„Und im Übrigen habe ich nie verstehen können, warum es irgendeinen Widerspruch zwischen Optimismus und Pessimismus geben sollte.“
(Lars Gustafsson)
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„Wie glücklich wir doch als Kinder sind. Wie die Stimme der Vernunft dieses Licht verdunkelt.“
(Patti Smith)
Auf dem Umschlag des Buches von Patti Smith, das U mir geschenkt hat und das ich gerade gelesen habe, ist ein Hirtenmädchen zu sehen, das einen grau-braunen Umhang um ihre Schultern trägt und eine karmesinrote wollene Mütze. Das Mädchen ist zwölf, vielleicht dreizehn Jahre alt und hütet Schafe, die sich hinter ihr auf einer kahlen Weide zusammendrängen. Mit den Händen flicht sie etwas. Ihr Blick ruht auf dem, was sie mit ihren Händen tut. Die Landschaft hinter ihr ist flach und karg. Sie erinnert mich an Holland im Winter. Das Buch heißt „Traumsammlerin“ und für mich ist das Mädchen auf dem Umschlag diese Traumsammlerin. Das Hüten von Schafen lässt dem Träumen viel Raum. Das weiß ich von Gavino Ledda, der von seinem Vater früh zum Schafehüten in die sardischen Berge geschickt wurde und in seinem wunderbaren Buch „Padre Padrone“ von den Schrecken der Einsamkeit, den Ängsten und den Träumen erzählt. Unser ganzes Leben ist eine Geschichte verlorener Träume, von denen unsere Kindheit so voll ist. Wo gehen sie hin, wo bleiben sie? Wer sammelt sie auf? Das Erwachsenwerden treibt sie uns aus, es ist ein Prozess der Traum- und Wunschvernichtung. Der erwachsen Gewordene verachtet seine eigenen Träume und muss das Kind, das er einst gewesen ist, mitsamt seiner Träume zum Verschwinden bringen. Diese Verdrängung wird zu einer verschwiegenen Quelle von Hass, auf alles, was dem Erwachsenen lebendiger vorkommt und ihn daran erinnert, dass auch er einmal vorhatte, wie ein Mensch zu leben. Es erinnert ihn an ein Glück, das auch ihm einst versprochen war und um das man ihn im Fortgang eines ungelebten Lebens betrog. Das reiche, sinnliche Universum des Körpers ist den meisten Erwachsenen abgestorben, eine Quelle von Hass und Ressentiment gegen jedes Mehr an Lust und Unabhängigkeit, das mitunter an anderen zutage tritt. Äußeres weist innen auf Verschüttetes, und das ist nicht immer angenehm und muss abgewehrt werden, um die eigene Anpassung nicht zu gefährden. So erhält sich die Macht am Leben und pflanzt sich fort, von einer Generation zur nächsten.
Beinahe hätte ich vergessen, euch das Buch von Patti Smith ans Herz zu legen. Es versammelt kurze Texte, die uns in ihre Kindheit mitnehmen. Nochmal: Das Buch heißt „Traumsammlerin“ und ist bei Kiepenheuer § Witsch in Köln erschienen.
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Die Hirnantilope hat im Laufe der letzten Nacht aus meinem inneren Sprachozean eine Redensart an die Oberfläche treten lassen, die ich beinahe schon vergessen hatte und deren Sinn sich mir auf Anhieb nicht mehr erschloss. Irgendjemand aus meiner Vergangenheit muss gelegentlich gesagt haben: „Dich hat man wohl mit dem Klammerbeutel gepudert.“ Wahrscheinlich ein Lehrer, der mir und anderen damit sagen wollte: Du bist nicht ganz bei Verstand, ein Depp, ein Trottel! Auf einem humanistischen Gymnasium sagte man das nicht so direkt und plump, sondern drückte es mit dieser eigenartigen Redensart aus, deren Sinn sich dem solcherart Beschimpften nicht so ohne Weiteres erschloss. Heute Morgen zog ich den zweiten Band des Lexikons der sprichwörtlichen Redensarten von Lutz Röhrich aus dem Regal und erfuhr: Diese Redensart ist erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgekommen. „Ihr liegt die Vorstellung zugrunde, dass jemand, der statt mit der Puderquaste mit einem Beutel für Wäscheklammern gepudert ist, durch die Schläge auf den Kopf eine geistigen Defekt davongetragen haben muss.“
So richtig überzeugte mich diese Erklärung nicht. So schaute ich im Netz nach stieß auf folgende andere Version: in alten Zeiten gab es in Mühlen Mehlkästen mit Beuteln. Dort hinein fiel das frisch gemahlene Korn. Dann wurde der Beutel durchgerüttelt, so dass das fein gemahlene Mehl durch den Beutelstoff hindurch in den Mehlkasten fiel. Der Beutel war demnach nichts anderes als ein Sieb für Weißmehl. Wenn nun aber ein ungeschickter Müller den Mehlkasten während des Mahlvorgangs öffnete, staubte es gewaltig und sein Gesicht wurde weiß gepudert. Diese Herleitung scheint mir ein wenig überzeugender. Ein bisschen rätselhaft bleibt die Redensart aber dennoch.
