„Man wird sich seinen eigenen gesunden Menschenverstand nicht dadurch beweisen können, dass man seinen Nachbarn einsperrt.“
(Fjodor Dostojewskij: Tagebuch eines Schriftstellers)
Am heutigen Mittwoch hätte auf dem Wochenmarkt jeder Kunde mit Handschlag begrüßt werden können, so wenig war los. Auf dem doch recht großen Terrain verlor sich ein Dutzend Menschen. Die Händler standen in kleinen Grüppchen beieinander und besprachen die Lage. Die einen machten die Ferienzeit für die Besucherflaute verantwortlich, andere das miese Wetter, wieder andere den Verkehrsversuch. Wahrscheinlich wirkte all das zusammen. Einer der älteren Händler, ein bekannter Spaßvogel, ging umher und rief laut in die trichterförmig zusammengelegten Hände: „Hallo!“. Was soviel heißen sollte wie: „Ist da jemand?“
Christine, von der ich Eier und Gemüse beziehe, und ich nutzten die Gelegenheit, um unsere Sicht der Dinge ausgiebig zu erörtern. Dazu besteht an normalen Verkaufstagen keine Gelegenheit, da meist eine ganze Reihe von Leuten darauf wartet, bedient zu werden. Auf dem Markt besteht immer Gelegenheit zum Reden, wer das nicht akzeptiert, sollte wegbleiben. Das ist der Unterschied zum Einkaufen im Supermarkt, wo alles wie am Schnürchen verlaufen muss und alles Überflüssige aus dem ökonomischen Vorgang des Kaufens und Verkaufens herausgepresst ist. Auf dem Markt sind Ab- und Umwege erlaubt, ja die Leute gehen unter anderem deswegen dorthin. Aber es muss sozial verträglich bleiben und darf die anderen nicht über Gebühr beanspruchen und hinhalten. Andernfalls wird schon mal von hinten her gemurrt: „Wenn ihr so viel zu redde habt, trefft euch doch amol so unner der Woch.“ Als vor Christines Stand eine andere Kundin auftauchte, beendeten wir unsere Plauderei und verabschiedeten uns: „Tschüs, bis zum Samstag.“
Auch der Bettler, der eingangs des Marktes seinen Stammplatz hat und seit Langem irgendwie dazu gehört, führte Klage über den mangelhaften Besuch. Er hat seine Position klug gewählt, denn das Publikum, das den Markt besucht, ist Außenseitern der Gesellschaft gegenüber überdurchschnittlich aufgeschlossen. Und die Portemonnaies sind gut gefüllt und sitzen locker. Bis jetzt sei heute allerdings nichts reingekommen. Dabei habe er sich gerade ein neues Zelt gekauft, das zum Teil noch abbezahlt werden müsse. Er beschwerte sich über einen Kollegen, der unlauteren Wettbewerb betreibe, in dem er einen Hund präsentiere, der dermaßen dem Kindchenschema entspreche, dass die Leute ihm noch und noch Kohle zusteckten. „Der Rubel rollt bei dem. Wenn der hundert am Tag macht, mach ich gerade mal zehn“, klagte er. Er könne das beurteilen, weil dieser Kollege das Kleingeld, das er eingenommen habe, bei einem Händler auf dem Markt in Scheine umtausche. Und diese Umtauschaktion bekomme er gelegentlich mit. „Strenggenommen ist das ja Missbrauch eines Tieres, aber was soll‘s?“ Vielleicht solltest du dir ein Äffchen zulegen, schlug ich vor. Lachend verabschiedeten wir uns. Gegen Mittag fuhr ich durch den steten Nieselregen noch einmal zum Markt und drückte ihm einen Betrag als Beitrag zum Zeltkauf in die Hand. Er freute sich. Ich hatte einfach mehr Glück, denke ich oft, sonst könnte auch ich hier sitzen.
Schon im Gefängnis habe ich mir die Goethesche Einsicht zu eigen gemacht: „Es gibt keine Verbrechen, so groß sie auch sein mögen, die zu begehen ich mich nicht an gewissen Tagen fähig gefühlt hätte.“ All das, was wir als „Abweichungen“ betrachten, sind menschliche Möglichkeiten, und der Außenseiter ist und bleibt, was immer er getan haben mag, einer von uns. In der Einstellung zu ihren Randzonen gibt eine Gesellschaft sich als ganze zu erkennen. In den klassengespaltenen Herrschaftskulturen hat sich ein Verfahren eingeschliffen, das die angepasste Mehrheit sich ihrer Normalität dadurch versichert, dass sie Abweichler als „anormal“ ausschließt. In ihrer radikalsten Form reicht dieser Ausschluss bis zur physischen Vernichtung. Als Amos Oz im Jahr 2014 den ersten Siegfried Lenz Preis erhielt, gab er der Süddeutschen Zeitung ein Interview, in dem er sagte: „Ich habe eine bestimmte Verantwortung für die Sprache. Wenn sie missbraucht wird, ist es meine Pflicht loszubrüllen. Ich reagiere wie ein Rauchmelder. Wenn Menschen als ‚unerwünschte Ausländer‘ bezeichnet werden oder als ‚Parasiten‘, muss ich Alarm schlagen. Denn eine enthumanisierte Sprache ist das erste Indiz für eine enthumanisierte Gesellschaft.“
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Eine nun veröffentlichte Studie zum Umweltbewusstsein der Deutschen zeigt, dass sie die Umweltprobleme in ihrer großen Mehrheit als bedrohlich einschätzen. Die meisten von ihnen fürchten allerdings im Zuge der Klimakrise vor allem private Wohlstandseinbußen. Viele Deutsche verfahren offenbar nach der Devise: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass! Das heißt, sie ziehen aus ihren Befürchtungen keine Rückschlüsse in Bezug auf ihr eigenes Verhalten. Sie vernehmen nicht die Stimme, die Rilke im Louvre zu sich sprechen hörte: „Du musst dein Leben ändern!“ Die Deutschen erwarten die Lösung der Probleme von oben: vom Staat und der Industrie. Diese Erwartung wäre dann gerechtfertigt, wenn sie bereit wären, das Ihre zum Kampf gegen den Klimawandel und die Naturzerstörung beizutragen. Davon ist allerdings wenig bis nichts zu sehen, auch in dieser Studie nicht. Obwohl alle wissen, wie klimaschädlich Fliegen ist, wird geflogen, was das Zeug hält. Die Lufthansa hat im ersten Quartal diesen Jahres einen Rekordgewinn verbucht.
