77 | Demokratie als Lebensform

„Hier merkt man es nicht so – diesen Satz hatte der Graf vor einiger Zeit während eines Spaziergangs durch den Park wie einen Seufzer ausgestoßen. Seitdem zitierten wir ihn, wann immer wir eine halbwegs unverdorbene Oase entdeckten. Da merkt man es nicht so. Was das war, das man nicht so merkte, bedurfte keiner Erklärung, auch das ‚so‘ erschöpfte sich in der Andeutung: Nicht so schlimm wie anderswo.“

(Monika Maron: Stille Zeile sechs)

„In dem anderen Land habe ich verstanden, was die Menschen so kaputtmacht. Die Gründe lagen auf der Hand. Es hat sehr wehgetan, täglich die Gründe zu sehen. Und hier? Ich weiß, es gibt Gründe. Ich kann sie nicht sehen. Es tut weh, täglich die Gründe nicht zu sehen.“

(Herta Müller: Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt)

Vorn im Johannespark hockte ein junger Vater auf einer Bank, sein vielleicht zweijähriges Töchterchen saß vor ihm in einem Kinderwagen. Er zeigte dem Kind, wie ein Smartphone funktioniert und wie man auf ihm herumdrückt und -wischt. Das wird aber auch höchste Zeit, dachte ich bei mir. Eltern geben ihren Kindern Mobiltelefone, damit sie sich nicht mit ihnen beschäftigen und auseinandersetzen müssen. Elternliebe äußert sich heute in der Anzahl der Handyschnappschüsse, die anschließend gepostet werden. Dass die Kinder in ihrer kognitiven und vor allem emotionalen Entwicklung schwer geschädigt werden, nehmen Eltern billigend in Kauf. Neuere Studien belegen einen steilen Empathieverlust in der Smartphone-Generation. Aber Einfühlungsvermögen ist fürs Fortkommen in der sozialdarwinistischen Leistungskonkurrenz ja auch eher hinderlich. Wer es gut mit seinem Kind meint, setzt es zeitig vor elektronische Geräte. Es wird ihm den Weg in eine glänzende digitale Zukunft ebnen – eine Welt ohne leibhaftige Menschen.

Heute Morgen hörte ich im Radio einen Bericht über die vergangene Nacht, in der schwere Unwetter über Teile von Deutschland gezogen sind und in einigen Regionen Überschwemmungen und Verwüstungen hinterlassen haben. Massenhaft hätten die Leute über die üblichen Kanäle Fotos und Videos „der schönsten Blitze“ verschickt, erfuhr ich. BILD der FRAU erteilte ihren Leserinnen im Vorfeld ein paar nützliche Tipps, wie man Blitze am besten fotografiert.

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Habe nun die Lektüre des Buches von Roderick Kedward zur Geschichte des Anarchismus beendet.  Am Schluss rutschte ich in eine melancholische Stimmung und es stellte sich mir mal wieder die bange Frage, wie man mit all dieser Vergeblichkeit umgehen kann? Generationen von mutigen und hoffnungsvollen Männern und Frauen haben gekämpft und immense Opfer gebracht, und letztlich war alles für die Katz. Die Anarchisten von Chikago, der spanische Pädagoge Francisco Ferrer wurden für etwas hingerichtet, an dem sie nicht beteiligt waren. Sie starben für ihre Freiheitsliebe und ihre Ideen. Nestor Machno, der für die Bolschewiki mehrfach die Kastanien aus dem Feuer holte, wird verfolgt und vertrieben und stirbt einsam in Pariser Exil. Mit welch großen Erwartungen ist Emma Goldman 1919 in die junge Sowjetunion gekommen und wie ernüchtert und enttäuscht hat sie sie nach der blutigen Niederschlagung des Kronstädter Matrosenaufstandes 1921 wieder verlassen. Isaak Babel wird in der Moskauer Lubjanka von einem Geheimdienstoffizier per Genickschuss ermordet, Trotzki im Auftrag Stalins mit einem Eispickel erschlagen, Rudi Dutschke vom verhetzten Josef Bachmann angeschossen. Jahre später stirbt er an den Folgen der Schüsse.

Nüchtern und bei Lichte betrachtet ist die Geschichte der Linken eine einzige Geschichte des Scheiterns und der enttäuschten Hoffnungen. Niederlage reiht sich Niederlage – unterbrochen von kurzen Episoden des Glücks und des Gelingens, die dem kompakt Falschen wie ein Missverständnis beigemischt sind. Ansonsten Blut und Tränen, vermodernde Fahnen und Knochenberge. „Eine Reise in die Nacht; und machen wir uns nichts vor, das Morgenrot, das der Stunde folgt, in der es am dunkelsten ist und am kältesten, hat nichts mehr mit dem Rot der einst verheißenen Paradiese zu tun, es erinnert nur an das Blut, das um sie vergossen wurde.“ (Jörg Fauser)

Ich habe gerade bemerkt, dass genau dieses Thema auch am Beginn der Durchhalteprosa stand. Die im Juni 2020 erschienen erste Folge hieß: Die Melancholie des Scheiterns. Fast auf den Tag genau drei Jahre später schließt sich der Kreis. Alles scheint verriegelt und verrammelt, heißt es in Folge 1. Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Eine kompakte Majorität ist gegen uns. Heute Morgen beklagte sich eine Frau auf dem Markt über ihre beschwerliche Anfahrt mit dem Auto. Der innere Anlagenring wird derzeit umgebaut, weil zwei Spuren in Fahrradstraßen verwandelt werden. „Die Grüne wolle, dass mer alle nur noch Rad fahre“, klagte sie laustarkt und Zustimmung heischend. Der Gemüsehändler verweigerte die Zustimmung und erwiderte: „Das wäre doch eigentlich ganz vernünftig.“ Ich fürchte, die Frau wird ab nächste Woche ihren Salat woanders kaufen.

In so einer Stimmung hilft nur Alvin Lee mit I‘m going home, am besten in der langen Woodstock-Fassung. Das Stück transportiert etwas von der Leichtigkeit und der Aufbruchsstimmung, die damals in der Luft lagen und eine ganze Generation beflügelten. Der Himmel über dem Festivalgelände war weit – sogar an dem Tag, an dem es regnete und stürmte. Alvin Lee ist nun auch schon 10 Jahre tot. Er starb 2013 in Spanien bei einer sogenannten Routineoperation, also unter den Händen von Ärzten.

