79 | Das große Vergessen

„Alle verblöden um die Wette.“

(Gustave Flaubert)

Apokalyptische Bilder jeden Abend in den Nachrichtensendungen: Hitze, Brände, Überflutungen, Erdbeben, Hungerkatastrophen, Krieg und Zerstörung. Wir bekommen täglich eine derartige Dosis an Schreckensnachrichten verabreicht, dass wir die Fähigkeit zur Empörung und Revolte einbüßen. Wir stumpfen ab und drohen unsere Fähigkeit zur Empathie einzubüßen. Stefan Zweig hat dieses Phänomen bereits angesichts der Meldungen von den Fronten des Zweiten Weltkriegs beschrieben. (Teil 72 der DHP: Machnos Erben) Damals wie heute müssten wir aufschreien und uns kollektiv auflehnen, aber die Masse der Bilder und die Flut der Nachrichten lassen uns verstummen und lähmen unsere Initiative. Jurek Becker hat vor vielen Jahren schon auf ein scheinbares Paradox hingewiesen: Je drastischer die Bilder, die man uns präsentiert, desto schneller vergessen wir, was wir gesehen haben. Die Fülle und vor allem der Konkretismus der Bilder ist das beste Mittel, uns gegen das Unglück immun zu machen. Das ist eine zu wenig beachtete Facette der „Dialektik der Aufklärung“: Je deutlicher eine Barbarei zu sehen ist, desto schneller vergessen wir sie. Nachrichten haben uns stärker geprägt, als wir sie nur hörten oder lasen. Die Bilder dazu entstanden in unseren Köpfen und beschäftigten uns dann mehr, als die fertig gelieferten von heute. Im Sinne Hegels ist das scheinbar Konkrete oft das Abstrakteste, weil es den gesellschaftlichen und geschichtlichen Zusammenhang ausblendet und uns mit der Oberfläche abspeist. Bei Hegel bedeutet konkret eben nicht anschaulich und gegenständlich, sondern leitet sich vom lateinischen Wort concrescere her, was soviel bedeutet wie zusammenwachsen. Es geht also um die Herstellung von Zusammenhängen, die ein einzelnes Ereignis aus der Abstraktheit herauslösen und konkret werden lassen.

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Bei Jonathan Franzen findet sich eine Unterscheidung zwischen dem Konzept „Klimawandel“ und dem des „Naturschutzes“. Das Konzept „Klimawandel“ ist im Sinne Foucaults ein „Dispositiv der Macht“, das dem Versuch dient, die durch das Raubbauverhältnis des Kapitals zur inneren und äußeren Natur ausgelösten Selbstzerstörungsprozesse des industriell-kapitalistischen Systems auf eine Weise zu stoppen, die den Fortbestand des Systems als Ganzem nicht gefährdet. Die Fixierung der gegenwärtigen Debatten auf den durch CO2-Ausstoß verursachten „Klimawandel“ rückt das Problem, vor dem die Menschheit steht, in den Bereich des technisch Regel- und Machbaren. Deswegen genießen er und die Bewegungen, die sich an ihm festmachen, gegenwärtig eine derart große Aufmerksamkeit und Beliebtheit. Die jungen Leute von Fridays for Future werden von Teilen der herrschenden Klasse und den Medien hofiert, ja geradezu umarmt. Sie müssen aufpassen, dass sie sich nicht vor ihren Karren spannen lassen. Deren Interesse besteht darin, eine Bewegung zu stärken, die sich in immanenter und realitätsgerechter Empörung erschöpft: Wir müssen nur auf erneuerbare Energien umrüsten, und schon kann alles so weitergehen wie gehabt. Wir müssen nichts an unserer Art zu produzieren und das Produzierte zu konsumieren ändern, wir müssen nichts an unserem Naturbezug ändern und vor allem müssen wir die Eigentumsverhältnisse nicht antasten. Mit all dem hat der Klimawandel nichts zu tun. Jonathan Franzen hat in seiner Essay-Sammlung Das Ende vom Ende der Welt geschrieben: „Der Klimawandel hat viel mit dem ökonomischen System gemein, das ihn beschleunigt. … Er harmonisiert auch prima mit der Technologieindustrie, indem er die Vorstellung befördert, dass allein die Technik, sei es durch die Effizienz des Fahrdienstvermittlers Uber, sei es durch einen Geniestreich des Geo-Engineering, das Problem der Treibhausgase lösen kann. Als Narrativ ist der Klimawandel fast so simpel wie ‚Märkte sind effizient‘. Was erzählt wird, braucht weniger als hundertvierzig Zeichen: Wir nehmen CO2, das zuvor gebunden war, und pumpen es in die Atmosphäre, und wenn wir nicht damit aufhören, stecken wir in der Scheiße. Naturschutz dagegen ist romanhaft.“ An anderer Stelle desselben Buches heißt es, „Naturschutz ist franziskanisch“, was soviel heißt: Man schützt etwas, das man liebt, und geht behutsam damit um. Der Begriff „Ressource“ verwandelt Natur in ein Rohstofflager, das zu unserer Ausbeutung bereitsteht und uns stets zuhanden ist. Das Konzept „Klimawandel“ würde an diesem Naturbezug nichts ändern. Man braucht sich nur die FDP-Minister anzuschauen und anzuhören, sie verkörpern es am Reinsten mit ihrem ständigen Gerede von der „Technologieoffenheit“.

