„Die Literatur: ein Kolibri in der Maschinenhalle, flüchtig, schön und ohne Zweck. Und doch entzündet sich die Sehnsucht daran, es möge mehr als nur Maschinenhallen geben.“
(Ralf Rothmann: Theorie des Regens)
Von den beiden Gesetzentwürfen zur Neuregelung der Sterbehilfe, die heute (6. Juli 2023) im Bundestag zur Abstimmung standen, fand keiner eine Mehrheit. Auch drei Jahre nach einem Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts bleibt der assistierte Suizid ohne gesetzliche Regelung. Sterbehilfe ist erlaubt, aber es gibt nach wie vor kein Gesetz, das dafür verbindliche Regelungen vorgibt. Ein echtes Trauerspiel, das einfach kein Ende nimmt. Man schleicht um den heißen Brei, der nicht abkühlen will. Man merkt an dem schleppenden Verfahren, dass das Thema Sterben und Tod noch immer – oder vielleicht mehr denn je? – von Tabus umgeben und überlagert ist.
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„Worin besteht aber der Optimismus, den ich mit Adorno, meinem verstorbenen Freunde, teile? Darin, dass man versuchen muss, trotz alledem das zu tun und durchzusetzen, was man für das Wahre und Gute hält. Und so war unser Grundsatz: theoretischer Pessimist zu sein und praktischer Optimist!“
(Max Horkheimer: Kritische Theorie gestern und heute, Vortrag aus dem Jahr 1969)
Heute vor 50 Jahren ist Max Horkheimer gestorben. Ich verdanke ihm, vor allem dem jungen Horkheimer, sehr viel. Etwa seinen Notizen in Deutschland, die Anfang der 1930er Jahre unter dem Titel Dämmerung erschienen sind. In diesem Buch vollzieht der junge Fabrikantensohn den Bruch mit seiner Herkunftsklasse. Er begeht Klassenverrat, wie wir das früher mit Georg Lukács nannten. Immer wieder nehme ich seine älteren Texte zur Hand und blättere auf der Suche nach irgendeinem Zitat in den Bänden der Gesammelten Schriften. Gerade stieß ich in Band 12 auf Notizen zur Psychoanalyse. Sie „will den Menschen genuss- und arbeitsfähig machen. Das ist darum falsch, weil sie den Menschen nur für diese Form der Gesellschaft, die sie für ewig hält, geeignet machen will. Heute weisen Genussfähigkeit und Arbeitsfähigkeit auseinander. … Die Analyse dient der Uniformierung der Menschen. Ist die Ahnfrau der Hysterikerin die Hexe, so hat die Analyse nicht bloß, wie sie es möchte, ihre Vorform in der Beichte, sondern in Wahrheit in der Inquisition. Die Psychologie ist erfunden worden, um die Menschen bei der Stange zu halten.“
Bahnbrechend war für mich Horkheimers Text Autoritärer Staat aus dem Jahr 1942. Gegen das von den großen Arbeiterparteien immer wieder vorgetragene Argument, die Verhältnisse seien noch nicht reif für eine Revolution, hat er dort eingewandt: „In der Gegenwart verklärt die Rede von der mangelnden Reife das Einverständnis mit dem Schlechten. Für den Revolutionär ist die Welt schon immer reif gewesen. Was im Rückblick als Vorstufe, als unreife Verhältnisse erscheint, galt ihm einmal als letzte Chance der Veränderung. Er ist mit den Verzweifelten, die ein Urteil zum Richtplatz schickt, nicht mit denen, die Zeit haben.“ Für solche und ähnliche Sätze liebe ich Horkheimer, wenn ich das so sagen darf. Früh schon wies er darauf hin, dass das Tauschprinzip in alle Poren des Lebens vordringt und die Binde- und Prägekraft der Familie auflöst. Er selbst hat von seinen frühen Thesen später nichts mehr wissen wollen und schwor Sozialismus und Revolution ab. Aber auch dazu gibt es ein passendes Zitat vom jungen Horkheimer: „Die Beichte des Ketzers auf dem Totenbett spricht nicht gegen die Wahrheit seiner früheren Gedanken.“
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Heute Morgen beim Bad in der Lahn fiel mir auf: Die Vögel singen nicht mehr. Sie haben keine Veranlassung mehr, sich ins Zeug zu legen, und stellen ihre Bemühungen ein, den weiblichen Teil der Vogelwelt musikalisch beeindrucken zu wollen. Bis auf das unermüdliche Rotkehlchen, das unverdrossen weiter singt. Ich fürchte, irgendwann wird die Prophezeiung von Rachel Carson eintreffen, die 1962 in ihrem berühmten Buch vor den Konsequenzen des Einsatzes von Pestiziden in der Landwirtschaft und einem stummen Frühling warnte. Noch einmal Horkheimer: „Die Zeichen stehen an der Wand geschrieben, aber auch die, die sie lesen, sind zur Ohnmacht verdammt.“
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Auch dieses Jahr findet wieder das berühmt-berüchtigte Eritrea-Festival in Gießen statt, in dem regierungstreue Eritreer die prorussische Diktatur feiern. Das Regime ist bekannt für eine rigorose Unterdrückung Andersdenkender. Präsident Isayas Afewerki regiert das Land mit harter Hand, Menschenrechtsverletzungen sind an der Tagesordnung und viele Freiheitsrechte eingeschränkt.