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„Aus der Verkürzung des Gedankens, die ein Mittel bei der Erhaltung des Lebens ist, wird es zum Schlüssel, eingepresste Bosheit loszulassen.“
(Max Horkheimer über das Vorurteil)
Am Mittwoch, dem 17. Januar 2024, hatte Sahra Wagenknecht mal wieder einen Auftritt in der Talkshow von Markus Lanz. Lanz war Sahra Wagenknecht vor rund zehn Jahren einmal rüde angegangen und hatte versucht, sie ins Verhör zu nehmen und vorzuführen. In den letzten Jahren ist er eher freundlich und respektvoll mit ihr umgegangen. Bemerkenswert fand ich nicht so sehr, dass dieses Mal zur Sprache kam, dass sie sich vor rund zehn Jahren bereits mit dem Organisator des Potsdamer Treffens der Rechtsextrenen, dem ehemaligen Düsseldorfer Zahnarzt Gernot Mörig, zu einem Abendessen getroffen hat und seither in regelmäßigem E-Mail-Kontakt mit ihm stand, sondern was Frau Wagenknecht zur AfD und deren Wählern sagte. Sie reproduzierte den alten, linken Mythos vom „Volk“, das seinem Wesen nach gut und fortschrittlich ist. In der linken Tradition verkörpert das Volk das „allgemeine Interesse“ und „die Vernunft“ und ist das Ferment der Emanzipation. Gelegentlich gerät es unter den Einfluss von Kräften, die es von seinem Weg abbringen und in die Irre führen. Frau Wagenknecht sagte sinngemäß: Die Leute wählen die AfD „trotz Hoecke“, trotz der Positionen, die er vertritt und die bei dem Treffen in Potsdam propagiert wurden. Man kann sich in der ZDF-Mediathek die Sendung anschauen. Für Eilige ab Minute 38. Eigentlich sind die Leute mit der Politik der Ampelparteien unzufrieden und bringen ihren Unmut dadurch zum Ausdruck, dass sie ihre Stimme einer rechten Partei geben. Wenn „kleine Leute“ die Rechten wählen, handelt es sich also um „Protestwähler“, die vorübergehend mal auf Abwege geraten, dann aber wieder zu ihren angestammten Interessenvertretungen zurückkehren. Dass Menschen aus dem „Volk“ die AfD wegen Björn Hoecke und der ausländerfeindlichen und rassistischen Positionen, die er und seine Partei vertreten, wählen, kommt Frau Wagenknecht und vielen anderen Linken nicht in den Sinn. Das darf einfach nicht sein. Der von Stalin als Kompliment ans deutsche „Volk“ gemeinte Satz: „Die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk bleibt bestehen“, lässt ja auch eine ganz andere, deprimierende Deutung zu: Das NS-Regime, Hitler gingen, aber das deutsche Volk – als sein Nährboden – blieb. Der Begriff des Volkes, der in der DDR propagiert wurde: „Im Kern gut, aber von Hitler temporär verführt“- und in Teilen der Linken immer noch im Schwange ist, ist kein historisch-soziologischer, sondern ein mythologischer Begriff, oder eine geschichtsphilosophische Kategorie. Die wird gegen die empirischen Gestalten des Volkes, mit denen wir es zu tun haben, verbissen verteidigt. Je weiter sich die Schere zwischen dem mythologischen Bild vom „Volk“ und seiner realen Verfassung öffnet, desto verheerender können die Fehleinschätzungen und deren Folgen sein. Wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass nicht unerhebliche Teile des „Volkes“ von der Wiederkehr eines „Führers“ träumen und sich einen zumindest „schnapsglasgroßen Hitler“ herbeiwünschen, der das Land „mit eisernem Besen auskehrt“ und „störende, heterogene Elemente“ eliminiert. Die im Herbst anstehenden Landtagswahlen in einigen östlichen Bundesländern werden von der Stärke und Verbreitung dieser Wünsche Zeugnis ablegen. Wenn es uns nicht gelingt, den „rollenden Schneeball“ zu zertreten, um beim Bild von Erich Kästner zu bleiben, werden wir womöglich alle von der braunen Lawine verschlungen.