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Am späten Nachmittag hatte es stark geregnet. Abends kam die Sonne noch einmal raus und ich beschloss, den Eichhörnchen auf dem Alten Friedhof einen Besuch abzustatten. Ich steckte mir Walnüsse in die Hosentasche, die ich neulich bei einem älteren Ehepaar auf dem Markt erstanden habe. Draußen roch es so, wie es riecht, wenn nach längerer Trockenheit Regen auf staubige Straßen fällt. Ein Geruch, den ich seit den Kindertagen in der Nase habe und sehr mag. Vor der Baustelle am Uni-Hauptgebäude traf ich einen Bekannten. Er sprach mich auf einen Text an, den ich zum Eritrea-Festival geschrieben und im Gießener Anzeiger veröffentlicht hatte. „Du hast da ja ein Loblied aufs staatliche Gewaltmonopol angestimmt“, beschwerte er sich. „Ja, je älter ich werde, desto mehr weiß ich es zu schätzen, dass es so etwas wie den Rechtsstaat gibt, wenn auch seine Realisierung große Defizite aufweist“, erwiderte ich. Ich hatte keine Lust auf eine dieser endlosen Debatten, die zu nichts führen, und bestieg mein Rad.

Am Ende der Stefanstraße stand einer dieser Monster-SUVs mitten auf der Fahrbahn. Links und rechts war jeweils vielleicht ein halber Meter Platz. Ich wollte mit dem Rad vorüberfahren und machte mich durch einen Klingelton bemerkbar. Dieser erinnert an den Klang des Echolots von der legendären Pink Floyd-Platte, die wir Älteren noch in unserer Plattensammlung haben, und ist alles andere als aggressiv. Ich fürchtete, dass ansonsten unvermittelt jemand eine Tür öffnen und mich aus dem Sattel holen könnte. Da ließ der Fahrer die Scheibe herunter und brüllte: „Einfach vorbeifahren, sonst hol ich dich runter von deinem Scheißfahrrad!“ So viel zur Atmosphäre, die mittlerweile zwischen Autofahrern und Radfahrern herrscht. Auch von der Frau, die neben ihm saß ging keine versittlichende Wirkung aus. Ihre Gegenwart schien ihn eher zu seiner aggressiven Reaktion zu motivieren. Als wollte oder müsse er demonstrieren, was für ein toller Kerl er ist.

Auf dem Alten Friedhof traf ich eine ruhige abendliche Stimmung an. Ich setzte mich auf die Bank neben dem Grab von Gustav Röntgen und holte ein paar Nüsse aus der Hosentasche. Ich rieb sie zwischen den Handflächen aneinander. Dieses Geräusch lockte die Eichhörnchen an. Eins nach dem anderen holte sich eine Nuss ab und verschwand mit seiner Beute in der Weite des Friedhofs. Als alle Nüsse verteilt waren, stand ich auf und ging eine Weile umher. Ein Paar saß auf einer Bank und unterhielt sich gedämpft. Jemand aus der Nachbarschaft ging noch eine letzte Runde mit seinem Hund. Es war friedlich, ruhig und angenehm. Nach einer guten Stunde bestieg ich mein Rad und fuhr nach Hause.

Anderntags ging ich wie jeden Samstag auf den Wochenmarkt. Es gibt in Gießen seit Wochen nur ein Thema: den Verkehrsversuch. Wenn man wissen will, die Stimmung unter den Leuten ist, muss man sich auf dem Markt umsehen und vor allem umhören und mit den Händlern reden. Die bekommen alles mit, wie Seismographen. Die Stimmung in Bezug auf den Verkehrsversuch ist miserabel. Selbst Leute, die sein Anliegen im Grunde teilen, sind von seiner Umsetzung enttäuscht. Es gibt nichts Schlimmeres als halbherzig durchgeführte Reformen. Ich habe dazu bei früherer Gelegenheit bereits das Nötige gesagt: Die Autos müssen raus aus der Stadt, anders wird es nicht gehen. Gießen hat über 35.000 Pendler, die jeden Tag aus dem Umland in die Stadt kommen und sie abends wieder verlassen. Die meisten von ihnen versuchen ihr Glück mit dem eigenen PKW, was natürlich auch etwas mit dem Zustand des öffentlicher Personennahverkehrs zu tun hat. Solange der nicht drastisch ausgebaut und die Zahl der Auto-Pendler nicht deutlich reduziert wird, kann der Verkehrsversuch nicht gelingen. Die Karl-Kraus-Definition des sozialdemokratischen Reformismus trifft natürlich auch auf die Grünen zu, die sich in diesem Punkt als getreue Ableger der Sozialdemokratie erweisen: eine Hühneraugenoperation an einem Krebskranken. Das trifft ziemlich präzise, was hier in Gießen versucht wird.

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Eine Frau hat sich neue Schuhe gekauft und sie gleich anbehalten. Sie ist barfuß hineingeschlüpft und losgegangen. Nun hat sie sich in der Apotheke Pflaster kaufen müssen. Sie kniet auf dem Gehweg und schützt ihre Verse, die sie sich aufgescheuert hat. Hoffentlich hat sie ihre eingetragenen alten Schuhe noch aufbewahrt und nicht gleich in den nächsten Mülleimer geworfen.