Gegner haben ihren Widerstand angekündigt und sind heute Morgen in Gießen eingetroffen. Das Verwaltungsgericht hatte einer Klage gegen ein Verbot der Veranstaltung stattgegeben, so dass das mehrtägige Festival über die Bühne gehen kann. Da die beiden verfeindeten Lager sich schon in der Vergangenheit gegenseitig die Schädel eingeschlagen hatten, soll ein gigantisches Polizeiaufgebot von weit über 1.000 Polizisten dafür sorgen, dass sie sich möglichst nicht zu nahe kommen. Beim Versuch, das zu gewährleisten, wurden bereits am ersten Tag über 20 von ihnen durch Stein- und Flaschenwürfe verletzt.
Gießen glich heute einer belagerten Stadt, einer Stadt im Ausnahmezustand. Schon heute Morgen waren Zufahrtswege von der Polizei abgesperrt oder kontrolliert, Brücken über die Lahn gesperrt, Hubschrauber kreisen über der Innenstadt. Das Dauergeräusch der über der Stadt in der Luft stehenden Hubschrauber ist gespenstisch. Den ganzen Tag über rasten Wagen mit eingeschalteten Martinshörnern durch die Stadt. Die Stimmung unter den Gießener Bürgern ist gereizt, um es milde auszudrücken. Ich fürchte, dieses Wochenende wird der AfD starken Zulauf bescheren. Die Leute haben das Gefühl, dass die Eritreer dem deutschen Staat auf der Nase herumtanzen und dass am Ende sie es sein werden, die die Zeche zu zahlen haben. Im Ruhrgebiet gingen kürzlich Libanesen und Syrer aufeinander los und verwandelten die Straßen in Schlachtfelder. Deutsche Städte werden zum Austragungsort fremder Kämpfe. Bürgerkriege aus anderen Weltgegenden werden importiert – auch das eine Facette der Globalisierung.
Die Einheimischen haben das Gefühl, dass ihre Stadt sich ihnen entfremdet, und es liegt nahe, den Fremden die Schuld daran zuzuweisen. Trotz aller scheinbaren Evidenz bleibt nach wie vor wahr: Nicht die Fremden bedrohen uns, sondern das Fremde, das uns in Gestalt intransparenter finanzieller Abstraktionen gefangen hält. Es ist die vor sich hin nullende Null, die sich selbst vorantreibende Teufelsmühle des Kapitals, die uns alles entfremdet und fremd erscheinen lässt. Wenn schon „Heimatschutz“, dann vor den wahren Zerstörern von Heimat: den Waffenhändlern, den Lebensmittelspekulanten, den Hedgefonds-Managern, der tobsüchtig gewordenen freien Marktwirtschaft, dem Geld, das vollkommen unpatriotisch ist und dahin fließt, wo die Bedingungen für seine Vermehrung am günstigsten sind. Das Geld hat alle Grenzen niedergerissen und ist in die Abstraktion geschossen. Die Fremden sind in großer Zahl anwesend, das ist nicht zu leugnen und manchmal ist ihre Präsenz unangenehm. Dennoch sind sie nur Platzhalter für etwas, das anonym ist und schwer greifbar. Sie sind der Sündenbock des Kapitals. Der Fremde symbolisiert die Veränderung, die viele Zeitgenossen fürchten. Er führt sie uns vor Augen, er verkörpert sie geradezu. Das Fremde ist schwer auszumachen, der Fremde hingegen sehr einfach. Es gehört zum Wesen des Populismus, dass er es den Leuten leicht macht mit der Suche nach Sündenböcken, denen sie die Schuld an ihrer Misere zuweisen können. Er suggeriert: Alles kommt wieder in Ordnung, wenn der letzte Ausländer das Land verlassen hat.
