122 | Eine Ökonomie des Glücks

„In den sogenannten sozialen Medien, mehr und mehr ein Netzwerk der Asozialen, bereitet sich die totalitäre Staatsform der Zukunft vor.“

(Ralf Rothmann: Theorie des Regens)

Anlässlich der bevorstehenden Verrentung von U erinnerte ich mich daran, dass ich zur Zeit meines eigenen Eintritts ins Rentenalter eine Kolumne geschrieben habe, die „Der Sprung aus der Hamstertrommel“ betitelt war. Da sie recht gut die mit dem Ende des Arbeitslebens verbundenen Schwierigkeiten benennt, die nicht nur meine gewesen sind, füge ich sie hier ein.

Als ich neulich an einem Spätnachmittag vom Schwanenteich zurück Richtung Innenstadt ging, begegnete ich in der Gutfleischstraße einem älteren Justizwachtmeister. Er trug seine Aktentasche unter dem Arm und befand sich offenbar auf dem Weg nach Hause. Auf der anderen Straßenseite verließ sein Kollege das Amtsgericht, und er rief ihm über die Straße hinweg zu: „Schönen Feierabend und bis morgen!“ Diese kleine Szene enthüllt uns das Geheimnis der Berufsrolle und zugleich die Problematik des Rentner-Seins. In unserer Gesellschaft läuft die soziale Integration über die Arbeit. Wer, aus welchen Gründen auch immer, seine Arbeit verliert, verliert weit mehr als seine Arbeit. Er büßt seine Gesellschaftlichkeit ein und droht aus der Welt zu fallen. Da ist niemand mehr, der ihm abends sagt: „Tschüs – bis morgen!“

Rentner müssen lernen, selbst Pläne für den Tag zu entwickeln und sich für deren Realisierung einen zeitlichen Rahmen zu setzen. Sonst drohen Leere und ein Ertrinken in einem amorphen Zeitbrei. Ein Bekannter ruft mir, wann immer wir uns in der Stadt begegnen, schon von weitem zu: „Na, was machen die tagesstrukturierenden Maßnahmen?“ So nennt man im Jargon des psycho-sozialen Helfersystems ein Angebot für Rentner, die ihr Zeitgitter verloren haben, das die Arbeit zuvor in ihr Leben eingezogen hat. So möchte man Krankheiten vorbeugen, die sich nach dem Renteneintritt gehäuft ausbreiten. Krankheiten nisten sich im Körper ein, wenn das Leben nichts mehr hat, das es zu verteidigen und worauf es zu hoffen gibt.

Das Selbstwertgefühl des alternden Menschen wird von allen Seiten angenagt und droht zu erodieren. Es zog seine narzisstische Nahrung über weite Strecken des Lebens aus der Ausfüllung der Berufsrolle. Diese Quelle versiegt mit dem Eintritt ins Rentenalter abrupt. Leere und Einsamkeit, die Folgen dieser Entgesellschaftung, fallen wie ein Kälteschatten auf das Alter. Gehäuft kommt es in den ersten Jahren nach dem Eintritt ins Rentenalter zu Selbsttötungen. Männer, die wie Fische auf dem Trockenen liegen, gehen ihren Frauen auf die Nerven und gefährden den Fortbestand ihrer Ehe. Männer im Ruhestand werden oft skurril und für die Um- und Mitwelt schwer erträglich. Wir bräuchten eine Entgiftung von der Arbeitssucht, eine Art Detox-Kur für Menschen, die nach einem langen Arbeitsleben in den Ruhestand eintreten und lernen müssen, ohne regelmäßige Berufsarbeit zu existieren. Die Strafe von achtstündiger Arbeit, die diese Gesellschaft auf das Leben gesetzt hat, ist verbüßt. Doch was soll man nach Jahrzehnten in der arbeitsgesellschaftlichen Hamstertrommel schon tun? Bereits die Schule unterteilte die Zeit in kleine Abschnitte und unterwarf das Leben und Lernen dem stumpfsinnigen Rhythmus des Stundenplans. Die Kinder lernen pünktlich zu ein und stillzusitzen und vor allem, dass sie ihr Leben lang morgens irgendwohin müssen, wohin sie nicht wollen. Nach Jahren der Akklimatisierung an die Regelmäßigkeit will man schließlich, was man wollen soll, und kann sich ein Leben ohne Arbeit nicht mehr vorstellen. Wenn das arbeitsgesellschaftliche Joch von ihren Schultern genommen wird, gehen die meisten Leute weiter krumm und gebeugt durch ihr Restleben. Das Ableisten entfremdeter Arbeit ist den Menschen zur zweiten Natur geworden. Getrimmt auf externe Zeitregulierung, wissen sie mit dem plötzlichen Reichtum an freier Zeit nichts anzufangen und verhalten sich wie ein jahrelang im Käfig gehaltenes Tier, das, nachdem man ihm die Freiheit zurückgegeben hat, weiter seine Gitterstäbe abschreitet. Der Rentner, die Rentnerin könnten jetzt endlich damit beginnen, ihre zurückgestellten Jugendträume und die ungewordenen Möglichkeiten ihres Lebens zu realisieren, aber es läuft meist auf exzessives Staubwischen und Heimwerkertum hinaus. Jeder kennt die „Fensterrentner“: Auf ein Kissen gestützt lehnen sie sich in ihrer Wohnung aus dem Fenster und beobachten, was draußen los ist, wer falsch parkt und seinen Müll nicht ordnungsgemäß entsorgt. Das ist ihre Form der Weltteilnahme, sonst ist ihnen nichts mehr geblieben. Die Frau ist gestorben, die Kinder sind weggezogen und lassen sich nicht mehr blicken, die Nachbarn von einst leben woanders. Mancher greift angesichts eines weithin ungelebten Lebens und radikal vereinsamt zur Flasche und ersäuft die aufsteigende Verzweiflung in Alkohol.