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Auf dem Alten Friedhof liegt auf einem der Wege ein verletzter Vogel. Ob es ein aus dem Nest gefallener Jungvogel ist oder ob er von einer Katze aus der Nachbarschaft verletzt worden ist, ist für uns nicht ausmachbar. U und ich können nicht einmal erkennen, ob es sich um einen Jungvogel handelt oder um ein ausgewachsenes Exemplar seiner Art. Er liegt auf dem Bauch und atmet schnell. Seine Augen sind geöffnet. Er gibt keine Töne von sich. Manchmal versucht er sich aufzurappeln, sinkt dann aber immer wieder zusammen. Wir wissen nicht, was zu tun ist und setzen uns neben ihn auf die Einfassung eines Grabes. Der Vogel dauert uns, und wir leisten so etwas wie Sterbebegleitung. Vor allem wollen wir verhindern, dass einer der auf dem Alten Friedhof zahlreichen Hunde ihm vollends den Garaus machte. Irgendwann kamen zwei junge Frauen mit ihren Kindern vorbei. Es waren zwei Mädchen im Vorschulalter, die sich sofort Sorgen machten und mit Vorschlägen aufwarteten, was wir zur Rettung des Vogels unternehmen könnten. Sie brachen ein paar größere Blätter von einem Busch und gossen Wasser darauf, das sie dem Vogel vor den Schnabel hielten. Nach einiger Zeit nahm dieser das Angebot an und tauchte seinen Schnabel ein paar Mal in das Wasser. Es schien ihn prompt zu beleben. Eine der Mütter suchte auf ihrem Smartphone nach Anlaufstellen für verletzte Wildvögel. Die nächste befand sich in einer Kleinstadt in dreißig Kilometer Entfernung und war obendrein auf Greifvögel spezialisiert. Da Sonntag war, waren alle Tierarzt-Praxen geschlossen. Nachdem wir ungefähr eine Stunde mit dem Vogel verbracht hatten, hob U ihn vorsichtig auf und trug ihn auf ihren Hände unter die Zweige eines Gebüschs. Der Vogel schien dankbar für diese Ortsveränderung, kroch tiefer ins Gebüsch und entzog sich unseren Blicken. Die Mütter mit ihren Töchtern zogen nun weiter, wobei es schwierig war, die Aufmerksamkeit der Kinder vom Vogel weg und auf etwas anderes zu lenken. Das Schicksal des Vogels beschäftigte uns noch lang. U musste daran denken, wie wir vor etwas mehr als einem Jahr dem Sterben ihrer Schwester beigewohnt hatten. Besonders das Atmen des Vogels habe sie an das Atmen ihrer Schwester erinnert. Der sterbende oder leidende Vogel hatte eine Wunde aufgerissen, die bisher nicht richtig vernarbt ist.

Meine Hirnantilope sprang zu einem Lied aus der Neuen Deutschen Welle, in dem die Zeile vorkommt: Ein toter Vogel kommt vorbei und stirbt. Erst gegen Morgen fiel mir ein, dass der Song Déjà vu heißt und von der Berliner Gruppe Spliff stammt, die in den frühen 1980er Jahren von sich reden machte. Der Text stammt von Herwig Mitteregger und beginnt so:

Ich bin jetzt raus, jetzt steh ich hier
Das Wasser riecht nach Gift
Und ′n toter Vogel kommt vorbei und stirbt
Der Kellner spielt Klavier
Wir sind die letzten von hundertzehn
Wir warten bis die Zeit vergeht

Der in der Steiermark geborene Schlagzeuger, Sänger und Komponist Mitteregger wird im September 2023 siebzig Jahre alt.

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Auf den Sockel einer Sitzgelegenheit aus Beton, die unterhalb des Rübsamenstegs steht, hat jemand gesprüht: „Sei politisch!“ Dieser Aufforderung kommen auch Nazis und AfDler nach. Wenn es nicht so gemeint ist, was ich vermute, fehlt in der Aufforderung etwas Entscheidendes.

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„Wenn der Sozialismus überhaupt durchführbar ist, so kann dies bloß von unten auf geschehen durch eine Föderation freier Gemeinden, die ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen und die Grundlagen für eine neue soziale Ordnung legen …“

(Rudolf Rocker)

In einem dieser allen zugänglichen Bücherschränke fand ich dieser Tage eine Broschüre, die der Verlag Freie Gesellschaft im Jahr 1978 nachgedruckt hat. Ursprünglich ist sie 1947 in New York, London und Stockholm erschienen. Sie stammt von Rudolf Rocker, der sich aus dem amerikanischen Exil an seine anarchosyndikalistischen Genossen in Deutschland wandte. Er versucht in dieser Broschüre, die „Aufgaben und die Möglichkeit einer anarchistischen und syndikalistischen Bewegung“ im Nachkriegsdeutschland zu formulieren. Dass er diese Form der Intervention gewählt hat und nicht persönlich auftrat, begründet er so: „Aber ich bin heute ein Mann von 74 Jahren, und in einem solchen Alter kann man im Leben keine großen Sprünge mehr machen. Die Natur lässt sich nun einmal nicht betrügen, und obgleich ich noch genug geistige Spannkraft besitze, um noch manche nützliche Arbeit leisten zu können, so wäre ich physisch doch nicht mehr imstande, die heutigen Lebensbedingungen in Deutschland lange zu ertragen.“

Obwohl der Text extrem klein gedruckt und deswegen anstrengend zu lesen ist, habe ich ihn gern und mit großem Interesse gelesen. Durch diese Broschüre weht der Wind eines freiheitlichen Sozialismus und eines undogmatischen Denkens. Eindringlich warnt Rocker seine Genossen vor dem Einfluss der Sowjetunion und der von ihr gesteuerten kommunistischen Parteien. Mit dem dort vorherrschenden autoritären Staatskapitalismus, der sich als Sozialismus ausgibt, ist dem freiheitlichen Sozialismus ein weiterer mächtiger Gegner erwachsen.

