„Unsereinem ist jede Strafwut … ekelhaft.“
(Theodor W. Adorno)
Als ich heute Nacht, von der Unzahl der Medikamente wachgehalten, durch die Wohnung taperte, hörte ich die Schreie und das Grölen der Betrunkenen, die vom Stadtfest kamen. Es war, so schien mir, kein Ausdruck von Lebensfreude und Fröhlichkeit, sondern von Verzweiflung. Es war diesen Schreien etwas Trauriges und zugleich Aggressives beigemischt.
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Neulich traf ich eine alte Bekannte. Auch sie ist seit einigen Jahren Rentnerin. Sie berichtete, dass es ihr ihr Sohn übel nehme, dass sie die heute übliche Oma-Rolle nicht ausfülle, sich um die Enkel kümmere und den Kindern den Rücken für die Karriere freihalte. Darüber sei es beinahe zum Bruch zwischen ihnen gekommen. Sei es denn unbotmäßig, dass sie am Ende eines langen Berufs-und Familienlebens auch mal Zeit für sich und ihre Neigungen beanspruche?
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Wenn ich über den Zustand unserer freundschaftlichen und politischen Beziehungen nachdenke, fallen mir die folgenden Zeilen aus einem Gedicht von W. H. Auden ein:
„Die Freunde, die hier sich trafen und umarmten, sind fort,
Jeder zu seinen eigenen Fehlern.“
Das für ihn und seine Generation prägende Ereignis war der Spanische Bürgerkrieg: Der Verrat der westlichen Demokratien an der Republik, die Folterkeller und die Morde der stalinistischen Kommunisten an den eigenen Genossen. Das alles wird ausführlich beschrieben im Buch von George Orwell: „Mein Katalonien“.
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Heute Morgen wurde ich vom Geräusch eines Pressluftbohrers aus dem Schlaf gerissen, der in der Nachbarschaft den ganzen Vormittag über einen infernalischen Lärm verbreitete. Als der endlich mal zur Ruhe kam, legte der Schreckensmann mit dem Laubbläser los. Unabhängig von der Jahreszeit wirft der zwei Mal in der Woche seine Höllenmaschine an. Er hat wohl einen Dauerauftrag und macht das stumpfsinnig jahrein, jahraus, gänzlich unabhängig davon, ob Blätter fallen und überhaupt Bedarf besteht. Alles egal, er wird dafür bezahlt. Er macht das auch gern zur Mittagsstunde, was laut Hessischer Lärmschutzverordnung eigentlich nicht zulässig ist. Laut dieser müssen die Laubbläser von 13 bis 15 Uhr schweigen. Aber, was soll‘s, solange sich niemand beschwert, wird‘s halt so gemacht. Über all dem liegt das apokalyptische Jaulen der Martinshörner, das ja eigentlich dazu da ist, uns in einen Alarmzustand zu versetzen. Wie soll man unter solchen Bedingungen einen Herzinfarkt auskurieren? Für Lärmgeschädigte und an den modernen Lebensbedingungen Leidende hielt Kierkegaard den Rat bereit: „Wenn ich Arzt wäre und man mich fragte: Was rätst Du? Ich würde antworten: Schaffe Schweigen.“ Theodor Lessing fragte schon 1908: „Wohin sollen wir Träumer entfliehen? Vielleicht zu den Sternen hinauf?“ Der Lärm ist die akustische Begleitung der kapitalistischen Modernisierung oder des Industrialismus überhaupt. Die Unterscheidung scheint mir inzwischen eine rein akademische zu sein, in puncto Raubbau an der Natur und Lärm laufen beide aufs Gleiche hinaus. Deswegen bin ich inzwischen gegen beide. Käme der naturbeherrschende Furor zur Ruhe, würde es insgesamt deutlich ruhiger werden. Wir würden dann wieder das Rauschen der Blätter im Wind und den Gesang der Vögel wahrnehmen können, wenn uns das Sensorium dafür bis dahin nicht abgestorben ist.
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Je rauer und sozialdarwinistischer das Alltagsleben im späten Kapitalismus wird, desto häufiger hört man das Wort „gerne“. Manchmal auch mit der Verstärkung „sehr gerne“. Es handelt sich um eine semantische Pandemie. Wenn ein Medikament, das ich verschrieben bekommen habe, in der Apotheke nicht vorrätig ist, sagt eine der Apothekerinnen zu mir: „Ich kann Ihnen das gern bestellen.“ Ehrlicher wäre es zu sagen: „Unsere Lagehaltung ist auch nicht mehr das, was sie mal war. Tur mir leid, wie haben das Medikament, das man Ihnen verschrieben hat, nicht vorrätig, aber ich kann es Ihnen bis morgen bestellen.“
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Im Wartezimmer der Hausarztpraxis setzt sich eine Frau neben mich, holt prompt ihr Telefon hervor und beginnt laut zu telefonieren. Da sie auch den Lautsprecher des Handys eingeschaltet hat, legt sie das Gerät vor sich in den Schoss und brüllt laut und für alle anderen Wartenden vernehmlich drauflos. Alle sind genervt, aber niemand sagt etwas. Auch ich nicht. Stattdessen verlasse ich das Wartezimmer und setze mich auf einen Stuhl im Flur. Was ist in den letzten Jahren passiert, dass es plötzlich so viel zu sagen gibt und dass vieles derart dringend ist, dass es sofort gesagt werden muss? Wo ist das Gefühl der Scham geblieben, dass einen früher befiel, wenn man Privates öffentlich aussprach oder zu hören bekam? Vielleicht sind das Begriffe, die im Zeitalter von Social Media ihre Gültigkeit längst verloren haben.