Angesicht der über uns hereinbrechenden Digitalisierung benötigen wir in naher Zukunft ein gesamtgesellschaftliches Detox-Programm gegen die Arbeitsfixierung. Millionen von Menschen werden sich abgewöhnen müssen, sich über Erwerbsarbeit zu definieren. Wir müssten dringend eine breite gesellschaftliche Debatte darüber führen, ob wir die Digitalisierung weltumspannenden privaten Konzernen überlassen wollen, die sie im Dienst der Profitmaximierung vorantreiben. Wollen wir, dass Algorithmen und Roboter uns überflüssig machen, Online-Plattformen die Demokratie aushöhlen und unser Verhalten manipulieren? Oder gelingt es uns, die Kontrolle über die verselbständigte Ökonomie zurückgewinnen und sie demokratisch zu gestalten? Von der Beantwortung dieser Fragen wird es abhängen, ob sich die emanzipatorischen Potenziale der Digitalisierung entfalten können oder ob wir zu Anhängseln einer kybernetischen Technokratie werden.

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Je älter ich werde, desto deutlicher spüre ich, wie sehr ich durch meine Herkunftsfamilie trotz aller Brüche und Distanzierungen geprägt bin. Das zeigt sich auch in alltäglichen Gepflogenheiten. Neulich saßen U und ich beim Frühstück und wir schickten uns an, unsere Eier zu essen. Dabei fiel uns auf, dass wir uns den Eiern auf verschiedene Weise nähern. U klopft mit einem Löffel oder dem Messer auf das Ei und versucht dann, den oberen Teil des Eis vorsichtig von der Schale zu befreien. Sie polkt die geborstene Schale Stück für Stück vom Ei, was sich mitunter mühsam gestaltet. Ich hingegen „köpfe“ das Ei. Ich lege es in die linke Hand, nehme mit dem Messer Maß und schlage ihm dann die Kuppe ab. Dafür braucht es eine gewisse Festigkeit des Schlags, der aber auch nicht zu fest sein darf. Die Schale erhält auf diese Weise einen Riss, an dem entlang ich das Ei dann aufklappe. Ich salze beide Hälften, in dem ich Salz zwischen die Kuppen von Zeigefinger und Daumen nehme. Ich verspeise dann stets zunächst das Eiweiß, das in der oberen Hälfte verblieben ist, erst dann wende ich mich der unteren Hälfte zu, die das köstliche Eigelb enthält, das im Idealfall weich geblieben ist. Dazu esse ich eine Scheibe mit Butter bestrichenes Brot. U hingegen gibt ein wenig Butter auf ihr Ei und isst es ohne Brot, was bei uns zu Hause verpönt war. Dort war sogar geregelt, wie viel Brot man zum Ei zu essen hatte. Salz galt bei uns als ungesund und wurde gemieden. Außerdem überlagere es den Eigengeschmack des Eis, den man bei Einsatz von Salz gar nicht mehr mitbekomme. So schleppen wir, meist ohne uns dessen bewusst zu sein, in unseren Gewohnheiten unsere Eltern mit uns herum. Mit einem gewissen Erschrecken spüren wir an solchen Kleinigkeiten, wie viel Nicht-Ich in unserem Ich enthalten und wie groß der Anteil des von außen Übernommenen ist. Der österreichische Mediziner, Psychoanalytiker und Anarchist Otto Gross hat sich und uns zu einem antikolonialen Befreiungskampf gegen die entfremdeten Implantate eines fremden Willens aufgefordert, der zumindest in den Anfängen der elterliche Wille ist. Später schließen sich andere Autoritäten an die elterliche Vorunterwerfung an und setzen sich da gewissermaßen drauf. Es kommt zu einem lebenslangen Kampf zwischen dem Eigenen und dem Fremden, im Falle von Otto Gross mit tödlichem Ausgang. Ich hab mich in der DHP in Folge 109 etwas ausführlicher mit Otto Gross beschäftigt, den wir Linke nie hinreichend gewürdigt und aufgegriffen haben.