Der 1873 in Mainz geborene Rocker ist eine der interessantesten Gestalten, die die deutsche Arbeiterbewegung hervorgebracht hat. Eine Buchbinderlehre brachte ihn zeitig in Kontakt zur sozialistischen Bewegung. Bald schon schloss er sich der linken Opposition der „Jungen“ an, die der etablierten Sozialdemokratie den Kampf ansagte und ihr Feuer unter dem verzagten bürokratischen Hintern machen wollte. Nach dem Schisma zwischen Sozialdemokraten und Anarchisten wandte sich Rocker dem Anarchismus zu, dem er bis zu seinem Lebensende im Jahr 1958 die Treue hielt. Sofern man einer Theorie wie dem Anarchismus überhaupt die Treue halten kann, die schillert und bunt ist und über keinen festen Kanon heiliger Texte und etablierte Hierarchien verfügt. Nach einem Abstecher in den Spanischen Bürgerkrieg, der letzten Hoffnung der Antifaschisten, emigrierte Rocker in die USA. Der Suhrkamp-Verlag hat 1974 verdienstvoller Weise Auszüge aus seinen Memoiren veröffentlicht, die ich euch zur Lektüre empfehle. (Rudolf Rocker: Aus den Memoiren eines deutschen Anarchisten, Frankfurt/Main 1974)

Bei Rocker stieß ich endlich auf die Quelle einer Redensart, die ich oft verwende: Wir drohen aus der Welt zu fallen, lautet meine Fassung. Christian Dietrich Grabbe war sich noch sicher, dass wir von mannigfachen Einrichtungen gehalten werden und mit tausend Fäden mit der Gemeinschaft verwoben sind:„Ja, aus der Welt werden wir nicht fallen. Wir sind einmal darin.“

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„Wer eine Stadt von innen her aushöhlt, darf sich nicht wundern, wenn sie untergeht.“

(Robert Seethaler)

Robert Seethaler hat die Geschichte eines Cafés am Karmelitermarkt in Wien geschrieben, das ein gewisser Robert Simon seit dem Jahr 1966 betrieben hat. Irgendwann wird der Pachtvertrag des Cafés nicht mehr verlängert und Simon muss es aufgeben. Das Ende des Cafés wird mit einem rauschenden Fest begangen, an dem das ganze Viertel teilnimmt, dessen Bestandteil es gewesen ist. Es war der Treffpunkt der kleinen Leute. Zu den Stammgästen gehörten neben den Arbeitern vom angrenzenden Markt, Handwerkern aus der Nachbarschaft, den Mädchen aus der nahen Garnfabrik auch eine eine gealterte Prostituierte, eine junge Immigrantin, die mit einem winzigen Koffer aus Jugoslawien gekommen war und viele andere mehr, denen das Leben Wunden geschlagen hat. Sie alle treffen sich hier, „um wenigstens für ein paar Stunden den ganzen Schlamassel um sie herum zu vergessen. Es ist warm, die Fenster sind im Winter dicht und es gibt etwas zu trinken, und vor allem kann kann man reden, wenn man es nötig hat, und schweigen, wenn einem danach ist. Die Welt dreht sich immer schneller, da kann es schon passieren, dass es einige von denen, deren Leben nicht schwer genug wiegt, aus der Bahn wirft. Ist es da nicht gut, wenn es einen Platz gibt, an dem man sich festhalten kann?“ Solche Orte braucht jeder Mensch, jede Straße, jedes Stadtviertel. Und dennoch sterben sie aus, wie ja auch dieses „Café ohne Namen“ am Ende schließen muss und stirbt. Einer der Stammgäste sagt am Schluss: „Und wo soll ich jetzt hin. Für einen wie mich gibt‘s keinen Platz mehr, nirgendwo.“ Nun sagen viele: Sollen sie doch woanders hingehen, die armen Schweine, es gibt andere Plätze, wo sie sich aufhalten können. „Aber“, sagt Seethaler, „ich kenne ein paar Leute, für die ist schon der Weg zur nächsten Ecke zu weit.“ Dass Robert Seethaler an diese Menschen gedacht hat und ihnen mit diesem Buch ein kleines Denkmal gesetzt hat, ist sein großes Verdienst. All das inzwischen Verlorengegangene wird in diesem Buch noch einmal heraufbeschworen und wiederbelebt: Berufe, handwerkliche Techniken, Gerüche, Gebärden, sprachliche Wendungen. Das Buch ist ein Museum des Alltagslebens, das man für 24 Euro betreten und in dem man sich dann so lange aufhalten kann, wie man mag. Genauso wie es im Café ohne Namen am Wiener Karmelitermarkt einmal gewesen ist.