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A., der Mann unserer Pensionswirtin am Edersee ist gestorben. Im Laufe der Jahre haben wir den auf den ersten Blick grantig wirkenden Mann lieb gewonnen und ins Herz geschlossen. Er hat ein hartes Leben als Waldarbeiter und Nebenerwerbslandwirt geführt. Das hat ihn wortkarg und rau werden lassen. Er trug sein Herz nicht auf der Zunge und hatte für innere Vorgänge und weiche Regungen keine Sprache. Das hat ihm niemand beigebracht. Sein Ausdrucksmittel war die Posaune, die er virtuos beherrschte und unter anderem im Kirchenchor blies. In seinen jungen Jahren soll er ein guter und beliebter Kirmesmusiker gewesen sein. Am Scheunentor hängt ein Plakat, das einen Auftritt seiner Blaskapelle in den 1970er Jahren irgendwo im Sauerland ankündigte. Ihm verdanke ich den für mich wichtigen Hinweis auf die Wandervogelkolonie, die sich nach dem Ersten Weltkrieg auf dem Nachbarhof gegründet hat. In Folge 8 der DHP habe ich von meiner nachfolgenden Recherche berichtet. Zur Beisetzung konnten wir leider nicht an den Edersee fahren, weil ich bei meinem Arzt festsaß. Bei nächster Gelegenheit werden wir A‘s Grab einen Besuch abstatten und uns von ihm verabschieden. Vor ein oder zwei Jahren erzählte er mir einmal, dass auf ihrem Familiengrab eine zusammengerollte Kreuzotter in der Sonne gelegen habe. Er erblickte darin ein gutes Omen.
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Im Drogeriemarkt fiel mir schon in den Gängen eine Frau auf, die ständig kicherte. Sie war dunkel gekleidet und ihre Haare standen wirr vom Kopf ab. An der Kasse stand sie vor mir und verdrehte ständig die Ziffern des von ihr zu zahlenden Betrags. Ich dachte zunächst, das sei ihre Strategie, die Kassiererin wuschig zu machen. Aber sie konnte nicht anders. Sie zahlte dann und ging. Beim Verlassen des Ladens lachte sie schrill. Da merkte ich, dass es sich um eine der immer zahlreicher werdenden Stadtverrückten handelte. Später saß sie in der Fußgängerzone auf einer Bank und redete laut vor sich hin, unterbrochen von gelegentlichem lautem Gelächter. Das Motiv wird in ihrem Inneren zu finden sein, wo irgendwelche Dialoge stattfinden, die wir nicht hören können und mitbekommen. „Gedankenlautwerden“ heißt dieses Phänomen in der Sprache der Psychiatrie und gilt als Symptom einer schizophrenen Erkrankung. Mir ist dieses Phänomen im Gefängnis gelegentlich begegnet. Und selten auch bei mir selbst. Ich denke, das kennt jeder und jede, nur dass funktionierende verinnerlichte Hemmungen bei uns dafür sorgen, dass die inneren Dialoge nach außen hin stumm bleiben.