Wir haben nur dann eine Chance, wenn der Kampf auf allen Ebenen zugleich geführt wird. Wahrscheinlich haben wir gar keine Chance mehr, den Planeten und das Leben auf ihm zu retten, aber wir sollten sie nutzen. Gemäß der alten Achterbusch-Maxime: „Du hast keine Chance, aber nutze sie!“ Aber der Herbert ist nun auch schon seit eineinhalb Jahren tot.
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Die Süddeutsche Zeitung kommentiert das Vorrundenaus der deutschen Fußballfrauen bei der Weltmeisterschaft in Australien und Neuseeland mit der Überschrift: „Equal Play“. Was soviel heißen soll: Die deutschen Frauen spielen inzwischen genauso schlecht und erfolglos wie die Männer. Bekommen dafür allerdings nach wie vor lange nicht soviel Geld. Vor einer Weile hatte ich noch die Hoffnung, dem Frauenfußball könne das Schicksal des männlichen Profifußballs erspart bleiben. Schneller als ich dachte, hat der kapitalistische Ungeist auch den Frauenfußball erreicht und ihm Freude und Leichtigkeit ausgetrieben. Diese sind jetzt eher bei den Underdogs anzutreffen, bei Mannschaften wie Kolumbien, Südkorea und Marokko. Die perfekt geschminkten deutschen Spielerinnen stellten am Ende ihre Fassungslosigkeit über ihr frühes Ausscheiden tränenreich zur Schau. Telegenes Weinen allenthalben, das eigentlich das Erschrecken über den Ruin ihres Marktwerts war. Die Spielerinnen sind inzwischen Geschäftsfrauen, die sich gelegentlich zum Training und zu einem Spiel treffen, wie Gerd Müller die Wandlungen des Profifußballs bereits vor 50 Jahren treffend beschrieben hat. Schon bei der Männer-WM hatte ich den Eindruck, einem Schaulaufen von Frisuren- und Tattoo-Models beizuwohnen. Eine Mannschaft aus lauter narzisstischen Selbstdarstellern. Bei den Frauen hatte ich nach ihrem Ausscheiden den Eindruck, dass sie Gefühle der Trauer und Verzweiflung lediglich darstellten, aber nicht wirklich empfanden.
Irgendwelche Schlaumeier raten nach dem Debakel zu einer unverzüglichen weiteren Professionalisierung und Kommerzialisierung auch des Frauenfußballs und merken gar nicht, dass sie den Teufel mit dem Beelzebub austreiben wollen. „Im deutschen Fußball gibt es Optimierungsbedarf“, sagte DFB-Manager Chatzialexiou. Genau dieser BWL-Sprech ist von Übel und richtet den Fußball weiter zugrunde. Man müsste dem Fußball insgesamt eine Rückkehr zum Amateurwesen, zur puren Freude am Spiel, zum abendlichen Treffen auf dem Bolzplatz empfehlen. Andreas Bernard hat mit Wir gingen raus und spielten Fußball ein tolles Buch zum Thema beigesteuert: eine Liebeserklärung an den Fußball und der Versuch, seinen Kern freizulegen und zu retten. Der Kern ist Freundschaft und die pure Freude an der Bewegung und dem Spiel. Ich habe meine eigenen Erinnerungen in einen Text einfließen lassen, der nach dem Debakel von Katar unter dem Titel Die totale Entzauberung des Fußballs 2022 auf Telepolis erschienen ist. Der wunderbare Fußball hat irgendwann wie der arme Kohlenbrenner Peter Munk im Hauff-Märchen Das kalte Herz seine warme, pochende Seele an den Holländer-Michel als Inbegriff des kapitalistischen Un-Geistes verkauft. Inzwischen glaube ich, er kann sie von diesem auch nicht mehr zurückerlangen. Man wird den Fußball von unten neu aufbauen und die ganzen professionellen und kommerziellen Strukturen sprengen und über Bord werfen müssen. Man muss den DFB-Präsidenten Neuendorf mit seiner peinlich hochgeschobenen Brille und die ganze Funktionärskeulenriege nur anschauen, dann sieht man das ganze Elend. Wie soll mit solchen Leuten ein Neubeginn stattfinden? Sie werden den Fußball nur immer tiefer in die Scheiße reiten. Ein wirklicher Neuanfang ist nur in einer neuen und ganz anderen Gesellschaft denkbar, in der sich nicht alles ums Geld dreht, sondern das menschliche Glück im Mittelpunkt steht. Und auch das haben wir inzwischen gelernt: Menschliches Glück kann nie nur mein Glück, nicht einmal nur menschliches Glück sein, sondern müsste das aller anderen Lebewesen, ja der gesamten Natur mit einschließen. Das klingt derart utopisch, dass mir schon beim Formulieren ganz blümerant wird.
