74 | Zur Dialektik der Einsamkeit

„In der Pariser Kommune haben die Kommunarden, bevor sie anfingen auf Menschen zu schießen, die Uhren beschossen, alle Uhren in Paris und sie kaputtgemacht. Und das taten sie, um die Zeit der Anderen, die Zeit der Herrschenden zu beenden und ihre eigene Zeit anbrechen zu lassen. Blicke ich jetzt in die Runde, dann sehe ich von Ihren Gesichtern eine Perspektive, eine Perspektive zerbrochener Uhren ausgehen. Und jetzt, denke ich, ist unsere Zeit gekommen!“

(David Cooper am Ende des Kongresses Dialektik der Befreiung, der im Juli 1967 in London stattfand)

Heute kommt das Vorauskommando der Fernwärme ins Haus. Eine Firma, die bereits einen Ortstermin durchgeführt hatte und im Sommer mit dem Einbau beginnen wollte, hat den Auftrag wegen Überlastung zurückgegeben. Nun verspricht eine andere Firma einzuspringen. Mal sehen, ob die das dieses Jahr noch hinbekommt oder ob auch sie sich irgendwann zurückzieht. Die ganze Branche scheint heillos überlastet zu sein. Ich habe diese Begehung meiner Wohnung zum Anlass genommen, mal aufzuräumen und zu putzen. Hat mich Tage und Stunden gekostet, aber war auch wirklich mal nötig. Das strengt mich vielmehr an als früher. Mal sehen, wie lang ich das noch allein und ohne fremde Hilfe hinbekomme. Kann mir immer noch nicht vorstellen, die Reinigung meiner Wohnung fremden Leuten zu überlassen. Das gehört zum Leben hinzu und sollte nicht in eine bezahlte Dienstleistung verwandelt werden. Die Tendenz, Dienstboten zu beschäftigen, hat André Gorz einmal als „Südafrikanisierung“ unserer westlich-kapitalistischen Gesellschaften bezeichnet. Die Leute, die in der Wohnung unter mir wohnen, beziehen die taz, aber einmal in der Woche kommt die Putzfrau. Das das inzwischen keinen Widerspruch mehr bildet, wirft ein schlagendes Licht auf unsere Zeit – und die taz und ihre Leser. Ich stelle mir vor, dass die schnöseligen Söhne der Familie Kopfhörer aufhaben, die Füße hochlegen und sich mit ihren Laptops beschäftigen, während die Putzfrau um sie herum den Boden wischt und Staub wischt. Kindheiten zukünftiger Chefs.

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War eben wegen einer Zahnfleischentzündung, die sich über Nacht schmerzhaft entwickelt hat, bei meinem Zahnarzt. Da die Chefin abwesend war, nahm sich eine der Helferinnen meiner an. Sie machte das sehr routiniert und gekonnt. Wir kennen uns seit Jahren und plaudern um die Behandlung herum immer ein wenig. Heute erzählte sie mir, dass von der Praxis aus auch in Kitas gingen. So sei sie neulich in eine Kita in Gießen beordert worden, um den Kleinen die Anfänge der Zahnpflege nahezubringen. Als sie eintraf, habe niemand von ihr Notiz genommen. Die Kinder hätten herumgetobt und gebrüllt, die Erzieherinnen hätten rauchend vor der Tür gestanden und sich mit ihren Smartphones beschäftigt. Sie habe den Termin mit Hängen und Würgen hinter sich gebracht, aber ihrer Chefin später mitgeteilt, dass sie in diese Kita nicht mehr gehen werde. Dann erzählte sie, dass das bei ihnen auf dem Dorf dann doch noch ein bisschen anders laufe. Vor ein paar Tagen allerdings sei ein kleines schwarzes Mädchen aus der Nachbarschaft weinend und mit blutender Lippe zu ihr gekommen. Andere Kinder hätten sie geschubst und geschlagen. Sie habe sie versorgt und getröstet, bis die Tränen versiegt gewesen seien. Sie sei sich sicher, dass dieser Misshandlung rassistische Motive zugrunde gelegen hätten, auch dann, wenn die Täter dieses Wort noch nicht kennten. Das kleine Mädchen habe unter Schluchzen erzählt, dass sie „Neger, Neger“! zu ihr gesagt hätten. Sie wurde und wird als anders erkannt, und das reicht den Nachwuchsrassisten offenbar aus, sich berechtigt zu fühlen, sie zu schlagen und zu drangsalieren. Wer sichtlich nicht ihresgleichen ist, gehört nicht dazu und wird zum Opfer ihrer Attacken. Erschreckend, wie früh dieser Mechanismus greift und dass er offenbar nicht an Wirksamkeit eingebüßt hat. Die Arzthelferin war noch Tage später sichtlich erschüttert, und es traten ihr beim Erzählen Tränen in die Augen. „Das ist so ein goldiges Mädchen! Wie kann man bloß so etwas tun?“, sagte sie um Fassung ringend. Es existiert ein meist unausgesprochener Code, der festlegt, wer als Unsereiner gilt, wer als gleichartig und darum gleichberechtigt anerkannt wird und wer nicht, wem man Mitleid entgegenbringt und wem Einfühlung verweigert wird. Da muss man früh gegensteuern, sagte sie. Draußen vor der Praxis wartete eine Kindergruppe der örtlichen Kita, die gleich eine Unterweisung erhalten sollte. Ich sagte den Sprechstundenhilfen, sie könnten ruhig erzählen, dass eben ein alter Mann dagewesen sei mit ganz schlechten Zähne, der es bitter bereue sich nicht ordentlich die Zähne geputzt zu haben. Sie lachten wollten aber einstweilen bei der Bilderbuch-Hexe mit schief stehenden, schwarzen Zähnen bleiben, die ihnen seit Jahren als abschreckendes Beispiel diene. „Politisch korrekt ist das nicht, da müsst ihr aufpassen“, sagte ich noch und bestieg mein Auto. Den Terminzettel für nächsten Dienstag legte ich neben mich auf den Beifahrersitz. Mit Hilfe von Ibuprofen hoffe ich, es bis dahin durchzuhalten.

