120 | Der verschwundene Kirchturm

„Ich lebe in einer kranken Zeit, wie sollte ich nicht krank sein? Sie hat mich angesteckt.“

(Heinrich Heine)

Anderntags fahre ich mit dem Rad an die Lahn. Es ist noch einmal sonnig und sommerlich warm. Schon in der Bootshausstraße höre ich die erste Nachtigall des Jahres. Ich steige vom Rad, um ihrem Gesang eine Weile zu lauschen. Der Mai-Feiertag hat das Lahnufer in eine riesige Müllkippe verwandelt. Viele der schönsten Stellen sind mit Abfall übersät. Die zurückgelassenen Einweggrills blitzen im Sonnenlicht. Es stinkt. An der großflächigen Verteilung des Mülls haben die Krähen ihren Anteil, die Plastiksäcke aufhacken und sich über den Inhalt hermachen. Die wahren Schuldigen sind natürlich nicht die Krähen, sondern die Leute, die ihren Müll einfach zurücklassen. Auch am Steg liegt eine zerbrochen Bierflasche und gefährlich scharfe Scherben. Ich räume sie vorerst zur Seite und werde sie später zum Abfallbehälter vorn an der Straße mitnehmen. Ich ziehe mich aus und steige über die Leiter in die Lahn. Nach weniger Metern spüre ich, wie kühl das Wasser noch ist und rette mich ans Ufer. Aber ich war zum ersten Mal in diesem Jahr im Fluss und bin froh. Ich setze mich und beginne im Heine-Buch von Werner Steinberg: Der Tag ist in die Nacht verliebt, zu lesen. Heinrich Heine kämpft gegen seine rasenden Kopfschmerzen, seine innere Unruhe und die metternich‘sche Zensur, die ihn demnächst nach Frankreich ins Exil treiben wird, wo mal wieder Revolution ist. Er beschäftigt sich mit den Schriften von Saint-Simon, in dem er einen Bruder im Geiste erkennt. Nur knapp ist Saint-Simon in der Phase des auf die Revolution von 1789 folgenden Terrors der Guillotine entkommen. Er starb als schiftstellernder Einzelgänger 1825 in Paris. Sein Schüler und Sekretär Auguste Comte gilt als einer der Begründer der modernen, positivistischen Soziologie. Wenige Meter neben mir landet ein Eisvogel auf einem aufs Wasser hinausragenden Ast. Als er meiner Gewahr wird, gibt er sein Vorhaben, von hier aus auf die Jagd nach kleinen Fischen zu gehen, auf und fliegt davon. Ich höre seine schrillen, aufgeregten Pfiffe noch eine ganze Weile. Ich habe ihm die Tour vermasselt und entschuldige mich im Geiste bei ihm. Auf dem Abdeckgitter des Stegs begegnen sich zwei Spinnen, eine größere und eine winzig kleine. Sie bewegen sich aufeinander zu und ich fürchte für die Kleinere bereits das Schlimmste. Kurz vor dem Zusammentreffen weicht die größere Spinne der winzig kleinen aus, umkurvt sie und beide gehen ihres Weges. So geht es doch auch, denke ich. In den Bäumen entlang des Flusses sitzen Nachtigallen und singen, was das Zeug hält. Auch ein Kuckuck lässt sich auf einem nahen Baum nieder und lässt seine Rufe erschallen, die ich so lange vermisst habe. Kuckucksrufe und Frühling gehörten für mich als Kind untrennbar zusammen. Ich lese noch eine Weile und fahre dann durch die Müllwüste in die Stadt zurück.

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Bei der Fahrt eines Autofahrers in eine Menschenmenge in Stuttgart, bei der eine Frau zu Tode kam und mehrere Menschen zum Teil schwer verletzt wurden, soll es sich ausnahmsweise um einen „Unfall“ gehandelt haben. Der Fahrer des Geländewagens, ein 42 Jahre alter Deutscher, wurde nach Polizeiangaben festgenommen und befindet sich in Gewahrsam. Der Vorfall ereignete sich am 2. Mai gegen 17.50 Uhr an einer oberirdischen U-Bahn-Haltestelle. Warum sich die ermittelnden Behörden sicher sind, dass es kein Anschlag oder keine Amok-Fahrt war, erschließt sich mir nicht. Sie vermuten es wahrscheinlich, weil auch sein fünf Jahre altes Kind im Auto saß. Womöglich ein etwas voreiliger Schluss, denn es sind auch Szenarien eines familiären Dramas denkbar, in dessen Verlauf ein vom Verlassenwerden bedrohter Mann zum Mittel eines erweiterten Suizids greift und auch das Leben seines Kindes riskiert. Wenn man die Kindsmutter befragt hat, wird man mehr erfahren.