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Immer öfter sehe ich in der Stadt kleine Knirpse von vielleicht drei Jahren mit Frisuren, die ihre Väter ebenfalls haben. An den Seiten und im Nacken ausrasiert und oben mit Gel hochgekämmt oder zum Dutt gebunden. Mini-Hipster sozusagen. Heute auf dem Markt war ein Dreikäsehoch die Sensation, der wie sein Vater eine Schiebermütze, Knickerbocker und Hosenträger trug. Ein kleiner Junge, der seinen Vater doubeln muss, der sich offenbar in den 1920er Jahren zu Hause fühlt. Gut, dass seine Vorliebe nicht der nächsten Dekade galt. Sonst hätte der Kleine womöglich eine SA-Uniform tragen müssen.
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„Und genau diese Realität, dieses Selbst, das sich als Selbst für den anderen, als mit dem anderen in Beziehung stehend sieht, nenne ich das moralische Bewusstsein.“
(Jean Paul Sartre: Brüderlichkeit und Gewalt)
Wenn in meiner Kindheit die ganze Familie sommers auf der Terrasse zu Mittag aß und es unter uns Geschwistern mal laut wurde, wurden wir umgehend ermahnt: „Kinder, die Nachbarn sitzen auch draußen und wollen in Ruhe zu Mittag essen. Also seid nicht so laut und nehmt Rücksicht.“ Diese Aufforderung zur Rücksichtnahme zog sich wie ein roter Faden durch unsere Kinderzeit und war die Geburtsstunde der Moral in uns. Das war nicht immer angenehm und hat uns manchen Spaß verdorben. Aber man lernt auf diese Weise eben auch: Der Spaß geht daneben, wenn er auf Kosten anderer Menschen geht. Es ist für ein gedeihliches Miteinander unerlässlich, gelegentlich die Perspektive der anderen einzunehmen und die Welt auch aus ihrer Warte zu betrachten. Diese Fähigkeit zum Perspektivenwechsel mag in uns Menschen angelegt sein, die bedarf aber, um sich entfalten zu können, eines bestimmten Klimas und kindlicher Prägungen. Und auch in diesem Feld erleben wir einen dramatischen Klimawandel, wenn auch in umgekehrter Richtung. Im zwischenmenschlichen Bereich wird es kälter, die Bedingungen zum Erwerb von Empathie sind spürbar ungünstiger geworden. Der Kapitalismus hat im Stadium des Konsumismus die Prämien auf egoistisches Verhalten noch einmal drastisch erhöht und fördert eigentlich nurmehr asoziale und antisoziale Verhaltensweisen. Wer es zu etwas bringen will, kann sich Rücksichtnahme nicht leisten. „Du Opfer, du Loser, du Weichei, du Versager, du Spasti“ sind gängige Beschimpfungen schon auf den Schulhöfen und unter den Kleinsten. Auch hier hätten wir im Sinne von Amos Oz Alarm zu schlagen. Aber, solange die antisozialen Haltungen aus der Grundstruktur dieser Gesellschaft gespeist werden, stehen wir als Warner auf verlorenem Posten.