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Nachdem Jewgeni Prigoschin die russische Militärführung, speziell Verteidigungsminister Schoigu, seit Wochen massiv beschimpft und beleidigt hat, ließ er gestern Taten folgen und unternahm einen Aufstandsversuch. Zuletzt hatte er verlauten lassen, der Krieg werde für die Selbstdarstellung „eines Haufen Bastarde gebraucht.“ Sämtliche vorgebrachten Kriegsgründe seien erstunken und erlogen. Er ist bekannt für sein unerschrockenes Auftreten und seine drastische Ausdrucksweise, die offenbar bei seinen Leuten und auch bei Teilen der russischen Bevölkerung gut ankommt. Er ist ein berüchtigter Haudrauf und Schlagetot, der vor nichts zurückschreckt, ein vierschrötiger Typ mit der Ausstrahlung eines alten Knackis, was er auch war, bevor er zum Unternehmer und Warlord mutierte. Was ihn mit Putin verbindet ist neben einer alten Freundschaft seine tiefe Verachtung von Demokratie und Parlament („Quasselbude“), von Zivilgesellschaft und Bürgerlichkeit und vor allem Homosexualität. „Allbekannt“, heißt es bei Adorno, „dass Tabus umso stärker werden, je mehr der ihnen Hörige unbewusst selber begehrt, worauf die Strafe gesetzt ist.“ Wäre dem nicht so, könnten die Homophoben auf die Existenz von Schwulen gelassen reagieren und es müsste ihnen nicht, wie gesagt wird, „das Messer in der Tasche aufgehen“.

Nachdem Prigoschins Truppen, ohne auf Widerstand zu stoßen, am Samstag die Millionenstadt Rostow am Don eingenommen hatten, gaben sie gegen Abend die von ihnen gehaltenen Stellungen im Süden Russlands auf und brachen den Aufstand ab, bevor er richtig begonnen hatte. Seine Leute befanden sich bereits auf halbem Weg nach Moskau. Der Tschetschene Ramsan Kadyrow, auch kein Kind von Traurigkeit und ein erprobter Schlächter, hatte sein Eingreifen auf Seiten Putins angekündigt. Bevor es zum großen Showdown kommen konnte, gab Prigoschin auf und stoppe den Vormarsch seiner Leute. Er selbst werde unbehindert ins Nachbarland Belarus gehen können, sicherte man ihm aus Moskau zu. Er werde, wie auch seine Leute, straffrei bleiben. Erst einmal, würde ich vermuten, denn ein Mann wie Putin vergisst solche Demütigungen und Kränkungen nicht. Nichts davon wird in Vergessenheit geraten. Wenn er diese Phase überlebt und unbeschadet übersteht, wird er Rache nehmen.

Die ganze Szenerie erinnert entfernt an die Ereignisse in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. Damals existierte auf Seiten der etablierten Mächte auch so eine trübe und üble Mixtur aus regulären Truppen und Freikorps-Männern, die die Aufstandsversuche der Linken gemeinsam niedermetzelten. Hunderte von politischen Gegnern wurden durch Angehörige der Freikorps ermordet. Man kann in ihnen die ersten Soldaten des späteren Dritten Reichs erblicken. Die ehemaligen Fronstsoldaten blickten verächtlich auf die saturierten Bürger. In ihren Augen waren alle Zivilisten und Nicht-Soldaten Weichlinge und Sesselpfurzer; was sie in den Schützengräben erstritten hatten, das verdarben und verspielten die Politiker in ihren Büros. Als man die Freikorps nicht mehr benötigte, löste man sie auf. Für rund zehn Jahre verschwanden sie von der Bildfläche und in irgendwelchen Untergründen, bis sie 1933 in SA- und SS-Uniformen wieder auftauchten, was für viele andere blutige und mörderische Folgen hatte. In der Nacht vom 30. Juni zum 1. Juli 1934 entledigte sich Hitler Ernst Röhms und seiner SA-Gefolgsleute, die sich am Tegernsee versammelt hatten. Sie wurden in der sogenannten Nacht der langen Messer von der SS füsiliert. Für Röhm und seine Anhänger war die nationale Revolution unvollständig geblieben und sie wollten sie weitertreiben. Hitler hatte indessen längst seinen Frieden mit Bürgertum und Kapital gemacht und fühlte sich von seinen ehemaligen Kumpanen in seinem Anpassungskurs gestört und behindert. Luchino Visconti hat das Massaker vom Tegernsee in seinem Film Die Verdammten aus dem Jahr 1969 mit Dirk Bogarde in der Hauptrolle nachgestellt.

Solche historischen Analogien hinken immer und stimmen allenfalls partiell. Aber meine Hirnantilope ist zu den Freikorps-Männern hingesprungen, zu denen auch der älteste Bruder meines Vaters gehörte. Er wandte sich 1920, als in Deutschland für die Freikorps die Luft dünn zu werden begann, nach Argentinien, wo er sich als Landwirt versuchte und ein paar Jahre später an einer tropischen Infektionskrankheit starb. Seine Frau Lotte kehrte nach Deutschland zurück, und da mein Vater noch ledig war, war es seine Aufgabe, sich um die Familie des Bruders zu kümmern. Er nahm diese Aufgabe so ernst, dass er Lotte heiratete und ihre Kinder aufnahm und versorgte. Die Ehe scheiterte, Lotte kehrte mit ihren Kindern nach Argentinien zurück und heiratete einen reichen Grundbesitzer. Mein Vater lernte im Zweiten Weltkrieg Franziska kennen, die später meine Mutter wurde. Für kurze Zeit, denn sie starb bald. So hängt auch meine Geschichte um ein paar Ecken noch mit der Geschichte der Freikorps zusammen.