Der Sicherheitsaufwand, der in der Stadt getrieben wird, ist gigantisch und kostet natürlich Unsummen. „Wir müssen für deren Scheiß-Bürgerkrieg aufkommen“, hörte ich heute mehrfach Leute in der Stadt schimpfen. Der Wochenmarkt musste früher schließen, was bedeutete, dass die Händler auf Obst und Gemüse sitzen blieben. Cafés und Kneipen schlossen früh oder öffneten erst gar nicht. Leute wurden von den Medien aufgerufen, die Stadt zu meiden und nach Möglichkeit ihre Häuser nicht zu verlassen. Einigen Leuten und Instanzen schien es Freude zu bereiten, Angst und Panik zu schüren. Ein Freund berichtete, er sei in der Stadt Zeuge geworden, wie 15 Männer über einen Einzelnen herfielen und ihn schlugen und traten. Am Ende habe einer noch ein Fahrrad herbeigeschleppt und auf den am Boden Liegenden geschmissen. Mein Freund habe aus Leibeskräften geschrien, um die Prügelnden von ihrem Handeln abzubringen. Er sei erschrocken über den Hass, den er in ihren Gesichtern gesehen habe. Sie seien von ihrem Vorgehen nicht abzubringen gewesen. Schließlich hätten sie den Geschundenen, aus etlichen Wunden blutend, am Boden liegen lassen. Die Umstehenden sind vereinzelt und verharren in ihrer Bestürzung über die Gewalt. Die Gewalttätigen haben immer einen Vorsprung, jedenfalls auf kurze Sicht. Und nur die zählt zunächst einmal. Wenn die Polizei eintrifft, sind sie in der Regel bereits über alle Berge. Die Gewalttäter treten oft in Gruppen auf, die anderen sind und bleiben vereinzelt. Und viele Bürger sind ungeübt im Umgang mit körperlicher Gewalt. Das ist der Preis dafür, dass wir deren Ausübung an den Staat und die Polizei abgetreten haben.
Auch ich habe mich über den Tag mehrfach gefragt, ob wir es zulassen müssen, dass irgendwelche Leute einen Bürgerkrieg, der in ihrem Heimatland tobt, hier austragen? Wenn es wenigstens um nachvollziehbar vernünftige Ziele ginge! Mein Eindruck war, selbst den Akteuren sind die Anlässe des Bürgerkriegs nicht mehr präsent oder piepegal. Man prügelt sich mal wieder und versaut einer ganzen Stadt das Wochenende. Und man erzielt eine erstaunliche mediale Resonanz. Die Eritreer schafften es in die großen Nachrichtensendungen, was nicht allzu oft vorkommt. Bestimmte Ereignisse finden nur statt, um Bilder und Aufmerksamkeit zu erzeugen. Dabei müssen wir nicht auch noch behilflich sein. Ein Rechtsstaat sollte sich auch wehren dürfen und muss sich nicht alles bieten lassen. Sonst verliert er die Zustimmung seiner eigenen Bürger. Das ist heute in Gießen leider massenweise zu beobachten gewesen. Selbst Leuten, die keine Rechten sind, ging das entschieden zu weit. Die Demokratie hat heute keine neuen Freunde gewonnen, sondern etliche verloren.
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„Wenn wir nichts verschlechtern wollen, an keiner Stelle, dann müssen wir auch den Willen zur Verbesserung aufgeben.“
(Peter Rosei: Der Aufstand)
Anderntags ging ich bei Hohensolms durch die Restnatur. Mohn- und Kornblumen blühten, es duftete nach Kamille und Mädesüß, das entlang der Bachläufe und Teiche üppig gedeiht und in voller Blüte steht. Mannshohe Disteln und Stockrosen säumten den Weg. Während der Eiszeit sind Teile der Heide vom verschobenen Eis hierher transportiert worden und haben sich hier festgesetzt und gehalten. In der Großaltenstädtener Heide setzte ich mich am Reitplatz auf eine Bank und dachte nach. Nachgedacht habe ich über eine teuflische Dialektik, die dafür sorgt, dass die Grünen in ihrem Bemühen, die schlimmsten Auswüchse der Klimakrise abzuwenden, vieles noch schlimmer machen. Hier in Gießen soll der Platz begrünt werden, auf dem zwei Mal in der Woche der Markt stattfindet. Der Markt, der seit ewigen Zeiten auf diesem Platz abgehalten wird, soll zu Teilen verlegt werden, weil zwischen den Bäumen nicht mehr genug Platz sein wird. In ihrem Begrünungsfuror verlieren die Grünen jedes Maß und jede Ehrfurcht vor dem Gewachsenen. Weit über seine ökonomische Versorgungsfunktion hinaus, ist der Wochenmarkt eine Institution, die für das soziale Immunsystem der Stadt eine enorme Bedeutung hat. Er ist das emotionale Herzstück der Stadt. Viele Gießener nennen, wenn man sie fragt, was sie an diese an städtebaulichen Attraktionen nicht gerade reiche Stadt bindet, an erster Stelle den Wochenmarkt. In eine solche Einrichtung greift man nicht so einfach ein, das sollte einem die Ehrfurcht gebieten. Aber das ist längst keine Kategorie mehr. Politiker, auch