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Von der Kritischen Theorie war und ist zu lernen, dass die Welt nicht nur das ist, was der Fall ist, wie es Wittgenstein, ein Prophet des Positivismus, behauptet hatte. Es gibt eine Dimension des Möglichen, etwas, das noch nicht der Fall ist, aber durchaus sein könnte. Diese Dimension gehört auch zur Welt und wird vom Positivismus abgeschnitten. Wann habe ich zuletzt den Begriff Positivismus benutzt? Eins meiner ersten Referate am philosophischen Seminar galt diesem Thema. Ich hatte keine Ahnung und verdankte den Schein, den wir mit dem Referat erwarben, meinem Freund Burkhard, der wusste, was Positivismus war und warum wir ihn bekämpfen mussten. Peter Probst, der Dozent, wunderte sich über unsere schrägen und zugespitzten Thesen, die in der Behauptung gipfelten: Der Klassenkampf muss auch auf dem Feld der Wissenschaft und der Philosophie ausgefochten werden! Die Positivisten sind die „Wachhunde der Bourgeoisie“ (Paul Nizan), die darauf zu achten haben, dass nur gedacht wird, was das Bestehende nicht transzendiert und in Frage stellt. Wir bekamen, wenn ich es recht erinnere, ein „gut“ auf unser Referat und wurden durchgewunken. Damals hatte Dozenten aber auch Schiss vor den Linken und wollten es sich mit ihnen nicht verderben.

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„Die Bedingungen tun nichts, aber die Tat wäre ohne sie nicht möglich.“

(Peter Brückner)

Ein scheinbarer Routineeinsatz von Polizei und Feuerwehr endete am Donnerstag, dem 11. Mai, in einer Katastrophe. Ein 57-jähriger Mann hatte sich in seiner Hochhauswohnung in Ratingen bei Düsseldorf verbarrikadiert und übergoss die Rettungskräfte, als sie schließlich gewaltsam in die Wohnung eindringen wollten, mit einer brennbaren Flüssigkeit. Eine Polizistin und ein männlicher Kollege erlitten so schwere Verbrennungen, dass sie auch Tage nach den Ereignissen noch in Lebensgefahr schweben. Insgesamt fünf Einsatzkräfte liegen derzeit im künstlichen Koma, darüber hinaus wurden etliche andere mehr oder weniger schwer verletzt. In der Wohnung stießen die Einsatzkräfte später auf die Leiche der Mutter des Mannes, mit der er zusammen gelebt hatte. Sie sei bereits vor ungefähr zwei Wochen gestorben. Der Mann hatte den Kontakt mit der Außenwelt abgebrochen und sich vollkommen zurückgezogen. Aufmerksam wurden Nachbarn, weil sein Briefkasten überquoll. Außerdem lag gegen den Mann ein sogenannter Erzwingungshaftbefehl vor. Die Polizei hatte kurz vor der Tat vergeblich versucht, den Haftbefehl zu vollstrecken. Der Mann musste also damit rechnen, dass die Polizei wiederkäme, und hatte entsprechende Vorkehrungen getroffen. Der Mann soll der sogenannten Prepperszene, das sind Leute, die sich auf zukünftige Katastrophen vorbereiten, und dem Milieu der Querdenker und Corona-Leugner nahe gestanden haben. Der Mann wurde festgenommen und sitzt nun wegen des Verdachts des versuchten Mordes in neun Fällen in Untersuchungshaft.

Ich kenne ähnliche Verläufe aus meiner Arbeit im Gefängnis. Immer wieder sind mir dort ältere Männer begegnet, die sich in eine Position abseitiger Starrheit begeben hatten, die irgendwann fast immer wahnhafte Züge annahm. Irgendwelche finsteren Mächte hatten sich gegen sie verschworen und trachteten ihnen nach dem Leben. Das berechtigte sie in ihren Augen zu massiver Gegenwehr. Man sollte dennoch auch die Möglichkeit in Erwägung ziehen: Dass einer paranoid ist, schließt nicht aus, dass sie hinter ihm her sind! Meist legen diese Männer in ihrer Wohnung ein größeres Waffendepot an. Stets waren sie in ihrer Wahrnehmung die Angegriffenen, die schließlich in Notwehr zurückschlugen. Nach dem regulären oder durch Kündigung herbeigeführten Ende ihrer Berufstätigkeit hatten sie ihre oft ohnehin bereits prekäre Gesellschaftlichkeit vollends eingebüßt und drohten, wie man früher sagte, aus der Welt zu fallen. Wenn ihr Sturz nicht von irgendwem oder irgendetwas aufgefangen wurde, stürzten sie auch. Um sich unangenehme Wahrheiten und unerträgliche Erkenntnisse zu ersparen, hatten sie sich in einen Kokon aus Illusionsbildungen und Verleugnungen eingesponnen und sich gegen eine zunehmend unverständliche Welt abgeschottet. Sie bauten ihre Wohnungen zu Festungen aus und verbarrikadierten sich gegen die feindliche Welt da draußen. Das eigentliche Thema dahinter ist Einsamkeit, die bei diesen Männern oftmals anomische Züge annahm. Da war irgendwann niemand mehr und keiner und nichts. Sie brüteten über ihren akkumulierten Unglücksvorräten, paranoide Gedanken rotierten in ihren Köpfen. Solche inneren Vorräte an Unglückserfahrunen sind am explosivsten, wenn ihnen menschliche Berührungsfläche und Korrektur durch die anderen fehlt. Es droht eine radikale Entmischung libidinöser und aggressiver Regungen. Eine Barriere der Verachtung trennt das Subjekt von der immer weiter wegrückenden Welt, auf die mehr und mehr ein unerträglicher Hass projiziert wird. Immer wieder macht ein solcher Mensch in der Folge Erfahrungen, die seine Weltsicht stützen. Er stößt – wie erwartet und heraufbeschworen – auf Ablehnung. Eine verhängnisvolle Spirale, aus der oft der Ausstieg nicht gelingt. Etwas treibt erkennbar auf eine Katastrophe zu. Wenn die dann eintritt, will meist niemand etwas gewusst und gesehen haben. Es sind in diesem Land, in dem immer mehr Menschen einer rapiden Entgesellschaftung und Vereinsamung unterliegen, millionenfach solche Prozesse im Gang, die sich glücklicherweise nicht immer in einem Springpunkt, in einer tödlichen Katastrophe zusammenfassen. Oft verteilt sich das Unglück in kleiner Münze über Jahre. Irgendwann stößt man nach Wochen auf die Leiche eines vereinsamten Menschen, dessen Tod niemand bemerkt hat. Erst wenn es wärmer wird und zu riechen anfängt, alarmieren die Nachbarn die Polizei. Auch im Ratinger Hochhaus stieß man nach der Explosion eher zufällig auf eine zweite tote Person. Hierbei handelte es sich um einen älteren Mann, der nach Informationen der Presse pflegebedürftig war und  durch den mehrstündigen Einsatz nicht mehr hatte versorgt werden können. Vielleicht sollte man das zum Anlass nehmen, in allen Hochhäusern mal nachzuschauen, ob die Mieter noch am Leben sind. Oder besser noch: Vorher bereits durch lebendige Nachbarschaftsverhältnisse dafür sorgen, dass niemand gegen seinen Willen vereinsamt und aus der Welt fällt. Es gibt ja durchaus auch Menschen, die die Einsamkeit gewählt und sich bewusst für sie entschieden haben. Denen sollte man dann, wenn man sich einen Eindruck verschafft hat, auch nicht sozialarbeiterisch oder gar polizeilich nachstellen. Es gibt in Gesellschaften wie dieser auch ein Recht auf Einsamkeit.