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Leider machen sich auch im Botanischen Garten immer mehr Vollpfosten und lärmende Menschen breit. Früher war das mal eine Oase der Stille und Besinnung, heute gehen Leute dorthin, um zu essen, Bier zu trinken und an ihre Handys hin zu brüllen. Oft werden die Handys laut gestellt und man hört das jeweilige Gegenüber in einem blechernen Klang gleich mit. Die Mitarbeiter haben keine Handhabe gegen solche Leute, weil die Gartenordnung aus einer Zeit stammt, in der es solche Leute und ihre Lärmmaschinen noch nicht gegeben hat. Gestern, als ich mich mit meinem Buch  auf einer Bank niedergelassen hatte, musste ich zwei Mal umziehen, bis ich einen halbwegs lärmgeschützten Ort gefunden hatte. Das permanente Jaulen der Martinshörner war natürlich auch hier zu hören. Meine Hirnantilope sprang zu einer Amsel in meiner Nachbarschaft. In den Bäumen saß dort schon vor Jahren einmal eine Amsel, die in ihren Gesang eine markante Quarte eingebaut hat, die sie stets zwei bis drei Mal wiederholte. Diese Quarte unterschied ihr Pfeifen von anderen Vogel- und auch Amselstimmen. Eines Tages ging ein kleines Kind an der Hand seiner Mutter durch die Straße und reagierte auf das Pfeifen der Amsel, indem es Tatütata rief. Da begriff ich plötzlich, woher die markante Eigenart im Gesang dieser Amsel stammen könnte. Auf einer nahegelegenen Hauptstraße fuhren auch damals schon zigmal am Tag Polizei- und Rettungsfahrzeuge vorüber, die das Martinshorn eingeschaltet hatten. Die Amsel hatte dieses Intervall derart oft gehört, dass sie diese Tonfolge übernommen und in ihren Gesang eingebaut hatte. Sie verhalf ihr zu einem Alleinstellungsmerkmal und damit möglicherweise zu einem Vorteil im Kampf um die Gunst weiblicher Amseln. So interpretierte ich den Alarmruf dieser Amsel bislang. Nachdem ich in einem Gewächshaus des Botanischen Gartens in den letzten Tagen eine Ausstellung zu Rachel Carson und ihrem Buch „Der stumme Frühling“ besucht habe, neige ich nachträglich dazu, die Amsel-Version des Martinhorns als eine an uns Menschen gerichtete Warnung zu interpretieren: „Wenn ihr nicht schleunigst etwas an eurem Lebensstil und eurem Umgang mit der Natur ändert und unsere Existenzbedingungen respektiert, werden wir euch mit eurem Lärm allein lassen.“ Die Amsel mit der markanten Gesangseinlage ist längst in die ewigen Jagdgründe eingegangen, aber in meiner Erinnerung lebt sie weiter und das ständige Jaulen der Martinshörner erinnert mich oft an sie.

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Musks Vermögen ist nach dem Zerwürfnis mit Trump an einem Tag um knapp 34 Milliarden Dollar auf 335 Milliarden Dollar (etwa 293 Milliarden Euro) geschrumpft. Weiter so! Noch zehn solche Tage und Musk kann sich mit einem Hut auf die Straße vor dem Trump-Tower setzen und hoffen, dass sein ehemaliges Idol ihm etwas hineinwirft. Der aber wird verächtlich auf ihn herabsehen und ihm den Hut wegtreten.

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Heute ist der 150. Geburtstag von Thomas Mann, den ich immer langweilig fand. In die allgemeine Geburtstagslobhudelei träufele ich ein wenig Galle von Thomas Bernhard, der dem ORF-Redakteur Kurt Hofmann in den 1980er Jahren sagte: „Wenn Sie heute die Zeitung aufmachen, lesen Sie fast nur irgendwas von Thomas Mann. Jetzt ist der schon dreißig Jahre tot, und immer wieder, ununterbrochen, das ist ja nicht zum Aushalten. Dabei war das ein kleinbürgerlicher Schriftsteller, ein scheußlicher, ungeistiger, der nur für Kleinbürger geschrieben hat. Das interessiert ja nur Kleinbürger, so ein Milieu, das der beschreibt. Das ist ja ungeistig und dumm. … Was der Kerl eigentlich dahergeschrieben hat über die politischen Sachen! Der war völlig verkrampft und ein typischer deutscher Kleinbürger.“ Im Ersten Weltkrieg fühlte Thomas Mann sich verpflichtet, „Gedankendienst mit der Waffe zu leisten“, indem er die „Betrachtungen eines Unpolitischen“ schrieb, die als eine Art Manifest des Antiwestlertums und geistige Mobilmachung gelesen werden können. Nach der blutigen Niederschlagung der Münchner Räterepublik wurden in der Mann‘schen Villa am Herzogpark die Kostbarkeiten, die man, um eventuellen Plünderern die Arbeit zu erschweren, versteckt hatte, wieder hervorgeholt und der Sieg der Konterrevolution gefeiert. Zur gleichen Zeit wurde Gustav Landauer von uniformierten Freicorps-Studenten im Münchner Gefängnis Stadelheim massakriert, seine Freunde Erich Mühsam und Ernst Toller für Jahre in Festungshaft genommen.

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Gestern sah ich Jagdszenen aus den USA auf Einwanderer, die an Bilder vom Ku-Klux-Klan und andere faschistische Hetzmeuten erinnern. Dubiose und teilweise nicht gekennzeichnete Polizeikräfte sprangen aus zivilen Fahrzeugen und zerrten Passanten, in denen sie „illegale Einwanderer“ vermuteten, hinein und transportierten sie ab. Das sind pogromartige, faschistische Praktiken, die dem Zweck dienen, Angst und  Schrecken zu verbreiten. In den Nachrichten der letzten Tage war zu sehen und zu hören, dass sich in etlichen Städten der USA, vor allem in Kalifornien, Widerstand gegen diesen Umgang mit Migranten formiert. Trump schickt Nationalgardisten und ist wild entschlossen, diesen Widerstand niederzuschlagen und auch gegenläufige Gerichtsurteile zu ignorieren. Herr Dobrindt und Herr Merz haben offenbar vor, ihm in diesem Punkt zu folgen und mit Migranten ebenfalls nach Belieben zu verfahren. Aber noch gibt es in Teilen Europas ein paar demokratisch-rechtsstaatliche Residuen, die dem Siegeszug des rechten Populismus und dem blanken machtpolitischen Zynismus‘ Grenzen setzen. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis diese geschleift sind. Die „Involution der Demokratie“ schreitet auch hierzulande voran. Peter Brückner und Johannes Agnoli haben diesen Begriff bereits in den späten 1960er Jahren geprägt und in die linke Diskussion eingeführt. In ihrem 1968 erschienenen Buch „Die Transformation der Demokratie“ bezeichneten sie mit ihm den komplexen politischen, gesellschaftlichen und ideologischen Prozess der Rückbildung demokratischer Staaten in vor- oder antidemokratische Formen der Herrschaftsausübung. In den parlamentarisch regierten Ländern sei die Involution dadurch gekennzeichnet, dass sie sich nicht gegen die geltenden Verfassungsnormen und –formen durchsetzen wolle, sondern sich ihrer zu bedienen sucht. Um die Demokratie zu transformieren, wird die Funktion der traditionellen Institute verändert und werden die Gewichte innerhalb der traditionellen Strukturen verlagert. An der Oberfläche bleibt das demokratische Wertesystem – die normativen, rechtlich-moralischen Ideen – erhalten. Peu à peu werden diese ausgehöhlt und ihres einstigen Sinns beraubt, bis der demokratische Rechtsstaat nur noch eine leere sprachliche Hülse ist, ein klapperndes Gerüst.