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Robert Sesselmann setzte sich im Thüringer Kreis Sonneberg in der Stichwahl für das Amt des Landrats gegen den CDU-Kandidaten durch. Damit stellt die AfD erstmals in Deutschland einen Landrat. Meine Hirnantilope springt sofort ins Jahr 1930, als Wilhelm Frick – ebenfalls in Thüringen – Staatsminister für Inneres und Volksbildung in einer Koalitionsregierung und somit der erste Minister der NSDAP während der Weimarer Republik wurde. Eine Parallele, die nicht viel besagen muss, aber möglicherweise kann. Das erschließt sich erst im Nachhinein. Dennoch sollten wir den Sieg von Herrn Sesselmann nicht auf die leichte Schulter nehmen. Wenn er ganz groß rauskommen will, sollte er sich einen anderen Nachnamen besorgen: Sesselmann liegt zu dicht bei Sesselpupser. Und wie reagiert die Linke? Ihr Vorsitzender Martin Schirdewan gab am Tag nach der Wahl zu Protokoll: Der Wahlerfolg des AfD-Kandidaten sei  ein „Alarmsignal für die Demokratie“. Weiter sagte er: „Wir müssen jetzt ganz genau darüber nachdenken, wie man Demokratie stärken kann an dieser Stelle.“ Was für hilflose Sprechblasen! Demokratie lässt sich nicht von oben dekretieren, sie muss von unten her gelebt und praktiziert werden. Und vor allem braucht‘s Demokratinnen und Demokraten, ohne die eine Demokratie natürlich nicht funktionieren kann. Was aber ist ein Demokrat? Wodurch zeichnet er sich aus? Über welche Eigenschaften muss er verfügen?

Demokratisch ist ein Mensch nicht bloß im Kopf, sondern auch innen, von den Gefühlen her. Was für einer Ideologie man anhängt, welche Philosophie man hat, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist. Damit, schrieb Oskar Negt, „sind nicht zufällige Merkmale des empirischen Charakters gemeint, sondern die Reflexions- und Erfahrungsfähigkeit des Subjekts, die auch ein Produkt seiner Sozialisationsgeschichte ist“. Demokratische Einstellungen und Haltungen wird man eher bei Menschen finden, die unter hinreichend guten Bedingungen aufgewachsen und mit sich befreundet sind. Wer das Verschiedene in sich selbst akzeptiert, wird es auch draußen akzeptieren können. Demokratie ist keine Gesinnungsgemeinschaft von Gleichen, sondern eine Gesellschafts- und Lebensform, die die Entfaltung von Verschiedenheit und den geregelten Austrag von Konflikten ermöglichen soll. Die psychischen Voraussetzungen der Demokratie bestehen in einer, wenn nicht bei allen, aber doch bei einer Mehrheit anzutreffenden Ich-Stärke, die vor allem die Fähigkeit beinhaltet, mit Ambivalenzen, Schwebezuständen, offenen Fragen und Konflikten umgehen zu können. Diese reifen, dialektischen Ich-Funktionen, die Menschen befähigen, unlösbare Widersprüche prüfend in der Schwebe zu belassen, Dissens und Verschiedenheit zu ertragen, nach Kompromiss und vernünftigem Ausgleich zu suchen, stehen auf dem Spiel, wenn Massen von Menschen unter dem Druck von Angst und aufkeimender Wut auf einfachere Mechanismen der psychischen Regulation regredieren. Das ursprünglich schwache Ich gewinnt seine Stärke erst aus einem nicht-selektiven Umgang mit einer ambivalenten Umgebung. Unter Spannung und Stress droht das Ich auf die Ebene archaischer Spaltungen zurückzufallen. Auch unter durchschnittlichen Erwachsenen bleibt das Bedürfnis wirksam, unerträgliche Spannungszustände und kognitive Dissonanzen durch Spaltung und Projektion zu entschärfen.

Über welche Eigenschaften und Fähigkeiten muss ein demokratischer Mensch also verfügen? Es sind dies: die Entwicklung reifer, dialektischer Ich-Funktionen, Ambivalenztoleranz, Sublimierungs- und Symbolisierungsfähigkeit, kritisches, selbstständiges Urteilsvermögen, Differenzierungsfähigkeit, Fähigkeit zum Perspektivenwechsel, Distanz zum Bereich der privaten Gefühle und Affekte, zu Triebbedürfnissen, die Fähigkeit zur Kompromissbildung, eine weitgehende Vorurteilsfreiheit. Max Horkheimer sagte einmal über das Vorurteil: „Aus der Verkürzung des Gedankens, die ein Mittel bei der Erhaltung des Lebens ist, wird es zum Schlüssel, eingepresste Bosheit loszulassen.“ Vor allem muss also eine demokratische Gesellschaft daran arbeiten, den Angst- und Panikpegel abzusenken, indem sie Arbeits- und Lebensverhältnisse herstellt, die den Menschen weniger „Bosheit einpressen“ und die Entwicklung und Aufrechterhaltung dialektischer Ich-Funktionen begünstigen. Der Sozialstaat, dessen Demontage im Namen des Neoliberalismus seit einigen Jahrzehnten betrieben wird, bedeutet immer auch Begrenzung menschlicher Not und Existenzangst durch die Bereitstellung von solidarischen Netzen, die einen Menschen auffangen, wenn er aus der Welt zu fallen droht. Eine Gesellschaft, die sich voll und ganz dem Markt und seinen Funktionsimperativen ausliefert, die es zulässt, dass in einer entfesselten sozialdarwinistischen Leistungskonkurrenz immer mehr ältere, psychisch und mental „unflexible“ und instabile Menschen als unbrauchbar auf der Strecke bleiben, die massenhaft indentitätsbedrohende Entwurzelungen produziert, bereitet den Boden dafür, dass sich unter dem Firnis der Anpassung Hass und Ressentiments ansammeln.

Und man sollte und müsste die Hass- und Brutalisierungsmaschinen abschalten, die man euphemistisch soziale Medien nennt. Dort verbreiten sich antidemokratische Einstellungen und Ressentiments in einer Breite und Geschwindigkeit, von der frühere Diktatoren nur träumen konnten. Warum sollte eine demokratische Gesellschaft Medien sponsern und am Leben erhalten, die ihr nach dem Leben trachten und ihre Funktionsprinzipien unterminieren? Gegen die Dummheit scheint kein Kraut gewachsen, aber man muss sie nicht noch düngen und fördern. Man sollte, wie gesagt, stattdessen die Bedingungen stärken, die kritisches Urteilsvermögen und Differenzierungsfähigkeit gedeihen lassen.

