooth-Box und wählte über sein Handy die Stücke aus, die wir hören wollten. Es war ein angenehmer Nachmittag und Abend. Irgendwann war der Akku der Bluetooth-Box leer und es war nur noch das Quaken der Frösche im Teich und das Abendkonzert einer Amsel zu hören. Als es kühler wurde und die Dämmerung anbrach, trugen wir das Geschirr und die Flaschen ins Haus und fuhren nach Hause.
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Heute ist schon wieder Sonnenwende, und das Jahr beginnt, sich seinem Ende entgegenzuneigen. Einstweilen ist das kaum spürbar und es wird hoffentlich noch viele lange und warme Abende geben. U hat sich bereit erklärt, am heutigen Samstag für irgendein blödsinniges Projekt in die Schule zu kommen. Sie wird ihre Badesachen einpacken, und wir haben vor, uns gegen Abend an der Lahn zu treffen, um schwimmen zu gehen. U wird heute auf ihren Nachmittagsschlaf verzichten müssen, der ihr eigentlich heilig ist. Und das ausgerechnet am „Tag des Schlafes“, der in Deutschland heute begangen wird. Auch der Schlaf wird vom zeitgenössischen Optimierungswahn erfasst und Schlaf-Coaches verdienen sich an den verbreiteten Schlafstörungen eine goldene Nase. Der Rhythmus der rasenden Ökonomie dringt in die Poren des Alltagsleben ein und erweist sich als Feind des Schlafes, der nur eintreten kann, wenn man zur Ruhe findet. Der Schlaf wird ebenso zum Feind wie die Nacht, denn solange man schläft, verpasst man Chancen und ist den Angriffen der anderen hilflos preisgegeben. Der Schlaf des marktwirtschaftlichen Menschen ist daher kurz und flach wie der eines Wildtieres, und zwar um so mehr, je erfolgreicher dieser Mensch sein will. Der ideale Business-Mann schläft nie, genau wie die Finanzmärkte, und hält sich mittels allerhand Substanzen wach. Längst hat der Kapitalismus die Freizeit kolonialisiert, in die sich die Menschen flüchten wollen. Freizeit wird zu einer für den permanenten Konsum von Waren funktionalisierten Zeit. Für die ökonomische Vernunft ist der Schlaf verlorene Kapitalverwertungs-Zeit und allenfalls als notwendiges Übel zu akzeptieren. Ihm wird ein leider notwendiges Zeitfenster zugewiesen, in dem er effizient und optimiert zu absolvieren ist – wie die Betankung einer Maschine.
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Der 21.6.2025 ist interessanterweise auch der internationale „Yoga Tag“, die Themen Yoga und Schlaf haben eine gewisse Schnittmenge. Yoga avanciert immer mehr zur Optimierungstechnik und soll auch als Einschlafhilfe gute Dienste leisten. Landesweit finden heute jede Menge Werbeveranstaltungen zum Thema Yoga statt. Yoga hat seinen Weg aus Fernost in den kapitalistischen Alltag westlicher Gesellschaften längst gefunden und bewährt sich dort als Schmiermittel der Megamaschine.
In Washington erregten im Jahr 2015 dreihundert Banker Aufsehen, als sie zusammen mit dem Präsidenten der Weltbank, Jim Yong Kim, dem Zen-Mönch Thich Nhat Hanh und zwanzig seiner in braune Roben gekleideten Mitbrüdern eine „Gehmeditation“ mitten in Downtown veranstalteten. Beim „World Economic Forum“ in Davos, bei dem jedes Jahr die Mächtigsten und Reichsten der Welt zusammentreffen, steht seit einiger Zeit morgens um acht eine gut besuchte „Achtsamkeitsmeditation“ auf dem Programm, die eine Zeit lang der amerikanische Meditationslehrer Jon Kabat-Zinn leitete. Goldman-Sachs-Vorstand William George wies in Davos darauf hin, dass inzwischen Hunderte von Investmentbankern an der Wallstreet regelmäßig meditieren. Auch die Deutsche Bank und die EZB sollen mit Meditationsgruppen experimentieren. Wie kann man das deuten? Welcher Zusammenhang besteht zwischen Kapitalismus und Buddhismus? Es ist höchste Zeit, Max Webers Studie über die „Protestantische Ethik“ fortzuschreiben und zu fragen, welche Form der Religiosität zu welcher Stufe der kapitalistischen Entwicklung passt. Die protestantische Ethik schien Weber der mentale, ideologische Treibstoff der beginnenden kapitalistischen Akkumulation zu sein, die auf Sparsamkeit setzte und den erzielten Gewinn reinvestierte. Welcher Zusammenhang besteht zwischen Buddhismus und dem hochfluiden, spekulativen Kapital der Gegenwart, der zu einer perversen Verschmelzung von Spiritualität und Kapitalismus führt? Die Medienunternehmerin Arianna Huffington drückt es so aus: „Das, was für uns als Individuen gut ist, ist auch für die amerikanischen Unternehmen gut.“ Der Buddhismus treibt die Dialektik von Selbstverwirklichung und totaler Inanspruchnahme durch die Firma auf die Spitze, die in der neuen Unternehmenskultur ohnehin schon seit Längerem angelegt ist. Dem erleuchteten Angestellten verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeit und Leben, Büro und Privatsphäre. Bisher war das Büro nur in die sozialen, kulturellen und psychischen Schichten der Angestellten-Person vorgedrungen, nun könnte es auch noch ihre metaphysische Seite erobern und sie damit vollends in Besitz nehmen. Der sogenannte Flow, englisch für „Fließen, Rinnen, Strömen“, bezeichnet das als beglückend erlebte Gefühl eines mentalen Zustandes völliger Vertiefung und restlosen Aufgehens in einer Tätigkeit, die wie von selbst vor sich geht und keinen Anfang und kein Ende kennt. Die Unternehmen bedienen sich fernöstlicher Spiritualität, um ihre Bürowichtel in diesen für sie äußerst profitablen Zustand zu versetzen und ihr „Mindset“ zu kapitalisieren. Die Yoga-Lehrerin, die schräg über mir wohnt, begeht den Yoga Tag auf ihre Weise – mit dem jaulenden Staubsauger in der Hand. Nicht nur der Geist soll sauber sein, sondern auch die fast kahle Wohnung muss staub- und keimfrei sein.