In Japan, wo diese Prozesse offenbar weiter fortgeschritten sind, existiert bereits ein Begriff für dieses Phänomen: Kodokushi. Die Kodokushi weisen eine gewisse Nähe zu den Hikikomori auf. So werden seit einiger Zeit Japaner und Japanerinnen genannt, die sich vor der Außenwelt abschotten und in ihre Wohnungen zurückziehen. Insgesamt wird die Zahl derer, die sich aus der Gesellschaft zurückziehen und sich zu Hause einschließen, auf mehr als eine Million geschätzt. Andere Experten sprechen von zwei Millionen oder gar mehr Hikikomori. Die kapitalistische Gesellschaft besteht irgendwann bloß noch aus lauter Elementarteilchen, die in einer Eiswüste der Gleichgültigkeit leben. Kodokushi ist, wenn man so will, Hikikomori mit tödlichen Ausgang. Die japanisch-österreichische Schriftstellerin Milena Michiko Flašar hat einen eindrucksvollen Roman über dieses Phänomen geschrieben. Aus der Perspektive einer jungen Frau, die in einer Putzkolonne arbeitet, die nach solchen Fällen zum Einsatz kommt, beschreibt sie die Dialektik der Einsamkeit und die Kälte gewaltförmiger Alltagsverhältnisse, die im spätkapitalistischen Gesellschaften endemisch zu werden drohen. Wohin fällt einer oder eine, wenn er oder sie von der Teilhabe am gesellschaftlichen Wesen ausgeschlossen wird? Der Roman heißt Oben Erde, unten Himmel und ist im Berliner Wagenbach-Verlag erschienen. Kodokushi gehört zu den Phänomenen, die erst in einer solidarischen, egalitären Gesellschaft mit Freundlichkeitals vorherrschendem Kommunikationsstil aufgehoben wären, einer Gesellschaft, deren Zusammenhang nicht durch Ware- und Geld gebildet würde und in der der Mensch dem Mitmenschen kein Wolf mehr sein müsste.

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„ … – und ebenso erschienen mir damals auch die Verzweifelten, die Elenden und Enttäuschten quer durch alle Zeiten miteinander verbunden.“

(Christoph Ransmayr)

Ein kleiner Nachtrag zur Bemerkung zur Quintessenz meines Schreibens und Denkens in der letzten Folge der DHP. Ich bin zum Arbeiterbewegungsmarxismus und dem aus ihm hervorgegangenen Staatssozialismus oder Kommunismus auch deswegen immer mehr auf Distanz gegangen, weil dieser auf demselben Holz gewachsen ist wie der industrielle Kapitalismus. In puncto Verhältnis zur Natur sind sie sich einig: Diese ist bloßes Rohmaterial, das ausgebeutet werden kann und muss. Uneins ist man sich lediglich in der Frage der Form, in der das zu geschehen hat: privateigentümlich verfasst und marktvermittelt oder staatlich kontrolliert und geplant. Man konkurriert in der Frage, wer dabei effizienter vorgeht. Beide stehen nach einem Wort von Ernst Bloch mittels der Technik in der Natur „wie in Feindesland“.

Nicht erst, seit die zu bloßem Material menschlicher Zwecke herabgewürdigte Natur zurückschlägt und die ökologische Krise unübersehbar geworden ist, habe ich mit diesem Naturverhältnis meine Schwierigkeiten gehabt. Für mich war ein Baum immer schon mehr als eine gewisse Anzahl von Festmetern Holz, die sich aus ihm schlagen lassen. Ich erinnere mich an meine Erschütterung, als ich in einem Waldgebiet, in dem sogenannte Harvester wüteten, auf einen von einer solchen Höllenmaschine zerquetschten Feuersalamander stieß. Innerhalb der Linken galt man damals noch als sentimentaler Romantiker, wenn man an solchen Praktiken des Raubbaus Anstoß nahm und sich über den Tod eines Salamanders aufregte. Vor Jahren habe ich dagegen protestiert, dass in einer Fernsehsendung über das Bienensterben deren Nutzen und ihre „enorme Wirtschaftsleistung“ als Argument für ihren Schutz ins Feld geführt wurden. Was wäre denn, wenn sie ökonomisch gesehen keinen Nutzen hätten? Was keinen ökonomischen Wert besitzt, wird zum Abschuss freigegeben und genießt keinen Schutz. Aus irgendwelchen Gründen war mit dieses Denken schon früh fremd und Naturbeherrschung für mich von Anbeginn meiner politischen Existenz ein großes Thema. Früh machte ich Bekanntschaft mit der Kritischen Theorie, für die Natur- und Menschenbeherrschung immer schon wie zu einem Zopf verflochten und gleichermaßen Gegenstand der Kritik waren. So schien mir das Verschwinden der Glühwürmchen und der Verlust an Vögeln mehr über den Kapitalismus auszusagen, als irgendwelche Statistiken über seine mangelnde Effizienz. Den Kapitalismus nur aus dem Blickwinkel der ökonomischen Vernunft zu beurteilen und ihm gewissermaßen immanentes Versagen vorzuwerfen, greift entschieden zu kurz. Alfred Schmidt zitiert Horkheimer mit dem Satz: „Es kommt darauf an, Marx nicht mit den Augen des ökonomischen Fachmanns zu sehen, sondern mit denen eines Menschen, der weiß, dass er in einer verkehrten Gesellschaft lebt und die richtige Gesellschaft will.“ Nicht mangelnde Effizienz wäre dem Kapitalismus vorzuwerfen, sondern dass er Effizienz und Profit zu den entscheidenden Kriterien wirtschaftlichen und politischen Handelns erhebt. Er trifft Entscheidungen beinahe ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Profitabilität. Alles andere muss man ihm aufzwingen. Wir benötigen aber dringend eine Ökonomie des Glück, statt einer des Profits. Warum halten wir so verbissen an einer Wirtschaftsform fest, deren destruktiver Charakter immer deutlicher zutage tritt? Was hält uns davon ab, etwas Vernünftigeres an deren Stelle zu setzen? Es ist dem Kapitalismus offenbar gelungen, sich in uns festzusetzen und sich in unserer Trieb- und Bedürfnisstruktur stabil zu verankern. Wir müssen uns also strenggenommen selbst erst freimachen, bevor wir eine freie Gesellschaft schaffen können. Darauf, dass hierzulande Massen von Menschen das wollen, deutet derzeit wenig hin. Ein großer Teil der männlichen Jugend träumt nicht von einem freiheitlichen Sozialismus, sondern davon, einen Porsche zu besitzen und mit diesem über zehnspurige Autobahnen zu rasen. Lindner heißt ihr Prophet, nicht Marx oder Marcuse.