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Gestern Abend merkte ich, dass die Wassertemperatur der Lahn in den letzten Tagen merklich gesunken ist, von geschätzten 23 auf geschätzte 18 Grad. Ich war denn auch der einzige Schwimmer weit und breit. Als ich heute Morgen sah, dass der gestrige Dauerregen noch immer anhält, dachte ich, dass der Sommer in unseren Breiten bereits vorüber ist. Es wird hoffentlich noch ein paar schöne und warme Tage geben, aber die stabile Hochdrucklage und mir ihrer anhaltenden Hitze scheinen vorüber zu sein. Mit den Ländern und Menschen im Süden Europas möchte ich im Moment allerdings auch nicht tauschen. In direkter Nachbarschaft zu Menschen, die verzweifelt gegen die Flammen kämpfen oder alles in den Flammen verloren haben, sitzen Touristen in den Cafés und genießen ihren Urlaub.

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Ein Nachbar fährt nach wie vor mit dem Auto ins nahe gelegene Fitnessstudio. In seinen metallic-blauen BMW hat er einen Soundverstärker einbauen lassen, den er auf dem kurzen Straßenabschnitt bis zur Ampel schon einmal ordentlich aufröhren lässt. Das stimmt ihn auf den Besuch des Fitnessstudios ein.

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Wenn ich zum Beispiel Texte von Rudolf Rocker lese, denke ich manchmal: Wie lassen sich Ideen vor dem Untergang und dem Vergessen bewahren? Zum Beispiel die Idee des freiheitlichen Sozialismus und der Rätedemokratie. Wer kennt denn die holländischen Rätekommunisten Anton Pannekoek und Herman Gorter noch, wer Otto Rühle, Karl Korsch oder Paul Mattick? Mit den Namen verschwinden Gedanken und politischen Konzepte. Selbst innerhalb der Linken grassiert das Vergessen. Orte, an denen die Erinnerung aufbewahrt wird, sind Bibliotheken. Was wird aus meiner? Interessiert sich jemand dafür? Es ist eine ziemlich umfangreiche Bibliothek linker Literatur. Wahrscheinlich wird nach meinem Tod ein Entrümpler anrücken und alles über eine Rutsche auf einen Laster werfen und in die Papiermühle bringen. Ich wüsste niemand, der Interesse haben könnte, diese Bücher vor der Vernichtung zu bewahren. Vielleicht sucht sich der eine oder andere Bekannte und Freund ein paar Bücher aus, aber das Gros wird vernichtet werden. So ist der Gang der Dinge. Mit unserer Generation wird etwas unter- und zu Ende gehen. Wir hatten noch ein Rendezvous mit der Geschichte und haben linke Traditionen, die der Faschismus gewaltsam unterbrochen hatte, noch einmal wiederbelebt. All die ins Exil getriebenen Schriftsteller und Intellektuellen wurden von uns wiederentdeckt, ihre verbrannten Bücher neu aufgelegt und gelesen. Der Konsumismus erledigt nun das Vergessen viel gründlicher, als es der Faschismus vermocht hat. Und ganz ohne manifeste Gewalt. Imre Kertész hat dieses große Vergessen früh geahnt und wahrgenommen. Während eines Besuchs im wiedervereinigten Berlin notierte er: „In ein paar Jahren wird sie verschwunden sein, wird sich alles, alles ändern – die Menschen, die Häuser, die Straßen; die Erinnerungen werden eingemauert, die Wunden zugebaut sein, der moderne Mensch mit seiner berüchtigten Flexibilität wird alles vergessen haben, wird den trüben Bodensatz seiner Vergangenheit wegfiltern, als wär’s Kaffeesatz.“

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„Alle Verdinglichung ist ein Vergessen“, heißt es bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in der Dialektik der Aufklärung. Mit der Universalisierung des Tauschprinzips und der Warenform hat sich die bürgerliche Gesellschaft zur Herrschaftstotalität von Verdinglichung zusammengeschlossen. Alles verschmilzt zu einem dumpfen Präsens, es herrscht eine große betongewordenen Amnesie. Alles annulliert sich gegenseitig, nichts bleibt hängen und hinterlässt bleibende Spuren. Alles scheint in zukunfts- und vergangenheitsloser Gegenwart wie abgestellt zu sein. Bei den Bewohnern der „eindimensionalen Gesellschaft“ (Herbert Marcuse) herrscht wunsch- und traumloses Unglück, das keine Begriffe bildet und überhaupt keinen sprachlichen Ausdruck mehr findet. Was sprachlich nicht ausgedrückt werden kann, kann eines Tages nicht einmal mehr gedacht werden. Das Bestehende hat das Realitätsmonopol für sich und alle anderen Möglichkeiten in sich hineingenommen.