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Das Unwetter, das gestern über die Stadt gezogen ist, hat auf dem Alten Friedhof deutliche Spuren hinterlassen. Viele Äste sind heruntergebrochen, Nester aus den Bäumen geweht worden und zu Boden gefallen. Für etliche Vögel, die nun obdachlos sind, geht die Arbeit wieder von vorn los. Gut, dass noch keine Eier darin gelegen haben, jedenfalls fand ich keine zerbrochenen. Nahe des jüdischen Teils des Friedhofs hat der Sturm eine große und uralte Birke entwurzelt. Sie liegt quer über dem Weg und lässt kein Durchkommen. Heute habe ich besonders unter meinem Heuschnupfen zu leiden. Die Nase läuft, die Augen jucken und ständig muss ich niesen. Als das letzte Taschentuch aufgebraucht war und nichts mehr her gab, trat ich den Rückweg an. Zu Hause stellte ich fest, dass der starke nordwestliche Wind Wasser durch die maroden Fensterrahmen im Arbeitszimmer gedrückt hat. Weil das gelegentlich mal vorkommt, habe ich zur Sicherheit Papiertücher auf der Fensterbank ausgelegt, die die eindringende Feuchtigkeit aufnehmen. Die habe ich heute mal gegen frische gewechselt – für den nächsten Sturm.

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„Die Sache mit dem Sündenbock funktionierte wirklich, als noch religiöse Kraft dahinterstand. Man lud dem Ziegenbock die Sünden der Stadt auf und trieb ihn hinaus, und die Stadt war gereinigt. Es funktionierte, weil alle, einschließlich der Götter, wussten, wie das Ritual zu verstehen war. Dann starben die Götter, und plötzlich musste man die Stadt ohne göttliche Hilfe reinigen. Statt Symbolen waren richtige Taten gefragt. Der Zensor war geboren, im römischen Sinn. Wachsamkeit hieß die Parole: die Wachsamkeit aller allen gegenüber. Reinigung wurde ersetzt durch Säuberungsaktionen.“

(J.M. Coetzee: Schande)

Saskia Esken wird mir fehlen. Man hat sie geopfert, um des Scheins eines Neuanfangs willen. Man hatte ihr, als die Wahlkämpfe in den östlichen Bundesländern noch liefen, nahe gelegt, auf ihre schwäbelnden Talkshow-Auftritte zu verzichte und die fraglichen Bundesländer mit ihrer Anwesenheit zu verschonen. Sie personifizierte den Niedergang der SPD, ob ihr Zurücktreten aus der ersten Reihe ihn aufhalten wird, ist allerdings fraglich und zu bezweifeln. Sie ist, kann man vermuten, der Sündenbock, dem die Malaise der Sozialdemokratie aufgebürdet werden soll.

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„Das Volk sieht die Strafe, aber es sieht nicht das Verbrechen, und weil es die Strafe sieht, wo kein Verbrechen ist, wird es schon darum kein Verbrechen sehen, wo die Strafe ist.“

(Karl Marx)

Eine Meldung der „Hessenschau“ vom 5. Mai: „2024 wurden rund 450 Festmeter Holz aus dem Besitz von Hessen Forst gestohlen. Den Wert bezifferte ein Sprecher des Landesbetriebs mit rund 68.000 Euro. Gestohlene Holzmengen, die noch im Staatswald lagerten, jedoch schon erworben und bezahlt worden waren, würden dabei nicht erfasst. Die Spanne der Taten reiche vom Gelegenheitsdiebstahl bis hin zu Mengen, die mit Lastwagen transportiert würden.“ Die Meldung wurde von unserer Tageszeitung in beinahe identischer Form übernommen. Das ist ein typisches Beispiel für bürgerlichen Journalismus: Kein Wort wird verloren über den gesellschaftlichen Kontext, in dem dieser Holzdiebstahl stattfindet. Er ist und bleibt ein Indikator für Elend und Armut, die der eigentliche Skandal sind. Erinnern wir uns: An der Wiege des Marxismus standen Marx‘ Anmerkungen zu den Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz im Landtag der preußischen Rheinprovinz, in denen er den Nachweis lieferte, dass die Kriminalität der plebejischen Unterschichten dieser Epoche in direktem Zusammenhang mit deren massiver sozialen Notlage stand. Die Brot- und Getreidepreise entschieden über Anstieg und Fall der Eigentumsdelikte, der Wilderei und des Holzdiebstahls. Grundbesitzer und Bürger sahen in den Armen lediglich „verdorbenes Gesindel“, dessen Kriminalität man auf „Arbeitsscheu“ und „moralische Verderbtheit“ zurückführte. Dagegen betont Marx die gesellschaftlichen Bedingungen, ohne die bestimmte Formen der Kriminalität und vor allem ihr Ausmaß nicht möglich wären. Wer von diesen Umständen nicht reden will, sollte auch von der Kriminalität schweigen, die von ihnen treibhausmäßig gefördert werden. Eine Meldung, wie sie in der „Hessenschau“ und dem „Gießener Anzeiger“ verbreitet wurde, schürt lediglich Ressentiments und kurzschlüssige Reaktionen. Man ruft: „Haltet den Dieb!“, und lässt die wahren Diebe entkommen. Die wahren Diebe sind allerdings schwer auszumachen, und so präsentiert man der Öffentlichkeit kleine Gauner, an deren Verfolgung und Bestrafung ihr Rachedürfnis zur Ruhe kommen soll.