Mein ernüchternd-ernüchtertes Fazit lautet also: Wegen der engen Bindung des Marxismus an den Fortschrittsbegriff, das Konzept der Naturbeherrschung und den darauf basierenden Industrialismus können wir uns angesichts der vor der Menschheit liegenden Probleme und des drohenden ökologischen Kollapses nur noch sehr bedingt auf diesen beziehen und müssen Veränderung und Revolution neu denken und konzipieren. Man muss sie sich in der Tradition von Walter Benjamin eher als „Griff zur Notbremse“, als Bruch mit und Sprung aus dem Fortschritt heraus vorstellen. Unsere Köpfe sind dermaßen von diesen Kategorien geprägt und vernagelt, dass wir uns einen Bruch mit dem herkömmlichen Kontinuum kaum vorstellen können. Da liegt eine Menge Arbeit vor uns. Vor allem brauchen wir Mut, uns aus der Verstrickung mit Denk- und Handlungstraditionen zu lösen, die seit dem 15. Jahrhundert den Westen dominiert haben. Wie an einem Geländer haben wir uns daran festgehalten. Solch ein Bruch ist angstbesetzt, vor allem, wenn man nicht weiß, wohin er einen führt.

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Als ich gestern aus dem Haus trat, stand ein paar Meter die Straße hinunter ein arabisch anmutender Mann so um die dreißig Jahre und redete vor sich hin. Er sprach intensiv, aber nicht sonderlich laut. Am Boden neben ihm stand ein halbhoher, brauner Frauenschuh, den er tänzelnd umkreiste und dem offenbar auch seine Rede galt. Später sah ich den Mann in der Fußgängerzone wieder. Den Schuh trug er bei sich. Es handelte sich offenbar um eine Art Fetisch, das heißt, der Schuh stand für etwas anderes. In meiner Phantasie repräsentierte er eine Frau, die der Mann auf seiner Flucht in seinem Heimatland zurücklassen musste. Wie ein Kleinkind ein Kuscheltier bei sich trägt, das ihm die abwesende Mutter vertritt, so klammert sich dieser Mann an diesen Schuh. Seine Gegenwart verleiht ihm ein klein wenig Sicherheit, ohne die er wahrscheinlich komplett verrückt würde. Denn dass der Mann auf dem Weg in eine Psychose war, konnte man deutlich sehen, hören und spüren. Wenn wir das Wort ver-rückt in seine Bestandteile zerlegen und wörtlich nehmen, stoßen wir auf eine mögliche Ursache. Die Flucht hat ihn aus seinen Lebenszusammenhängen herausgerissen und in eine fremde Umgebung geworfen – und somit ver-rückt. An solchen Ver-rückungen kann man natürlich verrückt werden und seine Identität verlieren. Und nichts anderes ist ja eine Verrücktheit. Die Auflösung und der Verlust sozialer Rollen wirken wie ein Prozess sozialen Sterbens, und wenn das Individuum nicht in der Lage ist, seinen psychischen Apparat neu zu organisieren, neue Ich-, Gefühls- und Affekt-Synthesen zu entwickeln, droht es an einem solchen Vorgang verrückt zu werden. Plötzlich steht ein Mann aus Afghanistan, dem Irak oder Syrien in einer mittelhessischen Stadt und versteht sich und die Welt um sich herum nicht mehr. Da klammert er sich wie ein Ertrinkender an die Trümmer seines Floßes an einen Schuh, den er in einem Altkleidercontainer gefunden hat und ihn an bessere Tage oder einen geliebten Menschen erinnert.

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„‘Ich habe ein zahnloses Leben geführt‘, dachte er. ‚Ein zahnloses Leben. Ich habe nie zugebissen, ich wartete, ich hob mich für später auf – und gerade habe ich gemerkt, dass ich keine Zähne mehr habe. Was tun? Das Gehäuse zerbrechen? Das ist leicht gesagt. Und außerdem, was bliebe übrig? Ein zäher kleiner Gummi, der im Staub kröche und eine glänzende Spur hinterließe.‘“

(Jean-Paul Sartre: Zeit der Reife)

Heute war ich allein zwei Mal in der Zahnarztpraxis. Am Dienstag bekam ich zwei Zähne gezogen, die schon seit Längerem wackelten und einen chronischer Entzündungsherd bildeten. Gestern nun sollte ein Provisorium eingesetzt werden, mit dem ich die Zeit bis zu bis zur wirklichen Reparatur leidlich überstehen können sollte. Leider löste sich die Haftcreme beim ersten Teller warme Suppe auf, und prompt fiel das Provisorium heraus. Ich solle einstweilen nicht Heißes in den Mund nehmen, das hatte ich durchaus vernommen und auch beherzigt. Aber dass lauwarme Suppe genügen würde, um die Konstruktion zu zerstören, hatte ich nicht gewusst. Also fuhr ich gestern nochmal hin und meine Lieblingssprechstundenhilfe nahm sich der Sache an. „Das war ja auch Murks“, verkündete sie. Sie strich eine Paste auf das Provisorium und bat mich, nun fünf Minuten lang sanft draufzubeißen. Dann sollte es eigentlich eine Weile halten. Es hielt exakt bis zum Abendessen. Jetzt heute also ein weiterer Versuch. Schon als ich einen Kaffee trank – lauwarm, wie empfohlen und keineswegs heiß, wurde das Material, das das Provisorium halten sollte, weich und quoll an den Seiten heraus. Also nochmal angerufen und erneut in die Praxis gefahren, die in einem Dorf vor den Toren der Stadt ihren Sitz hat. Die Mädels begannen nun bereits Witze zu machen, ich könne mir auch eine Hängematte aufhängen und gleich hier übernachten, und ob ich nicht hier wäre oder schon wieder. Der nächste Termin, der eigentlich für Mitte Juni geplant war, wurde auf nächsten Dienstag vorverlegt. So richtig traute meine Lieblingssprechstundenhilfe ihrer eigenen Konstruktion offenbar auch nicht. Vielleicht hält die Sache ja wenigstens bis Dienstag.