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„We are all waves of the same sea“
(Mark Tobey)
Gestern, also am Samstag, dem 20. Januar 2024, fand hier in Gießen eine Demonstration gegen Rechts statt, die für 250 Teilnehmer angemeldet war. Gekommen sind schlussendlich 12 bis 15 Tausend. Der Demonstrationszug war so lang, dass die Spitze des Zuges schon am Ziel des Rundkurses angekommen war, als die Letzten gerade erst aufgebrochen waren. Die Demonstrations-Schlange biss sich also in den eigenen Schwanz, wenn man so will. Ein altes mythisches Symbol für Ewigkeit. Schön wäre es, wenn sich das für den Kampf gegen Rechts bewahrheiten würde. Dass da plötzlich solche Massen bewegt werden oder sich bewegen, ist in der Tat ein erklärungsbedürftiges Phänomen. Wo kommt das auf einmal her? Bundesweit sollen am Samstag rund 900.000 oder gar eine Million Menschen auf die Straße gegangen sein. Was daran ist ein mediales Strohfeuer und ein virales Phänomen, also ein Hype? Wurde in den sogenannten sozialen Medien mobil gemacht? Oder zeugt es von einem wirklichen Erwachen einer kritischen Öffentlichkeit, die den Ernst der Lage erkannt hat und sich anschickt und aufrafft, die Demokratie zu verteidigen? Welchen Einfluss haben die Bilder von dem Geheimtreffen am Lehnitzer See bei Potsdam? Man sah irgendwelche obskuren Gestalten durch die geschlossene Fenster des Landhauses Adlon, und durch die Recherchen von Correctiv wissen wir, worüber dort gesprochen wurde und welche Pläne man schmiedete. Letztes Jahr sahen viele Menschen den Film „Die Wannseekonferenz“, und womöglich schoben sich Bilder aus diesem eindringlichen und preisgekrönten Film über die Planung der „Endlösung“ über die aktuellen Bilder vom Potsdamer Treffen, wo nun von „Remigration“ die Rede ist, was ein harmlos und technisch klingender Begriff für die Deportation von Millionen von Menschen ist, die nicht den Reinheitsvorstellungen der völkischen Rechten entsprechen. Die mobilisierende Rolle von medialen Inszenierungen lässt sich am Beispiel des Vorgehens des Portals Correctiv studieren. Wenn‘s der Aufklärung dient und Hunderttausende für die richtige Sache auf die Straße bringt, ist dagegen nichts einzuwenden. Warum sollen sich nur die Rechten dieser Techniken und sinnlich-emotionaler Signale bedienen? Schon Ernst Bloch hat die Linke Propaganda dafür kritisiert, dass sie die Macht der Bilder, Metaphern und Symbole unterschätze und nur den Kopf anspräche. Die Aufklärungskampagnen der Linken röchen allzu oft nur nach Papier und vernachlässigten die Phantasie. Die Sprache der Linken sei phantasielos und hölzern. Scholastisches Begriffsgeklapper, Statistiken, Zahlen. Starr und kalt werde das Dogma heruntergeleiert. Mit Bloch müssten wir uns fragen: Wo bleiben die Lust, die Phantasie, der Witz und die Begeisterung?
Heute lag auf einer Schneewehe am Rande der Fußgängerzone ein Transparent von der gestrigen Demo. Auf ein Stück Pappe hatte jemand in Schwarz-Grün geschrieben: „Seid Menschen – Deine und meine Herkunft sind Zufall!“ Dieses Pappschild fasst ganz gut zusammen, was das Gros der Menschen gestern motivierte, zur Demonstration zu kommen. „All Men are Brothers. Wenn es doch nur so wäre. Dann könnte der Matrose friedlich im Krater der Wüste schlummern und der Moslem in den Armen eines christlichen Schiffs.“ So steht es im Buch von Patti Smith. Etwas vorsichtig ausgedrückt und im Konjunktiv. Das führt mich zu der Frage: Was wird aus einem solchen Protest? Ist es ein einmaliges Ereignis, was bleibt davon? Lässt sich etwas davon verstetigen? Wie viele der Demonstranten vom Samstag werden in ein paar Wochen dabei sein, wenn sich die Morde von Hanau jähren? Zur Erinnerung: Am 19. Februar 2020 tötete dort ein 43-jähriger Rechtsradikaler und Rassist zehn Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund. Seitdem findet in Gießen am Jahrestag der Morde eine Demonstration statt – selten mit mehr als eintausend Teilnehmern.