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In München ist es erneut zu einer Messerattacke gekommen. Eine 30-jährige Frau griff zwei Passanten an und verletzte sie. Als die Polizei die Frau festnehmen wollte, soll sie weiter mit dem Messer herumgefuchtelt haben. Daraufhin schossen die Beamten auf sie und sie erlag später im Krankenhaus ihren Verletzungen. Auch in Berlin kam es am Pfingstwochenende zu einer Messerattacke. Ein 40-jähriger Mann hat in einem Supermarkt einen Kunden angegriffen und schwer verletzt. Auch in diesem Fall scheint die Wahl der Opfer zufällig gewesen zu sein. Der Mann konnte festgenommen werden. Sein Opfer wurde notoperiert und überlebte die Attacke.

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„Hochmut kommt vor dem Fall“

(Sprichwort)

Fußballdeutschland ist unsanft auf dem Boden der Tatsachen gelandet: „Wir“ sind bestenfalls Mittelmaß und können mit den großen Fußball-Nationen wie Portugal, Spanien und Frankreich nicht mithalten. Die Meinung in Deutschland war vor diesem Turnier so: Jetzt gewinnen wir erst mal im Vorübergehen das Endrundenturnier der Nation League im eigenen Land, und dann werden wir im Jahr darauf Weltmeister. So etwas lautete die Agenda. Nun ist die Generalrobe gründlich misslungen: Deutschland ist am Ende nur Vierter in diesem Vierer-Miniturnier geworden. Warum schießen hierzulande die Größenphantasien immer so schnell ins Kraut: Eine halbwegs gelungene Teilnahme an einer Europameisterschaft genügt, um den Sieg bei der nächsten WM fest einzuplanen. Wer soll „uns“ denn schlagen? Wenn nicht das Handspiel von Cucurella im Viertelfinale gewesen wäre, hätten wir bereits die Euro gewonnen. Noch gestern im Finale wurde Cucurella über 120 Minuten bei jedem Ballkontakt ausgepfiffen. Da sind „wir“ extrem nachtragend. Dabei sollte jedem klar sein, dass Cucurella nichts dafür kann, wenn der Schiedsrichter sein Handspiel nicht mit einem Elfmeter ahndet. Hinter den durchgehenden Hoffnungspferden ist unschwer der Wunsch zu erkennen, es möge auch mit dem ganzen Land wieder aufwärts gehen. Häufig trifft diese Parallelisierung zwischen der allgemeinen gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Entwicklung und der sportlichen Erfolgskurve auch zu. Man kann das in der Geschichte der Bundesrepublik ganz gut nachverfolgen. Hans Woller hat es in seiner Gerd Müller-Biographie beschrieben: Kommt die Akkumulation des Kapitals ins Stocken, beginnt es auch im Fußball zu „rumpeln“. Was dann noch bleibt, sind die berühmten „deutschen Tugenden“, die allerdings heute nicht mehr ausreichen, um Titel zu gewinnen. Ein Jamal Musiala macht noch keinen Sommer.

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Der PC präsentierte mir heute beim Öffnen eine Liste der schönsten Botanischen Gärten Deutschlands, die der Reiseführer „Condé Nast Traveller“ erstellt hat. Die ersten Plätze belegen Augsburg, Bayreuth, Berlin, Bielefeld und Bochum. Unter den besten und schönsten 17 des Landes taucht Gießen nicht auf. Er gilt als der älteste botanische Universitätsgarten Europas, der noch an originärer Stelle zu finden ist und nicht verlegt wurde. Da ich andere Botanischen Gärten nicht kenne, kann ich mir kein Urteil erlauben. Mir gefällt der Gießener gut, mit den in letzter Zeit genannten Einschränkungen: der sogenannte Mitmensch, der mehr und mehr zum Gegenmensch und zur Brechreizerregung wird.