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Meine Lektüren zur Zeit: „Museum der Einsamkeit“ von Ralf Rothmann, der einer meiner absoluten Heroen ist. Das Buch ist wieder mal eine Sammlung von Kurzgeschichten, eine Literaturgattung, in der es Rothmann zur deutschen Meisterschaft gebracht hat, wenn ich das mal so flapsig ausdrücken darf. Und Jonathan Lethem: Der Fall Brooklyn. Für mich ist dieses neue Buch von Lethem besonders interessant, weil es eine Sammlung von Alltags-Miniaturen aus diesem New Yorker Stadtteil darstellt und ich mich ja auch auf dem Feld der Alltagsbeobachtungen tummele. Lethem spielt natürlich in einer anderen Liga als ich kleiner Provinzschreiber, aber was soll‘s. Ich stieß bei ihm im Abschnitt 22 auf folgende Passage, die mir gut gefällt: „An jenem Abend wird der Dean-Street-Junge, dessen Mutter dafür geworben hat, etwas zu unternehmen, von ihr gefragt, wie es gelaufen ist. Ist er rausgekommen und hat mitgespielt? Na ja, irgendwie. Was soll das heißen, irgendwie? Der Junge sieht keine andere Möglichkeit, als das Ganze zu schildern: Der Neue konnte nicht von seiner Mutter losgeeist werden, oder vielleicht war es auch andersrum. Was dieser Junge nicht mit Worten ausdrücken kann, ist, dass eine grundlegende Voraussetzung für Kindheit darin besteht, heimlich von Beobachtung und Kontrolle befreit und für eine wilde, unglaubliche Zeit draußen auf der Straße zu sein.“ Wie wahr! Ich habe diese elternfreien Zeiten, die rar waren, auch immer sehr genossen. In diesen Augenblicken oder manchmal auch Stunden war etwas von Kindheit und Jugend, wie sie sein könnten, spürbar: ein Vorgeschmack von Freiheit, die wir vom Leben erhofften und erwarteten. Eingestellt hat sie sich freilich bis heute nicht, aber wir haben einen Geruch von ihr in der Nase und den Geschmack auf der Zunge.
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Vor 300 Jahren hat Antonio Vivaldi die „Vier Jahreszeiten“ komponiert. Gestern widmete der Sender „Arte“ Vivaldi einen ganzen Abend, für den ich dankbar bin. Zunächst wurde ein Konzert aus Venedig präsentiert, das die „Vier Jahreszeiten“ an verschiedenen Spielstätten darbot. Es folgte eine Doku über das Leben des barocken Künstlers. Dass er Priester war, wusste ich gar nicht. Ich wusste auch nichts von seinem dramatischen Niedergang, nachdem er zunächst gefeiert und hofiert wurde. Am stärksten beeindruckt hat U und mich eine tänzerische Umsetzung durch vier Choreographen und jeweils zwei Tänzerinnen und Tänzern. Den vier Choreografien lagen Max Richters moderne Bearbeitung der Vivaldi-Komposition zu Grunde, die das Original durch kleine Eingriffe beinahe unmerklich, aber doch spürbar verändert. Man kann den kompletten Vivaldi-Abend in der Mediathek nachverfolgen. Es lohnt sich anzuschauen!
Was mir als unverbesserlichem Linken und Leser von Henri Lefebvre zu den Vier Jahreszeiten einfiel, war, dass man diese Komposition als eine Verteidigung der zyklischen gegen die hereinbrechende lineare Zeit des Kapitals deuten kann. Der Konflikt zwischen diesen beiden Formen des Zeiterlebens prägte die Periode, als die mittelalterliche, bäuerlich-handwerkliche Welt im Sterben lag und die neue kapitalistisch-industrielle Ära sich noch nicht vollends durchgesetzt hatte. Für eine Weile existierten beide Formen der Zeitlichkeit nebeneinander. Die zyklische Zeit ist bestimmt von Rhythmus der Natur, den Jahreszeiten, der steten Abfolge von Aussaat und Ernte, der regelmäßigen Wiederkehr von Geburt und Tod. Die Zeit für menschliche Entwicklung verläuft zyklisch, hat ihre Kreise oder Spiralen und ist so wie die Zeit in den alten bäuerlichen Kulturen gewesen ist, wo die Zeitvorstellung abhängig war vom Wandel von Tag und Nacht, von den Jahreszeiten, von Festen, vom Leben. Die lineare Zeit unterteilt die Zeit in Fragmente und Abschnitte, die einem abstrakten Schema entsprechen. Diese Form der Zeit bildet die Substanz des Werts und misst die abstrakte, gleichförmige Arbeit, die in einer Ware geronnen ist. Henri Lefebvre hat seine Theorie der „kumulativen und nicht-kumulativen Prozesse“ in seiner auf Deutsch 1974 in der gelben Reihe bei Hanser erschienenen „Kritik des Alltagsleben“ entfaltet.