Es wurden im Demonstrationszug auch für mich befremdliche Pappschilder und Transparente mitgeführt. „Alle hassen Nazis“, stand da zum Beispiel. Als wäre Hass eine verallgemeinerungswürdige Regung und als wäre unser Zug eine Art von Hassföderation. Davon abgesehen stimmt der Satz schon deswegen nicht, weil es ja eine nicht unbeträchtliche und leider wachsende Zahl von Mitbürgern gibt, die die Nazis nicht hassen, sondern sie wählen und ihnen folgen. Häufig stand auf hochgereckten Plakaten: „Wir sind mehr!“ Als wäre die bloße numerische Überlegenheit der Gegendemonstranten ein Beleg dafür, dass ihr Programm richtig und vernünftig ist! Was wäre denn, wenn die Rechten mehr wären? Wären Wahrheit und Recht dann auf ihrer Seite? Ein einziger Gegendemonstrant gegen Adolf Hitler hätte gegen Millionen, die ihm begeistert akklamierten und zujubelten, recht gehabt! Georg Elser, der einsame Attentäter, sollte aus diesem Grund einer unserer Heroen sein. Eine Menge solcher und ähnlicher Sprüche waren auf Kartons geschrieben, die von Paketboten ins Haus gebracht worden sind. Ich fänd‘s nicht schlecht, wenn auch darüber mal nachgedacht würde, was diesen Menschen zugemutet wird.
Dann müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass es eine Menge junge Leute gibt, die gegen Nazis sind, weil sie aus ihrer Sicht „uncool, unsexy und prolo“ sind und mit ihrem dumpfen Rassismus dem „Standort Deutschland“ Schaden zufügen. Das ist die Haltung von Christian Lindner, Friedrich Merz und ihrem Hipsteranhang. Andere Kategorien kennen sie nicht. Faschismus ist für sie im Wesentlichen eine Geschmacksfrage. Und ein Investitionshindernis, eine Gefahr für den Wirtschaftsstandort Deutschland.
Was ist mir noch aufgefallen? In Potsdam nahmen Bundeskanzler Olaf Scholz und Außenministerin Annalena Baerbock an einer Demonstration teil. „Ich stehe hier als eine von Tausenden von Potsdamerinnen und Potsdamern, die einstehen für Demokratie und gegen alten und neuen Faschismus“, sagte Frau Baerbock. Auch dass Bundespräsident Steinmeier die Demonstranten in der Tagesschau lobte und ihre Demonstrationszüge begrüßte, ist etwas Neues. Man könnte beinahe das Gefühl bekommen, dass man an staatlich angeordneten Aufmärschen teilgenommen hat. Dabei hat die amtierende Regierung durch ihre dilettantische und verfehlte Politik am Erstarken der rechten Ränder erheblichen Anteil. Es bleibt zu hoffen, dass die Massen, die sich jetzt artikuliert und bewegt haben, nicht wieder in die alte Agonie verfallen, sondern wach und kritisch bleiben. Demokratie muss, wenn sie mehr sein will, als ein formales Regelwerk, mit Leben erfüllt werden. Und das Leben wahrhafter Demokratie besteht in der Ein- und Ausübung von kritischem Urteilsvermögen. Das ist für eine Regierung nicht nur angenehm, aber sie müsste das aushalten und fördern.
Oskar Negt hat immer wieder darauf hingewiesen: Demokratie ist eine Gesellschaftsordnung, die gelernt werden muss, weil sie auf urteilsfähige Beteiligung der Menschen angewiesen ist. Demokratie ist mehr als ein bloßes System von Regeln, sie ist eine Lebensform. Es bedarf zu ihrer Erhaltung einer politischen Bildung, die verschiedene Bauelemente wie Orientieren, Wissen, Lernen, Erfahren und Urteilskraft miteinander verknüpft. Demokratie ist nach einem Diktum von Adorno eine Gesellschaftsform, in der man „ungestraft verschieden“ sein kann und die die Entfaltung und den Austrag von Dissens ermöglicht. Das ist anstrengend – autoritäre Systeme und Diktaturen funktionieren einfacher und erfreuen sich deshalb bei autoritären Charakteren einer gewissen Beliebtheit. Brave Staatswichtel können sich zurücklehnen, sich aus allem heraushalten und sich ihrem Schicksal überlassen.