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Ein Artikel in der Wochenendausgabe der FAZ brachte meine in letzter Zeit etwas lahme Hirnantilope auf Trab. Ich erinnerte mich daran, dass es früher in unserer Straße einen Kiosk gab, die auf Hessisch Wasserhäuschen oder Büdchen genannt wurden. Es gab dort vor allem Zeitungen, Illustrierte und Zigaretten zu kaufen. Ab Mittag fanden sich etliche Dauergäste ein, die dort eine Flasche Bier tranken oder auch zwei oder drei, rauchten und herumschwadronierten. Auch Schnaps in kleinen Fläschchen wurde durch die kleine Luke an der Frontseite gereicht. Je weiter der Tag fortschritt, desto häufiger wurde nach Jägermeister und Boonekamp verlangt. Sie waren als Beschleuniger in Gebrauch. War nur ein Gast zugegen, entspann sich zwischen ihm und der älteren Frau, die den Kiosk betrieb, ein Gespräch. Dann tauchte das Gesicht der Betreiberin in der Durchreiche auf. Die Dauergäste waren in der Regel ältere Männer, die ihr Arbeitsleben beendet hatten. Studenten wurden argwöhnisch beäugt und waren nicht gern gesehen, allenfalls geduldet. Sie durften ihre Frankfurter Rundschau hier kaufen und eine Schachtel Rothhändle und sollten sich dann am besten schnell wieder schleichen. Man wollte am Kiosk unter sich und seinesgleichen sein und bleiben und reden, wie einem der Schnabel gewachsen war. Studenten standen unter Kommunismusverdacht und man begegnete ihnen mit Misstrauen. Jedes Stadtviertel hatte seinen eigenen Kiosk, man hätte die Stadt nach ihrer Lage kartographieren können. Je proletarischer ein Viertel, desto größer die Dichte der Wasserhäuschen und Kioske. Viele Arbeiter legten nach Arbeitsschluss einen Zwischenstopp am Kiosk ein, bevor sie nach Hause gingen, wo die Ehefrauen mit dem Essen warteten. Blieben die Männer allzu lang fort, wurde eines der Kinder ans Wasserhäuschen geschickt, um den Vater nach Hause zu holen und am weiteren Geldausgeben zu hindern. So war das, als es noch Fabriken und Arbeiter gab. Die Wasserhäuschen waren integraler Bestandteil der proletarischen Kultur. Überlebt haben hier einige gentrifizierte Kioske, die Bier an Studenten verkaufen und teilweise gut davon leben. Sie haben sogar Prosecco und alkoholfreies Bier im Angebot, was früher undenkbar gewesen wäre. Gerade noch rechtzeitig ist mir eingefallen, dass an unserem Kiosk auch Stumpen einzeln verkauft wurden, die aus der Zigarrenfabrik Rinn & Cloos stammten, die in Heuchelheim, einem Vorort von Gießen, ansässig war. Damals setzte bereits der Niedergang der Branche ein, und 1980 arbeiteten von einst beinahe 10.000 nur noch circa 1.000 vorwiegend weibliche Arbeitskräfte bei Rinn & Cloos. 1991 wurde der Betrieb dann ganz eingestellt. Das Zeitalter der Stumpen und Zigarren rauchenden Männer ging zu Ende, die Zigarette passte besser zum Tempo der Moderne. Zigarren wurden nur noch von alten Männern geraucht, die paffend vor der Haustür auf einer Bank saßen, weil Zigarren im Haus nicht mehr geduldet wurden. Meine Eltern, die nie geraucht haben, legten den Müllmännern zum Jahreswechsel ein Päckchen Stumpen auf die Mülltonne. Ein passionierter Zigarrenraucher ist mir in Holland noch begegnet. Der alte Herr Wielemaker betrieb in Biggekerke auf Walcheren einen Gemüseladen. Er hatte immer einen Stumpen im bereits zahnlosen Mund. Manchmal brannte er, manchmal nicht. Verstanden habe ich nie, was er mir erzählen wollte. Aber ich sehe ihn noch vor mir – in seinem bäuerlichen Blaumann, und höre das Klappern seiner Holzschuhe, wenn er über den Hof ging. Ich fuhr oft mit dem Rad bei ihm vorbei und kaufte irgendeine Kleinigkeit: ein Stück Sellerie, eine Karotte, eine Zwiebel oder ein paar Kartoffeln.
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In Gesprächen zwischen Ken Loach und Édouard Louis über „Kunst und Politik“ taucht ein Gedanke auf, den ich vor vielen Jahren auch schon mehrfach gedacht und formuliert habe. Er lautet im Kern so: Die Menschen sind umso toleranter und benötigen umso weniger Sündenböcke, je entspannter und besser ihre Lage ist. Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen dem Angst- und Panikpegel, der in einer Gesellschaft herrscht, und dem Stand der Demokratie. Oder anders: Wem am Erhalt der Demokratie gelegen ist, der sollte unbedingt am Sozialstaat festhalten und ihn ausbauen, statt ihn fortwährend zu demontieren. Demokratie ist auf einen niedrigen Angstlevel angewiesen. Bei Ken Loach hört sich das so an: „Wenn du dich in Sicherheit fühlst, kannst du großherzig sein. Wenn du keine persönliche Bedrohung verspürst, kannst du dich umso leichter denjenigen zuwenden, die Hilfe benötigen, sei es, dass sie Asyl suchen oder aus einem anderen Grund, aus eigentlich jedem Grund, mit dem sie eine Gemeinschaft konfrontieren mögen. Wer sich wohlfühlt, kann großzügig sein. Wenn du Angst hast, dich in Gefahr siehst, hoffnungslos bist, in den Zynismus getrieben wirst, dann wehrst du die anderen ab.“ Toleranz gedeiht auf dem Boden elementarer Sicherheiten und befriedigter menschlicher Grundbedürfnisse. Das sollten wir uns hinter die Ohren schreiben.