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Der FC Liverpool überweist an Bayer Leverkusen eine Ablösesumme von 150 Millionen Euro für den Stürmer Florian Wirtz. Dieser selbst soll eine Jahreseinkommen von 20 Millionen beziehen. Das sind einfach obszöne Summen, die jedes Maß sprengen. Zum Vergleich: Uwe Seeler erhielt in den 1960er Jahren ein Jahresgehalt von umgerechnet 7.200 Euro, Gerd Müller begann seine Karriere beim FC Bayern München im Jahr 1964 mit einem Anfangsgehalt von 800 Mark pro Monat.
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„An der Psychoanalyse ist nichts wahr als ihre Übertreibungen.“
(Theodor W. Adorno)
Wenn die israelische Armee serienweise gezielt Krankenhäuser im Gaza-Streifen bombardiert, weil sich angeblich Kommandozentralen der Hamas unter ihnen befinden, sind die dabei getöteten Zivilisten „Kollateralschäden“, die in Kauf genommen werden müssen. Wenn aber eine iranische Rakete, die sich kaum steuern lässt, ein Krankenhaus in Tel Aviv trifft, herrscht große Empörung. Das ist blanke Bigotterie. Völkerrechtsverletzungen gibt es auf beiden oder allen an gegenwärtigen Kriegen und Konflikten beteiligten Seiten, und das Völkerrecht stellt kaum noch mehr dar, als ein klapperndes juristisches Normengerüst, das seinen bindenden Charakter eingebüßt hat. Es gibt (fast) nur noch „Schurkenstaaten“, und es regiert das Recht des Stärkeren. Das Völkerrecht gilt nur für die anderen und für Schwächlinge. „Richtige Männer“ fackeln nicht lang. Kant wird sich angesichts des gegenwärtigen Umgangs mit dem Recht vermutlich unablässig im Grabe herumdrehen. Am Wochenende hat Donald Trump den Mullahs mal gezeigt, „wo der Hammer hängt“ und wie potent er ist. In Anlehnung an Lloyd deMause und Klaus Theweleit könnte man sagen: Trumps mächtiger amerikanischer Phallus drang tief in iranischen Boden ein und zerriss die iranische Vulva – eine zentrale Männerphantasie soldatisch-faschistischer Männer. Lloyd deMause hat gezeigt, dass es darauf ankommt, auf die Sprache der Bilder und die verwendeten Metaphern zu achten. Sie verraten oft mehr als der manifeste Inhalt einer Nachricht. Nicht zufällig lief diese im Übrigen völkerrechtswidrige Militäroperation unter den Namen „Midnight Hammer“. Putin und Trump sind auf demselben männlichen Holz gewachsen. Putin hat in den letzten Tagen noch einmal wiederholt, dass aller Grund, den der Fuß eine russischen Soldaten betreten hat, zu Russland gehört und er Anspruch auf die komplette Ukraine erhebt.
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„Immer versucht. Immer gescheitert. Egal. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“
(Samuel Beckett)
Am Samstag hatte ich nach zwei oder drei Jahren mal wieder einen Platten. Beinahe an der gleichen Stelle wie damals merkte ich, dass ich mit dem Hinterrad auf der Felge fuhr. Die Werkstatt an der Nordanlage war am Samstagnachmittag natürlich bereits geschlossen. So blieb mir nichts anderes übrig, als das Rad durch die große Hitze nach Hause zu schieben. Mit U‘s Hilfe schafften wir das Rad am Sonntagmorgen in den zweiten Stock, schoben es auf meinen Balkon und stellten es auf den Kopf. Ich löste den Mantel und zog den Schlauch heraus. Als ich diesen aufgepumpt hatte, fand ich schnell die undichte Stelle und platzierte einen Flicken über dem Loch. Bei Gelegenheit dieser Reparatur stellte ich fest, dass der Mantel marode ist und ersetzt werden muss. Der Ausbau des Hinterrads ist bei einem Hollandrad wegen des Kettenkastens und der Nabenschaltung ziemlich aufwendig und kompliziert. Das werde ich einem Profi überlassen müssen. Ich hoffe, dass die alternative Fahrradwerkstatt noch existiert und mein Rad in Reparatur und Pflege nimmt. Das Rad liegt mir am Herzen und ich möchte es in Ehren halten, da es ein Geschenk meiner inzwischen gestorbenen holländischen Freundin Gerda gewesen ist. Das Rad ist auch optisch eine Augenweide, vor allem im Vergleich mit den heutigen Sportmaschinen. Man radelt, sehr zum Ärger der rasenden Biker, ruhig und aufrecht im Sattel sitzend vor sich hin. Gerdas Rad ist das angemessene Vehikel für einen älteren Herren.
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Ob das Donald Trumps Billigung findet? Einer seiner Freunde und Unterstützer, der Amazon-Gründer Jeff Bezos, heiratet nicht etwa in den USA, sondern in Venedig. Schätzungen zufolge liegen die Kosten für die Hochzeit zwischen 10 Millionen und 21,5 Millionen US-Dollar, die nun nicht im Land bleiben, sondern vor allem Italien und venezianischen Geschäftsleuten zugute kommen. Das ist unpatriotisch und kann Trumps Zustimmung nicht finden. Bezos‘ zukünftige Frau stammt noch dazu aus Mexiko. Sie sieht übrigens aus, als stamme sie aus einem 3D-Drucker und als habe er sie als Aufblaspuppe bei Amazon bestellt.