Bestimmte Dinge kann man nur in der sensiblen Phase der Kindheit lernen. Kein Buch, keine Lehrerin kann lehren, was man nur von liebenden und geliebten Eltern, manchmal auch Lehrerinnen und Lehrern lernen kann. Das Deprimierende ist, dass das, was in dieser Phase nicht gelernt wurde, nicht mehr wiedergewonnen und nachgeholt werden kann. Man kann jetzt nur noch durch energisches Gegensteuern das Schlimmste verhüten, und man sollte nichts unversucht lassen, das zu tun. Das zu Hause und von den Eltern Gelernte hat nur dann Chancen, sich im Inneren des Kindes als innerer Kompass festzusetzen, wenn es von der Um- und Mitwelt gleichsinnig gestützt wird. Wenn Eltern ihre Kinder zu Empathie und Mitgefühl befähigen wollen, auf dem Schulhof aber der blanke Sozialdarwinismus herrscht, werden die elterlichen Maximen langfristig keine Chance haben. Viele Eltern machen derzeit die Erfahrung, dass ihre Erziehungsbemühungen zu einem bloßen „Wir möchten oder würden gern“ herabsinken und verpuffen. Gegen den mächtigen Chor anderer, gegenläufiger Stimmen sind die elterlichen kaum noch hörbar. Mächtige gesellschaftliche Einflüsse konterkarieren die besten Absichten der Eltern und verdammen sie zu einer ohnmächtigen Statistenrolle – wenn sie nicht längst kapituliert und ihre Erziehungsbemühungen eingestellt haben. Viele Eltern überlassen inzwischen ihre Kinder den Geräten und halten sich raus. Es läuft jedenfalls nicht gut im Feld der Erziehung und das lässt für die Zukunft des menschlichen Zusammenlebens wenig Gutes erwarten. Eine vernünftig eingerichtete Gesellschaft hätte ihr Hautaugenmerk darauf zu richten, dass Kinder verlässliche Räume vorfinden, in denen sie ihre „psychische Geburt“ (Margaret Mahler) vollenden und sich zu wirklichen Menschen mit menschlichen Eigenschaften entwickeln können. Wenn wir es zulassen, dass auf die Kindheit der Kälteschatten von Elend, Indifferenz und Bindungslosigkeit fällt, dürfen wir uns nicht wundern, wenn im unwirtlichen Schoß dieser Gesellschaft eine Generation heranwächst, die psychisch frigide ist und nur noch die psychischen Korrelatformen des Marktes entwickelt: kalte Schonungs- und Rücksichtslosigkeit, moralische Indifferenz und eine frei flottierende Aggressivität. Kinder geraten mehr und mehr unter den Einfluss von sogenannten Influencern. Das scheint die Form zu sein, in der die Gesellschaft sich heute der Kinder bemächtigt und sie prägt. Von ihnen bekommen sie gezeigt, wie Leben geht und welche Produkte man benötigt, um einen angesagten Lebensstil pflegen zu können. Sie Eltern spielen im Universum der Kinder höchstens noch als Geld- und Wohnungsgeber eine Rolle.
Die alles entscheidende Frage lautet: Wie kommt die Moral in die Menschen? Wir kennen in den westlichen Gesellschaften den Weg über die Identifikation des Kindes mit seinen Eltern, deren Maximen und Ge- und Verbote es sich im Laufe der ersten Lebensjahre zu eigen macht. Sie werden so zu seinen eigenen. Das Über-Ich belehrt die Menschen darüber, was „das Gute“ ist, das sie zu tun, und was „das Böse“ ist, das sie zu unterlassen haben. Fehlt der lebendige Austausch mit den Eltern oder deren Ersatzpersonen, kommt dieser Transfer ins Stocken und es kann sich kein stabiles Über-Ich bilden. Wir bekommen es mit immer mehr Menschen zu tun, die nicht mehr wissen, „was sich gehört“, und nur noch tun, „wozu sie Lust haben“ und „was sie wollen“. Die „innengeleitete Lebensweise“ funktioniert immer weniger und wird von neuen Formen einer „außengeleiteten Lebensweise“ abgelöst werden. David Riesman hat diese beiden Formen der Verhaltenssteuerung ausgemacht und in seinem sozialpsychologischen Klassiker Die einsame Masse, der 1958 erschienen ist, beschrieben. Es liegt heute nahe, die Frage: Wie kann man das Verhalten von Massen von Menschen „von außen“ kontrollieren? technisch zu beantworten und überall im öffentlichen Raum Kameras aufzuhängen. Horribile dictu, aber es wird das chinesische Modell der Herrschaft sein, das sich über den ganzen Globus ausbreiten wird. Es scheint die einzige Möglichkeit, den völligen Zerfall der Gesellschaft aufzuhalten. Kant hat bekanntlich den kategorischen Imperativ als die Grundlage der Moral in uns bezeichnet. Dieser verschafft sich mit seiner Forderung Geltung: „Handele so, dass die Maxime deines Handelns die Grundlage allgemeiner Gesetzgebung sein könnte.“ Das moralische Gesetz ist für Kant so tief in der menschlichen Natur verankert, dass auch „der ärgste Bösewicht, wenn er nur sonst Vernunft zu gebrauchen gewohnt ist“, keine Möglichkeit hat, sich der moralischen Bindung zu entziehen. Ob Kant heute noch zu einer ähnlichen Beurteilung käme, wage ich zu bezweifeln. Schon zu dem relativ einfachen Schluss „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andren zu“, sind die meisten unserer Zeitgenossen nicht imstande. Ein Gang entlang der Müllberge, die die Leute am Wochenende an der Lahn zurücklassen, demonstriert das. Das mag ein läppisches Beispiel sein, und es gibt sicher viel drastischere Fälle. Aber der Zerfall der Moral wird eben auch und vielleicht sogar vor allem im Alltag spürbar. Mit dem Zerfall der Moral, die der Kitt der Gesellschaft ist, beginnt es im Gesellschaftsbau überall zu klappern und zu ziehen. Irgendwann funktioniert nichts mehr so richtig, und alles muss künstlich gestützt und aufrechterhalten werden. Wenn bestimmte Zerfallsprozesse mal begonnen haben, scheinen sie irgendwann unumkehrbar zu sein. Ich fürchte, dass wir in dieses Stadium längst eingetreten sind. Wer mit offenen Augen und wachen Sinnen durch die Welt geht, wird das wahrnehmen. Wir wissen vom Historiker Theodor Mommsen, dass nach dem Untergang Roms allerdings Jahrzehnte vergingen, bis die Römer begriffen, dass sie untergegangen waren.