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In der Stadt begegnete ich einen alten Freund, der Mitglied im Georg Büchner-Club war und regelmäßig dessen Veranstaltungen besuchte, bis die Pandemie diesen ein Ende setzte. Später haben wir ihn wegen der zu erwartenden Konflikte und Querelen um den Ukraine-Krieg, den Krieg in Gaza und die Gründung der Wagenknecht-Partei nicht wiederbelebt. Binnen Kurzem würden dermaßen die Fetzen fliegen, dass eine Wiederbelebung keinen Sinn hätte und nur mit Stress verbunden wäre, war unsere Befürchtung. A vermisst, wie im übrigen auch ich, die regelmäßigen Veranstaltungen und Begegnungen und schlug vor, man könne ja die strittigen Themen ausklammern. Ein linker Diskussionszirkel und Jour fixe, der alle aktuellen und auf den Nägeln brennenden Themen mit einem Tabu belegt? Das erinnerte mich an das Verhalten eines Mannes, der einen Psychoanalytiker aufsucht und von ihm die berühmte Grundregel erläutert bekommt, alles zu sagen, was ihm in den Sinn kommt. Daraufhin erwidert der Mann: „Gut, wir können über alles reden, nur lassen Sie bitte meine Frau Mutter aus dem Spiel.“
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„Das Monströse ist der Ernstfall der Humanität.“
(Gerhard Rehn)
Ausgerechnet in Solingen, das berühmt ist für seine Messer aus Edelstahl, ereignete sich am Freitag, den 23. August 2024, eine blutige Messerattacke. Auf einem Stadtfest zur 650-Jahr-Feier der Stadt stach ein bislang unbekannter Mann gegen 22 Uhr wahllos auf Menschen ein, tötete drei und verletzte acht weitere zum Zeil schwer. In der sich ausbreitenden Panik gelang es dem Täter, unerkannt in der anonymen Masse der Besucher zu verschwinden. Bis heute konnten man seiner nicht habhaft werden und es wird unter Hochdruck nach ihm gefahndet. Die Mutmaßungen über den Täter und seine Motive gehen in alle möglichen Richtungen, die Gerüchte wabern und flattern umher wie Fledermäuse in der anbrechenden Dunkelheit. Der Tathergang lässt ein Muster dschihadistischen Terrors erkennen, wie wir ihn in jüngster Zeit verschiedentlich erlebt haben. Mich erinnerte die Solinger Tat aber auch an eine Messerattacke im Mai 2006 während der Feierlichkeiten zur Eröffnung des Berliner Hauptbahnhofs, als ein junger Mann blindlings auf Passanten in der Menge einstach. Er verletzte 37 Menschen, acht davon schwer. Die Zahl der Messerattacken im Alltag ist inzwischen Legion. Der einsam operierende Amokläufer, ob mit oder ohne islamistischen Hintergrund, verkörpert die dunkle Seite unseres Alltags, seinen verborgenen Schrecken. Messer gibt es überall zu kaufen, mit einem Messer kann jeder sofort zustechen. Es ist, wie der Göttinger Soziologe Wolfgang Sofsky bemerkte, „die demokratische Waffe par excellence“, auch dann, wenn die meisten Täter mit Demokratie nichts am Hut haben und sie verachten. An eine Schusswaffe ist viel schwerer heranzukommen und ihr Gebrauch will erlernt sein. Je mehr eine Waffe beherrscht werden muss, desto mehr wird ihr Gebrauch zum Privileg von trainierten Fachleuten und Spezialisten. Freilich begrenzt das Messer als Waffe auch die Zahl der potenziellen Opfer. Es werden bei einer Messerattacke selten mehr als zwei oder drei Menschen getötet.
Am Sonntagmorgen wurde bekannt, dass sich am Vorabend ein 26-jähriger Syrer der Polizei gestellt und die Tat gestanden habe. Der mutmaßliche Täter soll Ende Dezember 2022 nach Deutschland gekommen sein und in Bielefeld einen Antrag auf Asyl gestellt haben. Zuletzt habe er in einer Flüchtlingsunterkunft in Solingen gelebt. Einer im letzten Jahr geplanten Abschiebung nach Bulgarien, wo er zunächst einen Asylantrag gestellte hatte, entzog er sich, indem er vorübergehend abtauchte. Den Sicherheitsbehörden sei er bislang nicht als islamistischer Extremist bekannt gewesen, aber stehe mit dem „Islamischen Staat“ in Verbindung, der die Tat dann auch prompt für sich reklamierte. Es handele sich um einen Akt der Rache für das, was den Muslimen in Gaza und anderswo angetan werde.