„Orwell war noch zu optimistisch“, vermutete Max Horkheimer im Jahr 1968. Ausgerechnet in diesem Jahr der weltweiten Revolte, mag man denken, aber im Rückblick blieb diese Revolte nur ein kurzer Moment der Unterbrechung eines Trends, der sich – auch mit ihrer Hilfe – danach ungemindert und bis heute andauernd fortsetzte. All die Maßnahmen, die der Staat von 1984 noch unternimmt, um die Bevölkerung unter Kontrolle zu halten, werden bald nicht mehr nötig sein, schreibt Horkheimer und fährt fort:. „Denn die Einzelnen werden von frühester Jugend an so erzogen, dass sie sich automatisch, ohne Zwang, ohne irgendwelche Bedürfnisse zum Aufruhr oder gar zum Nachdenken, in die Gesellschaft des Ameisenhaufens einpassen. Was wir bisher als die eigentlichen Eingenschaften des Menschen angesehen haben, seine individuelle Gestaltung der Beziehung zu anderen Menschen, seine Bemühung um Wahrheit, um das Wissen über den Sinn des Lebens, Liebe, Freundschaft, Traue als entscheidende Motive – alles das wird als so veraltet, sonderbar und völlig irrational angesehen werden, wie wir heute zu den Vorstellungen und Gebräuchen irgendwelche primitiver Stämme stehen.“ Gegen diesen Trend ist der Einzelne ohnmächtig, fährt Horkheimer fort. „Was ihm bleibt ist, auszusprechen, was er erkennen kann und es den wenigen, die noch ein Bedürfnis haben, darüber nachzudenken und vielleicht doch einen Weg zu finden, der aus dieser Dialektik herausführt, mitzuteilen.“ Genau das ist es, was ich mit der Durchhalteprosa verfolge.

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Gestern sah ich in der Stadt eine junge Mutter, die ihr Kind gefesselt mit sich führte. Mutter und Kind waren durch Handschellen und ein Spiralkabel miteinander verbunden. Ich kenne diese Art der Fesselung – allerdings ohne Spiralkabel, sondern mit eiserner Kette – aus dem Knast, wo Gefangene bei Ausführungen zum Arzt oder zu einer Gerichtsverhandlung mit einem Bediensteten zusammengeschlossen wurden. Aber dass man das mit den eigenen Kindern macht, war mir neu. Nun ist es ja Aufgabe der Eltern, ihre Kinder auf die Zukunft vorbereiten. Und da kann die zeitige Gewöhnung an Fuß- und Handfesseln jeder Art nicht schaden. Die elektronische Fußfessel in Gestalt eines Smartphones wird bald folgen, und schon haben wir den Prototyp des heute erwünschten und erfolgreichen Bürgers.

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Zu den Umfrageerfolgen der AfD: Sie braucht eigentlich gar nichts zu tun, als dagegen zu sein und abzuwarten. In Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche und Krisen kann man mit einer solchen Haltung Zustimmung und Wählerstimmen gewinnen. Jede Verantwortungsübernahme wäre da hinderlich. Die AfD kann sich als Lumpensammlerin betätigen, die all die Frustrationen und Enttäuschungen aufsammelt, die die etablierten Parteien mit ihrem Handeln und die gesellschaftlichen Verhältnisse erzeugen. Das Image der Schmuddelkinder, mit denen ordentliche Demokraten nicht spielen, kommt ihr dabei eher zugute. Das ist eine Erfahrung, die viele vom Leben enttäuschte und vom Markt ausgespuckte Menschen auch unentwegt machen. Das über die AfD verhängte Kooperationsverbot treibt sie dieser Partei eher in die Arme. Sie erkennen sich darin wieder und fühlen sich solidarisch. Die Rechtsradikalen sind seit eh und je auf die Aneignung dieses Rohstoffs spezialisiert. Die Linke hat fatalerweise diese Fähigkeit eingebüßt und ist schon länger nicht mehr die Partei der Ausgegrenzten und Abgehängten. Sie konkurriert mit der SPD und den Grünen um die Gunst einer neuen digitalen und woken Mittelschicht. Sie wird in dieser Konkurrenz höchstwahrscheinlich unterliegen und auf der Strecke bleiben.

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Kant sagte: „Der Krieg ist darin schlimm, dass er mehr böse Menschen macht, als er davon wegnimmt.“ Die ebenso trockene wie fürchterliche Wahrheit dieses Satzes können wir gerade wieder erfahren. Und wir werden sie leider auch noch in den nächsten Jahrzehnten erfahren, wenn der Krieg hoffentlich lange vorbei sein wird. Die von ihm hervorgebrachten „bösen Menschen“ werden bleiben und ihre Verwüstungen im zivilen Leben der nachfolgenden Generationen anrichten. Der Krieg in der Ukraine wurde dieser aufgezwungen. Er ist ein notwendiges Übel und kein heroisches Ereignis, das es zu feiern und zu forcieren gilt. Bei aller richtigen und notwendigen Solidarität mit der von Russland angegriffenen Ukraine sollten wir das nie aus den Augen und dem Verstand verlieren. Das gerät auch bei ehemals kritischen und pazifistischen Leuten oftmals in Vergessenheit. Jede Form der Kriegsbegeisterung sollte uns suspekt und zuwider sein.