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Es gibt Tage, da muss ich einfach Pink Floyd hören. Was das für Tage sind, kann ich gar nicht genau sagen, aber ich weiß: Du solltest etwas von Pink Floyd auflegen. Ein Hauch von Melancholie ist im Spiel und eine vage Sehnsucht. Vielleicht Sehnsucht nach dem „ozeanischen Gefühl“. Noch ein vager Begriff. Das „ozeanische Gefühl“ war Sigmund Freud nicht so ganz geheuer, und er tat es als Regression auf eine frühere und überwundene Phase der menschlichen Entwicklung ab. „Ich selbst kann dies ‚ozeanische‘ Gefühl nicht in mir entdecken“, schrieb er in seinem Buch Das Unbehagen in der Kultur. Man entdeckt auch nur, wonach man wirklich sucht und was man finden möchte. Häufig sind Angst und Abwehr im Spiel, wenn uns etwas unzugänglich bleibt. Freud hatte es gern konturiert und abgegrenzt. Er mochte keine Psychotiker und wagte sich an ihre Therapie nicht heran. Diese Patienten überließ er dem Irrenhaus und seinen rüden Methoden. Das „ozeanische Gefühl“ bedrohte ihn (und bedroht uns), weil die Fluten des Unbewussten das Ich zu überfluten drohen, auf dessen Errichtung er und wir soviel Mühe verwand haben. Glück ist ja nur in einem Zustand verschwimmender Grenzen erfahrbar, wenn wir uns von der ängstlichen Sorge um die Aufrechterhaltung unseres Ichs einmal freimachen. Nietzsche hat die Verkrampftheit des abendländischen Subjekts in einem Selbstbeherrschung betitelten Abschnitt der Fröhlichen Wissenschaft treffend beschrieben. Der Passus endet mit dem Satz: „Man muss sich auf Zeiten verlieren können, wenn man den Dingen, die wir nicht selber sind, etwas ablernen will.“ Das ozeanische Gefühl ist ein Zustand gelockerter Ich-Grenzen, in dem wir Zugang zu Gefühlsdimensionen und Erfahrungen bekommen, die uns im Alltag mit seiner hochgezogenen Abwehr verwehrt sind. Mitunter lösen solche Zustände auch Tränen aus, jedenfalls bei mir geschieht dies gelegentlich. Bestimmte Filmsequenzen und Musikstücke können mich zum Weinen bringen. Musik, hat Adorno einmal geschrieben, durchbricht die Welt der Zwecke und Intentionen. Der Ursprung der Musik „ist gestischer Art und nah verwandt dem des Weinens. Es ist die Geste des Lösens. Die Spannung der Gesichtsmuskulatur gibt nach, jene Spannung, welche das Antlitz, indem sie es in Aktion auf die Umwelt richtet, von dieser zugleich absperrt. Musik und Weinen öffnen die Lippen und geben den angehaltenen Menschen los.“ Beim Hören von Musik überschreiten wir Grenzen und das, was wir normalerweise als Wahnsinn von uns weisen, rückt uns näher und wird uns zugänglich. Nochmal Adorno: „Der Mensch, der sich verströmen lässt im Weinen und einer Musik, die in nichts mehr ihm gleich ist, lässt zugleich den Strom dessen in sich zurückfluten, was nicht er selber ist und was hinter dem Damm der Dingwelt gestaut war.“ Es ist erstaunlich, wie nahe Nietzsche und Adorno sich in diesem Punkt sind. Beide versuchen, sprachlich in Regionen vorzudringen, die der Sprache eigentlich entzogen sind. „Ozeanisches Gefühl“ ist eine Chiffre für den Versuch, etwas, das sprachlich sich nicht ausdrücken lässt, dennoch begrifflich zu fassen.
Pink Floyd hat eine Musik gemacht, die Schichten unserer Person erreicht, die uns sonst nicht zugänglich sind. Ich habe in Teil 69 der DHP davon berichtet, dass ihre Musik von Verrückten „verstanden“ wird, die unmittelbar auf sie reagieren. Ich habe dort auch bereits Lutz Seiler zitiert, der in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 3. März 2023 über seine Begegnung mit der Musik von Pink Floyd sprach: „Jeder weiß, was geschehen kann, wenn Musik einen wesentlichen Punkt trifft in uns, der vorher ohne Ausdruck war. Der aber vielleicht schon immer existierte, egal ob wir davon wussten oder nicht. Und manchmal bleibt es so, ein Leben lang. Etwas trifft den Punkt. Mehr ist dazu nicht zu sagen, mit Worten ist da nichts zu machen.“
Hab mir gerade zu Ehren der gerade gestorbenen Sinéad O’Connor ihren gemeinsamen Auftritt mit Roger Waters beim The Wall-Spektakel in Berlin 1990 nochmal angesehen und -gehört. Sie sang das Stück Mother. Bei diesem Auftritt von O‘Connor ging einiges schief und es wurde gefaked, aber was soll‘s, die Musik ist dennoch phantastisch und Sinéad beeindruckend. Was für Augen! Sie starb Ende Juli 2023 im Alter von 56 Jahren in London. Auch ihr Stück Nothing Compares 2 U, das ich Anfang der 1990er Jahre in den Bergen über dem Gardasee hörte, hat mir Schauer über den Körper gejagt und mich manchmal zu Tränen gerührt. Jemand hatte mir eine Kassette mit aktueller Musik bespielt und vor der Abreise geschenkt. Ich hörte sie über meinen Walkman rauf und runter. Nothing Compares war das erste Stück auf der Kassette, was das Zurückspulen und ständige Hören erleichterte. Auf dieser Kassette befand sich auch Back in the High Life von Steve Winwood, das damals auch zu meinen Lieblingsstücken gehörte. Seit den Zeiten der Spencer Davis Group ist Winwood einer meiner musikalischen Heroen.