grüne Politiker, sind in erster Linie Technokraten, die alles unter dem Aspekt der Machbarkeit betrachten. Ihnen ist alles „in die Funktionale gerutscht“, wie Brecht sagte. Das Warum eines Vorhabens gerät ihnen gar nicht mehr in den Blick. Der Platz, auf dem Markt stattfindet, soll einer neuen Bestimmung zugeführt werden, also muss der Markt eben woanders stattfinden. Was soll‘s? Kaufen und Verkaufen funktioniert auch woanders. Dass es Gewohnheiten gibt, an die man besser nicht rührt und die zu respektieren sind, ist diesen Politikern fremd. Es gibt inmitten unserer turbulenten Zeiten, wo sich vieles, beinahe alles, ständig ändert, ein Bedürfnis nach Ruhe, nach stationären Zuständen, nach der Herstellung einer Lebenssituation, in der sich möglichst wenig ändert und alles mal so bleibt, wie es ist. Viele, vor allem auch ältere Menschen, werden von einem Gefühl der Angst befallen, wenn etwas nicht an seinem angestammten Platz ist. Und diese Erfahrung machen sie in letzter Zeit unablässig. Dreht man etwas den Rücken zu, ist es verschwunden, wenn man sich wieder hinwendet. Der großangelegte Verkehrsversuch, von dem ich bereits geschrieben habe, führt dazu, dass über Jahrzehnte eingespielte Routen plötzlich nicht mehr existieren und man Wege einschlagen muss, die man nicht gewöhnt ist. „Bin ich nicht letzte Woche noch auf diesem Weg zur Arztpraxis gelangt? Konnte man letztens hier nicht noch durchfahren? Seit wann ist das denn eine Einbahnstraße? Was ist denn hier los? Es wird besser sein, die Stadt zu meiden und zu Hause zu bleiben.“ Auf dem Wochenmarkt, für mich ein ergiebiges Feld der Empirie, hörte ich mehrfach den Satz: „So lange in Gießen ein derartiges Chaos herrscht, fahre ich zum Einkaufen und Kaffeetrinken halt nach Wetzlar oder nach Marburg.“ Das Reich des Vertrauten wird vom Unvertrauten angenagt und peu à peu zerstört. Auf nichts ist mehr Verlass, was gestern noch auf eine in der Kindheit erlernte Weise gemacht wurde, verschwindet entweder oder wird digitalisiert. Gerade ist man dabei, uns das Bezahlen mit Bargeld abzugewöhnen. Banken soll man eigentlich gar nicht mehr betreten, sondern seine Geschäfte online und ohne körperliche Anwesenheit abwickeln. Friedrich Hebbel hat dieser Erfahrung früh Gestalt und Ausdruck verliehen: die des Meister Anton in seinem Stück Maria Magdalena, der angesichts der gesellschaftlichen Umbrüche „die Welt nicht mehr versteht“.
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In einer Gesellschaft, die auf permanentem Wandel beruht und in der das Kapital auf der Jagd nach Profit alles ständig umwälzt, gewinnt das Bedürfnis nach Nichtveränderung beinahe revolutionäre Kraft. Doch die Linke ist derart eng mit dem Prinzip des Fortschritts verbandelt, dass sie mit einem derartigen Bedürfnis nichts anfangen kann. Nachdem das Kapital rund 150 Jahre auf fossile Energien gesetzt hat und mit deren Vernutzung den Planeten an den Rand des Abgrunds gebracht hat, setzt es nun, da es die Zeichen der Zeit zu erkennen beginnt, auf die sogenannten erneuerbaren Energien. Man beginnt zu begreifen, dass, wenn der Planet zerstört wird, auch das Kapitalverhältnis perdu ist. Das Kapital will zukünftig seine Profite mit Solarstrom, Windenergie, Elektromobilität und Wärmepumpen erzielen. Bei diesem Umstieg benötigt man Bündnispartner im Feld des Politischen. Das sind im Wesentlichen die Grünen und Teile der SPD. Und es braucht soziale Bewegungen, die die Prozesse in Gang setzen und vorantreiben. Beim Übergang zu einer neuen Stufe der kapitalistischen Entwicklung, die auf neuen Technologien basiert, müssen oft energische Widerstände überwunden werden. Bestimmte Kapitalfraktionen profitieren, andere verlieren und setzen den Veränderungen hartnäckigen Widerstand entgegen. Die fossile Lobby ist nicht untätig und recht einflussreich. Beide Seiten mobilisieren die Wissenschaft und versuchen, dort Unterstützung und Schützenhilfe zu finden. Hier schickt man gern soziale Bewegungen vor, die sich mit diesen Kräften und den Argumenten der Wissenschaft auseinandersetzen. Hier haben sich Greta Thunberg und Fridays for Future in den letzten Jahren unschätzbare Verdienste erworben. Die Letzte Generation schützt noch ihre Radikalität vor der Vereinnahmung, aber es gibt gewisse Anzeichen, dass auch sie vor den Karren der Modernisierer gespannt werden soll. Sie scheinen medial kompatibel und fallen bei ihren Fernsehauftritten nicht aus dem Rahmen.