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„Unsere Entschlossenheit zur Gewalttätigkeit bewies, dass wir keine Schwuchteln waren.“
(James Ellroy)
In Frankreich kam es am Wochenende auf Festivals zu rund 150 Spritzenattacken gegen Frauen. Zuvor waren in den sogenannten sozialen Netzwerken Aufrufe zu „Angriffen und Stichattacken auf Frauen“ verbreitet worden. Die Ermittler rätseln noch, wer hinter dem Aufruf steht. Hass auf Frauen ist der älteste Hass der Geschichte und leider weit verbreitet. In manchen Kulturen ist er endemisch und besitzt den Status einer „ethnischen Störung“, wie es bei Georges Devereux heißt. Der Hass auf die Frau speist sich aus Angst uns Enttäuschung, und ist letztlich Selbsthass. „Wenn man das eigene Spiegelbild nicht akzeptieren kann, zerbricht man den Spiegel“, heißt es in André Glucksmanns Buch „Hass“. Da auch bei vielen Amoktaten Frauen zu den privilegierten Opfergruppen gehören, habe ich mich in meinen Amok-Texten auch mit dem Thema Frauenhass und seinen möglichen Ursachen beschäftigt. Kurz gefasst lautet meine These: Viele Männer sind wegen einer unaufgelösten Symbiose mit der Mutter von der Sorge beherrscht, es könnte zu viel Weibliches und Weiches an und in ihnen sein. Der Zweifel an der eigenen Männlichkeit wird durch viriles Gehabe und Aggression gegen Frauen abgewehrt.
Inzwischen verdichten sich die Hinweise darauf, dass es sich bei der französischen „Spritzenattacke“ um eine medial ausgelöste Hysterie gehandelt haben könnte. Bei keinem der 145 angezeigten Fälle konnten Hinweise auf eine Einstichstelle gefunden werden. Warum sind so viele Frauen der festen Überzeugung gewesen, die seien gestochen worden? Weil es durchaus hätte sein können, weil es nicht mehr gibt, was es nicht gibt. Bei den Feierlichkeiten zur Eröffnung des Berliner Hauptbahnhofs stach im Jahr 2006 ein 16-jähriger junger Mann blindlings auf Passanten in der Menge ein. Er verletzt 37 Menschen, acht davon schwer. So viel zum möglichen Realitätsgehalt der in diesem Fall wohl fantasierten Spritzenattacke.
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„Die Zeichen stehen an der Wand geschrieben, aber auch die, die sie lesen, sind zur Ohnmacht verdammt.“
(Max Horkheimer)
Das Gemetzel auf dem Dach über Us Wohnung geht weiter. Dieser Tage landete eine Krähe mit abgetrenntem Kopf in der Dachrinne. Der Kopf wirkte wie abgeschnitten und stand aufrecht vor dem Schneegitter. Hitchcock hätte seine Freude an diesem Bild gehabt. Unwillkürlich fragt man sich, ob das ein Menetekel ist, ein Zeichen, nicht an der Wand, aber auf dem Dach. Und wie schon bei der toten Taube stellt sich die Frage: Wer macht so etwas? Unser Verdacht fällt inzwischen auf einen Marder, den ich unten auf der Straße zwischen den parkenden Autos auch schon einmal gesehen habe. Hoffentlich hat das Massaker nun ein Ende.
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D.W. Winnicott verglich die Arbeit des Psychoanalytikers und Erziehers mit der eines Gärtners, der eine Narzisse wachsen lässt. Er darf nicht so vermessen sein zu glauben, er „mache“ aus der Zwiebel eine Narzisse: Er ermöglicht es der Zwiebel, durch hinlänglich gute Pflege, sich zu einer Narzisse zu entwickeln. (Die spontane Geste, Stuttgart 1995, S. 70)
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In der Süddeutschen Zeitung stieß ich diese Tage auf eine Zeichnung von Luis Murschetz, die mir sehr treffend scheint. Man sieht junge Menschen in einem Zug- oder U-Bahn-Abteil, die alle auf ihren Handys herumwischen, die Hälfte von ihnen hat obendrein Kopfhörer auf den Ohren. Eine junge Frau, ebenfalls zwischen Kopfhörern eingeklemmt, postet gerade: „Bin so einsam!“
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„Wenn ein System seiner selbst entfremdet ist, ohne Feinde, ohne ausgleichende antagonistische Kraft, dann ist es vom Zusammenbruch der Gravitation bedroht. Das ist der Stand der Dinge.“
(Jean Baudrillard)
In Donald Trumps Anus herrscht derzeit großes Gedränge. Alle überbieten sich mit Unterwerfungsgesten, allen voran Mark Rutte, der Nato-Generalsekretär, der Trump eine SMS mit folgendem Wortlaut schickte:
Herr Präsident, lieber Donald,
ich gratuliere dir und danke dir für dein entschlossenes Handeln im Iran, das wirklich außergewöhnlich war und was sich sonst niemand getraut hat zu tun. Das macht uns alle sicherer.
Du wirst heute Abend in Den Haag einen weiteren großen Erfolg feiern. Es war nicht einfach, aber wir haben sie alle dazu gebracht, die Fünf-Prozent-Zusage zu unterzeichnen!