Dieser Text ist mit kleinen Ergänzungen am 27. Juni unter dem Titel Demokratie braucht Demokraten auf Telepolis erschienen

Ein Nachtrag zum Thema Demokratie. Was Brecht vom Kommunismus sagte, gilt auch für die Demokratie: Sie ist „das Einfache, das schwer zu machen ist“. In Brechts Verständnis musste der Kommunismus auch demokratisch sein, wenn auch nicht im Sinne des bürgerlichen Demokratiebegriffs, der ja der Mitwirkung der Bürger enge Grenzen setzt und sie im Grunde zu Stimmvieh degradiert. Weil wahrhafte Demokratie so schwer zu machen ist, muss ihre Praxis auch erlernt werden. Demokratie ist eine Gesellschaftsordnung, die gelernt werden muss, weil sie auf urteilsfähige Beteiligung der Menschen angewiesen ist. Demokratie ist mehr als ein bloßes System von Regeln, sie ist eine Lebensform. Es bedarf zu ihrer Erhaltung eine politische Bildung, die verschiedene Bauelemente wie Orientieren, Wissen, Lernen, Erfahren und Urteilskraft miteinander verknüpft. Wenn all das nicht in der sensiblen Phase des Lebens, also in der Kindheit, erlernt und eingeübt wird, kann es später nur noch unter Mühen erworben werden. Die Fähigkeit zur Einfühlung in andere Menschen und die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel, elementare demokratische Tugenden, erwirbt man entweder in der Kindheit oder gar nicht. Unsere Fähigkeit, uns in andere einfühlen, mit ihnen mitzufühlen und unser Verhältnis zu ihnen in richtiger Perspektive zu sehen, mag zwar in uns angelegt sein, aber sie bildet und formt sich vor allem in sehr frühen Erfahrungen. Besser oder schlechter – und manchmal, unter extrem widrigen Bedingungen, auch gar nicht. In einem familiären Klima, das von Indifferenz und Kälte geprägt ist, und unter Bedingungen der heute dominant werdenden Gerätesozialisation, können sich diese menschlichen Vermögen nicht oder nur ansatzweise entwickeln.   

All diese Bauelemente haben derzeit einen schweren Stand und drohen rar zu werden. Sie wachsen nicht mehr nach oder werden nicht nachproduziert. Das geht der Demokratie viel radikaler an die Wurzeln, als es irgendeine Form von Diktatur könnte. Die Herrschaft der Märkte, des Geldes und der Influencer zeichnet sich dadurch aus, dass sie von denen, über die sie ausgeübt wird, nicht als Diktatur empfunden wird, sondern als Erfüllung ihrer intimsten Wünsche. Ein guter Konsument kann sich zurücklehnen und ausruhen. Er blickt auf sein Smartphone und andere Bildschirme und ist Konsument seines Geschicks. Seine Aktivität beschränkt sich aufs Wischen. Demokratie und alle Formen der Selbstbestimmung sind demgegenüber anstrengend und mühsam. Unter anderem deswegen sinkt ihre Popularität zur Zeit weltweit rapide. Autokraten und Diktatoren profitieren von dieser Demokratieverdrossenheit.

Was ich ebenfalls zu erwähnen vergaß: Die Chancen zum Erwerb demokratiefördernder Eigenschaften und Fähigkeiten sind ungleich verteilt und sind oder waren klassenspezifisches Privileg. Sie entwickeln sich auf der Basis einen einfühlenden Erziehungspraxis und einer Sozialisation, die zu einer differenzierten Beschäftigung mit Subjektivität, Innerlichkeit, Beweggrund anregt und auf sprachliche Regelung von Konflikten setzt. Das war einst eine Domäne bürgerlicher Familien, die aber in dieser Form kaum noch existieren. Wo werden in Familien noch gemeinsame Mahlzeiten eingenommen und wo wird währenddessen nach gewissen Regeln miteinander gesprochen? Wo wird noch zur Lektüre von guten Büchern angeregt oder gar aus ihnen vorgelesen? Gehen Familien noch gemeinsam ins Theater und sprechen hinterher über das Gesehene und Gehörte? Die Faustregel ist: Mitfühlen lernt nur, mit wem selbst mitgefühlt wurde, , tolerant kann nur sein, wer einmal die Erfahrung gemacht hat, dass er nicht überrollt wurde. Geschützte Räume bereitzustellen, in denen solche Erfahrungen massenhaft und eben nicht nur als Klassenprivileg gemacht werden können, wäre geglückte demokratische Praxis.

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Eine Folge von Kriegen besteht darin, dass jeder aus dem Krieg heimkehrende Soldat den ganzen Krieg und seine Grausamkeiten in sich trägt und diese weitergibt. Wie viele sogenannte Familienauslöschungen, wie viele Amokläufe gehen auf das Konto von Vietnamheimkehrern? In Garnisonsstädten stieg mit jeder Soldateneinheit, die aus einem der amerikanischen Kriege heimkehrte, die Zahl der Gewalttaten, vor allem in den Familien, gegen Frauen und Kinder. So gehen Kriege, die offiziell längst beendet sind, oft noch lange weiter. Die Gewalt pflanzt sich fort, von Generation zu Generation. Von dem Gewaltpotenzial, das dem Ukraine-Krieg auf dem Fuß folgen wird, kann man sich eine ungefähre Vorstellung machen, wenn man Nicolai Lilins Bericht über den Zweiten Tschetschenienkrieg liest, an dem er als russischer Scharfschütze teilnahm. Er ist unter dem Titel Freier Fall im Jahr 2011 auf Deutsch bei Suhrkamp erschienen. Seine Heimkehr am Ende seiner Militärzeit beschreibt er so: „Vom Bahnhof aus machte ich einen Spaziergang durch meine Stadt und stellte fest, dass ich den unerklärlichen Impuls verspürte, auf alle zu schießen, denen ich begegnete. Ich empfand eine tödliche Ladung Hass: Der Hass verzehrte mich von innen und brachte mich dazu, alles zu hassen, was für ein friedliches Leben stand.“ Ein Produkt der Tschetschenienkriege scheint Ramsan Kadyrow zu sein, der für seine Grausamkeit berühmte heutige Präsident von Tschetschenien und treue Verbündete Putins.