In solche Überlegungen versunken, gelangte ich zu einem am Waldrand gelegenen großen Teich. Auch hier gab es Eisvögel, ihr Pfeifen war nicht zu überhören. Nahrung finden sie hier in Hülle und Fülle. Ich setzte mich auf eine Bierbank, die am Ufer stand und schaute aufs Wasser. Hier und da stiegen vom Grund des Teiches Blasen auf, Vögel flogen von hier nach dort, Reiher standen in Ufernähe und lauerten auf Beute. Früher konnte ich mir Argumentationslinien und Argumente eines geplanten Textes einfach so merken, heute muss ich sie sofort schriftlich fixieren. So holte ich mein Notizbuch aus der Rucksack und schrieb ein paar Dinge auf. Wenn ich auf den Knien schreibe, ist meine Schrift oft derart unleserlich, dass ich später Mühe habe zu entschlüsseln, was ich da unterwegs notiert habe. Nach drei Stunden langte ich wieder bei meinem in Hohensolms abgestellten Wagen an und fuhr durch das Chaos des Verkehrsversuchs nach Hause.
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Nachdem Phil Bauhaus bei der Tour de France von sich reden macht, antwortet ein konkurrierender Baumarkt mit einem nachnominierten Starter namens Kevin Obi.
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Heute erzählte mir eine Radfahrerin, sie sei das bereits für Autos gesperrte Teilstück des Anlagenrings mal abgefahren. Es sei schon ein geiles Gefühl, eine ganze Spur für sich zu haben und sich nicht vor überholenden Autos fürchten zu müssen. Sie räumte allerdings ein, dass es auch Radfahrer gebe, die man fürchten könne und müsse. Es sei ein erhabenes Gefühl gewesen, so über den Anlagenring zu rollen, und auch ein Ausdruck von Wertschätzung, die Radfahrern ja eher selten zuteil werde. Sie habe ein „Dänemark-Gefühl“ gehabt und die Fahrt sehr genossen. Für das Erhabenheitsgefühl von ein paar Radfahrern eine ganze Stadt umzukrempeln, ist allerdings ein stolzer Preis.
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„… ohne die Hand auszustrecken
(Hans Magnus Enzensberger)
nach dem oder jenem,
fällt ihr, was zunächst unmerklich,
dann schnell, rasend schnell fällt, zu;
sie allein bleibt, ruhig,
die Furie des Verschwindens.“
Unter den Arkaden des Wochenmarktes, hinter den Bäumen im Park, sogar hinter Grabsteinen auf dem Alten Friedhof: überall sehe oder vermute ich die „Furie des Verschwindens“. Die „Furie des Verschwindens“, von der bei Hegel die Rede ist, erfasst alles Tradierte und Gewohnte und löst auf allen Ebenen einen horror vacui aus. Ein Geheimnis des Erfolgs der Rechtspopulisten besteht darin, dass sie versprechen, die sich ausbreitende Leere mit tröstlichen und vertrauten Gestalten aus der Vergangenheit zu füllen. Der wahre Treiber für den Aufstieg der Rechten sind nicht die Grünen oder gegenderte Nachrichtensendungen, wie nun landauf-landab behauptet wird, sondern ist die kapitalistische Furie des Verschwindens. Das ist nur ein anderer, beinahe poetischer Name für den expansiven Drang des Kapitals, sich alles und jedes einverleiben, aus allem und jedem Geld machen zu wollen. Dabei reißt es alle Schranken nieder und sägt Äste ab, auf denen es selber sitzt. Es zerstört seine eigenen lebendigen Bestandsvoraussetzungen: Ganze Sektoren der Gesellschaft, ganze Lebensbereiche müssen von der ökonomischen (Un-)Vernunft freigehalten werden und verschont bleiben, wenn sie denn nicht in ihrem Kern zerstört oder beschädigt werden sollen. Die kapitalistische Gesellschaft verhält sich, wie Marx sagte, kannibalisch in Bezug auf ihre eigene Naturbasis und Bestandsvoraussetzungen. Sie rationalisiert gerade die Überlieferungs- und Trägerstrukturen weg, die sie zu ihrer eigenen Stabilisierung brauchte. Keine Gesellschaft ist vollständig ökonomisier- und dynamisierbar, ohne sich als Gesellschaft aufzulösen. Wenn alles den Profit Hemmende beseitigt ist, gibt es auch nichts mehr, das trägt und stützt. Gesellschaften diesen Typs werden zerfallen und sind bereits ins Stadium des Zerfalls eingetreten. Es ist schmerzhaft, das sehen und miterleben zu müssen. Gerade für jemanden, der einer Generation angehört, die einmal große Hoffnungen hatte, dass es besser und vernünftiger würde. „Resigniert kann man sein, wenn es einem gut geht“, lese ich bei Ralf Rothmann. „Sind die Zeiten schlecht, muss man optimistisch sein. Sogar Wölfe essen Obst.“ Und Karen Duve hat mir vor einer Weile zur Ermutigung den Satz geschenkt: „Ich denke, um das Leben aushalten zu können, muss man ein wenig zuversichtlicher sein, als es die Umstände hergeben.“