Donald, du hast uns zu einem wirklich sehr wichtigen Moment für Amerika, Europa und die Welt geführt. Du wirst etwas erreichen, was KEIN amerikanischer Präsident seit Jahrzehnten geschafft hat.
Europa wird kräftig zur Kasse geben werden – das sollte es auch – und es wird dein Sieg sein.
Gute Reise und wir sehen uns beim Dinner Seiner Majestät!
– Mark Rutte –
Entsprechend wohl fühlte sich Trump in Den Haag unter Lauter Hofschranzen und Arschkriechern. Die Tagesordnung war ganz auf ihn und seine Aufmerksamkeitsspanne, die bekanntermaßen die eines Fünfjährigen ist, zugeschnitten. Alle Nato-Mitglieder verpflichten sich, demnächst fünf Prozent des Brottoinlandsprodukts für Rüstung auszugeben. Dass ist ja nicht nur Geldverschwendung und ein riesiges Subventionsprogramm für die Rüstungsindustrie, sondern stellt auch politische Weichen in die falsche Richtung: weg von der Sozialpolitik und dem Sozialstaat, hin zu einem bis an die Zähne bewaffneten Leviathan. Im Gespräch mit der FAZ sagt Peter Sloterdijk: „Europa erlebt im Augenblick fast so etwas wie Glück. Wir haben wieder Feinde. Echte Feinde.“ Putin hat den krisengeschüttelten westlichen Gesellschaften einen großen Dienst erwiesen. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks suchte man verzweifelt nach einem neuen Widerpart. „Nach dem Sieg hat man es mit sich selbst zu tun“, sagte Toqueville. Moderne Nationalstaaten waren seither immer weniger in der Lage, eine bestimmte Zentralgefahr in der Gestalt eines äußeren Feindes zu unterstellen, um im Anschluss daran legitime und illegitime Ängste zu unterscheiden und die Loyalität der Bürger aufrechtzuerhalten. Seit die Teilung zwischen Ost und West nicht mehr existiert und kein feindlicher Block mehr auszumachen ist, den wir für unser Unglück verantwortlich machen können, hat sich der Feind fortgepflanzt in eine Vielzahl kleiner und mittlerer Satane, die in allen möglichen Formen und Gestalten auftreten können. Der „Weltkommunismus“ war der Feind, der hätte erfunden werden müssen, wenn er nicht schon vorhanden gewesen wäre – ein Feind, dessen Stärke die Verteidigungswirtschaft und die Mobilisierung des Volkes im nationalen Interesse rechtfertigte und es erlaubte, die innerkapitalistischen Konflikte und Spannungen zu verdrängen. Endlich habe wir wieder einen.
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Gestern Vormittag habe ich mein Rad in die Jugendwerkstatt gebracht. Anfangs war der Chef ein wenig unwirsch und wollte mich abwimmeln, weil sein Monteur offenbar überraschend fehlte. Dann aber erkannte er mich und das Rad, das er bereits mehrfach in Behandlung hatte, wieder und wurde freundlich. Er erstellte eine Liste der Dinge, die repariert werden müssen und versprach, sie an den Monteur weiterzugeben. Dieser werde sich bei mir melden, wenn das Rad abholbereit sei. Da es ein wunderbarer Sommertag war, beschloss ich, zur Lahn zu gehen, um eine Runde zu schwimmen. Ich ging durch Felder und Wiesen und bewegte mich unbeschwert, wie lange nicht mehr. Ackerwinden leuchteten weiß aus einem Weizenfeld, hier und da leuchteten die roten Blüten des Klatschmohns. Mannshohe Disteln blühten lila und zogen Bienen an. Ein Rotmilan kreiste über mir und verschwand dann in Richtung des Flusses. Im Schatten eines Baumes saß ein alter Mann auf seinem Rollator und stöhnte. Ich fragte ihn, ob er Hilfe benötige und hörte mir seine umfangreiche Krankengeschichte an. Er habe eine Thrombose im Bein und um Weihnachten herum eine Lungenembolie erlitten. Er solle sich jeden Tag bewegen, hätten die Ärzte ihm geraten. Nun müsse er sich aber erst mal ein wenig ausruhen und etwas trinken. Wo ich denn hinwolle, fragte er nach einer Weile. Ich sagte ihm, dass ich in der Lahn schwimmen gehen wolle, und verabschiedete mich, nicht ohne ihm alles Gute gewünscht zu haben. Ich erblicke in solchen alten Männern immer häufiger lebende Prophezeiungen. Ich entledigte mich meiner Klamotten und stieg über die Leiter am Steg in den Fluss. Auch das Schwimmen fiel mir an diesem Tag leicht und ich lag eine Weile auf dem Rücken im Wasser und ließ mich treiben. Der Milan zog über mir seine Kreise. Irgendwann stieg ich an Land und ließ mich vom warmen Wind trocknen, wie es die Kormorane tun, die mit ausgebreiteten Flügeln in den Bäumen am Ufer hocken. Noch die Kühle des Wassers auf der Haut, ging ich den Uferweg Richtung Stadt zurück. An einem Baum mit wilden Kirschen stillte ich meinen Durst. Bestimmt an die hundert dieser kleinen schwarzen und zuckersüßen Früchte pflückte und aß ich. Dann ging ich erfrischt und gekräftigt weiter. Es war ein guter Tag, und ich dachte: Solange es Tage wie diese gibt, ist das Leben noch der Mühe wert.