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Manchen Aufklärungserfolg verdankt die Polizei dem Umstand, dass es der Täter nicht erträgt, dass er und seine Tat im Verborgenen bleiben. Gerade Täter, die im Namen einer Ideologie oder Religion handeln, leben davon, dass alle Welt von ihren Taten erfährt. Ein Fanatiker, der seine Taten für sich behält, gleicht einem Künstler, der seine Bilder im Moor versenkt, anstatt sie auszustellen. Im Zeitalter des Narzissmus ist eine derartige Zurückhaltung und Bescheidenheit kaum noch anzutreffen. Jeder möchte in die Hall of Fame der größten Übeltäter aufgenommen werden.
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Unwürdig und eines Rechtsstaats nicht angemessen war die Art und Weise, wie man den mutmaßlichen Täter dem Generalbundesanwalt in Karlsruhe zugeführt hat. Er war barfuß, und man fesselte ihn so, dass er nur gebückt gehen konnte. Das ist eine unnötige Demütigung, sonst nichts. Auch der, der sich gegen die Würde anderer grob vergangen hat, verliert nicht seine Würde und bleibt Träger von Grundrechten. Gerade an solchen Menschen hat sich der Rechtsstaat zu bewähren und alle Rachegelüste in die Schranken zu weisen. Die Bilder vom Transport des mutmaßlichen Täters nach Karlsruhe weckten bei mir Assoziationen zu Guatanamo und dem irakischen Gefängnis von Abu-Ghuraib während der amerikanischen Besetzung. Beides unrühmliche Bezüge.
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Die mörderische Messerattacke eines Asylsuchenden aus Syrien leitet Wasser auf die Mühlen der Rechten. „Innere Sicherheit“ ist traditionell deren Domäne. Vor den Landtagswahlen in drei ostdeutschen Bundesländern überbieten sich allerdings alle Parteien mit Forderungen nach einer Verschärfung des Asylrechts, Erleichterung von Abschiebungen und Kürzungen von Sozialleistungen für Geflüchtete. Vernunft und Rechtsstaat stehen im Augenblick auf verlorenem Posten, moderate Stimmen finden kaum Gehör.
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Offenbar sieht man mir meine Hinfälligkeit nun auch schon an. Dieser Tage sprang mir ein junger Mann hilfreich zur Seite, als ich versuchte, mit einer Hand mein Rad festzuhalten, mit der anderen die Haustür aufzuschließen und das Rad in den Hausflur zu bugsieren. Der junge Mann trat mit einem freundlichen „Hallo, darf ich Ihnen helfen?“ an meine Seite und hielt mir die Haustür auf. Ich bedankte mich für seine Hilfestellung und war für den Moment mit der Welt und den Menschen versöhnt.
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Seit Wochen war ich dieser Tage mal wieder auf dem Alten Friedhof. Ich setzte mich auf die Bank neben dem Grab von Röntgen und las in dem Roman von Percival Everett, der „James“ heißt und eine sehr eigenwillige und faszinierende Version von Marx Twains „Tom Sawyers Abenteuer“ erzählt. Everett nimmt einen radikalen Perspektivwechsel vor und erzählt die Geschichte aus der Sicht des entflohenen Sklaven. Das Buch nahm sich so gefangen, dass ich beinahe Us und meine Verabredung zum Abendessen verschwitzt hätte. Auch meine mitgeführten Walnüsse konnte ich nicht an die Eichhörnchen bringen, weil sie sich partout nicht blicken ließen, obwohl ich mir alle Mühe gab, sie anzulocken. Kein einziges ließ sich blicken. Mit dem Sechsuhrleuten verließ ich den Friedhof und radelte Nach Hause, wo ich mit einer gerade noch tolerablen Verspätung eintraf. Der Anschiss, den ich zu Recht bekam, hielt sich in Grenzen.
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„Der Tod könnte schön sein, wenn man gelebt hat.“
(Arno Geiger)
Jetzt steht also bei mir in der Küche auf der Anrichte ein Dispenser, in den ich morgens meine Tabletten für den Tag aus den Plistern hineindrücke. Sieben Medikamente soll ich jeden Tag einnehmen, manche sogar zwei Mal am Tag. So weit wollte ich es nie kommen lassen. Bevor ich morgens meine Tagesdosis Tabletten in einen Dispenser einsortiere, gebe ich mir die Kugel, hatte ich mir geschworen. Jetzt ist es soweit, aber ich habe keine Kugel. Und auch nicht den nötigen Mut. Ich war schon bereit, den Revolver durch Fentanyl zu ersetzen, aber auch das steht mir nicht zur Verfügung. Immer die Mahnung von Max Frisch im Ohr: Man muss sich bei Zeiten umbringen, irgendwann ist man nicht mehr vital genug, es zu tun! Nichts Schlimmeres, als in einem Heim vor sich hinzudämmern und auf den Tod zu warten. Aber auch der Satz von Klaus Mann stimmt, den er anlässlich des Todes von Ernst Toller in sein Tagebuch notierte: „Man muss aus allen menschlichen Bindungen treten, ehe man es tut.“ Viele menschliche Bindungen sind mir nicht geblieben, aber eine vor allem doch.