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„ … aber mit zehn oder elf Jahren sind wir wahrscheinlich auf dem Gipfel unseres Lebens. Danach kommen bloß noch Sex, Angstattacken und körperlicher Verfall.“

(A. L. Kennedy)

Zähne sind ein heikles Thema. Beziehungsweise keine oder kaum noch Zähne sind ein heikles Thema. Ich hätte gern Sartres Gelassenheit in diesem Punkt. Ein Zahn mehr oder weniger war Sartre egal. Das physische Universum existierte für ihn nicht, ihn interessierte nur der Geist. Und das Denken funktionierte auch ohne eigene Zähne. Nur, wer verfügt schon über den Geist Sartres? Wichtig war für ihn, wie man lebt, nicht wie lange und mit oder ohne Zähne. Ich kann mich der Symbolik der Zähne nicht entziehen und kann mich mit einer drohenden Zahnlosigkeit noch nicht abfinden. Die Symbolik ist beinahe schlimmer als der reale Verlust der Zähne. Der alte Mensch wird wieder zum Kind. Die Klammer des Lebens ist der Brei: Mit Brei beginnen wir, mit Brei enden wir. Das ging mir durch den Kopf, als mir beim Sprechen immer wieder die Zungenspitze gegen das Plastikteil stieß, das auf den verbliebenen Zähnen sitzt und das nun angepasst werden muss. Meine stete Sorgen: Werde ich danach noch halbwegs deutlich sprechen und vor allem lesen können? Ich meine laut lesen, anderen etwas vorlesen?

Dass es um meine Zähne so schlecht bestellt ist, ist vor allem dem Umstand geschuldet, dass ich Zahnpflege und Mundhygiene lange vernachlässigt habe. Eine Zeit lang hielt ich diese für einen Teil jener pädagogischen Paranoia, die meine Eltern gegen uns Kinder entfesselt hatten. Nichts als eine weitere Schikane, kleinbürgerlicher Scheiß. Ich habe meine Zähne Jahre lang selten und nachlässig geputzt. Früh stellte sich eine Paradontitis ein. Zahnfleisch und Kiefer bildeten sich zurück. Auch rabiate Zahnfleischbehandlungen konnten diesen Prozess letztlich nicht aufhalten. Dann kam vor ein paar Jahren dieser bescheuerte Sturz mit dem Rad dazu. Ich schlug mit der rechten Gesichtshälfte auf der Straße auf, brach mir das Jochbein, die Lippe riss ein, etliche Zähne zersplitterten, andere wurden traumatisiert. Sie lockerten sich in der Folge, Entzündungen nisteten sich ein. Es ging bergab mit mir.

Seit vielen Jahren träume ich, wenn ich in einer Selbstwertkrise stecke, dass ich durch die Stadt gehe und plötzlich mit der Zunge sämtliche Schneidezähne herausdrücke. Sie fallen dann auf das Straßenpflaster und landen im Rinnstein, manchmal rutschen sie noch in einen Gully und sind auf diese Weise für immer verloren. Gerade die Schneidezähne stehen für aggressive Selbstbehauptung, die Fähigkeit des Zubeißens, Wehrhaftigkeit, ja auch für Vitalität überhaupt. Nicht umsonst blecken manche Tiere in Gefahrensituationen ihre Zähne und demonstrieren dem Gegner dadurch ihre Gefährlichkeit. Anders als Freud, dem die Zähne Phallus-Symbole waren, scheinen sie mir in einem erweiterten Sinn auf so etwas wie Potenz oder den Elan vital zu verweisen, der im Zentrum der Philosophie von Henri Bergson steht: schöpferische Lebenskraft, Ich-Stärke, Selbstbehauptung, Selbstwertgefühl, Selbstsicherheit. Der Verlust der Zähne wäre dann ein Indikator für einen Mangel an all dem, für ein Nachlassen der Lebenskraft. Meine Schüchternheitsanfälle und Rückzugstendenzen der letzten Zeit zeugen davon, dass ich mich in einer Krise befinde. Mitte der 1990er Jahre saß ich beim Abendessen und biss mir eine Zahnhälfte weg. Ich fuhr noch am Abend zum Zahnarzt, der den Zahn notdürftig versorgte. Als ich wieder zu Hause angekommen war, klingelte das Telefon und meine Stiefmutter teilte mir mit, dass mein Vater am Abend gestorben sei. Als ich meinem Arzt am nächsten Morgen davon erzählte, fragte er, ob ich nicht um die mythische Bedeutung wüsste, die der alte Volksglaube den Zähnen und dem Zahnausfall beimesse? Ein Zahn fällt aus und gleichzeitig stirbt irgendwo ein Mensch. Das stellte meinen Materialismus auf eine harte Bewährungsprobe. Seither denke ich über Zähne und Zahnverlust immer wieder nach. Ich hatte sogar mal vor, eine kleine Philosophie der Zähne zu verfassen. Dann entdeckte ich das Buch Die Kostbarkeit des flüchtigen Lebens von Philippe Claudel und trat von meinem Versuch zurück. Was bleibt nach der Lektüre dieses famosen Buches noch zu sagen und zu schreiben? Vielleicht war ich auch einfach zu faul. Über Claudels Buch folgt gleich mehr.

Als ich mich nach dem ersten radikalen Kahlschlag ohne Schneidezähne im Spiegel sah, meinte ich für einen Moment, meinen eigenen Totenschädel zu sehen, den ich unter meiner Gesichtshaut schon mit mir herumtrage. Wie so eine große Zahnlücke ein Gesicht verändert! Früher sahen ältere Menschen, die wenig Geld hatten, alle so aus. In Italien bin ich solchen Gesichtern noch begegnet. Unlängst sah ich sie in Pasolinis Film Das 1. Evangelium – Matthäus noch einmal. Heute wird das alles begradigt. Wie würde meine Mit- und Umwelt reagieren, wenn ich so rumliefe? Mit nur ein paar Zahnstümpfen im Mund?