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„Zurück bleibt eine Jugend der Banlieus, die als eine Klasse der Umherirrenden und Gefährlichen wahrgenommen wird.“

(Alain Badiou)

Es sind stets die gleichen Bilder und Abläufe. Die Polizei erschießt einen Jugendlichen mit einem migrantischen Hintergrund. In der folgenden Nacht brennen Autos und öffentliche Gebäude. Man sieht Jugendliche, die auf Polizisten losgehen und Polizisten, die auf Jugendliche losgehen. Molotowcocktails werden geworfen, Gummigeschosse und Tränengasgranaten abgefeuert, Geschäfte geplündert. Das geht so einige Tage und vor allem Nächte lang, bis die Revolte in sich zusammenfällt und rauchende Trümmer und blutige Köpfe hinterlässt. Das wiederholt sich in Frankreich in trauriger Regelmäßigkeit alle paar Jahre. Dieses Mal war der Anlass der Tod eines 17-jährigen arabischstämmigen Jugendlichen namens Nahel bei einer Verkehrskontrolle. Nahels Mutter rief zum Widerstand gegen willkürliche Polizeigewalt auf. Die Gewaltspirale dreht sich weiter, wobei man festhalten muss, dass der Ausgangspunkt regelmäßig ein polizeilicher Übergriff ist. Im aktuellen Fall feuerte ein Polizist seine Waffe ins Innere eines Autos ab, ohne dass auf dem leicht verzitterten und tonlosen Video vom Tatort auch nur der Ansatz einer Notwehrsituation zu erkennen ist. Der Polizeischütze wurde in Gewahrsam genommen. Die Anklage lautet: vorsätzliche Tötung. Meist haben solche Verfahren für die Täter keine gravierenden Folgen. Man behält sie unter Verschluss, bis Gras über die Sache gewachsen ist. Dann lässt man sie frei oder verurteilt sie pro forma zu einer geringfügigen Freiheitsstrafe auf Bewährung. Ein auch in der USA übliches Vorgehen. Die Intensität der sich Tage und Nächte hinziehenden Auseinandersetzungen und ihre Ausdehnung auf ganz Frankreich erinnern an die wochenlangen Aufstände vom Herbst 2005, als die Regierung schließlich sogar den Ausnahmezustand verhängte. Riots könnten zur Protestform der Zukunft werden, die nach dem Ende der fordistischen Produktionsweise die Streiks ablösen. Da ihnen der Weg zur Produktion versperrt oder verwehrt ist, nimmt der Widerstand die Form der Riots, der Ghettorevolte an. Der Ort des Zusammenstoßes ist nicht mehr die Fabrik, sondern der Stadtteil, Straßen und Plätze. Es ist die Revoltform derer, die keine Arbeit haben und deren Unmut sich nicht anders artikulieren kann als in einer wertabstrakten, frei flottierenden Militanz. Mehr oder weniger blind schlagen die Herausgefallenen auf die gesellschaftliche Fassade und die Repräsentanten des Staates ein. Bevor die meist jugendlichen Aufständischen mit der Gesellschaft brechen, hat diese längst mir ihnen gebrochen. Zu ihrer Ghetto-Lage gehört, dass aus ihrer Situation der Arbeits- und Perspektivlosigkeit kein gangbarer Weg herausführt. Die Ghetto-Existent ist für die meisten kein transitorischer Zustand, sondern eine dauerhafte, mitunter lebenslange Existenzweise. Alle legalen Auswege aus dem Ghetto sind versperrt. Nur einige Wenige haben das Glück, als Fußballer oder Rapper diesem Schicksal entgehen zu können. Ich habe mich vor über zehn Jahren zu dem aus sozialer Verelendung und Verzweiflung erbrütete Zündstoff, der alle paar Jahre explodiert, ausführlich geäußert. Der Text mit dem Titel Die große Wut der Überzähligen ist in meinem Buch Amok und Alzheimer aus dem Jahr 2014 enthalten, aber hier auch online zu finden: https://www.nachdenkseiten.de/?p=10602. Er hat an Aktualität leider kaum etwas eingebüßt.

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U hat wieder „ihren“ Spatz. Er weckt sie morgens mit hartnäckigem Getschilpe vor ihrem Dachfenster auf. Schaut sie nach ihm, hüpft er auf dem Schneegitter ein kleinwenig zu Seite und schaut sie an. Was sie ihm an Brotkrümeln und Samenkörnern hinstellt, ignoriert er. Ob es derselbe Spatz ist wie letztes Jahr, weiß sie natürlich nicht. Theoretisch könnte es sein, denn Spatzen haben durchaus eine Lebensdauer von mehreren Jahren. Es entsteht im Laufe der Zeit ein gewisse Beziehung zwischen U und ihrem Spatz, jedenfalls von ihrer Seite. Taucht er einmal nicht auf, fehlt ihr etwas und sie schaut besorgt aus dem Fenster. Ein grausamer Verdacht fällt in solchen Momenten auf das Eichhörnchen, das den Hinterhof als sein Jagdrevier betrachtet. Nach einer Weile  hört man die Pfiffe des Spatzen wieder und U ist beruhigt. „Er hat sich ein bisschen herumgetrieben“, sagt sie erleichtert, „aber nun ist er zurück.“

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„Gießen hat 89.000 Einwohner und ist eine Universitätsstadt in Hessen. Sie ist die siebtgrößte Stadt des Landes – gerade deswegen pendeln jeden Tag tausende Menschen in die Stadt. Durch die vielen Autos, den Verkehrslärm und das generelle Chaos auf den Verkehrswegen, belegt Gießen den 10. Platz im Ranking der hässlichsten Städte Deutschlands.“

So stand es in einer überregionalen Zeitung. Ich finde, dass Gießen dabei noch gut weggekommen ist. Und: Wir können alle etwas dazu beitragen, dass Gießen im Ranking der hässlichsten Städte weiter nach vorn kommt. Wir sind auf einem guten Weg. Wir brauchen noch ein bisschen mehr türkisch-arabische Hochzeits- und Beschneidungsfeiern mit nachfolgendem Autocorso und stundenlangen Hupkonzerten mit Hupen so laut wie Schiffshörnern, noch mehr Poser, die aus dem Hinterland am Wochenende in die Stadt kommen und hier ungestraft ihre Soundverstärker röhren und die eingebauten Fehlzündungen knallen lassen können. Irgendwann wird auch hier mit Schreckschusspistolen aus den Wagenfenstern geschossen oder gleich mit scharfen Waffen. Nach einem Jahr wird wahrscheinlich der Verkehrsversuch mit Fahrradspuren auf dem Anlagenring wieder beendet werden, und Gießen kann dann vollends zum Eldorado der Autofahrer, Poser und Raser avancieren. Da Gießen es im Ranking der schönen und angenehmen Städte eh zu nichts bringen kann, sollten wir wenigstens Negativkarriere machen und sehen, dass wir es in die Spitzengruppe der Hässlichkeit und Unwirtlichkeit schaffen. Wenn man wissen will, was Gießen ist, braucht man nur den Versuch unternehmen, als Fußgänger die Kreuzung an der Johanneskirche zu überqueren. Man benötigt eine Hundertmeterzeit wie Usain Bolt, um es während der Grünphase zu schaffen. Da bekommt man wortlos mitgeteilt, was diese Stadt von ihren Bürgern hält. Es ist wichtiger, dass der Verkehr fließt, als das ein altes Mütterchen in Ruhe und ohne Gefahr für Leib und Leben die Straße überqueren kann. Das ist im Sinne Kants würdelos, weil es die Menschen zu Mitteln fremder Zwecke herabsetzt.