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„In den Marxschen Begriffen stimmt etwas nicht.“
(Friedrich Pollock)
Die alte Frage stellt sich dieser Tage erneut: Warum handeln Massen von Menschen entgegen ihren wohlverstandenen und wahren Interessen? Ich denke dabei an die Massen von „kleinen Leuten“, die am kommenden Wochenende bei den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen ihr Kreuz bei der AfD machen und gegen ihre wohlverstandenen Interessen wählen werden. Und das, obwohl diese Partei eine neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik vertritt, die vor allem zu Lasten von Menschen mit niedrigem Einkommen ginge. Das scheint alles egal, darauf schauen die Leute nicht so genau. Das Parteiprogramm liest kein Mensch. Hauptsache sie sind gegen die „Kanaken“ und für eine rabiate Begrenzung des Zustroms von Fremden. Die Unterscheidung von „wahren“ und „falschen“ Interessen ist selbst problematisch, weil es letztlich der Hegelsche Weltgeist ist, in dessen Namen diese Unterscheidung vorgenommen wird. Es ist eine Zuschreibung von oben und außen, die in der Arbeiterbewegung viel Unheil angerichtet hat. Ich habe mich damit immer wieder befasst und will das jetzt nicht alles wiederholen. Eine dieser Auseinandersetzungen findet sich in der DHP 54 unter dem Titel „Bodentruppen des Weltgeistes“ und vor allem auch im dritten Band meiner „Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus“, der aber wahrscheinlich nicht mehr lieferbar ist. Antiquarisch wird man ihn sicher noch finden können.
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Ein älteres Ehepaar bespricht in der Fußgängerzone den Speiseplan fürs kommenden Wochenende. „Für heute haben wir noch Hackfleisch, und für morgen reicht das eigentlich auch nochmal“, sagt die Frau. Der Mann signalisiert Zustimmung durch einen Brummton. Das Wochenende ist gerettet.
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Kaum habe ich einen Herzinfarkt erlitten, geht Karl Lauterbach gesetzlich gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen vor. Das Bundeskabinett hat heute das „Gesunde-Herz-Gesetz“ verabschiedet. Schon der Name versprüht gute Laune und Optimismus und verspricht eine radikale Reduktion der Herztoten. Nach dem Gute Kita Gesetz und dem Gut Kiffen Gesetz ein weiterer Schritt in eine goldene sozialdemokratische Zukunft und eine weitere Wahlperiode unter einem Kanzler Scholz. Wenn der dann noch ein Guter Islam Gesetz erlässt, wird seine Kanzlerschaft ewig währen. Die neuen Sprachregelungen sind grauenhaft und verkaufen die Menschen für blöd, was sie vielleicht in großen Teilen auch sind. Aber ihre Dummheit ist das Produkt der medial betriebenen Verblödung, nicht deren Entschuldigung. Einer der schlimmsten Züge der Globalisierung ist die Infantilisierung der Menschheit. Die Welt wird ein globaler Kindergarten voller Spielzeug und Lutschern, die in einer Baby-Sprache beworben werden. Eine der Aufklärung verpflichtete Politik sollte sich diesem Trend widersetzen, statt ihn zu bedienen und weiter zu befördern. Das regierungsamtliche Neusprech, in dem Lauterbach seine Gesetzesvorlagen verkündet, wird wahrscheinlich von einer Werbeagentur entwickelt, die den Auftrag bekommen hat, das Regierungshandeln in der infantilen Sprache der Werbung an und unter die Leute zu bringen. Die beste Werbung wäre die Orientierung an der Wahrheit. Im Zeitalter von Social Media und Fake News verschwimmen die Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge, und die Propaganda betreibt diese Vermischung systematisch und so lange, bis die Wahrheit hinter einem Lügengeflecht gar nicht mehr erkennbar ist. Eines nicht mehr allzu fernen Tagen wird sie nicht einmal mehr gedacht, geschweige denn ausgesprochen werden können. Das Unterscheidungsvermögen der Leute bildet sich zurück und irgendwann gar nicht mehr aus.