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Diese Meldung fällt in mein Ressort: Im österreichischen Graz hat an einer gymnasialen Oberschule ein Amoklauf stattgefunden, der mindestens zehn Todesopfer gefordert hat. Unter den Toten soll sich auch der Täter befinden, der sich am Ende seines mörderischen Wütens selbst erschossen hat. Außerdem soll es über zehn Schwerverletzte geben. Der junge Mann soll selbst diese Schule besucht, sie aber ohne Abschluss verlassen haben. Vielleicht deutet dieser Umstand eine Richtung an, in der man nach dem Motiv suchen kann. Schulen bleiben häufig auch nach dem Ende des Schulbesuchs das Epizentrum der erlittenen Kränkungen und man kehrt, wenn die Stunde der Rache gekommen ist, dorthin zurück. Der junge Mann aus Graz habe die verwendeten Waffen legal besessen. Laut Polizei habe er keine Vorstrafen gehabt und galt als unauffällig. Die Parallelen zum Fall des Robert S. aus Erfurt sprangen mir sofort ins Auge. Anlässlich des 20. Jahrestages das Amoklaufs habe ich auf Telepolis unter dem Titel „Ja, dann ist Schluss!“ an das damalige Geschehen erinnert: https://www.telepolis.de/features/Massaker-an-Schule-in-Erfurt-2002-Ja-dann-ist-Schluss-7062118.html Eine kommentierte Chronik der Schulamokläufe bis hin zu dem von Winnenden im Jahr 2009 findet man in meinem 2010 erschienenen Buch „ … damit mich kein Mensch mehr vergisst!“.

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Unter jungen Mädchen scheint ein Wettbewerb stattzufinden: Wer sieht bei lebendigem Leib so tot und roboterhaft aus, wie möglich. Manchmal erschrecke ich beim Anblick eines dieser Geschöpfe und frage mich: Ist das ein Mensch? Ihre Idole sind Rapperinnen, die aussehen wie Klone oder Geschöpfe aus Frankensteins Labor.

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Gestern Abend habe ich begonnen, auf Arte den Film „Acht Berge“ von Felix Van Groeningen und Charlotte Vandermeersch aus dem Jahr 2022 zu schauen. Da der Film sehr spät lief, habe ich den zweiten Teil heute in der Mediathek angesehen. Er erzählt von der Freundschaft zweier Männer, die sich als Kinder kennengelernt haben und sich dann im Erwachsenenalter wieder begegnen. Sie bauen gemeinsam hoch oben in den italienischen Alpen eine Hütte auf, die ihnen beiden gehören soll und die sie in den Sommern gemeinsam bewohnen wollen. Während Bruno im nahe gelegenen Dorf aufgewachsen und geblieben ist, stammt Pietro aus der Stadt, hat die Schule besucht und studiert. Wie so oft erweist sich die Liebe als der Tod der Freundschaft, wie Milan Kundera es einmal so treffend ausgedrückt hat. Bruno heiratet und bekommt Kinder, und auch Pietro verliebt sich, wenn auch weit weg in nepalesischen Bergen. Von der weiteren dramatischen Zuspitzung soll hier nichts verraten werden. Ich finde den Film sehenswert und kann euch nur raten, ihn in der Mediathek noch anzuschauen. Ein Film über die Kraft der Freundschaft und die Liebe zur Natur.

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„Paul McCartney hatte immer noch John Lennon, ich hatte nur meine dummen Brüder.“

(Brian Wilson)

Ich habe vor einiger Zeit bereits gestanden, dass ich für die Musik der Beach Boys etwas übrig hatte und bis heute habe. Nun ist Brian Wilson, der kreative Kopf der kalifornischen Band, im Alter von 82 Jahren gestorben. Seine beiden Brüder Dennis und Carl, die ebenfalls Bandmitglieder waren, sind bereits 1983 beziehungsweise 1998 gestorben. Brian Wilson hat die meisten der Stücke geschrieben, mit denen die Beach Boys berühmt wurden. Mein Lieblingsstück ist „Sloop John B“ aus dem Jahr 1966. Die Single mit „You‘re so good to me“ auf der B-Seite war meine erste eigene Platte, die leider im Laufe der Jahre verloren gegangen ist. Vielleicht habe ich sie auch entsorgt, als bekannt wurde, dass die Beach Boys 1983 für Nancy und Ronald Reagan im Weißen Haus gespielt haben. Während ich diese Zeilen schreibe, habe ich eine CD mit ihren Stücken aufgelegt und ich merke, wie mich die Musik noch heute packt und ein Teil von mir ist. Brian Wilson war keineswegs der Sunnyboy, den man in einem Mitglied der Beachboys und ihrem Surf-Sound vermutet hätte. Er litt viele Jahre unter Depressionen, denen er mittels einer Art von Selbstmedikation mit Alkohol Drogen zu begegnen suchte, und kannte schwere und schwerste Krisen.

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Vor U‘s Fenster, das auf der rückwärtigen Hausseite aufs Dach hinausgeht, liegen Taubenfedern. Ein Mord ist passiert, der Täter oder die Täterin noch nicht ermittelt. Tatverdächtig sind vom Falken, dem Waschbär und dem Eichhörnchen bis zu den Elstern und Krähen alle, die sich gelegentlich auf dem Dach blicken lassen und größer und kräftiger sind als eine Taube. Heute Morgen hat es eine der Federn zu mir hinuntergeweht. Sie hat sich an der Wäscheleine verfangen, die ich auf meinem Balkon gespannt habe, und dreht sich nun wie ein Windrad im kräftig wehenden Wind. Ein Zeugnis der Gewalttat, die sich auf dem Dach über mir abgespielt haben muss. Ich lasse sie einstweilen dort hängen, vielleicht wird sie noch als Beweisstück in einem tierischen Gerichtsverfahren benötigt.