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In der FAZ vom 30. Juni ist zu lesen, dass laut einer aktuellen Jugend-Digitalstudie der Postbank Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren in Deutschland jede Woche mehr als zweieinhalb komplette Tage im Internet unterwegs sind. Junge Frauen verbringen sogar noch wesentlich mehr Zeit online, nämlich 67,2 Stunden pro Woche. Das deckt sich mit meiner Empirie. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich zuletzt einen Jugendlichen ohne Smartphone in der Hand angetroffen habe.

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Je mehr die traditionelle Funktion des Automobils, Menschen zur Arbeit und von dort wieder zu ihrer Behausung zu transportieren, in den Hintergrund tritt oder in die Zweitrangigkeit absinkt, desto offenkundiger, wird die psychologische Funktion des Fahrens. Enorme Größenphantasien verbinden sich mit dem individuellen Gebrauch des Automobils. Es vermittel seinen Benutzern das Gefühl, Herr und Lenker des eigenen Geschicks zu sein. Das Gaspedal ist der einzige und letzte Hebel, den sie noch bewegen können. Das Auto ist für viele junge Männer eine Selbstwertprothese und vermittelt ihnen ein Gefühl von Grandiosität und Macht. Wenn das Leben sonst überwiegend Kränkungen bereit hält, ändert sich die Lage, wenn man auf den Sitz seines 3er-BMWs rutscht, den Motor aufheulen, den Ellenbogen lässig aus dem Fenster hängen und die Stereoanlage die ganze Umgebung vibrieren lässt. Für die rauschhafte Dauer der Fahrt wird aus einem Verlierer ein Sieger und Gewinner. Diese narzisstische Bedeutung und Funktion des Automobils als Plombe, die innere Leere füllt, wird von jenen gern übersehen und gering geschätzt, die sich für eine Verkehrswende und die Verbannung der Autos aus den Städten einsetzen. Gegen das geile Gefühl, mit einem geleasten Porsche durch die Fußgängerzone zu fahren und seine Kumpels vor Neid erblassen zu sehen, vermögen die Argumente der Kritiker des motorisieren Individualverkehrs nichts auszurichten. Es sind Tubstummendialoge, die sich hier entspinnen, wenn es denn überhaupt zu Dialogen kommt. Zumal die vielen migrantischen Jungmänner haben für die grünen Ideen einer von Fahrrädern dominierten Stadt wenig oder nichts übrig. Sie sind zum Teil wegen der deutschen Luxuslimousinen hierher gekommen und lassen sich diesen Traum nun so schnell nicht wieder ausreden. Gerade ihnen dient das Auto nicht in erster Linie als Fortbewegungsmittel, sondern zur Realisierung von Omnipotenzphantasien. Es ist, habe ich vor Jahren einmal geschrieben, das Viagra des männlichen Stolzes. Wie die überflüssig gewordenen Körper zum Styling in Fitnessstudios gebracht werden, so werden die Autos zum Zecke des Posing hergerichtet, mit allerhand Schnickschnack ausgestattet und rasen ohne Ziel und Zweck umher. Gewisse Automobile sind Selbstzweck – oder sie dienen ausschließlich als Selbstwertprothese für ihren Besitzer. Dem ist mit vernünftigen Argumenten nicht beizukommen. Der Verkehr wird eines der Felder werden, auf dem ein erbitterter Kulturkampf ausgefochten wird. Das aggressive Potenzial, das in diesen Konflikten steckt, deutet sich bereits an.

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„Institutionen leben so lange wie die Idee, die sie trägt.“

(Saint-Simon)

Vor ein paar Tagen wurde ich Zeuge, wie mein Auto gerammt wurde. Ich saß gerade auf dem Balkon beim späten Frühstück, als ich mitbekam, dass jemand dilettantische Versuche unternahm, sein Auto in eine Parklücke zu steuern. Als ich mich übers Geländer beugte, um zu schauen, wer sich da so blöd anstellte, sah und hörte ich, wie derjenige mein Auto rammte. Und zwar nicht sanft, sondern richtig krachend und heftig. Ich brüllte laut vom Balkon auf die Straße hinab, um dem Fahrer oder der Fahrerin zu bedeuten, dass sein oder ihr Verhalten bemerkt worden ist. Der Fahrer suchte denn auch sofort das Weite und stellte sein Auto weiter oben in der Straße ab, wo um diese Tageszeit jede Menge Platz war. Er wandte sich stadteinwärts und ging an meinem gerammten Auto vorüber, ohne einen Blick auf das Heck zu werfen und zu schauen, ob er dort einen sichtbaren und bleibenden Schaden hinterlassen hatte. Es interessierte ihn nicht im Geringsten. Ich habe irgendwann schon davon berichtet, dass ich jedes Jahr zwischen drei und fünf Zettel unter dem Scheibenwischer vorfinde, auf denen sich jemand für das Andotzen meines Autos entschuldigt und seine Telefonnummer für den Fall hinterlässt, dass er einen bleibenden Schaden angerichtet hat. Ich habe längst resigniert und melde mich nicht. Die Lackschäden, die solche Karambolagen verursacht haben, sind derart zahlreich, dass ich sie keinem Einzelnen zuordnen kann. Aber die Chuzpe dieses Autofahrers ärgerte mich doch, und ich nahm mir vor, ihn bei Gelegenheit darauf anzusprechen. Ich kenne ihn nämlich. Sein Verhalten zeugt allerdings davon, dass es sinnlos sein wird. Ein Symptom der allgemeinen Verwahrlosung und Verwilderung der Sitten. Wenn ihm die Stimme seines Gewissens nicht sagt, was in einem solchen Fall zu tun ist, kommen alle äußeren Ermahnungen zu spät. Dass das massenhaft so ist, macht unsere Lage so trostlos.