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Nachdem ich gestern Morgen im Radio von Merz‘ Scheitern im ersten Wahlgang gehört hatte, schaltete ich die Glotze an und verfolgte das weitere Geschehen auf dem Sender Phoenix. 18 Stimmen aus der schwarz-roten Koalition hatten Merz bei der Kanzler-Wahl gefehlt. Wo kamen die her, wer hat Merz die Gefolgschaft verweigert und warum? Gründe dafür gibt es zu Hauf in beiden Parteien. Politik-Experten wurden zu Rate gezogen, es wurde wild spekuliert, ob es sich um eine grundsätzliche Ablehnung der schwarz-roten Koalition handelte oder lediglich um einen Warnschuss. Ich geriet in den Bann der Berichterstattung und konnte mich erst von der Glotze lösen, als der zweite Wahlgang mit einem für Merz positiven Ausgang beendet war und er sich in Richtung Bundespräsident auf den Weg machte, um seine Ernennungsurkunde in Empfang zu nehmen. Da ich Herrn Merz und die Politik, für die er steht und die betreibt, nicht schätze, war ich im ersten Moment über sein Scheitern nicht traurig, dann aber wurde mir klar, wer aus seinem Scheitern Gewinn schlagen würde und meine Stimmung kippte. Chaos und Anomie, die nach dem ersten Wahlgang über dem Plenarsaal lagen, würden der AfD in die Karten spielen, deren Mitglieder feixend auf ihren Stühlen hockten. Ähnliche Befürchtungen und Überlegungen bewogen wohl auch die Grünen und die Linke, einer Änderung der Geschäftsordnung zuzustimmen, um eine Wiederholung der Abstimmung noch am selben Tag möglich zu machen. Jetzt wird die neu gewählte Bundesregierung den Nachweis erbringen müssen, dass es ihr gelingt, dem rechten Populismus den Nährboden zu entziehen. Wenn ich mir anschaue, welche Schwerpunkte die neu gebildete Regierung sich gesetzt hat und mit welchem Personal sie diese umsetzen möchte, habe ich starke Zweifel, ob ihr das gelingen kann. Wenn schon die Analyse des Erfolgs des rechten Populismus falsch ist, wie soll dann sein weiterer Aufstieg verhindert werden? Eine forcierte Digitalisierung ist sicher nicht die richtige Antwort auf grassierende Ängste und Ressentiments. Die vom Kapital bestimmte Weltzeit rast, die Menschen sind und bleiben in ihrer Mehrzahl eher langsam. Das ist der Kulturkampf, um den es letztlich geht. Immer mehr Menschen machen angesichts des forcierten gesellschaftlichen Wandels die Erfahrung von „Sinnentzug“: Darunter versteht Alexander Kluge „eine gesellschaftliche Situation, in der das kollektive Lebensprogramm von Menschen schneller zerfällt, als die Menschen neue Lebensprogramme produzieren können“. Was sie in Kindheit und Jugend gelernt und verinnerlicht haben, passt inzwischen auf kein Lebensgelände mehr so richtig. Sie haben mit dem Fortgang des Ganzen nichts mehr zu tun und fühlen sich angesichts des Zusammenbruchs des Reichs des Vertrauten verstört und entwertet. Der forcierte gesellschaftliche Wandel erschüttert das eingespielte Gleichgewicht zwischen der Struktur der äußeren Realität und der inneren Identitätsstruktur der Menschen und wird zur Quelle von Wirklichkeitsverlust und seelischer Krankheit. Das, was aus Gegenwart und Zukunft auf die Menschen zukommt, fügt sich ihrer Verarbeitungsroutine nicht mehr. Immer mehr bisher gut angepasste Menschen fallen aus ihrer Ordnung der Dinge und haben das Gefühl, dass der Film der äußeren Realität schneller läuft als der innere Text, den sie dazu sprechen. Sie sehnen sich nach stationären Zuständen und hoffen, dass eines Tages die äußere Realität wieder zu ihren inneren Texten passt. Diese Sehnsucht ist es, die sie in die Arme von politischen Strömungen treibt, die ihnen Entlastung durch rückwärtsgewandte Konzepte versprechen. Ich hörte einmal, wie ein italienischer Historiker vom Anthropologen Ernesto de Martino erzählte, der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts Feldforschung in Kalabrien betrieb. Einmal nahm er im Auto einen Bauern mit, um sich von diesem den Weg zeigen zu lassen. Als der Bauer sich irgendwann umdrehte und merkte, dass der Kirchturm seines Dorfes nicht mehr zu sehen war, geriet er in Panik. Für den interviewten Historiker und für uns, die wir heute diese Geschichte hören, ist der verschwundene Kirchturm eine Metapher: Heute ist für uns alle der Kirchturm verschwunden. Für den einen war es die Sowjetunion, für einen anderen die Gewerkschaft, für einen Dritten die Fabrik, für einen vierten das Wohnquartier. Der Kirchturm ist weg und damit der Mittelpunkt und das Metronom des Lebens. In der Folge verlieren die Menschen ihr Selbst und das Gefühl der Kohärenz – und wollen es wieder finden. Das scheint mir der Kernkonflikt der Gegenwart zu sein, dem man nicht mit weiterer kapitalistischer Modernisierung beikommen kann, wie Wissenschaft und Politik uns weismachen will.