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„Meine Liebe weiß nicht, dass ich über siebzig bin. Ich weiß es auch nicht.“

(Martin Walser: Ein liebender Mann)

Am 28. Juli ist Martin Walser im Alter von 96 Jahren gestorben. Auch er war ein Schriftsteller, der mich mein ganzes Leben über begleitet hat. Anders als Milan Kundera war er mir nicht durchgehend sympathisch. Mich störten zum Beispiel seine frühe Nähe zur DKP und seine maligne Verclinchung mit Marcel Reich-Ranicki, die ihn zu dem überflüssigen Buch Tod eines Kritikers verleitete. Aber es gibt auch tolle Romane von ihm, deren Lektüre ich nicht missen möchte. Zum Beispiel Die Verteidigung der Kindheit. Ich erinnere mich an die Lesung aus diesem Buch in der Aula der Gießener Universität besonders gut, da ich sie zusammen mit U besucht habe, in die ich damals heftig verliebt war. Zusammen stellten wir uns anschließend für eine Unterschrift in eine lange Warteschlange vor seinem Lesepult. Einige Male habe ich Walser in der Uni-Aula lesen sehen und hören. In seinem markanten alemannischen Dialekt mit dem rollenden R. Ein weiteres Buch habe ich mir dort signieren lassen: Finks Krieg. Es erzählt die Geschichte eines leitenden Beamten in der hessischen Staatskanzlei, dem ein Unrecht widerfährt und der sich daraufhin in einen kohlhaasmäßigen Kampf mit der Behörde verstrickt. Besonders mag ich ein aphoristisches Buch, das Meßmers Gedanken heißt und dessen erster Satz so lautet: „Von allen Stimmen, die aus mir sprechen, ist meine die schwächste.“ Im Zeitalter des Narzissmus ein radikal-wahrer, für viele kränkender Satz.

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Die Volkshochschule Gießen lädt zum Sommerfest, das unter dem Motto steht: „FEST vernetzt“. Vernetzung gilt bis weit in die politische Linke hinein als positiver Begriff und Vernetzt-Sein als ein anzustrebender Zustand. Ich habe gelernt, bei der Verwendung von Begriffen und Metaphern Vorsicht walten zu lassen. Man muss immer darauf achten, in welchen Kontext man sich damit begibt und welche Deutungsmuster und Konnotationen man übernimmt. Der Begriff Vernetzung ist aus der Kybernetik in die Systemtheorie eingewandert, deren Entstehung sich militärisch-ökonomischen Planungsbedürfnissen im Zweiten Weltkrieg verdankt. Die Systemtheorie beschreibt die Struktur moderner Gesellschaften und das Ineinandergreifen ihrer einzelnen Teile und Subsysteme, wobei ihr Interesse dem reibungslosen Funktionieren und der perfekten Vernetzung der Teilsysteme gilt. Sie ist eine affirmative Theorie und übt allenfalls immanente Kritik, wenn die Löcher im Netz zu groß oder zu klein sind.

Ein alter Zigeuner, den ich bei meiner Arbeit im Gefängnis kennengelernt habe und der sich selbst mit einem gewissen Stolz als Zigeuner bezeichnete, hat mir beigebracht: Wer herausfinden will, was eine Katze ist, sollte auch die Mäuse fragen! Auf unseren Kontext übertragen würde das heißen: Wer wissen möchte, was Vernetzung ist, sollte auch die Fische fragen. Die sind die wahren Vernetzungsexperten und können einem ein Lied singen von der Vernetzung, die sie geradewegs in die Fischfabrik und – zu Fischstäbchen gepresst und paniert – in die Bratpfannen führt. Wie kann ein Mensch sich darüber freuen, wenn er vernetzt ist oder vernetzt wird? Seine Bratpfanne besteht in einem Konto bei TikTok oder einer der anderen Plattformen. Ich kann mich gut daran erinnern, dass einer der Großen im Social Media-Geschäft sich öffentlich darüber lustig machte, dass die Leute für ihre Handys auch noch selbst zahlen. Sie kaufen sich ihre elektronische Fußfessel, mit deren Hilfe jeder ihrer Schritte überwacht werden kann. Das wäre, um auf das Anfangsbild zurückzukommen, so, als würden sich die Fische die Angelhaken kaufen, an denen sie wenig später zappeln und japsen.

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„An einen Ausdruck aus Leipziger Jugendtagen erinnerte er sich. Sinnlos war alles gewesen, seine Kumpel und er hatten ihr Trotzwort gedehnt und dumpf hingesprochen: sinnlouuus. Kino und Mädchen, Schwof und Fußball, alles sinnlouuus.“

(Erich Loest: Fallhöhe)

Erich Loest hat mich wieder gepackt. Nachdem ich die Lektüre von Fallhöhe beendet hatte, holte ich sein autobiographisches Buch Durch die Erde ein Riss aus dem Regal, das ich vor rund vierzig Jahren schon einmal gelesen habe, als es im Verlag Hoffmann und Campe erschienen war. Aus Bescheidenheit spricht Loest von sich nicht als „Ich“, sondern als „L.“ und „Er“. Vielleicht ist es aber auch so, dass es sich von sich besser schreiben lässt, wenn man sich in der dritten Person versteckt. Man traut sich, Dinge zu sagen, die man in der Ich-Form nicht zu sagen wagte.