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Seit den Umbauarbeiten war sie verschwunden. Nun ist sie seit einigen Wochen wieder da: die bronzene Antilope im Botanischen Garten. Früher stand sie auf einem kleinen künstlichen Plateau neben den Gewächshäusern. Man stieg ein paar Stufen hinauf und da stand sie in einem kleinen künstlichen, schilfumwachsenen Teich, rundherum von Bänken umgeben, auf denen Angestellte saßen und ihr Frühstück verzehrten. Von dort aus führte eine steinerne Treppe in den eigentlichen Garten hinab. Das ist alles verschwunden, und damit auch die Antilope. Ich hatte sie beinahe schon vergessen, dabei ist die Antilope ja das Wappentier der Durchhalteprosa. Die Hirnantilope von Mustafa aus Butzbach, an den ich bei dieser Gelegenheit mal wieder erinnern möchte. Ich habe ihn in Teil 12 des Corona-Tagebuchs vorgestellt. Man findet das komplette Tagebuch noch immer bei der GEW Ansbach.

Nach den Umbauarbeiten zurück gekehrt: die bronzene Antilope im Botanischen Garten der Justus-Liebig-Universität Gießen. Foto: Götz Eisenberg

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Bin heute Morgen bei strahlendem Sonnenschein über die große Lahnbrücke in die Weststadt zur Hofbäckerei geradelt. Ich war lange nicht dort, weil diesem tollen Bäcker mitten in der Stadt eine echte Konkurrenz erwachsen ist. Und aus Gründen der Bequemlichkeit entscheide ich mich dann doch oft für den innerstädtischen Bäcker, der sein Handwerk ebenso gut versteht. Ich erstand eine große Tüte mit verschiedenen Brötchen und fuhr über die Wiesen zum Fluss. Über einem Kirschbaum stand rüttelnd ein Falke. Die Stare machten sich über die Kirschen her, das Frühstück des Falken würde garantiert nicht vegetarisch sein, sondern aus einem leichtsinnigen Star bestehen. Es ging ein heftiger Wind und es lag noch die Kühle der Nacht in der Luft. Neben dem Steg lagen zwei Kanus mit dem Kiel nach oben im Gras, die Kanuten schliefen wahrscheinlich noch auf dem nahegelegenen Campingplatz. Als ich meine Rad abgestellt hatte, bestaunte ich noch einmal das winzige kugelförmige Nest eines Zaunkönigs, das dieser an die Unterseite eines Zweiges einer Esche gehängt und damit perfekt getarnt hat. Es ist purer Zufall, dass ich es vor ein paar Tagen entdeckt habe. Kaum zu glauben, das in dieser faust- oder tennisballgroßen Kugel der Nachwuchs aufgezogen wird. Ich setzte mich ans Ende der Leiter und sah zu, wie die Sonne langsam hinter den Bäumen am gegenüberliegenden Ufer aufstieg. Als sie die Spitze erklommen hatte und ihre wärmenden Strahlen auf den Fluss sandte, zog ich mich aus und stieg nackt in den Fluss. Zu dieser frühen Stunde kann man das riskieren. Von einem Ast am anderen Ufer stürzte sich ein Eisvogel ins Wasser und schoss wenig später mit einem kleinen Fisch im spitzen Schnabel wieder daraus hervor. Seine Brust leuchtete orange-rot. Das Wasser hat sich durch die kalten Nächte der letzten Tage merklich abgekühlt, und da ich keine Lust auf kalte Hände hatte, schwamm ich bloß ein paar Züge. Ich trocknete mich ab, stieg in die Klamotten und fuhr gemächlich in die Stadt zurück. U hat sich wegen einer Erkältung krankgemeldet, und so konnten wir mit den köstlichen Brötchen aus der Hofbäckerei gemeinsam frühstücken. Wir diskutierten darüber, ob Alice Weidel Gesichtshärte 9 oder 10 aufweist. Ab 10 kann man Glas schneiden.

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Die Revolte in Frankreich hat offenbar ihren Höhepunkt überschritten. Ebenso abrupt, wie die Flammen der Wut und Empörung anfangs hochschießen, fallen sie dann auch wieder in sich zusammen. In Paris, Marseille, Lyon, Nizza und Roubaix wird aufgeräumt und der Schutt zusammengekehrt. Es fehlt diesen Emeuten eine Instanz, die ihnen Dauer und Form und eine emanzipatorische Vision verleihen könnte. Doch unter der Asche glimmt der Unmut weiter, und bei nächster Gelegenheit, die der Rassismus der französischen Gesellschaft und speziell der Polizei bald liefern wird, werden die Feuer der Empörung wieder auflodern. Die Polizei hat überall einen Hang zur etablierten Ordnung, deren Verteidigung ihre Aufgabe ist, aber in Frankreich sympathisiert das Gros der Polizisten mit dem Front National, ist also mehr oder weniger offen rechtsradikal. Das heizt die Stimmung zwischen den Ordnungskräften und den meist migrantischen Jugendlichen zusätzlich an.

Der sozialgeschichtlich Bewanderte wird sich an die Plebs, an die „gefährlichen Klassen“ aus der Anfangsphase des Kapitalismus erinnert fühlen, an die Phase vor dem „Klassenkampf“, dem von Parteien und Gewerkschaften dominierten organisierten Kampf. Nicht umsonst ist von Tumult und Emeuten die Rede. Peter Brückner hatte uns früh prophezeit, dass das alles wiederkehren würde: „Wenn eine soziale Ordnung, die wir als Bedingung unseres Lebens vorfinden, Überleben und geschichtliche Errungenschaften nicht mehr sichert, sondern sich in eine Bedrohung des Überlebens wie der Errungenschaften verkehrt, wenn Leben, Denken, Hoffen, Lieben … gleichsam mürrisch in ihrer Haut werden und ihre Lebenstätigkeit sich zu vielen entfremdet, dann bilden sich großflächig gesellschaftliche Bewegungen, Unruhezustände aus, deren Potenzial dem Sog der Regression entrissen und planvoll in Richtung auf die nun geschichtsangemessene, emanzipatorische Zukunft gewendet werden muss.“ Der letzte Aspekt war Brückner wesentlich. Doch wer soll die ganze augenblickhafte, eruptive Energie bündeln und planvoll in Richtung Befreiung wenden? Gibt es in Frankreich oder irgendwo anders in Europa Kräfte, die das könnten? Kann die Bewegung aus sich heraus eine regulative Idee und steuernde Instanz hervorbringen? Im Moment ist so eine selbstregulierende und organisierende Kraft nicht in Sicht – und so erleben wir eine fast gespenstische Selbstzerstörung einer bestimmten Gesellschaftsformation, von der wir letztlich alle betroffen sein werden, nämlich als Opfer.