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In letzter Zeit werde ich oft von der Triftigkeit der Freud‘schen Annahme überzeugt, dass Träume Wunscherfüllungen sind. In vielen meiner Träume bin ich beweglich wie in meinen besten Zeiten, spiele Handball wie ein junger Gott, laufe über Wiesen und durch Wälder und schwimme in Flüssen und im Meer. Und natürlich hoffe ich dann beim Aufwachen, dass diese Träume von einer möglichen Behebung meiner partiellen Lähmung künden und ich auf Besserung hoffen kann. Einstweilen nehme ich die Träume zum Anlass, verstärkt meine Übungen zu betreiben. Schön, dass wenigstens in meinen Träumen etwas von der einstigen „Leichtigkeit des Seins“ fortlebt. Umso schmerzhafter ist natürlich das Erwachen im Bewusstsein ihres Verlustes.

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Heute ist der 8. Mai und damit der 80. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus. Zeit, auch darüber nachzudenken, wo wir und wer wir wären, wenn es diese siegreiche militärische Intervention der Alliierten nicht gegeben hätte. Zeit auch, jener Menschen zu gedenken, die im Kampf gegen Nazi-Deutschland ihr Leben verloren haben. Gerade in jüngster Zeit werden wir vermehrt darüber belehrt, dass der Faschismus im Mai 1945 keineswegs ein für allemal untergegangen ist, sondern dass die Gefahr seiner Wiederkehr – selbst in einem seiner Ursprungsländer – bis heute nicht gebannt ist. „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“, heißt es bei Brecht. Unter dem „Schoß“ verstand Brecht die gesellschaftlichen Verhältnisse, aus denen der Faschismus hervorgewachsen war und bis heute hervorwächst.

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„In der Hoyt Street, zwischen Dean und Pacific, in einem heruntergekommenen Haus mit bröckelnder Fassade und abblätternder Farbe, erscheint in einem Fenster im zweiten Stock regelmäßig die Schreierin. So etwas wie eine albtraumhafte Rapunzel, ein weißes Mädchen, ins Haus verbannt. Sie blickt auf die Straße hinaus und schreit. Unverständlich, unberechenbar und verdammt laut! Wen schreit sie an? Jeden, der vorbeigeht. Manchmal niemanden, dann sind es bloß verrückte, in den blauen Himmel oder auf die stummen Fenster des katholischen Krankenhauses gerichtete Rufe.“

(Jonathan Lethem: Der Fall Brooklyn)

Immer häufiger kommt es vor, dass in der Fußgängerzone jemand herumbrüllt. Es sind in der Mehrzahl Männer, die brüllen und ihre Wut herausschreien. Ein konkreter Anlass ist meist nicht zu erkennen. Jemand brüllt an die Welt hin. Ganz allgemein, ohne Adressaten. Die meisten, vor allem die Frauen, schweigen in ihrem Elend. Sie versuchen nicht einmal, brüllend die Kluft zu den anderen und zur Welt zu überbrücken. Sie sitzen da und starren ins Leere. Eingeübt in das passive Hinnehmen unerträglicher Zustände, wohnen viele Menschen ihrem gestreckten sozialen Tod in mürrischer Geduld bei. Ihre Aggressionen werden in der Watte verinnerlichter Hemmungen stumpf und wenden sich in Gestalt von Depression oder Krankheiten gegen die eigene Person. Alle hatten mal Pläne für ihr Leben gehabt, die an der Wirklichkeit oder eigenem Unvermögen zu Schanden wurden. Jetzt sitzen sie auf den Trümmern ihrer Lebenspläne und warten auf den Tod oder ein Wunder. Warum brüllen eigentlich so wenige, wo doch so viele Grund dazu hätten?

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„Ich sage, seid Menschen. Wir sind alle gleich. Es gibt kein christliches, kein muslimisches, kein jüdisches Blut. Es gibt nur menschliches Blut.“

(Margot Friedländer)

Gestern ist Margot Friedländer im Alter von 103 Jahren gestorben. Seit sie im Alter von 88 Jahren aus den USA nach Berlin zurückgekehrt ist, widmete sie sich unermüdlich und bis zum letzten Tag dem Kampf gegen die Gefahr, dass Auschwitz sich wiederholen könnte.