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Heute im Aufwachen hatte ich plötzlich das Gefühl, die Kontrolle über den Denkprozess zu verlieren und verrückt zu werden. Ich schlug die Decke zurück, setzte mich auf und die Beine auf den Boden. In dieser Haltung verharrte ich eine Weile, bis ich den Kopf wieder über die Wasseroberfläche der sogenannten Wirklichkeit bekam. Beim Nachdenken darüber, was diese Irrealisierung ausgelöst haben könnte, fiel mir ziemlich schnell der Sirenen-Terror ein, dem ich mich ausgesetzt fühle. Selten war dieser so dicht und intensiv gewesen wie am gestrigen Montag. Bis tief in die Nacht hinein heulte unablässig ein Martinshorn. Kaum war eins in die eine Richtung verschwunden und schwächer geworden, tauchte von der anderen Seite ein anderes auf. Manchmal schneiden sie sich auch und überlappen sich für einen Moment. Irgendwann ist es dann so weit, dass der Kopf die Lücken selbst schließt und mit einem halluzinierten Sirenengeheul auffüllt. Das scheint mir der Kern dieser Wahrnehmung zu sein, dass etwas von außen kommt, in mich eindringt und Besitz von mir ergreift. Heute Morgen schob ich mir prophylaktisch Stöpsel in die Ohren, die aber die Martinshörner nicht ganz wegzudämpfen vermögen. Die Intensität von gestern setzte sich heute bruchlos fort. Scheinbar wird das zu einer neuen Normalität. Diese Steigerung hängt unter anderen damit zusammen, dass die Straße, die aus Richtung Stadt ins Klinikum führt, seit zwei Jahren aufgerissen und gesperrt ist, so dass die Krankentransporte einen anderen Weg nehmen müssen, der dichter an dem Haus liegt, in dem ich wohne. Dann, habe ich mir sagen lassen, machen die Leute immer öfter von der Möglichkeit Gebrauch, sich von einem Rettungsdienst in die Klinik bringen und dort behandeln zu lassen. Schlicht deswegen, weil sie sonst Monate auf einen Termin bei einem Facharzt warten müssten und zum Beispiel auch keinen Hausarzt mehr haben, an den sie sich wenden können. Dann ist vielleicht auch die Bevölkerung in der Stadt gewachsen und älter geworden, was eine weitere Erklärung für die gestiegene Zahl der Notrufe sein könnte. Wie dem auch sei, ich werde einen Modus vivendi mit dem Umstand finden müssen, dass ich von Sirenengeheul umzingelt und diesem pausenlos ausgesetzt bin. Der äußere Alarm setzt sich in meinem Inneren fort als vegetativer Daueralarm und einer gestiegenen Herzfrequenz. Das Herz schlägt oft wie rasend und ich spüre es bis in den Hals. Es ist eine Form von Dauerstress, in den ich geraten oder geworfen bin, und den ich nicht beenden kann. Es sei denn, ich zöge fort, was aber einen anderen Stress zur Folge hätte. Die Lage an der Lärmfront scheint einstweilen ausweglos zu sein. Es gibt kein Entrinnen.
Manchmal denke ich: Was sind diese Sirenen hier gegen jene, mit deren Geheul die Ukrainer und Ukrainerinnen seit zwei Jahren leben müssen? Also, stell dich nicht so an!