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Dass am „Elephantenklo“, wie die Gießener einen Fußgängerüberweg mit drei großen Löchern im Plateau, die an ein Plumpsklo erinnern, nennen, von vier Rolltreppen regelmäßig zwei nicht funktionieren, ist von einer gewissen Symbolik. Die nicht rollenden Treppen stehen für das Nicht-Funktionieren des Ganzen und den Stillstand, der in der Stadt und im ganzen Land herrscht. Für eine halbwegs intakte und stark integrierte Gesellschaft ist ein beschädigtes Instrument oder eine kaputte Uhr ein Skandal, der sofort beseitigt werden muss. Bei jeder defekten Maschine steht das Geschick der Menschheit, des homo faber, symbolisch auf dem Spiel. Eine Gesellschaft, die sich um solche Defekte nicht mehr kümmert und ihre Innenstädte und Parks verrotten lässt, ist verloren und wird zerfallen. Bei der gegenwärtigen Hitze liegt zu allem Überfluss ein Geruch von Fäulnis über der Stadt. Sie entsteigt den überquellenden Abfallkübeln und Mülltonnen. Es sind aber nicht nur Mülltonnen, die stinken. Auch Normen bürgerlicher Kultur zerstören sich selbst und ihre Institutionen ‚faulen‘. Das setzt nicht unbedingt Gestank frei, aber Aggression und Zerstörung. Diese bedürfen dringend einer intellektuellen und moralischen Kontrolle, sonst münden diese Zersetzungsprozesse in offene und blinde Gewalt und Destruktivität, die sich gegen jeden und alle richten kann.
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Immer mehr Gesten und Rituale, die ich aus dem Gefängnis kenne, sickern ins Alltagsleben der sogenannten anständigen Leute ein. Am deutlichsten ist das bei den Begrüßungsgesten junger Männer. Sie gehen aufeinander zu, schlagen die rechten Hände ineinander, dass es ordentlich klatscht, und deuten mit dem anderen Arm eine Umarmung an, die allerdings nicht zu lange dauern darf, denn das Ritual darf auf keinen Fall den Verdacht aufkommen lassen, es besäße eine homoerotische Komponente. Dazu wird etwas gesagt wie: Hey, Alter, was geht? Schön, dich zu sehen, Digger! und was der Begrüßungsformeln sonst noch sein mögen. Ich finde es interessant, dass Gesten aus dem Milieu von Gangstern und Kriminellen Eingang finden ins studentische Milieu. Die meisten der Studis wissen das wahrscheinlich nicht, aber sie tun es. Ich beobachte diese Szenen auf der Straße vor meinem Haus täglich. Manchmal vollziehen auch junge Frauen dieses Begrüßungsritual. Ähnliches gilt für die verbreitete Mode, sich tätowieren zu lassen. Als ich aufwuchs, galten Tätowierungen noch als sicherer Hinweis darauf, dass ihr Träger zur See gefahren war, Schausteller, die etwas despektierlich „Schiffschaukelbremser“ genannt wurden, oder mal im Knast gewesen ist. Es galt: Wer sich tätowieren lässt, ist entweder ein Wilder oder ein Zuchthäusler. Der italienische Kriminologe Cesare Lombroso meinte, dass, wenn ein Tätowierter stürbe, ohne zuvor einen Mord begangen zu haben, er lediglich durch einen Zufall zu früh gestorben sein könne. Einst waren Tätowierungen lebenslange Stigmatisierungen, die soziale Positionswechsel erschwerten, heute ist das Outgroup-Stigma längst zum Ingroup-Erkennungszeichen geworden. Selbst Mitarbeiter des Gefängnisses sind inzwischen tätowiert und bei Vorstellungsgesprächen muss man Tätowierungen nicht mehr unter Kleidungsstücken verbergen. Branding und Tätowierung erinnern an Praktiken der Sklavenhaltergesellschaft, als der Herr sein Eigentum durch Brandzeichen markierte. Kafkas Strafkolonie belegt drastisch, dass die Symbiose von Schrift und Körper nichts Gutes verheißt. Längst haben Tätowierungen in die „gute Gesellschaft“ Einzug gehalten. In der Sauna fällt eher auf, wer nicht gestochen ist, und Fußballprofis verbringen große Teile ihrer spiel- und trainingsfreien Zeit beim Tätowierer. In Gießen gibt es einen vielleicht 50-jährigen Mann, dessen Körper von Kopf bis Fuß tätowiert ist, auch sein Hals und Gesicht. Da bleiben Kinder trotz aller Normalisierung des Phänomens manchmal wie angewurzelt stehen und fragen ihre Mutter: „Was ist mit dem Mann?“ Unser ehemaliger Gefängnisarzt verbrachte einige Zeit damit, Gefangenen Tätowierungen zu entfernen. Mitunter schien ihm das unterstützenswert, nämlich dann, wenn dieser Wunsch zum Ausdruck bringen sollte, mit dem Verbrechen Schluss zu machen und einen wirklichen Neuanfang zu wagen. Im Jugendgefängnis gestochene Tätowierungen sollten den Entschluss zum Ausdruck bringen, ein Bandit zu sein und lebenslang zu bleiben. Man tätowiert sich, um zu signalisieren, dass man auf die Welt des Verbrechens angewiesen ist, weil man als Gezeichneter eine andere Karriere gar nicht mehr einschlagen kann. Es stellt oft eine Praxis der Selbstbindung dar, der lebenslangen Selbstverpflichtung zum Außenseiter- und Gangstertum. Eine Art von umgekehrter Rückfallversicherung. Wenn man dann am Ende einer langen Knastkarriere doch beschließt, eine „anständiger Mensch“ zu werden, muss die Selbstbrandmarkung entfernt werden, um symbolisch einen Schlussstrich zu ziehen und der Veränderungswunsch körperlich zu untermauern. Die Prozedur der Entfernung war langwierig und äußerst schmerzhaft, weil es natürlich noch keine Lasertechnik ab, sondern die gefärbte Haut wurde Schicht für Schicht weggehobelt. An der Stelle entstand eine Narbe, die an eine Brandwunde erinnerte. Manchmal bat der Arzt mich um eine flankierende Stellungsnahme, die die Ernsthaftigkeit des Veränderungswunsches bestätigen sollte. Einmal bahnte ich einem Tätowier-Magazin den Weg in den Knast und suchte Gefangene aus, die bereit waren, mit den Magazinleuten zu sprechen und ihre Tätowierungen fotografieren zu lassen.