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Pünktlich zur „Stunde der Gartenvögel“, die der Naturschutzbund Deutschland (NABU) einmal pro Jahr ausruft und mit einem Zählappell verbindet, sind „unsere“ Mauersegler zurückgekehrt. Heute Morgen hörten wir sie kreischend um den Block sausen. Gezählt haben wir sie nicht. Um zu registrieren, dass die Vögel von Jahr zu Jahr weniger werden, brauchen wir keine Statistik. Das kann man, wenn man ein Auge und ein Ohr für seine Umgebung hat, erfahren und erleben. Gestern sah ich auf dem Alten Friedhof völlig ausgemergelte Eichhörnchen. Sie leiden unter Nahrungsmangel und der anhaltenden Trockenheit. Auch das kann man ohne Statiskik und wissenschaftliche Expertise wahrnehmen. Deswegen führte mich mein erster Weg heute Morgen zu meinem Walnuss-Lieferanten. Gegen Mittag werde ich sie ihnen vorbeibringen. Hoffentlich komme ich nicht zu spät. Es war zu lesen und zu hören, die Eichhörnchen fielen mancherorts vor Entkräftung und dehydriert von den Bäumen.

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„Ihr kämpft für einen verlorenen Status quo, und euer Sieg ist was? Etwas besser funktionierende kapitalistische Verhältnisse. Das ist alles.“

(Rachel Kushner)

Seit Tagen habe ich keinen Eintrag für die DHP geschrieben. Stattdessen habe ich pausenlos gelesen. Welches Buch hat mich so gefesselt, dass ich nicht zum Schreiben gekommen bin? Es ist ein Roman von Rachel Kushner, der „See der Schöpfung“ heißt und auf Deutsch vor kurzem bei Rowohlt erschienen ist. Eine Agentin im Wartestand wird von einem Auftraggeber nach Südfrankreich geschickt, um dort eine Gruppe von öko-anarchistischen Aktivisten zu infiltrieren, die sich „Le Moulin“ nennen und Maßnahmen gegen den Bau von Megabassins planen, die der gesamten Region und damit der regionalen Landwirtschaft das Grundwasser entziehen wird. Es gelingt Sadie, Aufnahme in die Kommune der Aktivisten zu finden. Es werden Aktionen gegen eine geplante Landwirtschaftsmesse und einen dort anwesenden Staatssekretär geplant, die von ihr auf Geheiß ihrer Auftraggeber gezielt gefördert werden. Im Tross des Staatssekretärs wird sich auch der Schriftsteller Michel Thomas befinden, der so große Ähnlichkeit mit Michel Houellebecq aufweist, dass man sofort merkt, wer der eigentlich Gemeinte ist. Der intellektuelle Kopf der Moulinarden ist der über 80-jährige Bruno Lacombe, der sich in eine Höhle zurückgezogen hat, die er nur verlässt, um kryptische E-Mails an seine Gefolgschaft zu versenden. Bruno ist ein Weggefährte von Guy Debord gewesen, der einst Gründungsmitglied der „Situationistischen Internationale“ war und sich später erschoss. Es existierte auch ein deutscher Ableger der „Situationistischen Internationale“, der seinen Hauptsitz in München hatte und sich „SPUR“, dann „Subversive Aktion“ nannte. Ihr gehörten Dieter Kunzelmann, Frank Böckelmann, Herbert Nagel und zeitweise auch Rudi Dutschke und Bernd Rabehl an, die später zu Köpfen des Berliner SDS wurden. Böckelmann und Rabehl haben sich inzwischen auf die Seite der Neuen Rechten geschlagen. Rabehls Konversion berührt mich besonders, da ich mit ihm einmal recht gut befreundet war. Als ich Debord bei Kushner begegnete, zog ich sein Buch „Die Gesellschaft des Spektakels“ aus dem Regal und blätterte stundenlang darin herum. Es besteht aus rund 200 kurzen Passagen und Fragmenten, die man keineswegs der Reihe nach lesen muss. Alles ist gleich weit vom Mittelpunkt: der Gesellschaft der Ware und ihrem konsumistischen Irrsinn, entfernt. Das Buch und der libertäre Sozialismus seines Autors übten einen großen Einfluss auf die Neue Linke der 1960er Jahre aus. Bruno hat sich nach dem Scheitern der 68er-Hoffnungen auf eine Überwindung des Kapitalismus aus der Welt zurückgezogen und betreibt in seiner Höhle abseitige Forschungen zur Geschichte der Menschheit, von denen er seine Anhänger per E-Mails in Kenntnis setzt. Was mich besonders fasziniert hat, ist der Umstand, dass sowohl Bruno als auch Sadie unter einer Augenmigräne leiden, von der auch ich ab und zu heimgesucht werde und die sich in einem Flackern an den Rändern des Blickfeldes äußert und rund eine halbe Stunde lang anhält. Zum ersten Mal suchte mich diese Beeinträchtigung des peripheren Sehens bei einem von meinen Eltern verbotenen Besuch eines Kasseler Volksfestes heim. Ein paar Mal erwischte es mich später beim Autofahren und zwang mich, einen Parkplatz anzusteuern und zu warten, bis sie abklang. Zurück bleibt bei mir danach ein dumpfer, aber aushaltbarer Kopfschmerz. Der Ausgang des Romans ist überraschend und wird hier natürlich nicht verraten. Mich hat das Buch fasziniert, weil es derart verschiedene Ebenen miteinander kombiniert: das Alltagsleben in einer aktivistischen Kommune mit all den schrägen Charakteren, die sich hier einfinden und mischen; die Geschichte der Situationisten und der linken Bewegung und nicht zuletzt das eigenartige leere und indifferente Innenleben der Agentin Sadie, die eigentlich das ist, was man einen „abwesenden Menschen“ nennen könnte. Sie verkörpert einen hoch aktuellen sozialen Typus, der sich mehr und mehr ausbreitet und an Einfluss auf unser aller Leben gewinnt. Rachel Kushner hat einen ausgezeichneten und spannenden Roman geschrieben, der von Bettina Abarbanell ebenso grandios übersetzt worden ist und sich gut lesen lässt.