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„Gegen die ‚düster dreinblickenden Priester‘, die sich ‚im Marxismus eingeigelt haben wie in einer kalten Burg‘, berief ich mich darauf, dass nur jener Kommunist sein sollte, der die Menschen liebt.“
(Milan Kundera)
In den Abendnachrichten erfuhr ich vom Tod Milan Kunderas. Er wurde 94 Jahre alt und starb am 11. Juli in Paris, wo er seit 1975 lebte. Milan Kundera ist einer meiner Lebensschriftsteller gewesen und ich verdanke ihm unglaublich viel. Sein Tod hat mich traurig gemacht. Der Scherz wäre das Buch, das ich an erster Stelle nennen würde, fragte man mich nach meinem Lieblingsbuch von Kundera, gefolgt von Das Buch vom Lachen und vom Vergessen und Das Leben ist anderswo. Aber bei jedem Buch, das ich nenne, fallen mir andere ein, die ich ebenso nennen könnte. In den 1970er Jahren trat Kundera in unser Leben in Gestalt seiner Nichte Helena, die eines Tages bei uns in Gießen auftauchte, ein Quartier suchte und uns in ihrem wunderbaren tschechischen Deutsch begeistert von ihrem Onkel erzählte, der damals bereits in Paris lebte. So gerieten Burkhard und ich an „Onkel Milan“ und sind seither treue Leser seiner Romane und Essays. Helena fand dann eine vorübergehende Bleibe im Hungener Schloss, wo Freunde von uns lebten. So blieben wir in Kontakt und erhielten immer mal wieder Berichte von und über Onkel Milan. Die Quintessenz seiner Erfahrungen mit dem real existierenden Sozialismus des 20.Jahrhunderts hat Kundera so zusammengefasst: „Wird der Traum vom Paradies aber Wirklichkeit, trifft er hier und da auf Menschen, die ihm im Wege stehen, weshalb die Herrscher des Paradieses einen kleinen Gulag neben dem Garten Eden errichten müssen. Im Laufe der Zeit wird dieser Gulag immer größer und vollkommener, während das angrenzende Paradies immer kleiner und ärmlicher wird.“
In meinem Kundera-Regal bin ich auf Buch gestoßen, das noch eingeschweißt, also ungelesen war. Ich riss das Bücher-Kondom auf und nahm das Buch mit in den botanischen Garten. Es stammt aus dem Jahr 2000, heißt Die Unwissenheit und erzählt aus der Perspektive der tschechischen Emigrantin Irena von den Schrecken und Freuden des Exils. Hin- und hergerissen zwischen zwei Heimaten wählte Kunderea selbst eine dritte: die Literatur. Dieses Buch zog mich sofort in seinen Bann, und als ich nach Hause ging, hatte ich die Hälfte des Bandes bereits gelesen. Ich stieß auf eine Passage, die thematisch bestens in diese Folge der DHP passt: „Der unsichtbare Riesenbesen, der Landschaften verändert, entstellt, hinwegfegt, ist seit Jahrtausenden an der Arbeit, aber seine einst langsamen, kaum wahrnehmbaren Bewegungen haben sich derartig beschleunigt, dass ich mich frage: wäre die Odyssee heute denkbar? Gehört das Epos der Rückkehr noch zu unserer Zeit? Hätte Odysseus an dem Morgen, als er am Gestade von Ithaka erwachte, verzückt die Musik der großen Rückkehr hören können, wenn der alte Ölbaum gefällt worden wäre und wenn er um sich herum nichts hätte wiedererkennen können?“
Ich bin froh, einen Kundera-Roman in Reserve behalten zu haben und nun lesen zu können, als sei er gerade erschienen. Auf Seite 111 stieß ich gerade auf einen Satz, der mich erwischte: „Die Länge eines Menschenlebens beträgt im Durchschnitt achtzig Jahre. Mit dieser Dauer rechnet jeder, wenn er sich sein Leben vorstellt und es organisiert.“ Erwischt hat mich dieser Satz, weil er mir vor Augen führte, dass mir, wenn der Durchschnitt auf mich zutrifft, noch sieben Jahren bleiben. Nur sieben Jahre! Solche Sätze braucht man manchmal, damit einem radikal vor Augen geführt wird, in welcher Lage man sich befindet. Und dass ich noch einiges zu organisieren und zu regeln habe. Gerade an dieser Stelle macht sich illusionsbildend geltend, was Alexander Kluge als „Antirealismus der Gefühle“ bezeichnet hat. Das heißt, man sieht schmerzhaften Wahrheiten nicht so gern ins Auge.
Ich möchte euch nochmal die Arte-Dokumentation Milan Kundera – Die Ironie des Seins ans Herz legen, die man in der Arte-Mediathek finden kann.