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In den letzten Tagen und Wochen hat sich das Sterben der inhabergeführten Geschäfte in Gießen stark beschleunigt. Die Innenstadt verödet weiter rapide. In die Ruinen der aufgegebenen Geschäfte ziehen Bubble-Tea- und Donuts-Läden ein. Je mehr die Lieblosigkeit grassiert, desto besser gedeihen die Geschäfte mit Süßkram. Vor Jahren, als ich diese Behauptung zum ersten Mal in der Gießener Tageszeitung aufgestellt habe, wurde ich von einem Geschäftsinhaber heftig attackiert, der nun seinen Laden auch schließen muss. Er hatte sich beim Chef der Zeitung beschwert und er bekam dann die Gelegenheit geboten, eine Erwiderung im gleichen Umfang zu veröffentlichen, was er in Zusammenarbeit mit einem Kollegen auch tat. Der Tenor dieser Erwiderung war, wenn ich es richtig erinnere, dass ich alles viel zu pessimistisch und durch die linke Brille sähe. Die Zukunft der Innenstadt sei bei Weitem nicht so düster und es gelte bloß anzupacken. Miesmacherei führe nicht weiter. Was mich berührt hat, ist das Ende des Blumenladens vorn im Park. Von ihm war in der DHP häufig die Rede. Ich habe der Inhaberin, die den Laden nach ihrer Lehre als Floristin als junge Frau übernommen hat, zum Abschied ein kleines Geschenk gemacht. Eingewickelt habe ich das in einen Zeitungsartikel, der von einer Kriminaltherapeutin berichtet, die Menschen, die sie nach ihrem Beruf fragen und erschrecken, wenn sie ihnen erzählt, dass sie therapeutische Gespräche mit Kriminellen, Mördern und Vergewaltigern führe, sagt, dass die Floristin sei. Das sei für sie der Inbegriff eines friedlichen Berufs. Sie trage sich mit dem Gedanken, auf ihre alten Tage den Beruf einer Floristin noch zu erlernen.

Hab eben nach dem Text von mir gesucht, der damals den Unwillen der Geschäftsleute erregt hat, und ihn im Tagebuch des Jahres 2020 gefunden. Ich finde ihn auch heute noch zutreffend, eigentlich sogar mehr denn je. Hier ein Auszug:

„Das Sterben der Städte begann, als die großen Ketten den lokalen Einzelhandel zu vertreiben begannen. Die Mieten stiegen ins Unermessliche, immer mehr inhabergeführte Geschäfte kapitulierten. Ein Blick auf den Seltersweg bestätigt diese Entwicklung. Alle Fußgängerzonen gleichen sich, sie unterscheiden sich nur noch durch die unterschiedliche Anordnung der gleichen Läden. Je homogener die Städte werden, desto mehr ist von Diversität die Rede. Der Onlinehandel gab den Städten den Rest. Er kann Waren billiger anbieten, weil er keine Mieten zu zahlen hat. Den Städten bringt er gar nichts, weil er seine Steuern, wenn überhaupt, woanders zahlt und vor Ort auch keine Menschen beschäftigt und Gehälter zahlt. Er bringt nur Verödung und menschenunwürdige Arbeitsverhältnisse. Paketboten sind die Woyzecks unserer Tage. Richard David Precht hat vorgeschlagen, die Mehrwertsteuer auf den Onlinehandel drastisch zu erhöhen. Dann würde der Onlinehandel, der ja auch aus einer ökologischen Perspektive äußerst fragwürdig ist, so teuer, dass der lokale Einzelhandel wieder eine Chance hätte und das urbane Element der Städte wiederbelebt werden könnte. Alle wollen ihre Städte durch allerhand Schnickschnack attraktiver machen, wollen sogenannte Startups fördern und ansiedeln. Diese besitzen allerdings dieselbe Goldgräbermentalität wie die Ketten und ziehen, nachdem sie die lokale Anfangssubventionierung mitgenommen haben, schnell weiter Richtung Berlin oder in andere Großstädte. Wer im Kampf gegen die Verödung der Städte auf Branding, Leitbilder und eine sogenannte Startup-Kultur setzt, schickt sich an, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Manche fördern sogar die Ansiedlung von Online-Lagern auf ihrem Grund und Boden. Sie Städte konkurrieren gegeneinander, wer ihren Totengräbern die lukrativsten Angebote unterbreitet, statt ihnen gemeinsam Paroli zu bieten. Wenn Gießen nach einem Alleinstellungsmerkmal sucht, könnte es darin bestehen, dass die Stadt sich zu einem wahren Gemeinwesen entwickelt, in dem Demokratie tatsächlich die dominierende Lebensform wäre und Rücksichtnahme, Höflichkeit, Mitgefühl und Respekt das Alltagsleben bestimmen würden. Man könnte die Stadt als gemeinsames Projekt all derer begreifen, die in ihr leben und wohnen, als ‚unser aller Ding‘. Das hätte dann allerdings eine derart ansteckende Wirkung, dass es bald kein Alleinstellungsmerkmal mehr wäre.“

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In Erinnerung an Birgit Vanderbeke