Die letzten Seiten des Romans las ich heute auf einer Bank auf dem Alten Friedhof neben dem Grab von Conrad Röntgen. Um mich herum raschelte es im Laub, weil Amseln auf ihrer verzweifelten Suche nach etwas Fressbarem ein Blatt nach dem anderen umdrehten. Es fand sich bei der Trockenheit kein Wurm weit und breit. Meine mitgebrachten Nüsse waren schnell verfüttert. Wenn die mitgeführten Vorräte aufgebraucht sind, dauert es eine Weile, bis die Eichhörnchen begriffen haben, dass es nun nichts mehr zu holen gibt und sie sich anderweitig umsehen müssen. Sie machten noch eine ganze Weile Männchen und schauten mich mit ihren Knopfaugen fordernd an. Zwei Schmetterlinge taumelten vorüber und umkreisten sich tänzelnd in der Luft. Eine Ballett der Lüfte, voller Anmut.

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Der Lärm nimmt keinen Anfang und findet kein Ende. Kaum ist eine Baustelle beendet worden, wird eine neue eröffnet. Drei Häuser weiter wird ein älteres Haus abgerissen, dessen Geschichte ich in den letzten Jahrzehnten verfolgt habe. Zuletzt haben dort zwei junge Araber ein Copycenter betrieben. Weil sie immer so übellaunig wirkten, wunderte ich mich, dass der Laden doch recht gut ging. Als Kunde hatte man Gefühl, sie bei irgendetwas zu stören, vielleicht beim Gebet. Achtung: Jetzt macht meine Hirnantilope einen Sprung, wenn auch nur einen kleinen. Der Urgroßvater von Erich Fromm betrieb in der Nähe von Würzburg einen kleinen Laden. Die meiste Zeit hockte er dort auf einem Schemel und studierte den Talmud. Betrat ein Kunde den Laden, wurde er ungehalten und sagte: „Gibt es hier denn keinen anderen Laden wie den meinen? Sie sehen doch, ich bin beschäftigt!“ Zurück zur nervtötenden Baustelle in meine Nachbarschaft. Krachend verrichtet ein riesiger Bagger sein Geschäft, Metall fährt kreischend über Beton und Mauerreste, Gesteinsbrocken werden scheppernd auf einen Lastwagen verladen. Über dem ganzen Gelände hängt eine graue Staubwolke. Noch in unserem hundert Meter entfernten Haus zittern Böden und Wände, die Gläser im Küchenschrank vibrieren. Gegenüber des Abrisshauses stehen auf dem Gehweg Gruppen von Zuschauern, die dem Niederreißen für eine Weile fasziniert beiwohnen. Dabei sehen wir Trümmerhaufen und eingestürzte Häuser seit der Bombardierung von Aleppo jeden Abend in den Nachrichten zur Genüge. Vor allem ältere Männer und kleine Jungen können sich kaum losreißen von der Abrissstelle. Die kleinen Jungen sind begeistert von der Kraft der riesigen Maschinen, die Älteren sehen in dem Abrissgeschehen womöglich eine Allegorie für die Vergänglichkeit allen Seins und den nahenden eigenen Tod.

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In Sartres „Idiot der Familie“ kommt irgendwo die Formulierung „konformistische Bösartigkeit“ vor. Dieser Begriff verfolgt mich seit meiner Lektüre vor drei Jahrzehnten. Er bringt etwas zum Ausdruck, und ich bemühe mich seither herauszufinden, was das sein und bedeuten könnte. Meine immer noch vorläufige Antwort: Es bildet sich im bürgerlichen Alltag ein Zugleich von Anpassung und Aggression, Fügsamkeit und Feindseligkeit heraus, eine konformistische Bösartigkeit: das Ressentiment des Beschädigten, der das Produkt von Reifung und Integration ist. Härte gegen sich selbst ist mit der Bereitschaft kontaminiert, gegen andere hart durchzugreifen, wenn diese sich nicht dieselbe Gewalt antun. Fehlt bei Anpassungsleistungen ein Zuwachs an Bewusstsein und auch an Lust, so erhält sich eine archaische Matrix von Aggression unberührt unter der dichten, versteinerten Decke der Konformität. Die aus Versagungen rührende Aggressionsspannung ist gesellschaftlich nützlich und wird auf Sündenböcke umgeleitet. Der sich akkumulierende Unmut wird kanalisiert in Richtung auf Sündenböcke, deren Verfolgung die Herrschaft noch einmal schont. Konformistische Bosheit heißt also: Unter einem dünnen Firnis von Anpassung liegt etwas ganz anderes bereit: die Neigung, alles in die Luft zu sprengen und die Zivilisation und ihre Verhaltenszumutungen hinter sich zu lassen.