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„Wunderbar, sagte sie, es ist doch immer etwas Gutes, wenn man sich von alten Dingen nicht trennen muss. Ausbessern ist Treue.“
(Uwe Timm)
Der Wind heult ums Haus, es regnet und stürmt. Hab eben einen hölzernen Klappstuhl auf den Tisch auf dem Balkon gelegt, damit der Sturm die Plastikdecke nicht wegreißt, mit der ich den Tisch den Winter über abdecke, damit nicht allzu viel Nässe ins Holz eindringt und das Holz zerstört. Mein Umgang mit den Dingen ist – volkswirtschaftlich gesehen – schädlich. Würden Massen von Menschen sich so verhalten, könnte man keine Konsumgüterindustrie betreiben. Die Menschen mussten auf Verschleiß und Neukaufen gestimmt werden. Man soll Strümpfe nicht stopfen, sondern wegschmeißen, wenn der Nagel vom großen Zeh im Laufe der Zeit ein Loch gerissen hat. Wenn sich die neue konsumistische Haltung auf den Umgang mit Dingen begrenzen ließe, könnte man damit zur Not leben. Aber diese Haltung strahlt auf andere Lebensbereiche aus und frisst sich durch bis in die menschlichen Beziehungen. Eine Gesellschaft, hat Adorno bereits vor über einem halben Jahrhundert gesagt, die alle Dinge wie Konservenbüchsen wegwirft, „springt kaum anders mit den Menschen um.“ Die Bedingungen für Treue und Sorge werden zerstört. Sorge und Pflege werden einstweilen an Fachkräfte aus anderen Ländern delegiert. Jeder will seinen Spaß haben und empfindet die Verpflichtungen, die aus menschlichen Bindungen erwachsen, als Zumutung und Behinderung. Die zeitgenössischen Selbstverwertungsmonaden umgeben sich mit Maschinen und Bildschirmen und leben und sterben für sich allein. Das, was man früher Gesellschaft, noch früher Gemeinschaft, nannte, zerfällt in Millionen autistischer Gier-Atome. „Gier“ ist zur Tugend geworden. Kaum eine Sportreportage, die ohne das Wort auskommt. Die spätbürgerliche Gesellschaft ist nichts anderes als ein Mosaik aus Agenten des Eigennutzes. Das das auf Dauer nicht gut gehen kann, ahnen viele, aber sie – und wir alle – machen weiter.
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„Dumm sein und Arbeit haben, das ist das Glück.“
(Gottfried Benn)
Kleiner Nachtrag zum Stichwort Resilienz in der letzten Folge. In der heutigen Ausgabe der Sendung „Scobel“ auf 3sat ist ein Mann zu Gast, der so angekündigt wird: „Florian Becker lehrt, wie man mit positiver Psychologie Menschen effektiver und glücklicher macht, Motivation entwickelt und Resilienz aufbaut. Der Diplompsychologe ist im Vorstand der Wirtschaftspsychologischen Gesellschaft und hat eine Professur an der Technischen Hochschule Rosenheim inne.“ Vom einstmals kritischen Gehalt des Resilienz-Begriffs ist hier nichts mehr zu spüren. Geblieben ist nur Anpassung und Optimierung. Jean-Paul Sartre hat die Funktion der Psychologie früh darin gesehen, ein abgesprungenes Rad an den Wagen zu montieren, damit er wieder fahrtüchtig wird und es weitergehen kann. Adorno sagte 1950 in einem Gespräch mit Horkheimer und Kogon über „Die verwaltete Welt oder: Die Krise des Individuums“: „Ich glaube, man kann an der Psychoanalyse selber die Entwicklung der verwalteten Welt studieren. Denn die Psychoanalyse hat ja einmal bessere Tage gesehen. Sie hat ja ursprünglich gemeint, die Menschen, indem sie ihre verdrängten Triebe ihnen bewusst macht, zu befreien, jedenfalls inwändig zu befreien und den Druck von ihnen zu nehmen, der in ihnen selber die Fortsetzung des äußeren, gesellschaftlichen Drucks bedeutet. Dieses Moment ist aus der Psychoanalyse heute völlig verschwunden, und genau jener Wille zur Freiheit, um dessentwillen sie einmal entstanden ist, gilt heute in der Psychoanalyse selbst als weltfremd, als neurotisch, als Gott weiß was noch alles. Die Psychoanalyse läuft vielmehr darauf hinaus, in ihrer heute praktizierten Form, dass die Menschen unter dem allgemeinen Druck sich wohl fühlen sollen, und sie bestärkt die Menschen in der ohnehin weitverbreiteten Haltung, mit dem Stachel zu löcken. Besonders die gegenwärtigen Popularisierungen der Psychoanalyse, die sie abkürzen oder erleichtern wollen und die den Menschen das Leiden und die Anstrengung der Selbstbesinnung ersparen wollen, kommen eigentlich nur noch darauf hinaus, die Keile an den Menschen, die gewissermaßen nicht glatt, reibungslos sich einfügen, wegzuschneiden und die Menschen auch subjektiv zu dem zu machen, was sie objektiv ohnehin sind, nämlich zu potentiellen Angestellten eines einzigen, riesigen Monstre-Unternehmens.“
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Ich habe mir auf der Demo am Wochenende einen Pips geholt, wie man so sagt. Wir haben am Anfang zu lange herumgestanden. Die Kälte kroch unter die Klamotten. Seit Jahren hatte ich nicht so eine Erkältung. Ich inhaliere den Dampf von Salzwasser und benutze ab und zu einen Nasenspray, um Luft zu bekommen und die Schleimhäute abschwellen zu lassen. Hoffentlich entwickelt sich aus dem Schnupfen nicht noch ein Husten. Ein Corona-Test, den ich gestern gemacht habe, verlief negativ.