Die Geschichte des Kapitalismus ist auch eine Universalgeschichte der Enteignung – zuerst Enteignung von Produktionsmitteln, dann von Lebensbedingungen, Wissen und Fähigkeiten. Macht besteht im Kern aus diesen Enteignungsprozessen. Es beginnt mit der Expropriation der Arbeiter von ihren Arbeitsbedingungen in der Phase der ursprünglichen Akkumulation und endet (vorläufig) bei der Dating-App Tinder, die den Leuten per Algorithmus den richtigen Partner auswählt. Die Enteignungspotenziale von Künstlicher Intelligenz können wir erst im Ansatz erfassen, ihre Durchsetzung kommt einer vollständigen Enteignung von Kompetenzen gleich. Ob uns ein Mensch gut tut, wird uns in absehbarer Zeit KI verraten, nicht mehr unsere Lebenserfahrung und Menschenkenntnis. Keine Lebensäußerung soll mehr außerhalb des Ware-Geld-Nexus verbleiben, aus allem wird Kapitel geschlagen, nichts darf unserer eigenen Kontrolle unterliegen. „Der Mensch wird – in dieser Gesellschaft – überflüssig, vorher schwinden seine Fähigkeiten“, notierte Max Horkheimer bereits Mitte der 1950er Jahre. Birgit Vanderbekes Roman „Das lässt sich ändern“ erzählt von dem Versuch, diese Enteignung zu stoppen und sich Lebensbedingungen wieder anzueignen. Adam, eine der Hauptfiguren des Romans, war „schon immer draußen“ und zieht ein Leben im Abseits einer Existenz mit Normalarbeitstag und geregeltem Einkommen vor. Er bereitet auf, was andere wegwerfen, und repariert, was kaputt gegangen ist. „Adam fand immer etwas Vernünftiges, das er der Vergänglichkeit entreißen und in eine Zukunft mitnehmen musste, die seiner festen Überzeugung nach dem heillosen Wahnsinn geweiht und ein Desaster würde, weil sie uns bis dahin so weit hätten, dass wir zu blöd zum Kartoffelschälen wären und nicht mal mehr einen Knopf würden annähen können.“ Fassungslos berichtete mir vor ein paar Tagen meine Gemüsehändlerin, dass eine Kundin auf einen Wirsingkopf gedeutet und gefragt habe, was das denn sei und was man damit machen und wie man den zubereiten könne. Wenn Macht aus Enteignungen rührt und auf ihnen basiert, gilt im Umkehrschluss: Macht erlischt in wieder angeeigneten Lebensbedingungen, die geschichtlich unter die Kontrolle von Herrschaft und Profit gebracht worden sind. Aneignung ist Selbstermächtigung und Aufhebung von Macht. Schon Rousseau wusste das, als er fragte: „Welches Joch kann man Menschen auferlegen, die nichts brauchen?“ Besinnen wir uns darauf, was wir können oder mal konnten, bevor die neue große Enteignungswelle einsetzte. Vielleicht liegt in diesem Ansatz die Chance, einer technikaffinen und staatsfixierten Linken wieder Leben, Aktualität und Strahlkraft einzuhauchen. Den Menschen exemplarisch zeigen, dass man auch anders leben kann, ohne entfremdete Arbeit und verblödenden Konsum. Längst bräuchte der menschliche Organismus nicht mehr als Arbeitsinstrument zu fungieren. Eine vom Terror der Ökonomie befreite Gesellschaft könnte ein Raum des Eros sein: eine sinnliche Welt der Ruhe, des Glücks, des Schönen, Raum für die Entfaltung menschlicher Möglichkeiten.

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Neulich habe ich erlebt, dass eine kleine Buchhandlung in der Hessischen Provinz nebenbei als Depot für Paketlieferungen dient und sogar durch ein vor der Tür aufgestelltes Plakat dafür wirbt. Auch online bestellte Bücher werden von dieser Buchhandlung angenommen und für die Leute aufbewahrt, die sie bestellt haben. Ich finde dieses Verhalten unterwürfig und würdelos. Wie sagte Brecht so treffend: „Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Schlächter selber“. Ein letzter überlebender Verkäufer in der Sportabteilung eines Kaufhauses erzählte mir neulich, dass es Leute gebe, die sich von ihm beraten und alle möglichen Modelle zum Anprobieren bringen ließen, um sich dann zu verabschieden und das entsprechende Modell online zu bestellen, wo es ein paar Euro billiger sei, weil es unter sklavenartigen Produktionsbedingungen und ohne lästige Umweltauflagen hergestellt worden sei. All die Leute, die jetzt beklagen, dass die Innenstädte sterben, haben durch solche Verhaltensweisen selbst zum Tod des Einzelhandels und der kleinen Geschäfte beigetragen. Auch das eben erwähnte Kaufhaus, das bereits ein paar Mal vor dem Aus stand, wird irgendwann dem großen Trend erliegen und kapitulieren müssen, was gleichzeitig das Ende der Gießener Fußgängerzone wäre. Wir alle wohnen diesen Tendenzen, auch wenn wir sie nicht aktiv unterstützen, passiv bei. Wir müssen zur Kenntnis nehmen: Die meisten Menschen wollen es nicht anders.

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„Im Grunde ihres Herzens jedoch erwartete sie ein Ereignis. Wie die Matrosen in Seenot, ließ sie verzweifelte Blicke über die Ödnis ihres Lebens schweifen und suchte fern am Horizont im Nebel ein weißes Segel.“

(Gustave Flaubert: Madame Bovary)