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Eine neue Studie der „Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“ (OECD) zum Konsum digitaler Medien wartet mit einer Zahl auf, die selbst mich überrascht hat: 15-Jährige in Deutschland verbringen 48 Stunden wöchentlich an und vor Bildschirmen, also fast sieben Stunden am Tag. Fragen, mit denen ich mich seit dem Aufkommen der Smartphones beschäftige: Was bedeutet das für den Ich- und Weltbezug junger Menschen? Was für eine psychische Struktur bildet sich unter diesen Bedingungen aus? Die wild gewordene Weltzeit dringt in die Kinder- und Jugendzimmer ein und überlagert und zerstört die Zeitmaße, in denen ein Kind und ein Jugendlicher heranwächst, also den Zeitrhythmus, der erforderlich ist, um das Sprachvermögen eines Kindes, seine moralische Urteilsbildung und seine sozialen Fähigkeiten zu entwickeln. Auch das gehört zur systematischen Erzeugung von Psychopathen, von der in Folge 119 die Rede war. Das Leben heutiger Kinder scheint weniger durch elterliche und vor allem väterliche Härte gekennzeichnet sein, aber dafür leiden sie unter neuartigen Entbehrungen, die man als eine zeitgemäße Form der Kindsaussetzung bezeichnen kann. Indifferenz und Kälte, Bindungslosigkeit und Einsamkeit, inkonsistentes und unberechenbares Verhalten der Eltern bestimmen ihren Alltag. Zu erkennen ist das an den traurigen oder bereits erloschenen Augen vieler Kinder, dem Umschlag von kindlicher Neugier in Indolenz. Hier liegt auch eine mögliche Antwort auf die alte Goethe‘sche Frage, warum aus liebenswürdigen Kindern später oft so unausstehliche Erwachsene werden.

Ich habe mich schon vor Jahren unter der Überschrift „Zur Produktion des digitalen Menschen“ mit den in der Studie beschriebenen Tendenzen auseinandergesetzt: https://www.magazin-auswege.de/data/2018/11/Eisenberg_Digitalpakt.pdf

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Heute habe ich mir einen gebrauchten Tag andrehen lassen, wie man so sagt. Meine Hausschuhe standen verkehrt herum, mit der Spitze zum Bett. Die erste Feindseligkeit des neuen Tages. Der Testwurf mit dem zusammengeknüllten Taschentuch landete neben der Kloschüssel, und beim Versuch, in die Hose zu steigen, traf ich das Hosenbein nicht auf Anhieb und wäre um ein Haar gestürzt. Vor der Haustür eskalierte ein Konflikt mit einem Autofahrer, der mich auf dem Rad beinahe gerammt hätte und den ich daraufhin angeschrien habe, fast zur Schlägerei. Er wollte partout nicht begreifen, dass Radfahrer in einer ausgewiesenen Fahrradstraße, wie es unsere nun einmal ist, gewisse Privilegien genießen und Autofahrer Rücksicht zu nehmen haben. Rücksichtnahme – ich habe es oft genug betont – ist vom Aussterben bedroht, und doch kann gesellschaftliches Zusammenleben ohne sie nicht funktionieren. Es ist nur der besänftigenden Intervention von Passanten zu verdanken, dass der Mann sich wieder beruhigte und sein Auto bestieg, das er verlassen hatte, um sich auf mich zu stürzen. Das sind Tage, an denen man besser zu Hause und im Bett bleibt. Erst im botanischen Garten, als sich ein Rotkehlchen neben mich auf die Bank setzte, kam ich wieder zur Ruhe.