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Alles ist in der Schwebe und unfixiert wie Quecksilber. „Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren; es ist die Zeit der Monster“, hat Antonio Gramsci zwischen den beiden Weltkriegen in seinen „Briefen aus dem Kerker“ geschrieben. Das charakterisiert auch unsere Gegenwart in einer beklemmenden Weise. Bis aus der zerfallenden bürgerlichen Ordnung etwas Neues entsteht, wird Zeit vergehen, in der mit „pathologischen Phänomenen der verschiedensten Art“ zu rechnen ist, wie Gramsci fortfuhr. Ein „Interregnum“ bezeichnet eine Phase extremer Unsicherheit. Das, was aus der Zukunft auf die Menschen zukommt, fügt sich ihren erlernten Deutungsmustern nicht mehr. Sie leider unter einer wachsenden Orientierungslosigkeit und einem Phänomen, das Alexander Kluge „Sinnentzug“ genannt hat. Darunter versteht er „eine gesellschaftliche Situation, in der das kollektive Lebensprogramm von Menschen schneller zerfällt, als die Menschen neue Lebensprogramme produzieren können.“ Die Synchronisation von Identitäts- und Realitätsstruktur, die sich während ruhigerer Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung herstellt und den Individuen das Gefühl der Kohärenz ermöglicht, geht verloren. Bisher gut angepasste Menschen haben das Gefühl, dass der Film der äußeren Realität schneller läuft als der innere Text, den sie dazu sprechen. Sie fühlen sich aus ihrer Ordnung der Dinge katapultiert, desorientiert, entwirklicht und werden von der Angst heimgesucht, eines nicht mehr fernen Tages vollends aus der Welt zu fallen. Das ist auf die Dauer nicht aushaltbar. Es schlägt die Stunde der Vereinfacher, Scharlatane und Rattenfänger, die nun leichtes Spiel haben.

Gestern sah ich die Monster in der Verfilmung der Schachnovelle von Stefan Zweig, in der Regie von Philipp Stölzl. Der Film und seine nur angedeuteten Folterszenen verfolgten mich die halbe Nacht. Die Schreie der Gequälten in den Foltergefängnissen dieser Welt, ob unter der Kontrolle  von Kommunisten oder Faschisten oder anderen Diktatoren, ist dabei ganz egal. Ich fürchte, dass die Bilder eine Prophezeiung enthalten.

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Der mit großem Bohei angekündigte Verkehrsversuch in Gießen ist nun gestartet. Von den vier Spuren des inneren Gießener Rings werden zwei exklusiv für Fahrräder reserviert. Das heißt, ab sofort steht für Autofahrer und Radfahrer in jede Richtung nur noch eine Spur zur Verfügung. Die Radfahrer gewinnen enorm dazu, die Autofahrer verlieren viel. Es wird, sofern das Verkehrsraufkommen nicht deutlich geringer wird, zu enormen Staus kommen. Und es kam in den letzten Tagen auch bereits zu enormen Staus, und zwar an Stellen, mit denen niemand gerechnet hat. Das Ganze ist ein Zugeständnis an die Grünen und deren Klientel und wurde vom rot-rot-grünen Magistrat der Stadt so vereinbart. Man hat den Start des Versuchs lange hinausgezögert, nun hat er vor ein paar Tagen begonnen und wird den Anlagenring in vier Stufen umgestalten. Der Verkehrsversuch steht unter dem Motto: Herausfinden, was uns verbindet. Ich könnte es euch vorher schon sagen: Nichts verbindet die unterschiedlichen Lager, außer einer wachsenden Feindseligkeit. Die Autofahrer werden, je nach Temperament, wütend, die Radfahrer werden ihre neu gewonnene Freiheit genießen. Zwischen diesen beiden Gruppen wird sich die ohnehin angespannte Atmosphäre noch einmal deutlich verschlechtern. Einer der Protagonisten der Verkehrswende in Gießen berichtete mir dieser Tage von wachsender Aggressivität. Er befürchtet, dass es zu Handgreiflichkeiten und Schlimmerem kommen könnte. Seine krasseste Phantasie: Ein bei großer Hitze im Stau eingeklemmter Autofahrer rastet aus, rast auf die Radfahrerspur und mäht alles nieder, was ihm vor die Räder kommt. Der ganze Versuch ist ein soziales Experiment, wie man Leute gegeneinander aufbringen kann. Innerhalb des kompakt Falschen Straßenverkehrs gibt es keine richtigen Lösungen. Es bräuchte radikalere Ansätze: Schluss mit dem motorisierten Individualverkehr, raus mit den Autos aus der Stadt, in der Stadt dürfte es nur noch Busse und Bahnen und Radfahrer geben. Zwischen den Lagern der Radfahrer und der Autofahrer gibt es auf Dauer keine friedliche Koexistenz. Am Ende des Verkehrsversuchs wird herauskommen, dass die beiden Lager nichts verbindet. Ein türkischer Jungmann in seinem getunten BMW und eine Lastenrad fahrende Ökomutter haben sich nicht viel zu sagen, genauso wenig wie der SUV fahrende und auf den Verbrennermotor schwörende Rentner und eine junge Klimaaktivistin. Neben die klassischen ökonomischen Verteilungskämpfe treten kulturelle Kämpfe und Konflikte zum Beispiel zwischen Abschottung und Weltoffenheit, der alten binären Geschlechterordnung und Diversität, zwischen den beiden Lagern, die der britische Journalist David Goodhart als Anywheres und Somewheres beschrieben hat. Die einen entsprechen dem heute gängigen Typ des flexiblen Menschen, der überall zu Hause ist und über keine stabilen Bindungen an Orte, Menschen und Berufe mehr verfügt, die anderen hängen an Orten und Traditionen und sind Veränderungen gegenüber eher skeptisch. Die Kulturellen Konflikte lassen sich im Rahmen traditioneller Klassenkampfvorstellungen nicht mehr begreifen, geschweige denn strategisch codieren. Das, was man Rechtspopulismus nennt, lebt im Wesentlichen von den Ressentiments der Somewheres gegenüber den Anywheres und der digitalen Welt, für die sie stehen und die sie verkörpern. Mit David Goodhart habe ich mich in Teil 31 meines Corona-Tagebuchs etwas eingehender beschäftigt, das im Jahr 2020 unter dem Titel Die „Seuche der Anywheres“ erschienen ist.