Alles demonstriert mir im Augenblick wieder einmal die Hinfälligkeit des Organismus und des Körpers. Für jemanden, der sich mal stark über sportliche Lebensäußerungen und Bewegung definiert hat, ist diese Erfahrung sicher bitterer wie für einen reinen Stubenhocker. Ich weiß noch, welche Glücksgefühle es verschaffte, beim Handball einen Ball in den Winkel zu hauen oder beim Fußball einen präzisen Pass zu schlagen. Wie kann man die Kunst erlernen, sein Ich trotz des Zerfalls des Körpers und ohne solche narzisstischen Gratifikationen zusammenzuhalten? Wie schafft man es, seine Identität in einem sich auflösenden, wie Claudel zugespitzt sagt, „unfreundlichen Körper“ Körper aufrechtzuerhalten? Lässt sich Identität jenseits des Körpers überhaupt definieren? Wie kann man sich bejahen, wenn buchstäblich nichts mehr geht?

Neulich war ich seit Langem mal wieder auf einem Flohmarkt und ich staunte, dass es an mehreren Ständen Gebisse zu kaufen gab. Natürlich gebrauchte, getragene. So weit sind wir gekommen, so weit haben wir es kommen lassen – in einem reichen Land!

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Ich finde, ich schulde Ihnen/euch ein paar Sätze zum Buch von Philippe Claudel, den ich vor etlichen Jahren als Autor des Buches Die grauen Seelen kennenlernte, das mir ein Gefangener in Butzbach empfahl. Dessen Handlung ist in einem kleinen französischen Ort zur Zeit des Ersten Weltkriegs angesiedelt. Als später einer seiner Freunde an Krebs erkrankt, beginnt Philippe Claudel sich mit der Frage zu beschäftigen: Wann werden wir schwer krank? Wann öffnen wir dem Tod die Tür und geben ihm Gelegenheit, sich ins uns einzurichten? Er redet mit einem Dutzend Wissenschaftlern und Ärzten und berichtet darüber in seinem Roman „Die Kostbarkeit des flüchtigen Lebens“. Als Risikofaktoren nennt man ihm den Renteneintritt, den Tod eines Angehörigen, eine Scheidung und andere Verlusterfahrungen. Krankheit und Tod erhalten eine Chance, wenn das Leben nichts mehr hat, das es zu verteidigen und worauf es zu hoffen gibt.

Claudel verabredet ein Gespräch mit einer jungen Ärztin, die sich mit den Fragen beschäftigt, die ihn umtreiben. Sie entfaltet ihm ihre Theorie des menschlichen Verhältnisses zum Körper. Zu Beginn des Lebens entdecken wir den Körper, der uns auferlegt worden ist, lernen ihn kennen und zu beherrschen. Er wird dann im günstigsten Fall „unser Körper“. Wenn die Zeit des Wachstums und die Wirren der Pubertät vorüber sind, wird der Körper vergessen: Er ist da, er funktioniert, gehorcht dem, der ihn bewohnt, und widersetzt sich ihm nicht. Für etwa zwanzig/dreißig Jahre lebt der Erwachsene in und mit einem „freundlichen Körper“, den er vergessen kann, weil er ihn niemals stört. Erst wenn Schmerzen und Verletzungen auftreten, entdeckt man seinen Körper. Jedenfalls war das bei mir so. Dass ich Venenklappen habe, weiß ich zum Beispiel erst, seit man in meinem Bein eine Thrombose entdeckt hat.

Der Körper ist ein treuer Verbündeter, und das Gleichgewicht der Beziehung vermittelt die Illusion, dieser Zustand währe ewig. Etwa in der Mitte des Lebens treten Friktionen im Verhältnis zum Körper auf. Dieser beginnt, gegen die Person zu handeln, nimmt keine Rücksicht mehr auf ihre Wünsche und ihren Willen. Er durchkreuzt unsere Pläne und macht uns in vielerlei Hinsicht zu schaffen. Die Ärztin spricht auf dieser Stufe vom „unfreundlichen Körper“.  Der hinfällig werdende Körper gewinnt die Oberhand über den Geist. Der Körper bereitet uns mehr Pein als Freude, mehr Bitterkeit als Vergnügen. Am Ungemach des Alterns können alle Medikamente, schönheitschirurgischen und kosmetischen Mätzchen, mit denen wir versuchen, andere und uns selbst zu täuschen, nichts ändern. Eine Etappe des Verfalls folgt auf die nächste, unerbittlich, bis zum Tod. Bei Beckett heißt es: „Sie“ – die Frauen – „gebären rittlings über dem Grab, der Tag glänzt für einen Augenblick, und dann von neuem Nacht.“

Unser narzisstisches Gleichgewicht haben wir in der Regel auf der Grundlage eines intakten Körpers entwickelt, der es uns möglich machte, uns zu bejahen. Das Altern belehrt uns schmerzhaft über die Hinfälligkeit des Körpers und die Brüchigkeit dieses Fundaments.  Das Alter ist eine Kränkung, die unser Selbstwertgefühl untergräbt. Eine wachsende Unstimmigkeit entsteht zwischen dem jungen Selbst, auf dem mein Selbstwertgefühl basiert, und dem Selbst des alternden Mannes, dem ich im Spiegel begegne. Mein Selbstbild ist noch immer das eines sportlichen, halbwegs trainierten Mannes, dem in meiner Realität immer weniger entspricht. Ich registriere eine wachsende Selbstentfremdung: Bin das noch ich? Habe ich nicht vor kurzem noch zwei Treppenstufen auf einmal genommen? Und zwar nicht als Fitness-Übung, was es heute wäre, sondern einfach aus Temperament und Übermut. Ich bin manchmal unsicher im Gang und im Stand. Wenn ich in die Hose steige, muss ich irgendwo Halt suchen. Das Stehen auf einem Bein ist wackelig und riskant. Stürze drohen. Martin Walser hat in einem seiner Romane geschrieben, solange man auf einem Fuß stehend seine Hose und seine Schuhe anziehen könne, bestünde noch Hoffnung. Vielleicht bemühe ich mich deswegen so verbissen darum. Man vergisst so dies und das und kann sich an Naheliegendes nicht erinnern. Manchmal stehe ich auf und gehe ins Nebenzimmer, um in einem bestimmten Buch ein Zitat zu suchen. Ich stehe vor dem Regal und habe vergessen, in welchem Buch ich nachschauen wollte und nach was. Ich erschrecke und frage mich, ob das ein Anzeichen einer beginnenden Demenz ist. Eingeschliffene Routinen missglücken, lang eingeübte Handlungsketten brechen plötzlich ab. Wenn Körper und Geist parallel aufhören zu funktionieren und mir nicht mehr gehorchen, worauf soll ich dann mein Selbstwertgefühl gründen? Hauptsache mein Denken funktioniert noch, habe ich mir angesichts der körperlichen Zerfallsprozesse gesagt. Was, wenn nun auch mein Gehirn löchrig wird und verklebt und alle Erinnerungsspuren gelöscht werden, aus denen mein Ich zusammengesetzt ist? Welchen Sinn kann eine derartige Existenz noch haben? Bin das dann noch „Ich“?