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Schon wieder gab es eine Messerattacke. In Wangen in Baden-Württemberg ist ein 27 Jahre alter Mann von der Polizei erschossen worden. Der Asylbewerber aus Afghanistan soll die Beamten mit einem Messer angegriffen haben. Er sollte wegen eines Körperverletzungsdeliktes festgenommen und in Haft gebracht werden. Ein Polizist wurde bei dem Einsatz durch Messerstiche schwer verletzt, schwebt aber nicht mehr in Lebensgefahr. Im Laufe des ersten halben Jahres habe ich in der DHP bereits von acht oder neun Messerattacken berichtet, und das sind sicher nicht alle, die sich in Deutschland ereignet haben. Das Symptom einer allumfassenden Verrohung, die auch ein Produkt der Rückkehr von roher Gewaltförmigkeit in die Regelung innerstaatlicher und zwischenstaatlicher Konflikte darstellt. Das weltumspannende soziale Klima ist aufgeladen mit Gewalt, warum sollte das vor dem Alltag halt machen?
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„ … was für ein irrsinniges Schauspiel ein Milliardär im Kapuzenpulli ist.“
(Jarett Kobek. Ich hasse dieses Internet)
Gestern hörte und sah ich, dass das religiöse Oberhaupt des Iran sein Land zum Sieger des Krieges mit Israel erklärt hat, Donald Trump erklärt die iranischen Urananreicherungsanlagen für zerstört und jeden, der daran zweifelt, wie den Fernsehsender CNN, zu „Abschaum“. Wahrheit existiert nicht mehr, jeder kann behaupten, was er will. Orwell war noch zu optimistisch. An Trumps Äußerungen zur internationalen Lage fällt auf, wie privatistisch und infantil seine Sprache ist. Trump trägt selbst bei offiziellen Anlässen seine alberne rote Kappe und vollführt tapsige Bewegungen, Elon Musk bringt seinen vierjährigen Sohn zu Terminen im Oval Office mit, popelt vor laufenden Kameras und schmiert die Popel an den präsidialen Schreibtisch. Die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem verschwimmen, ein Phänomen, auf das Richard Sennett bereits vor über einem Vierteljahrhundert hingewiesen hat. Reife, dialektische Ich-Funktionen bilden sich zurück oder werden erst gar nicht mehr entwickelt. Sie sind aber unabdingbare Voraussetzung für einen zivilisierten Umgang miteinander im öffentlichen Raum. Wir erleben eine kollektive Infantilisierung, eine Regression auf das Stadium von Wiege, Lutscher und Rassel. Trump redet über internationale Beziehungen in einem Ton, der dem Quengeln eines schlecht gefütterten und enttäuschten Kleinkinds ähnelt: „Ich bin nicht zufrieden mit Israel. Wenn ich sage, okay, ihr habt jetzt zwölf Stunden Zeit, dann geht man doch nicht in der ersten Stunde los und legt alles nieder, was man hat, also bin ich nicht zufrieden mit ihnen. Mit Iran bin ich auch nicht zufrieden.“ Auch seine Vergleiche Russlands und der Ukraine mit sich prügelnden Jungs zeigen, auf welcher primitiven Stufe die Entwicklung seiner Sublimierungs-, Symbolisierungs- und Abstraktionsfähigkeit stehengeblieben ist. Es ist tragisch und dramatisch, dass solche Leute über unser aller Schicksal zu entscheiden haben. Die internationale Politik verkommt zu einer politischen Börse, an der die Großen und Großmäuler „Deals“ machen und die Kleinen über den Tisch gezogen werden. Als Donald Trump bei seiner Amtseinführung zu einer seiner ausufernden und erratischen Reden anhob, fragte der Simultandolmetscher des Senders Phoenix bei der Regie nach: „Sag mal, wie lang wollt ihr bei dem Scheiß bleiben?“ Er hatte natürlich keine Ahnung, dass seine Frage über den Sender ging.
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„In Buchenwald verlangt ein kleiner Franzose bei seiner Ankunft, unter vier Augen mit dem ihn empfangenden Beamten zu sprechen, der ebenfalls ein Gefangener ist: ‘Denn sehen Sie, ich bin ein Sonderfall, ich bin unschuldig.‘“
(Albert Camus: Tagebuch 1951–1959)
Heute habe ich – einem Hinweis von DHP-Leserin Anne aus Berlin folgend – mal wieder Warlam Schalamows Buch “Kolyma“ zur Hand genommen und war erneut erschüttert über seinen Bericht über das Leben in dieser sowjetischen Hölle, die im Namen des Kommunismus errichtet worden war und in der Schalamow insgesamt 16 Jahre verbringen musste. Das Buch ist 1967 auf Deutsch im Langen Müller Verlag erschienen. Wir hätten also Bescheid wissen können. Was hat viele von uns davon abgehalten, seinen Bericht zu lesen und das Gelesene zur Kenntnis und vor allem ernst zu nehmen? Sein Bericht – und der anderer – enthielt mehr Wahrheit, als viele von uns auszuhalten imstande waren. Inzwischen sind Schalamows „Erzählungen aus Kolyma“ vollständig und in einer neuen Übersetzung in vier Bänden im Verlag Matthes & Seitz erschienen.