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„In der Realität blieb ihm nur eines: Sobald die Macht die Arme öffnete, um ihn an ihre Brust zu drücken, musste er so schnell wie möglich fliehen.“
(Erich Loest: Durch die Erde ein Riss)
Nach dreiwöchiger Pause war ich heute endlich mal wieder schwimmen. Bei 17 Grad Wassertemperatur hielt ich es nicht lange im Wasser aus. Ich setzte mich auf den Steg und blickte aufs Wasser. Ich sah einen Eisvogel vorüberflitzen. Ein Vater kam mit seinem vielleicht vierjährigen Sohn. Der Junge wollte ins Wasser, war dann aber doch erschrocken über dessen Kälte. Er tauchte ein paar Mal kurz ein und ließ sich dann von seinem Papa wieder rausziehen. Der Vater versprach, morgen mit ihm nach Marburg in ein Schwimmbad zu fahren, da sei das Wasser wärmer. „Aber dein Auto ist doch in der Werkstatt“, gab der Junge zu bedenken. „Das Autohaus hat mir für die Zeit ein anderes gegeben“, sagte der Vater. „Ist es ein Ferrari oder ein Lamborghini?“, fragte der Junge und war plötzlich ganz enthusiastisch. Er war enttäuscht, als der Vater sagte, dass es nur ein Mercedes sei. Der Vater trocknete den Bub ab, und dann gingen sie, um die Oma zu besuchen. Als auch noch drei Kanuten, die bei da Franco etwas gegessen hatten, aufgebrochen waren, kehrte Ruhe am Steg ein.
Ich holte den Erich Loest aus dem Rucksack und las weiter. Er schildert seine Festnahme, die Haft und den Prozess. Stundenlang fragen die Vernehmer nach seiner Lektüre und seinen Kontakten. „Wer für Kafka war, war gegen den Sozialismus, war Feind. Und Feinde gehörten ins Zuchthaus. Im Protokoll schrieb der Vernehmer Kafka beharrlich mit ff.“ Nach einem Jahr Haft meldete sich bei Loest so etwas wie ein Haftkoller. Davon hatte er gelesen, „jetzt spürte er, was damit gemeint war: Die Verzweiflung gegenüber einer Übermacht der Mauern und der Zeit.“ Ab und an taucht in Loests Erinnerungen ein SED-Funktionär namens Karl Schirdewan auf, der ein paar Mal vergeblich an Ulbrichts Stuhl gesägt hatte und dann an den Rand und ins Abseits geschoben wurde. Sein Enkel Martin ist heute Co-Vorsitzender der Linken und betreibt mit Frau Wissler deren wahrscheinlich endgültige Selbstabschaffung. Das ist ganz sicher nicht im Sinne des Großvaters.
Vor dem Loest hatte ich in einer Ausgabe der Zeitschrift Tintenfisch aus dem Jahr 1973 geblättert und herumgelesen, die ich auf dem Hinweg im Bücherschrank in der Plockstraße gefunden hatte. Ich stieß darin auf einen Text von Peter O. Chotjewitz über die Ermordung des italienischen Anarchisten Giuseppe „Pino“ Pinelli. Er stürzte am 15. Dezember 1969 kurz vor Mitternacht aus einem Fenster im vierten Stock des Mailänder Polizeipräsidiums. Man hatte Pinelli einen Bombenanschlag zur Last gelegt, den, wie sich dann herausstellte, Faschisten begangen hatten. Diese wurden zwar vor Gericht gestellt, aber freigesprochen. Die drei Polizeioffiziere, die Pinelli verhört hatten, wurden 1971 wegen Mordes angeklagt. Aus Mangel an Beweisen wurde das Verfahren eingestellt, und es wurde festgestellt, dass Pinellis Sturz ein Unfall gewesen sei. Einige Monate später wurde Kommissar Luigi Calabresi, einer der drei Vernehmer, auf offener Straße erschossen. Dafür wiederum machte man Adriano Sofri verantwortlich, den Kopf der linksradikalen Organisation Lotta Continua. Er wurde zu 22 Jahren Haft verurteilt, die er in Pisa verbüßte, bis seine Haft wegen einer schweren Erkrankung in Hausarrest verwandelt wurde. Er hatte mit der Tötung von Calbresi ungefähr soviel zu tun, wie Rudi Dutschke mit der Ermordung von Herrn Schleyer – nämlich nichts. Beide galten als „Verderber der Jugend“ und wurden für alles haftbar gemacht, was in der Folge der Studentenbewegung sich an Aberrationen ereignete. Erwähnt sei noch, dass Pinellis Tod Dario Fo als Vorlage für sein Theaterstück „Zufälliger Tod eines Anarchisten“ diente.