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Auf dem Alten Friedhof duftete es gestern wunderbar nach frisch gemähtem Gras. Nachdem ich meine mitgebrachten Nüsse an die Eichhörnchen verfüttert hatte, setzte ich mich auf eine Bank in die Nachmittagssonne und lauschte den Vögeln, die ein großes Frühjahrskonzert gaben. Ganz in meiner Nähe saß auf einem Ast eine Amsel, die als Solistin aus dem Vogelorchester herauszuhören war und sich mächtig ins Zeug legte. Ich pflückte auf den Wiesen ein paar Frühlingsblumen wie Hederich, Wiesen-Schaumkraut, Butterblumen und Hirtentäschel, die ich U mitbrachte, die sie auf den Abendbrottisch stellte.

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Zu Hause angekommen stellte mich der Mann, der unter mir wohnt, wegen des alten Kühlschranks zur Rede, den ich im Hinterhof neben den Mülltonnen abgestellt habe, bis mein Freund K mit seinem Kastenwagen kommt und wir ihn gemeinsam zum Wertstoffhof bringen. Ich versuchte den Mann zu beruhigen, der aber nicht zu beruhigen war. Er hasst mich und rastete aus, als ich ihn darauf hinwies, dass er den kompletten Hinterhof mit seinem Krempel zugeballert und seine nicht in Gebrauch befindlichen Möbel im Ganzen Haus verteilt hat. Er trat ganz dicht an mich heran, wie ich es im Knast aus dem Vorfeld von Schlägereien kennengelernt habe, und sagte in einem drohenden Tonfall: „Du bist das größte Arschloch, das in Gießen herumläuft!“ Ich wundere mich stets aufs Neue darüber, wenn ein sechzigjähriger Arzt verbal derart entgleist. Aber Ärzte sind wohl auch nicht anders als andere Leute. Warum auch sollten sie das auch sein? Ich wandte mich abrupt zum Gehen und stieg die Treppe hinauf. Ich benötigte eine Weile, um mich wieder zu fassen und ruhig zu werden.

Als ich am nächsten Morgen in die Küche trat, war die auf dem Herd stehende Milch gerade dabei, im Topf aufzuwallen und über den Rand zu treten. Im letzten Moment konnte ich das verhindern. Ich erblickte darin eine symbolische Darstellung der gestrigen Szene auf dem Hinterhof und erschrak noch einmal.

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Wenn ich allabendlich mitbekomme, wie Robert Habeck für jeden sichtbar an und unter seinem Job leidet und rapide altert, frage ich mich, ob er keine Freunde hat, die ihm sagen: „Robert, lass es! Gib den Job auf, du kannst anderswo mehr tun. Und es ist besser für deine Gesundheit.“ Trotz seiner Klugheit hat er offenbar die Schwerkraft des Realen und den Widerstand unterschätzt, den die Kräfte des Beharrens den fälligen Veränderungen entgegensetzen. Die Einführung einer neuen Produktionsweise geht immer mit großen tektonischen Verschiebungen und dadurch ausgelösten Beben einher, die sich im Feld des Politischen als Dialektik von Reform und Reaktion ausdrücken. Die Grünen waren und sind die Kraft, die die Notwendigkeit des Abschieds von den fossilen Energieträgern am deutlichsten artikuliert, was solange einigermaßen gut ging und sogar Erfolg brachte, wie es nichts kostete. Jetzt, da deutlich wird, mit wie gravierenden Einschnitten dieser Abschied einhergeht und dass er alle eine Menge kosten wird, formiert sich massiver Widerstand. Am deutlichsten artikuliert den Markus Söder von der CSU, aber auch die FDP versucht Geländegewinne dadurch zu erzielen, dass sie sich als Autofahrer-Partei profiliert und bei der Wärmewende auf die Bremse tritt. Sich auf die Seite der Verteidiger des Status quo zu schlagen, mag kurz und mittelfristig Erfolg bringen, auf lange Sicht betrachtet ist es natürlich ein Desaster und macht alles nur noch schlimmer. Ein Blick in die Emilia-Romagna liefert ganz aktuelle Belege für die These, dass nichts kostspieliger ist als Nicht-Reform, als das Aufschieben notwendiger Veränderungen. Ganz abgesehen von dem immensen menschlichen Leid, das die Nicht-Reform mit sich bringt und in Zukunft immer öfter produzieren wird. Vielleicht offenbart Habecks Zustand aber in Wahrheit auch das Elend und Scheitern der Illusion eines grünen Kapitalismus. Wer den expansionistischen Drang des Kapitals stillstellen will, muss das Wertgesetz außer Kraft setzen. Das wäre radikal im Wortsinn, und billiger ist ein grundlegender Wandel nicht zu haben. Mit einer Änderung des herrschenden Narrativs, also der Einbettung des kapitalistischen Wachstums in eine ökologische Erzählung, ist es nicht getan. Da bin ich nach wie vor Marxist. Zum Narrativ vom Narrativ habe ich mich im Kontext einer Besprechung eines Buches von Philipp Blom im Jahr 2020 im Magazin Auswege einmal geäußert: https://www.gew-ansbach.de/data/2020/12/Eisenberg_Rezension_Das_Grosse_Welt-Theater_von_Philipp-Blom.pdf

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Das Stadttheater Gießen bringt in dieser Spielzeit ein Stück über Fritz Bauer. Es lehnt sich eng an den Film von Lars Kraume an, der 2015 herausgekommen ist und „Der Staat gegen Fritz Bauer“ heißt. Burkhart Klaußner spielt in diesem Film Fritz Bauer, der sich in dem Bemühen aufreibt, Adolf Eichmann möglichst in Deutschland vor Gericht zu stellen. Ich habe diesen tollen Film vor Kurzem zum dritten Mal gesehen und werde mir das Theaterstück deswegen nicht anschauen. Der Film ist mir noch zu präsent und würde alles überlagern.