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Gestern bin bereits gegen Mittag zur Lahn geradelt. Für den Nachmittag waren Gewitter angekündigt und ich wollte unbedingt vorher nochmal an die Sonne und ins Wasser. Am Wegesrand lagen Haselnüsse auf dem Boden. Ich sammelte eine Handvoll auf und steckte sie in die Hosentasche. Ich setzte mich auf die Treppe, die zum Steg hinunterführt, und schaute auf den Fluss. Vor mir in der Luft kreiselte ein Blatt, das sich in einer Spinnwebe verfangen hatte. Das Laub der Bäume fängt an sich zu färben, und der Fluss schimmerte in den Farben des beginnenden Herbstes. Das Trompeten eines Reihers war zu hören. Er landete am gegenüberliegenden Ufer und ließ sich auf einem tief hängenden Ast nieder, von dem aus er auf die Jagd nach Fischen gehen konnte. Eine bunt schillernde Libelle flog vorüber und landete auf einem ins Wasser hängenden Grashalm. Auf einer Lichtung am gegenüberliegenden Ufer lag eine dicke Frau mit ihrem Hund. Sie brüllte unablässig in ihr Handy hinein. Sie sprach so laut, dass ich die Gespräche vom anderen Ufer aus mithören musste. Ein Gespräch folgte dem anderem. Es durfte keine Pause und kein Moment der Stille aufkommen. Immer mehr Menschen haben die „Fähigkeit zum Alleinsein“ (D.W. Winnicott) nicht entwickeln können oder durch übermäßigen Mediengebrauch eingebüßt. Nun hängen sie an ihren Geräten wie an einem Dauertropf. Anrufen, senden, empfangen wird zur Tätigkeit schlechthin, Beschäftigungszwang spezifiziert sich zum Sendezwang. Senden heißt wahrgenommen werden, heißt Sein. Nichtsenden heißt Nichtsein – nicht nur den horror vacui des Brachliegens verspüren, sondern von dem Gefühl beschlichen werden: Eigentlich gibt es mich gar nicht. Nicht mehr nur: In mir ist ein Vakuum, sondern: Ich bin im Vakuum – gar nicht da.
Ein Blatt löste sich von der Esche über mir und segelte in meinen linken Schuh. Der stärker werdende Wind riss immer mehr Blätter von den Bäumen und wehte sie auf den Fluss, wo sie auf der Oberfläche dahintrieben. In Ufernähe bildete sich auf dem Wasser ein bunter Teppich aus Blättern. Als ich später aus dem Wasser stieg, hafteten sie überall am Körper und in den Haaren. Eine Gang junger Enten näherte sich dem Steg und hoffte darauf, dass irgendetwas für sie abfällt. Am Vortage waren es sieben gewesen, heute waren es noch fünf. Ihnen droht Gefahr von oben durch Raubvögel und von unten durch Welse, von denen es große Exemplare in der Lahn geben soll. Auch Reiher vergreifen sich an Entenküken. Als die Schreie eines Bussards erklangen, versammelten sich die kleinen Entchen am Steg und kreisten um meine Füße. Vielleicht war dieser Bussard für die Dezimierung der Geschwisterschar verantwortlich und seine Schreie signalisierten für sie Gefahr. Im Westen türmten sich die ersten Gewitterwolken hoch. Es wurde Zeit für mich, das Rad zu besteigen und den Heimweg anzutreten. Ich schaffte es noch vor dem Einsetzen des Regens. Es blieb sogar noch Zeit, mich einen Augenblick zum kroatischen Bauarbeiter auf die Bank im Johannispark zu setzen und mir den Bericht vom Pokalspiel am Vorabend anzuhören. Er war von Leverkusen bitter enttäuscht, das mit Hängen und Würgen mit 1:0 gegen den Drittligisten Carl Zeiss Jena gewonnen hatte. Ich versuchte ihm zu erklären, dass solche Spiele immer auch Ost-West-Duelle sind, die mit besonderen Energie aufgeladen sind und von den Ost-Vereinen oft erbittert geführt werden, als wollten sie Rache nehmen für all die Demütigungen und Kränkungen, die den Ostdeutschen von den Westdeutschen in den Jahrzehnten nach der Wende zugefügt worden sind.
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Als ich nach den Wahlen zum Europaparlament die politische Deutschlandkarte sah, auf der der gesamte ehemalige Osten in AfD-Blau eingefärbt war, fiel mir ein Artikel ein, den ich vor ziemlich genau fünf Jahren für das Internetportal „Rubikon“ geschrieben habe und der „Die Rache des verletzten Stolzes“ überschrieben war. Nietzsche sprach einmal davon, Grausamkeit sei die Rache des verletzten Stolzes. Ich habe dort zu ergründen versucht, wie es zu der signifikant höheren Zustimmung für rechte Parteien und zu deutlich höheren Zahlen bei rassistischen Attacken im ehemaligen Osten kommt. Nach dem Erscheinen dieses Textes wurde ich stark angefeindet und typisch westdeutscher Arroganz geziehen. Ich habe den Text eben nochmal überflogen und kann nicht Anrüchiges an ihm finden. Er scheint mir zu großen Teilen nach wie vor aktuell und zutreffend zu sein. Zu dieser Veröffentlichung in einem Magazin, das mir damals wegen seiner Verbindung zu Ken Jebsen und einem mitunter raunenden-verschwörungstheoretischen Ton schon suspekt war, habe ich mich von einem Redakteur breitschlagen lassen, der zuvor die Internetseite von Konstantin Wecker betreut hat, für die ich ein paar Jahre lang recht viel geschrieben habe und dem ich mich freundschaftlich verbunden wähnte.