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Habe gestern Abend zum dritten Mal den Film In den Gängen gesehen. Das erste Mal sah ich ihn auf dem Filmfestival Film by the Sea in Vlissingen im September 2018 mit meinem niederländischen Freund Jan. Mit drei phantastischen Hauptdarstellern: Franz Rogowski, Sandra Hüller und Peter Kurth. Bei jedem der drei Durchgänge durch das Innenleben eines Großmarkts in der ostdeutschen Provinz und der Menschen, die ihr Leben in ihm zubringen, habe ich andere und neue Dinge gesehen. Ein beeindruckender, ein großartiger Film, der bis zum 8. November in der Arte-Mediathek zu finden ist.
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Heute stieß ich in der Sonntagszeitung der Frankfurter Allgemeinen auf ein Interview mit einer alten Bekannten. Ich kenne sie aus ihrer Zeit als Punk mit raspelkurzen und knallbunten oder gebleichten Haaren. Sie frönte damals bis ins Private hinein einer Ästhetik des Hässlichen, spielte Fußball in einer Mannschaft, die sich „Gießen asozial“ nannte, und machte Musik in einer Kombo, die „Pestpocken“ hieß. So war das damals, als sie als junge Soziologiestudentin in einer Diskussionsrunde auftauchte, die sich um einen Professor herum gebildet hatte. Sie hat inzwischen promoviert und sich einen Namen als Expertin für heutige Beziehungsformen und speziell für Praktiken des Online Dating gemacht. Diese Forschungen haben ihr etliche Einladungen in die Sendung Scobel eingetragen. Jetzt hat sie es in den intellektuellen Olymp geschafft: ein Interview mit der FAZ. Sie propagiert darin die Preisgabe des Ideals der romantischen Liebe, das daran kranke, das es etwas verspricht, was es dann in der Realität des Beziehungsalltags nicht halten kann. Wir sollten uns also davon lösen und realistischere Drehbücher für unsere Beziehungen entwerfen. Diese Anpassung ans Gegebene ist das, was ich ihr vorwerfen würde. Ich würde mich allemal auf die Seite der Romantik schlagen und sie gegen die schmähliche Realität des kapitalistischen Tausch- und Barzahlungsprinzips verteidigen. In der Vorstellung von romantischer Liebe und Treue steckt ja auch etwas Widerständiges, die Wendung gegen eine Gesellschaft, die selbst im Bereich des Intimen den steten Wechsel und Flexibilität propagiert. Wenn die Realität nicht dem Ideal entspricht, muss es nicht die Schuld des Ideals sein. Das heißt: Wenn der Beziehungsalltag der meisten Menschen mit dem Ideal der romantischen Liebe wenig zu tun hat, dann spricht das gegen das, was geschieht, und nicht unbedingt gegen das Ideal. Meine ehemalige Freundin hat sich, ob sie sich eingesteht oder nicht, auf die Seite derer geschlagen, die die Durchökonomisierung und –monetarisierung der Gesellschaft betreiben. In einer vollkommen in die Funktionale gerutschten Gesellschaft liegt wie eine Endmoräne aus vergangenen Zeiten die Idee der romantischen Liebe, die ich unter Kulturschutz stellen und gegen die blindwütigen Modernisierer verteidigen würde. Die Romantik war und ist in gewisser Weise noch immer Protest gegen die totale Verzweckung und „Entzauberung der Welt“. Der rebellische Gestus meiner ehemaligen Freundin wurde ad acta gelegt und ist einer realitätsgerechten Empörung darüber gewichen, dass es immer noch gesellschaftliche Subsysteme gibt, die nicht ganz auf der Höhe des kapitalistischen Hauptsystems sind und sich schleunigst anpassen müssen. Mit einer solchen Haltung kommt man in Talkshows und die FAZ.
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„Ich schlafe mit der Waffe in der Faust, ein sicherer Halt, als habe jemand einen Griff an die Realität geschraubt.“
(Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur)
„Am Montag, den 26. August gegen 23:15 schoss er sich am Ufer des Hohenzollernkanals mit einem Revolver in den Kopf“, heißt es am Schluss des Nachworts zu Wolfgang Herrndorfs Buch Arbeit und Struktur. Über diesen Suizid ist viel geschrieben worden. Er jährt sich dieses Jahr und in diesen Tagen zum zehnten Mal. Arbeit und Struktur ist mir ein wichtiges Buch geworden. Darin ist vom „Abwehrzauber des Weiterarbeitens“ die Rede, eine Formulierung, die ich immer auch auf mein eigenes Schreiben bezogen habe. Herrndorf zitiert dort einen Dialog aus Stendhals Roman Rot und Schwarz:
„Ein herrlicher Ball!“, sagte er zum Grafen. „Nichts fehlt hier.“ „Es fehlt der Sinn“, gab Altamira zur Antwort.