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Aus der FDP sind Pläne bekannt geworden, die aufmüpfigen Lokführer perspektivisch durch Künstliche Intelligenz zu ersetzen. Man greift auf ein altes Instrument im Klassenkampf zurück: Wenn eine bestimmte Arbeiterkategorie zu gefährlich und rebellisch wird, schafft man sie ab und ersetzt sie durch Maschinen. So befreite der Massenarbeiter der fordistischen Fließbandproduktion das Kapital von den selbstbewussten und rebellischen Handwerkern, die in den Anfänger der Arbeiterbewegung den Ton angaben. Scheinbar neutrale technologische Entwicklungen haben also in Herrschaftsverhältnissen immer auch einen strategischen Aspekt. Es geht bei technologischen Sprüngen nicht nur um den Profit, sondern auch um Macht und Herrschaft. So zerstörte zum Beispiel die Verlagerung der Uhrenherstellung aus der Heimarbeit in mechanisierte Fabriken die Basis des Anarchismus unter den Uhrmachern im Schweizerischen Jura, der auf deren Autonomie und Selbstständigkeit im Produktionsprozess und ihrem Würdegefühl fußte.
Gegenwärtig schickt sich das Kapital an, sich von der menschlichen Arbeitskraft so weit wie möglich zu emanzipieren. Man braucht sie nicht mehr oder nur noch in geringem Maß. Man muss die Menschen unter Kontrolle halten und benötigt sie als Konsumenten. Dafür hat man das Internet und die Smartphones erfunden. Damit verschwindet der Widerpart des Kapitals. Es wird unangreifbar und seine Herrschaft ewig. Wie sollen die zerstreuten Konsumenten einen Klassenkampf führen? Mit was, gegen wen? Roboter und Algorithmen stellen keine Lohnforderungen, streiken nicht, machen nicht blau und werfen keine Schraubenschlüssel ins Fließband. Die Null nullt, und niemand behindert ihre tautologische Selbstbewegung. Die Erscheinungsweise des Kapitals wird seinem Begriff adäquat: Es ist sich selbst verwertender Wert, Geld heckendes Geld, das zum Zwecke seiner Vermehrung kaum noch den Umweg über die Produktion realer Dinge geht. Das Finanzkapital ist der automatische Fetisch, die vor sich hin nullende Null, die Marx als logischen Endpunkt der Verselbständigung des Wertes begriffen hat.
Über die Überflüssigen wird der Polizeistaat kommen. Oder eine digitale Diktatur à la China. Oder beides. Die Leute sind ja schon heute rund um die Uhr damit beschäftigt, über ihre Smartphones zu wischen. Das wird man zur Bedingung machen, wenn kann das Grundeinkommen beziehen möchte: 24 Stunden online sein. Und das ausgezahlte Geld muss bis zum Monatsende ausgegeben und verkonsumiert werden. Milliarden von Usern sind das digitale Proletariat, das seine Ausbeutung als Inbegriff seiner Freiheit erlebt. Sie denken, dass sie sich ihrer Geräte bedienen, dabei sind sie längst deren bloßen Anhängsel. Wenn Menschen ihre Entfremdung als Freiheit erleben, mach die Rede von der Entfremdung keinen Sinn mehr. Sie sind in ihrer Entfremdung ganz bei sich.
Meine Hirnantilope ist eben zu einem älteren Stück von Matthias Egersdörfer gesprungen. Er berichtet dort von seiner Begegnung mit einer führerlosen U-Bahn und fragt sich, wie es einem stolzen U-Bahnkapitän gehen mag, dem auf dem Nachbargleis eine solche U-Bahn entgegenkommt. Er bekommt seine bevorstehende eigene Abschaffung und Überflüssigkeit vor Augen geführt. So wird es demnächst den Lokführern gehen, denen ein von künstlicher Intelligenz gesteuerter Zug entgegenkommt. Streiken wird der dann wahrscheinlich so schnell nicht mehr.