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Eine Woche nach der tödlichen Messerattacke von Solingen ist es in Siegen zu einer ähnlichen Tat gekommen. Eine 32-jährige deutsche Frau hat am Freitagabend (30.08.24) in einem Bus auf dem Weg zum Stadtfest sechs Menschen mit einen Messer angegriffen. Drei Personen wurden lebensgefährlich, eine weitere schwer und zwei leicht verletzt. Obwohl Innenminister Reul beteuert, die Tat in Siegen habe mit der eine Woche zurückliegenden von Solingen nichts zu tun, weil sie keinen islamistisch-terroristischen Hintergrund aufweise, liegt der Zusammenhang doch auf der Hand. Spektakuläre Taten wie die in Solingen ziehen andere nach sich. Resonanzstraftaten nennt man so etwas. Vage tatgestimmte Leute werden durch ein durchgeführtes Verbrechen und vor allem seine mediale Resonanz ermuntert, nun ihrerseits zur Tat zu schreiten. Die mächtige mediale Resonanz, die die Tat von Solingen gefunden hat, regte offenbar jemanden dazu an, etwas Ähnliches zu tun, um aus der Bedeutungslosigkeit seiner Existenz heraus- und ins Rampenlicht der Scheinwerfer und medialen Aufmerksamkeit hineinzutreten. Das ist ein seit Langem bekanntes Phänomen. „Rampage-killing“ nennt man in den USA diese Form des öffentlichen Mordens, bei der sich eine archaische private Wut mit der zeitgenössischen Sehnsucht nach medialer Spiegelung mischt. Kriminologen raten deshalb dazu, die mediale Aufmerksamkeit möglichst gering zu halten, um keine Anreize für potenzielle Nachahmer zu schaffen und keine „Werbung“ für bestimmte Delikte zu betreiben.
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Der sozialdemokratische Philosoph Josef Dietzgen formulierte gegen Ende des 19. Jahrhunderts ganz im Sinne des sozialdemokratischen Zeitgeistes: „Wird doch unsere Sache alle Tage klarer und das Volk alle Tage klüger.“ Hundertfünfzig Jahre später müsste man den Satz so fassen: Werden doch die Automobile alle Tage größer und ihre Fahrer alle Tage dümmer. Walter Benjamin hat in seinen geschichtsphilosophischen Thesen schon früh den sozialdemokratischen Fortschrittsoptimismus einer radikalen Kritik unterzogen. Dieser ging davon aus, dass der „eherne Gang der Geschichte“ „von selbst“ eine sozialistische Gesellschaft hervorbringen würde. Revolutionen galten als „Geburtshilfe“, als eine Art von Kaiserschnitt; zur Welt käme das Neue auch ohne sie. Aus dieser Annahme resultierte der merkwürdige Quietismus der Arbeiterbewegung. Wie eine reife Frucht würde der Sozialismus eines Tages vom Baum der Geschichte den Arbeitern in den Schoß fallen. Das lähmte auch den Widerstand gegen Hitler, weil man dachte, es handele sich um das letzte Aufbäumen des Kapitalismus vor seinem endgültigen Zusammenbruch und dem dann zwangsläufig folgenden Sieg des Sozialismus. Die bestorganisierte und -geschulte Arbeiterklasse Europas kapitulierte 1933 und gab über Nacht ihren Geist auf. Wo waren denn die Hunderttausende von Parteimitgliedern der KPD, ihre fünf bis sechs Millionen Wähler, der Rote Frontkämpferbund, die Straßen- und Betriebszellen? Das zu Fußtruppen der Notwendigkeit degradierte Proletariat wurde nicht zum Totengräber der bürgerlichen Gesellschaft, wie das Kommunistische Manifest es prophezeit hatte, sondern die zum Faschismus mutierte bürgerliche Gesellschaft wurde zum Totengräber von Kommunisten und Sozialdemokraten. Dass die Vorstellung vom „objektiven Gang der Geschichte“ falsch und verhängnisvoll war, darüber wurden die marxistischen Theoretiker erst durch den Triumph des Nationalsozialismus belehrt. Max Horkheimer zog in seinem Buch Dämmerung den Schluss: „Die sozialistische Gesellschaftsordnung wird von der Weltgeschichte nicht verhindert, sie ist historisch möglich; verwirklicht wird sie aber nicht von einer der Geschichte immanenten Logik, sondern von den an der Theorie geschulten, zum Besseren entschlossenen Menschen, oder überhaupt nicht.“
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In einer Reportage aus den umkämpften gebieten der Ukraine sah ich ein kleines Mädchen – mit dem Gesicht einer Greisin. Dieses Kindergesicht mit den bereits erloschenen Augen stellt eine radikalere Anklage gegen den Krieg dar, als jede Kritik von Sahra Wagenknecht.
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