Herrndorf Roman Tschick hat sich inzwischen rund drei Millionen Mal verkauft. Es ist trotz der hohen Verkaufszahlen ein tolles Buch. Ich habe es 2020 – aus Anlass des zehnten Jahrestags seines Erscheinens – auf den Nachdenkseiten unter dem Titel Abenteuer gleich hinter der nächsten Ecke besprochen und empfohlen. Nach 1994 arbeitete Wolfgang Herrndorf für die Satirezeitschrift Titanic. Eine zweiteilige Zeichnung aus dieser Zeit hat es mir besonders angetan. Sie zeigt einen Mann einmal als braven Normalo und dann auf dem zweiten Bild denselben Mann mit Schweinsnase und Schweinsohren. Darüber hat Herrndorf geschrieben: Ulf Krüger, das Schwein, besucht einen Kurs für Selbstverwirklichung.
Im Magazin der Süddeutschen Zeitung vom 21. Juli 2023 hat Herrndorfs Frau Carola Wimmer über seine Arbeit und ihr Zusammenleben dezent berichtet.
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Ich sitze auf dem Steg an der Lahn. Drei Meter neben mir landet ein Eisvogel und lässt sich auf einem abgerissenen Ast nieder, der halb im Wasser liegt. Von dort aus lässt es sich vortrefflich fischen. Irgendwann bemerkt er mich, fliegt auf und ist im nächsten Augenblick auch schon verschwunden. Aber ein paar Minuten durfte ich neben ihm sitzen.
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Über Nacht hat sich ein blutiger Fleck unter der Haut meines linken Unterarms gebildet. Ein paar Gefäße scheinen geplatzt zu sein, warum weiß ich nicht. Ich kann mich an keinen Stoß erinnern, der das verursacht haben könnte. Irritiert starre ich auf den Fleck. Ich sehe in ihm einen Vorboten kommenden Unheils, vielleicht des Todes.
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Ein Kanu voller junger Frauen kommt vorbei. Sie schauen auf das Schild, das über dem Steg hängt und das Areal als „Privatgelände des Männerbadevereins von 1836“ ausweist. „Das ist typisch: Jeder Penis fordert sein Privatgelände!“ Lachend fuhren sie vorüber und verschwanden hinter der nächsten Biegung des Flusses. Ihre Welt war für eine Moment in Ordnung.
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In der Fußgängerzone leistet sich ein Imbiss, der in Nudeln macht, einen dümmlich grinsenden Aufblas-Grinch, der penetrant mit dem Arm Richtung Eingang wedelt. Direkt neben der wedelnden Plastikpuppe stehen zwei Tische und ein paar Stühle. An dem einen Tisch saß heute Vormittag ein Typ mit Basecap, der mit der einen Hand Nudeln aus einer Plastikschale in seinen Mund schaufelte und mit der anderen auf seinem Handy herumwischte und -drückte. Am anderen Tisch saß eine Mutter mit ihren zwei kleinen Kindern, die ebenfalls etwas aus Plastikschalen löffelten. Das kleinere der beiden Kinder saß im Kinderwagen, der so dicht neben dem Grinch stand, dass das Kind bei jeder Ausholbewegung der Puppe am Kopf berührt wurde. Das schien weder das Kind noch seine Mutter zu stören, die neben dem Löffeln noch mit ihrem Smartphone beschäftigt war. Sie mampften weiter das Zeug aus den brauen Plastikschalen, das kleinere der Kinder saugte an einer Flasche herum. Eine heutige Einkaufs-Idylle, die gut in unsere trostlose Fußgängerzone passte. Wie von Deix oder Hurzlmeier gezeichnet.
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Carl besucht nach längerer Abwesenheit mal wieder seine Eltern in Gera. Das Land drumherum, die DDR, ist gerade dabei zu zerfallen. Auch die Eltern wollen das Land verlassen und ihrem Sohn Haus, Garten, Auto und die Garage mit dem Werkzeug des Vaters als Erbe übergeben. Das Abendbrot wird auf einem Servierwagen ins Esszimmer gerollt. Alles ist wie immer. „Wie zwei Kinder fuhren sie dann den kleinen Wagen zusammen durch den Flur in die Küche. Carl fühlte sich hilflos, aber er half, und augenblicklich übermannte ihn das Heimweh, die Sehnsucht nach Ankunft, Ruhe, Schlaf, Heimkehr des verlorenen Sohnes, irgendetwas davon. Sehnsucht nach jener anfallartigen Müdigkeit, wie sie ihn nur hier heimsuchte, zu Hause, auf dem Sofa seiner Kindheit: ‚Ach Carl, mach dich doch ein bisschen lang. Und hier, nimm noch das Kissen, brauchst du eine Decke? Nimm doch noch die Decke.‘ Erst das Kissen und dann noch die Decke, das hieß: Abwehr jeder Anfechtung, Auslöschung aller Bedrängnis.“ Ein letztes Aufflackern von Heimatgefühlen in einer sich auflösenden, stürzenden Welt. So steht es in Lutz Seilers Roman Stern 111. Lutz Seiler erhält demnächst den Georg-Büchner-Preis verliehen. Völlig zu Recht.
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