Das Buch beginnt mit einem Kapitel, das auf die Zeit im Gefängnis zurückgeht. Loest verbüßte eine Haftstrafe von siebeneinhalb Jahren wegen „konterrevolutionärer Gruppenbildung“ in Bautzen II. Man verwehrte ihm während dieser Zeit den Zugang zu Papier und Stiften, was de facto ein Schreibverbot darstellte. Eines Tages bot ihm einer der Oberaufseher auf Anweisung der Anstaltsleitung eine Position als Kalfaktor an, was mit gewissen Privilegien einherging. Loest zögerte keinen Moment und antwortete: „Ich übernehme keine Funktion.“ Der Aufseher bot ihm Bedenkzeit an, aber Loest verzichtete und blieb bei seiner getroffenen Entscheidung. Nach dem abendlichen Einschluss lag Loest in den dunklen Zelle lange wach. „Er hakte diesen Tag ab, vier Jahre und vierzehn Tage war er in Haft, drei Jahre, fünf Monate und sechzehn Tage hatte er noch vor sich. Er hätte alles in Tagen ausdrücken können, auch die Spanne dazwischen. Er resümierte: Kein leichter Tag heute, aber du hast ihn hinter dir. Der Teufel naht meist auf leisen Sohlen. Er dachte darüber nach, wie es denn gekommen war, dass er keine Macht wollte, keine von oben verliehene und von unten nicht kontrollierte Macht. Keine Gesellschaft war denkbar, ohne dass Menschen Macht über andere ausübten – warum, fragte er sich, ist das für mich ein Problem und für andere nicht? Wer Macht hatte, war allergisch gegen alle, die nicht ein Häppchen von ihr leihen wollten. Trugen die Mächtigen schlechtes Gefühl mit sich herum, suchten sie deshalb Komplizenschaft und hassten die Machtverweigerer, weil die sich nicht zu Mittätern machen ließen?“

Mir sind im Gefängnis im Laufe der vielen Jahre, die ich dort verbracht habe, einige Gefangene begegnet, die diese Haltung teilten und der Macht die kalte Schulter zeigten. Ich denke, ich war einer der wenigen, die ihre Motive verstanden und akzeptierten. Vielleicht auch dank der Lektüre von Erich Loest. Auch Peter Brückner hat mich für das Thema Macht, und wie man sich ihr verweigert und gelegentlich ein Schnippchen schlägt, empfänglich gemacht. Brückner plädierte für einen listigen Umgang mit der Macht, keinen prinzipiellen. Das wäre protestantische Tradition, nicht die dialektische, Brechtsche. „Ich habe kein Rückgrat zum Zerschlagen. Gerade ich muss länger leben als die Gewalt“, lässt Brecht Herrn Keuner sagen Mit diesem Rat bin ich gut gefahren und habe mich all die Jahre so durchlaviert. Auf Angebote, mich tiefer ins Machtgefüge hineinzubegeben, bin ich nicht eingegangen, aber ich bin auch nicht mir dem Kopf gegen die Wände gerannt. Das führt, einer alten Knastweisheit zufolge, ohnehin nur dazu, dass man in der Nachbarzelle landet. Ich habe keine Laufbahn eingeschlagen, die von unten nach oben führte. Ich bin nicht ein Mal befördert worden und legte auch keinen Wert darauf. So blieb es mir erspart, jemandes Chef zu werden. Lebensgeschichtlich kam mir meine abseitige Position, die ich ab ovo innehatte, entgegen. Es fiel mir nicht schwer, die Karriere des Handlungsgehilfen nicht einzuschlagen und mich im institutionellen Abseits einzurichten. Ich muss allerdings einräumen, dass manches auch gar nicht im Spektrum meiner Möglichkeiten lag, und dass ich manchmal, dem Beispiel des Fuchses aus der äsopschen Fabel folgend, die Trauben, an die ich nicht herankam, für sauer erklärte. Loest und Brückner waren jedenfalls zwei meiner Lehrer in puncto Dissidenz.

Übrigens: Die Ähnlichkeit von Erich Loest und Jack Nicholson ist wirklich verblüffend. Das fällt auch der Geliebten auf, die Henning Köhler nach seiner Übersiedlung in den Westen bald findet. Loest hätte Nicholson doubeln können. Beim Ton hätte man die sächsische Note allerdings rausfiltern müssen. Ich meine, sie wäre es auch gewesen, die irgendwann den schrecklich-traurigen Satz zu ihm sagt: „Auch ich werde deinen Panzer nicht wegstreicheln können.“ Der Begriff des Panzers, der hier ins Spiel kommt, stammt von Wilhelm Reich und bezeichnet das Phänomen, dass negativ behandelte Körper keine oder nur eine rudimentäre libidinöse Besetzung der eigenen Peripherie, also der Haut, entwickeln. Das Gefühl für die Körpergrenzen wird dann von außen zugefügt, traditionell durch militärischen Drill, Dressur und Schläge. Die Körper werden, heißt es bei Theweleit, nachgeboren, aus dem Schmerzprinzip. Der Körperpanzer ist starr und permanent von Fragmentierung bedroht. Überall wittert der gepanzerte Noch-nicht-Mensch Gefahren und Bedrohungen. Er muss ständig auf der Hut sein, lustvolles Erleben ist eingeschränkt. Ein solcherart zugerichteter Mann ist eine Ruine, ein leib-seelischer Krüppel. Bis in meine Generation war diese Form der Verkrüppelung trauriger Durchschnitt. Erst die antiautoritäre Revolte der späten 1960er Jahre brachte Leben in die pädagogisch verschwiegenen Körper und ließ die Panzerung brüchig werden.

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Eine Leserin der DHP sandte mir als Kommentar zu meinen Texten über das immer rasanter werdende Tempo des gesellschaftlichen Wandels die Mitteilung, dass in ihrer Heimatgemeinde jemand schon seit längerem auf einige Straßenschilder die hellsichtigen Worte gepinselt habe:: „Keiner kommt mehr klar“.