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Zu unserem Briefträger habe ich das, was man ein „nettes Verhältnis“ nennt. Wir kennen uns, weil er manchmal bei mir klingeln muss, weil eine Büchersendung nicht durch den Briefschlitz passt. Irgendwann hat er sich bei einer dieser Gelegenheiten mal meine Bibliothek angeschaut und war ziemlich beeindruckt, aber auch irritiert, dass ein Mensch derart viele Bücher um sich haben kann. Es kam natürlich auch zu meiner Lieblingsfrage: „Haben Sie die alle gelesen?“ Umberto Eco hat, um den Frager zu schockieren, auf diese Frage einmal so geantwortet: „Nicht bloß die, mein Herr, nicht bloß die!“ Gelegentlich bittet unser Briefträger mich, den Briefkasten meines Nachbarn zu leeren, der eine Neigung hat, die eingehenden behördlichen Schreiben, ja die Post insgesamt, zu ignorieren und im Briefkasten liegen zu lassen. Irgendwann ist dieser vollkommen verstopft und der Briefträger kann selbst beim besten Willen nichts mehr reinstopfen. Wenn er keinen Zugang mehr fände, müsse er eigentlich den Dienstweg beschreiten und melden, dass er die Post nicht zustellen könne, und dann könnte es sein, dass mein Nachbar Ärger bekäme. Also räume ich den Briefkasten vom Treppenhaus aus leer und trage den ganzen Berg von Prospekten, Mahnungen, Inkasso-Drohungen, Gas- und Stromrechnungen nach oben und lege ihn vor seiner Tür ab. Oben drauf lege ich einen Zettel, auf ich schreibe: „Schönen Gruß vom Briefträger …“ Die Magie der Verleugnung, die hinter diesem Verhalten meines Nachbar stecken mag, ist mir selbst nicht ganz fremd, aber ich letztlich bin ich dann doch so strukturiert, dass es im Rahmen bleibt. Aber ein Freund von Leitz-Ordnern wird in diesem Leben nicht mehr aus mir. Als ein leidlich geordnetes Chaos würde ich meinen Zustand beschreiben. Ich beneide die Leute nicht, die nach meinem Tod die Wohnung ausräumen müssen. In ein paar Tagen macht mir ein Freund die Steuererklärung für letztes Jahr. Ich kann mich nicht mehr lange davor drücken, die dafür notwendigen Unterlagen zu sammeln und zu ordnen. Meist stopfe ich den ganzen Papierkram in eine Einkaufstüte und schütte sie meinem Freund auf den Tisch, der dieses Verhalten mit auswegloser Gelassenheit erträgt. Da er ein fast libidinös zu nennendes Verhältnis zu Formularen, Tabellen und Leitz-Ordnern hat, ergänzen wir uns ganz gut. Ich bin jedes Mal erleichtert, wenn ich auf dem Rückweg einen großen Umschlag in den Briefkasten des Finanzamts einwerfe und die Sache für ein Jahr ausgestanden ist.

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Am Sonntag, dem 18. Mai, kam es in den Morgenstunden vor einer Bar in Bielefeld zu einer Messerattacke, bei der fünf Menschen zum Teil schwer verletzt wurden. Der Tatverdächtige, ein 35-jähriger Syrer, ist flüchtig. Nach ihm wird mit Hochdruck gefahndet. Die Verletzten sollen inzwischen außer Lebensgefahr sein.

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Am 19. Mai wurde in der Sendung Kulturzeit am Malcolm X erinnert, der vor 100 Jahren als Malcolm Little in Omaha geboren wurde. Als junger Mann landete er wie viele andere junge Schwarze im Knast. Dort las er alles, was er in die Finger bekam, und politisierte sich. In den 1960er Jahren wurde er zu einer Gallionsfigur der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Am 21.Februar 1965 wurde er bei einem öffentlichen Auftritt in Washington erschossen. Man fand an seinem Leichnam 21 Schussverletzungen. Die genauen Umstände und Hintergründe dieses Mordes wurden nie aufgeklärt. Polizei, FBI und CIA hatten ihn seit Langem im Visier. Sie hatten Kenntnis von den Attentatsplänen, unternahmen aber nichts zu seinem Schutz. Selbst wenn sie den Finger nicht selbst am Abzug hatten, tragen sie zumindest eine Mitschuld und haben mitgeschossen.

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Dass bei uns, seit ein paar Häuser weiter die große Baustelle eröffnet worden ist, die Erde bebt und die Wände wackeln, hat für mich auch eine symbolische Bedeutung: Alles wackelt und ist instabil. Demnächst könnte alles einstürzen und wir könnten das Dach über unseren Köpfen verlieren und den Boden unter unseren Füßen weggezogen bekommen. Das ist das Lebensgrundgefühl vieler Menschen. Auch meins.

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Was soll das sein: eine „wertebasierte Ordnung“, von der in letzter Zeit in jedem zweiten Politiker-Statement die Rede ist? Das sind sprachliche Leerverkäufe, Floskeln, Gerede, Mogelpackungen. Gerede, das für die meisten Menschen vollkommen bedeutungslos ist. Das gilt auch, worauf Klaus Theweleit hingewiesen hat, für die Rede vom „völkerrechtswidrigen Angriffskrieg“ Putins auf die Ukraine: „Das Völkerrecht ist Gerede. Daran können sich Leute halten, die einmal der Menschenrechtscharta zugestimmt haben, die anderen aber interessiert das null …“ Die Menschenrechtscharta und das Grundgesetz sind im intellektuellen und im Gefühlsleben des „Volkes“ nicht wirklich verankert und deswegen auch kein Bezugs- und Anhaltspunkt. In einer Gesellschaft, in der das Scheffeln von Geld zum nahezu einzigen Wert von Bedeutung geworden ist, sollte das Wort „Wert“ für die Börse reservieren werden.

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