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An den vor den Fenstern einer Buchhandlung aufgestellten Wühltischen standen neben mir eine Frau und ein Ehepaar, und sichteten die heruntergesetzten Angebote. Von Weitem hörte man das Brüllen eines offenbar zornigen Mannes. Zwei junge Ausländer gingen schnellen Schrittes vorüber. Der brüllende Mann folgte ihnen und beschimpfte sie lautstark. Er humpelte und konnte den jungen Männern nicht folgen. Als er sich in Höhe der Büchertische befand, schrie er: „Ich ficke euch in den Arsch, das sag ich euch! Irgendwann kriege ich euch, und dann ficke ich euch!“ Er schüttelte wütend seine Faust und wiederholte dieses Angebot noch einige Male. Die anderen Bücherfreunde sahen sich ratlos an. Die Frau sagte in Richtung des älteren Ehepaars: „Es ist zum Verrücktwerden mit diesen ganzen Ausländern. Es ist ja nur noch so.“ Der Mann stimmte ihr zu und ergänzte: „Die Grünen und die SPD können ja gar nicht genug von denen kriegen. Die holen ständig mehr davon ins Land. Wir Deutschen spielen gar keine Rolle mehr. Bald sind wir eine Minderheit!“ Das ist die Stimmung, aus der die AfD ihren bitteren Honig saugt, dachte ich und wandte mich zum Gehen. Aus der Ferne hörte ich noch immer das Schimpfen des alten humpelnden Mannes.
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Die Sonne strahlt auch heute wieder von einem tiefblauen Winterhimmel. Gestern saßen U und ich gegen Mittag an der Lahn auf einem Baumstamm und reckten unsere Gesichter der Sonne entgegen. Der Fluss führte Hochwasser und strömte schnell dahin. Wir hatten gehofft, Eisvögel zu sehen, hatten aber kein Glück. U steht vor schweren beruflichen Entscheidungen und war entsprechend angespannt und nervös. Wir sprachen darüber, aber letztlich muss sie die Entscheidungen selber treffen. Ob ihr unser Reden ein wenig geholfen hat, weiß ich nicht, hoffe es aber. Geschlafen hat sie heute Nacht vor lauter Aufregung wohl gar nicht. Ich werde heute Abend etwas Schönes für uns und vor allem für sie kochen.
Die deutschen Handballer sind von den Zuschauern und einer durch die Massen entfachten Euphorie bis ins Halbfinale der Europameisterschaft getragen worden, dort dann aber auf dem Boden der Tatsachen aufgeschlagen. Dänemark, Frankreich und Schweden waren dann doch eine Nummer zu große für die junge deutsche Mannschaft, der aber möglicherweise die Zukunft gehört. Das Endspiel zwischen Dänemark und Frankreich war ein echter Kracher und an Dramatik kaum zu überbieten. Die Franzosen um den alten Recken Nikola Karabatic haben es knapp für sich entschieden.
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Die Frankfurter Rundschau meldet heute: „Elon Musks Start-up Neuralink setzt erstmals ein Gehirn-Implantat bei einem Menschen ein. Es soll unter anderem ermöglichen, mit Gedanken ein Handy zu steuern. … ‚Gehirn-Computer-Schnittstellen haben das Potenzial, das Leben zum Besseren zu verändern‘, heißt es auf der Website von Neuralink, dem Neurotechnologie-Unternehmen von Elon Musk. Nun hat die Medizintechnik-Firma des Tausendsassas erfolgreich zum ersten Mal einem Menschen ihr Gehirn-Implantat eingesetzt.“ Der Patient befinde sich nach dem Eingriff vom Sonntag in einem guten Zustand, ließ Musk verlauten. Als ich im Radio von diesem Eingriff hörte, dachte ich spontan: Hätte man nicht dem Musk selbst ein richtiges menschliches Gehirn einsetzen können? Wenn es nicht gelingt, den faustischen Drang dieses Menschen zu stoppen, hat er das Potenzial, großes Unheil anzurichten. In seinem Kopf entstehen ja auch bereits Pläne für den Fall, dass die Erde unbewohnbar geworden ist. Dann wird der Planet gewechselt und das Zerstörungswerk anderswo fortgesetzt. Bloß keinen grundsätzlichen Zweifel an der Gangart des Fortschritts aufkommen lassen! Bloß nicht an den Machbarkeits- und Omnipotenzphantasien zweifeln, von denen das Projekt der endlosen Modernisierung psychisch angetrieben wird. Am Ende von Alexander Sokurows grandiosem Film „Faust“ stolpert dieser prometheische Mensch und gescheiterte Unternehmer durch eine verkarstete und eisige Mondlandschaft und brüllt: „Weiter, immer weiter!“
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