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In Berlin-Neukölln hat nun ein Schwimmbad den Betrieb eingestellt. Grund seien fortgesetzte Auseinandersetzungen von Jugendlichen mit Beschäftigten des Bades und Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes gewesen, hieß es von Seiten des Betreibers des Bades. „Verbale Attacken, Spucken oder Pöbeln“ seien gang und gäbe. Bundesinnenministerin Faeser sprach sich für mehr Polizisten in Bädern aus. Der Rechtsstaat müsse gerade in öffentlichen Schwimmbädern, wo viele Kinder und Jugendliche seien, hart gegen Gewalt vorgehen, sagte sie in Berlin. Das bedeute eben auch: Polizeipräsenz. Ich habe wiederholt darauf hingewiesen, dass die Präsenz der äußeren Polizei den Verlust der inneren Polizei auf Dauer nicht kompensieren kann. Das Über-Ich, also das, was man früher Gewissen nannte, funktionierte wie eine innere Polizeidienstelle. Wenn diese wegen der nachlassenden Prägekraft der Familie ihren Dienst nicht mehr mehr mit hinreichender Zuverlässigkeit versieht oder ganz einstellt, steht die klassische bürgerliche Gesellschaft auf verlorenem Posten und geht in einen Polizeistaat oder eine digitale Diktatur nach chinesischem Vorbild über. Selbstregulative, autonome Kräfte, auf die wir früher gesetzt haben, sind nicht in Sicht. Lässt man den Dingen ihren Lauf und überlässt die Regelung „dem Markt“, kann es nur entsetzlich werden. „In den sogenannten sozialen Medien, mehr und mehr ein Netzwerk der Asozialen, bereitet sich die totalitäre Staatsform der Zukunft vor“, las ich dieser Tage bei Ralf Rothmann.
Als wir als Jugendliche begannen, im Sommer das Freibad aufzusuchen, waren Bademeister absolute Respektspersonen, deren Kommandos unbedingt Folge zu leisten war. Einige, eigentlich die meisten von ihnen, waren Quälgeister und Höllenhunde, die mit kaum gebrochener Blockwartmentalität ihr Vergnügen darin fanden, Jugendliche unter Einsatz der Trillerpfeife zu schurigeln. Wir hatten schlicht Angst vor ihnen. Wer es wagte, trotz Verbot immer wieder von der Längsseite ins Becken zu springen oder sich weigerte, eine Badekappe aufzusetzen, bekam es mit ihnen zu tun, und zog in der Regel den Kürzeren. Das Gewaltmonopol lag eindeutig auf Seiten der Bademeister und wurde auch von niemandem ernsthaft in Frage gestellt. Damit wir uns nicht missverstehen: Zu diesen Zeiten möchte ich keinesfalls zurück. Aber in der Abkehr von diesem autoritären Stil der Herrschaft im Freibad und an anderen pädagogischen Orten, ist das Kind mit dem Bade ausgeschüttet worden. Die Leerstelle, die dort entstanden ist, wird von jenen gefüllt, die laut, stark und ruchlos sind. Wo bürgerliche Formen der Herrschaftsausübung versagen, übernehmen Gangs das Kommando. Und das ist wahrlich kein Fortschritt.
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In den Lahnauen hat man in einem dieser renaturalisierten Gebiete ein Fernrohr und steinerne Sitzgelegenheiten aufgestellt. Gerahmt wird diese Stelle von einem massiven eisernen Geländer. An diesem Geländer waren Schautafeln angebracht, die auf Vögel, Fische, Libellen und seltene Pflanzenarten hinwiesen, die in den Lahnauen anzutreffen sind. Unter anderem war dort auch ein Eisvogel zu sehen, samt Erläuterungen zu seiner Lebensweise. Heute Morgen sah ich, dass der gemeine Vandale diese Schautafeln abgerissen hat. Die waren fest angeschraubt und es war massive Gewalt nötig, um das zu bewerkstelligen. Müßig nach den Motiven der Vandalen zu fragen. Sie haben keine. Ihr Motiv ist es, kein Motiv zu haben, also sich zu langweilen. Allenfalls wird man sagen können, dass der Vandale sich seiner selbst vergewissert, indem er Schäden und Zerstörung anrichtet. Das Geräusch berstender und zersplitternder Dinge verschafft ihm ein Gefühl der Existenz. Wenn er schon sonst nichts produzieren kann, weil ihm der Zugang zur Sphäre der Produktion, aus welchen Gründen auch immer, versperrt ist, dann wenigstens Zerstörung. Negative Anerkennung und Aufmerksamkeit ist besser als gar keine. „Ich zerstöre, also bin ich“, lautet die vandalische Version der cartesianischen Seingewissheit. Was den Vandalen besonders herausfordert, sind Dinge, die funktionieren und unbeschädigt, vielleicht sogar schön sind. Das bildet einen Kontrast zu der Zerstörung, die um ihn herum und in seinem Inneren herrscht. Indem er gegen diese Dinge vorgeht, schafft er eine Irritation aus der Welt und stellt Eindeutigkeit her. Warum soll es anderen besser gehen als ihm? Gleiches Unrecht für alle! Was sollen diese Blumen hier? Raus damit! Wieso machen es sich diese Leute schön? Bei mir ist auch nichts schön, also weg damit! Vandalische Kämpfe stellen eine Schwundstufe vormaliger Klassenkämpfe dar. Ihre wertabstrakte Militanz quittiert den Umstand, dass sie keinen Zugang zur Sphäre der Produktion und den dort verwurzelten Kampfformen haben. Gegen wen und was soll der ganz abstrakte und auf sich zurückgeworfene junge Mann sich wehren? Es bleibt ihm letztlich nichts anderes, als blind auf die Fassade einzuschlagen, die sich ihm in der Fußgängerzone oder in Parks darbietet. Indem er Flaschen zerschlägt und überall Scherben zurücklässt, verwandelt er das Äußere in ein Spiegelbild seines eigenen Inneren. Überall Splitter, Scherben und Fragmente.