Fritz Bauer rückte mir nahe, als ich während meiner Arbeit in der JVA Butzbach erfuhr, dass er Ende der 1950er Jahre im sogenannten Mehrzweckraum des Gefängnisses, das damals noch ein Zuchthaus war, eine Veranstaltung mit Gefangenen durchgeführt und diese mit „Meine Kameraden“ angesprochen hatte. Es war damals noch nicht lange her, dass der nunmehrige Hessische Generalstaatsanwalt Bauer unterm Nationalsozialismus selbst Häftling gewesen war. Im Unterschied zu vielen seiner Zeitgenossen hatte er das nicht vergessen. Diese Anrede sorgte damals bundesweites für Aufsehen und Empörung. Der hessische CDU-Landtagsabgeordnete und Landgerichtsrats Dr. Wilhelm Fay richtete eine Anfrage an die hessische Landesregierung und wollte wissen, ob die Landesregierung es billige, dass Generalstaatsanwalt Dr. Bauer gelegentlich einer Veranstaltung in der Strafanstalt Butzbach die Zuchthäusler mit „Meine Kameraden“ angeredet hat. Man distanzierte sich von Bauers Aussage und erklärte diese Ausdrucksweise „für die eines Narren“, wie Alexander Kluge berichtet. Da man auch mich dreißig Jahre später gelegentlich einer unbotmäßigen Nähe zu den Gefangenen bezichtigte, erkannte ich in Fritz Bauer einen Bündnispartner. Auch wenn dieser unterdessen schon länger tot war.

Nachdem man Fritz Bauer am 30. Juni 1968 tot in seiner Badewanne aufgefunden hatte, begann sein Freund Adorno seine Vorlesung zur „Einleitung in die Soziologie“ am 2. Juli 1968 mit den Worten: „Sie werden in der Zeitung gelesen haben, dass der Generalstaatsanwalt des Landes Hessen Fritz Bauer an einem Herzschlag gestorben ist. … Ich glaube aus einer sehr genauen Kenntnis der Person, mich keiner Übertreibung und keiner Sentimentalität schuldig zu machen, wenn ich Ihnen sage, dass zu dem vorzeitigen Tod von Fritz Bauer die Verzweiflung darüber beigetragen hat, dass all das, worauf er gehofft hat, all das, was er in Deutschland anders und besser hat machen wollen, ihm gefährdet erschien, und dass er unablässig von dem Zweifel geplagt worden ist, ob es denn richtig gewesen sei, aus der Emigration zurückzukehren. Ich selbst habe diesen Zweifel lange von mir gewiesen. Ich muss sagen, dass es Entwicklungen in Deutschland gibt, wie etwa die Annahme der Notstandsgesetze, aber auch eine Reihe anderer Dinge, die mir sehr begreiflich erscheinen lassen, dass Bauer … unter diesen Dingen so gelitten hat, dass sie ihm schließlich den Lebensfaden abgeschnitten haben.“

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Aus irgendeinem Grund fiel mir heute Morgen ein, dass ziemlich genau vor 50 Jahren mein erstes Buch „Fluchtversuche“ bei Prolit erschienen ist. Dem damaligen politischen Selbstverständnis gemäß nannten sich Verlag und Vertrieb proletarische Literatur, abgekürzt eben Prolit. Das Proletariat war natürlich eher eine philosophische Kategorie als eine empirische Realität. Ich bin sicher, dass zu keinem Zeitpunkt in nennenswerten Umfang Arbeiter unsere Bücher gelesen haben. Der lesende Arbeiter war zu jener Zeit eine verbreitete linke Wunschvorstellung. Meine Hirnantilope sprang heute Morgen also zu dem orangefarbenen Buch, das ich zusammen mit meinem Freund Wolfgang Thiel verfasst habe. Es ist noch im Flattersatz erschienen. Wir hockten in meinem großen WG-Zimmer an meinem Schreibtisch, wie unsere berühmten Vorbilder Oskar Negt und Alexander Kluge, und formulierten manche Passagen tatsächlich gemeinsam. Wir schrieben den ersten Entwurf mit der Hand, später tippte eine gemeinsame Freundin den Text ab. Freilich gegen Bezahlung, und nicht für den proletarischen Kampf. Der Prolit-Verlag und der gleichnamige Buchvertrieb waren in einer Büro-Etage in Gießen untergebracht. Beide Projekte wurden von vier Leuten betrieben, zu denen ich irgendwann als fünfter hinzustieß. Dieser Tage bin ich auf dem Weg zu meinem Zahnarzt an Prolit vorbeigefahren, die ja freundlicherweise meine jüngeren Bücher immer noch ausliefern. Prolit ist heute ein Riesenunternehmen mit über hundert Angestellten, Betriebsrat, Kantine und Sozialraum. Die Regale wachsen in den Himmel, und man muss mit einer Art Fahrstuhl hinauffahren, um die oben liegenden Bücher zu erreichen. Vielleicht wird das inzwischen sogar von Robotern erledigt, die dann auch gleich die Pakete packen. Wer weiß? Schon als ich das letzte Mal reingeschaut habe, arbeitete kaum noch jemand dort, den ich kannte. Ich war lange Jahre auch Gesellschafter bei Prolit und habe meinen Gesellschafteranteil irgendwann für einen Kasten Bier abgegeben. Ziemlich preiswert, wenn man bedenkt, dass Prolit inzwischen einen millionenschweres Unternehmen ist. Die ursprünglichen Genossen haben inzwischen keinen Kontakt mehr zueinander, wie so viele ist auch dieser Zusammenhang zerfallen und jeder ist seiner Wege gegangen. Die Fluchtversuche haben übrigens noch eine zweite Auflage erlebt und sich insgesamt rund 4.000 mal verkauft. Von einer solchen Auflage kann ich heute nur träumen.

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Am 23. Mai 1863, also heute vor 160 Jahren, gründeten Ferdinand Lassalle und einige Mitstreiter in Leipzig den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein, aus dem später die SPD hervorging. Ob das angesichts der Geschichte und gegenwärtigen Verfassung der Partei ein Grund zu feiern ist, kann man bezweifeln. Ein Grund sich zu erinnern ist es allemal.

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