Seit gut einer Woche lese ich „Madame Bovary“ von Gustave Flaubert, in einer neuen Übersetzung von Caroline Vollmann, die mir ausgezeichnet gefällt. Ich hatte den Roman, an dem Flaubert zwischen 1851 und 1856 fünf Jahre lang gearbeitet hat, vor langer Zeit bereits einmal gelesen und war nun bass erstaunt, wie großartig er ist. Emma stolpert in eine freud- und ereignislose Ehe mit dem Landarzt Charles Bovary hinein und spürt sehr bald, dass sie in ein Gefängnis ohne sichtbare Gitter geraten ist. „Dann, nach der Heirat, ist es weggegangen, sagt man. Aber bei mir, entgegnete Emma, ist es nach der Heirat gekommen.“ Sie unternimmt in immer kürzeren Abständen kleine Fluchten in Formen dessen, was man Ehebruch nennt, und verwickelt sich in ein Gespinst aus Lügen, aus dem sie schließlich keinen Ausweg mehr findet. „Madame Bovary“ ist das einfühlsame Psychogramm einer Frau – aus der Feder eines Mannes. Heute würde sich ein solches Vorhaben sofort dem Verdacht „kultureller Aneignung“ aussetzen. Flaubert legte selbst eine Spur zur Erklärung des Rätsels seines außergewöhnlichen Einfühlungsvermögens, als er sagte: „Madame Bovary, das bin ich.“ Jean-Paul Sartre ist den Wurzelnd der Sensibilität des Gustave Flaubert in seiner fulminanten Flaubert-Biographie „Der Idiot der Familie“, die zwischen 1977 und 1979 in der grandiosen Übersetzung von Traugott König auf Deutsch im Rowohlt-Verlag erschienen ist, nachgegangen. Ich habe gerade mal die fünf Bände aus dem Regal gezogen, auf dem Balkon den Staub weggeblasen, der sich auf den dicken Bänden abgelagert hatte, und bei der Gelegenheit festgestellt, dass ich seinerzeit bis zu Band drei vorgestoßen bin. Dann habe ich vor der Sartre‘schen Gelehrsamkeit und Weitschweifigkeit kapituliert und nur noch einzelne Passagen gelesen, die mir mein Freund Lothar bezeichnet hatte. Ich erinnere mich, dass ich phasenweise nichts verstanden habe, dann aber durch einzelne Sätze oder Passagen für meine Mühe reich entschädigt wurde. Sartres Versuch, herauszufinden, „was man über einen Menschen wissen kann“, hat mir beim Versuch, die Rätsel meiner eigenen Biographie zu lösen und mich dem lebensgeschichtlichen Inkognito zu entreißen, sehr geholfen. Ich verdanke ihm und Peter Brückner die Erkenntnis, dass sich die Rätsel unserer Lebensgeschichten nur im Kontext der Geschichte unserer Gesellschaft lösen lassen. Lebensgeschichte und Geschichte sind wie zu einem Zopf verflochten.

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Gestern fuhr ich gegen Mittag mit dem Rad an die Lahn. Dort war es angenehm menschenleer und einigermaßen still. Ich setzte mich auf den Steg und las die letzten zwanzig Seiten der „Madame Bovary“. In der Erle über mir schwätzte unermüdlich ein Rotkehlchen. Ein Eisvogel raste vorüber, sein Gefieder blitzte auf, als er von einem Sonnenstrahl erfasst wurde. Zu meinen Füßen kreisten Schwärme winziger Fische. Wenn ich beim In-den-Fluss-Steigen einen Moment auf der untersten Sprosse der Leiter verharre, um mich abzukühlen, nähern sich die kleinen Fische und beginnen, an meinen Beinen zu knabbern. Es war wunderbar, eine kleine Runde zu schwimmen. Endlich lag ich mal wieder auf dem Rücken im Fluss und schaute in den blauen Himmel über mir, durch den vereinzelte weiße Wolken zogen. Ich dachte eine Weile über den Satz von Gustave Courbets: „Ich bringe selbst die Steine zum Denken“ nach, den ich dieser Tage irgendwo aufgeschnappt habe und der mich seither verfolgt. Er hat etwas Numinoses. Mir würde es schon reichen, wenn seine Kunst Menschen zum Denken brächte.

Anderntags musste ich gleich um 8 Uhr in die Apotheke, um ein Medikament abzuholen, das ich wegen meines Herzkaspers einnehmen muss und das ich gestern nicht mehr bekommen habe, weil das Rezept noch nicht auf meiner Krankenkassen-Karte lesbar war. Vorher machte ich noch einen Abstecher auf den Markt, wo ich unter anderem eine Schale schwarze Johannisbeeren erstand, die die Mutter meiner Gemüse- und Obstlieferantin gestern Abend gepflückt hat. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie mühsam das Pflücken von schwarzen Johannisbeeren ist, und bat Christine, ihrer Mutter einen Gruß und meinen Dank zu übermitteln. Als ich den Wochenmarkt kennenlernte, war Christines Mutter eine relativ junge Frau und selbst jede Woche drei Mal am Stand, um Handkäse und Sauerteigbrot aus dem dorfeigenen Backhaus an Mann und Frau zu bringen. Heute steht der nächste Generationenwechsel bevor, und die Enkelin wird den Staffelstab übernehmen und weitertragen. Jedenfalls ist das Christines Hoffnung. Vorn im Park saß ein jugendlicher Schulschwänzer auf einer Bank und daddelte auf seinem Tablet. Ihn hatte ich bereits auf dem Hinweg dort sitzen sehen. Ich kann mich selbst an solche Vormittag auf Parkbänken erinnern – allerdings ohne Tablet, dafür mit viel Angst und Schuldgefühlen. Es war noch kühl im Park und roch nach Sommer und frisch gemähtem Gras. Eine alte Dame sah zu, wie ihr Hund kackte, und lobte ihn überschwänglich. Ich hatte Zweifel, ob sie noch in die Hocke gehen konnte, um die Kacke ordnungsgemäß einzutüten.

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