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Wenn ich morgens vom Schwimmen mit dem Rad in die Stadt zurückfahre, begegnen mir oft zwei alte russische Männer, die pausenlos laut miteinander reden. Was heißt alte Männer? Sie sind wahrscheinlich genauso alt wie ich. Die Wahrheit ist, dass auch ich ein alter Mann bin. Man altert allerdings anders in verschiedenen Kulturen, so dass ich mich ihnen gegenüber als jünger empfinde. Sie gehen dicht nebeneinander, ihre Oberarme berühren sich beinahe beim Gehen. Sie haben freundliche runde Gesichter. Sie sind nach Art alter russischer Männer gekleidet, tragen Hosen mit Bügelfalten, gebügelte Hemden und sommers lederne Sandalen, die ordentlich eingefettet wirken. Einer der beiden hat raspelkurze graue Haare, der andere trägt ein fesches blaues Hütchen, wie es bei gewissen Punks Mode war oder ist. Manchmal grüße ich sie oder nicke ihnen zu. Diese Annäherungsversuche werden von ihnen stoisch ignoriert. Sie behandeln mich wie Luft. Vielleicht sind die Anhänger von Karl Valentin und sagen sich: „Den ignoriern ma net amoi!“ Dennoch freue ich mich, wenn ich den beiden begegne. Zwei alte Freunde, vielleicht Brüder, die jeden Tag vor oder nach dem Frühstück eine Runde zusammen gehen und sich dabei angeregt unterhalten. Zu Hause, stelle ich mir vor, warten ihre Frauen mir frisch gebrühtem Kaffee auf die Heimkehr der Männer. Die beiden haben sich wenigstens, denke ich manchmal fast ein wenig neidisch. Und sie haben sich etwas zu sagen. Was es ist, das sie sich zu sagen haben, will ich lieber nicht wissen.
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Als ich am Sonntagmorgen die Glasscherben des Wochenendes vom Rad- und Fußgängerweg vor unserem Haus aufkehrte, kam ein älteres Ehepaar auf ihren Rädern vorbei. Sie kannten mich als Verfasser der Kolumne Unser absurder Alltag im Gießener Anzeiger. Der Mann sagte: „Ei, habbe Sie en neue Beruf ergriffe?“ „Im Grunde mache ich in meinen Texten ja auch nichts anderes, als Scherben aufzusammeln“, erwiderte ich. Lachend fuhren die beiden weiter.
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Vor ein paar Tagen las ich, dass das, worunter ich leide, Hodophobie genannt wird, die Angst vor dem Reisen. Der Begriff leitet sich vom griechischen Wort Hodós ab, das Weg, Strecke, Straße bedeutet. Hodophobie ist für die Psychiater eine Form übersteigerter und chronifizierter frühkindlicher Verlustangst. Wobei meine ja keineswegs übersteigert war und ist, denn was kann einem als Kind schlimmeres zustoßen, als die Mutter zu verlieren? Aber man kann sich natürlich nicht ein Leben lang damit herausreden, dass einem zur Unzeit die Mutter gestorben ist. Irgendwann muss man sich entscheiden, ob man das Trauma sein Leben lang wiederkäuen oder etwas Neues probieren will. „Ein Leben ist eine zu diesem oder jenem verwendete Kindheit“, heißt es in Sartres Der Idiot der Familie. Aber das sagt sich so leicht. Sartre neigte dazu, im Bann der Erfahrung der Résistance die Wahlfreiheit der Menschen zu überschätzen. Er war überzeugt von der menschlichen Fähigkeit, sich von bestimmten Bedingungen losreißen zu können. Als ein Psychologe ihm drei Bilder zeigte – ein Boot, das sehr schnell fuhr, ein Mensch, der im Schritt ging, ein Zug, der raste – und ihn fragte, welches von ihnen am besten die Schnelligkeit symbolisierte, entschied sich Sartre für das Boot, das sich vom Wasser, und damit vom Kontingenten, losreißt.
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