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„In der Vorstellungswelt der Polis-Griechen rangiert der idiotés, der Privatmann, der Ungebildete, der unpolitische Mensch, der keinerlei Bezüge seiner individuellen Lebensweise zum Gemeinwesen herstellt und an den öffentlichen Angelegenheiten unbeteiligt ist, auf der gesellschaftlichen Skala ganz unten: Idiotie hat den Doppelsinn von Privatleben und Torheit.“
(Oskar Negt)
Am Sonntagmittag floh ich aus der innerstädtischen Hitze in den Schatten alter Bäume im Botanischen Garten. Auf dem Weg dorthin musste ich mich vorn im Park durch ganze Gruppen von Pokemon-Idioten hindurchkämpfen. Im Botanischen Garten nahm ich eine meiner Lieblingsbänke in Beschlag, setzte mich und hing meinen Gedanken nach. Zwei Stunden saß ich einfach so da und hielt meinen Kopf in die Luft, die von einem kräftigen Wind bewegt wurde. Der und die großen Bäume machten die Hitze erträglich. Ich hatte nichts dabei außer meinem Kopf, in dem die Gedanken herum mäanderten. Einfach so dazusitzen und nichts zu tun, das haben viel Zeitgenossen und -genossinnen verlernt. Es ist für die meisten unvorstellbar und ein Gräuel. Ab und zu stieg mir der Geruch der Füchsin in die Nase, die den Botanischen Garten zu ihrem Revier erkoren hat. Zu sehen bekam ich sie nicht. Ich dachte zum Beispiel an Warlan Schalamow, und fragte mich, wie ein Mensch 16 Jahre in einem sibirischen Straflager überstehen kann, in das man ihn wegen sogenannter „antisowjetischer Propaganda“ eingesperrt hatte – eine Praxis, die in Russland bis heute im Schwange ist, wie das Beispiel von Alexej Nawalny zeigt, der dort 2024 ums Leben gekommen ist. Irgendwann tat mir wegen der Härte der Bank der Hintern weh und ich trat den Heimweg an, nicht ohne vorher von einem Maulbeerbaum ein paar tiefschwarze Früchte gepflückt und gegessen zu haben.
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Alle paar Monate stelle ich mir die Frage: Hat die Fortsetzung der Durchhalteprosa Sinn? Wenn man bei der Beantwortung dieser Frage die Resonanz zugrunde legt, wie sie in der Anzahl der Abonnenten zum Ausdruck kommt, sind Zweifel angebracht. Wie viele Menschen insgesamt die DHP lesen, weiß ich nicht. Ein jüngerer Leser, der es sicher gut mit mir meint, hat mich darauf hingewiesen, dass es für den Erfolg vor allem wichtig sei, „eine Social-Media-Präsenz aufzubauen“. Eine jüngere Leserschaft erreiche man nur auf diesem Weg. Ich will mich aber aus Gründen, die ich oft dargelegt habe – unter anderem in Teil 4 der DHP „Über das Versprühen von „Ethiziden“ – auf so etwas nicht einlassen und meide die sogenannten sozialen Medien wie der Teufel das Weihwasser. Man kann gegen die Vollverblödung nicht dadurch angehen, dass man sie mitmacht. Auch wenn der Preis, den ich für diese Weigerung zu entrichten habe, hoch sein mag, werde ich dabei bleiben. Und dennoch der Herbert Marcuse-Parole folgen: Weitermachen!
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„Der Angeklagte, welchem unerlaubter Waffenbesitz vorgeworfen wurde, kam in Begleitung mehrerer Reporter, Wachbeamter und Schaulustiger in den Gerichtssaal. Der Staatsanwalt nickt dem Richter zu, und der Richter nickte den Beisitzenden zu, und diese nickten den Geschworenen zu. Jähe Zornesgewalt in Anspruch nehmend, zog der Häftling eine Pistole, schoss wild um sich und bemerkte, als der Rauch des wilden Feuers sich verzogen, dass nur noch er allein am Leben war. Da ließ er sich auf dem Richterstuhl nieder und knallte such noch den Ordnungsrufhammer über den Haufen. Es erübrigt sich, zu bemerken, dass der Häftling erneut wegen unerlaubten Waffenbesitzes, aber auch wegen mehrfachen Mordes und, bezogen auf den Hammer, wegen mutwilliger Sachbeschädigung angeklagt wurde.“
(Günter Brus: Amor und Amok)
Der österreichische Künstler und Schriftsteller Günter Brus ist am 10. Februar 2024 in Graz im Alter von 85 Jahren gestorben. 1970 wurde er wegen „Herabwürdigung der österreichischen Staatssymbole“ zu sechs Monaten verschärften Arrests verurteilt, weil er im Audimax der Universität Wien stehend urinierte und defäkierte, während er die österreichischen Bundeshymne sang. Er ging daraufhin eine Weile nach Westberlin ins Exil.
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