„Twitter ist wie Menschen, nur noch mehr. Twitter nach Einbruch der Dunkelheit sind verlassene Kinder, die um Aufmerksamkeit buhlen. Twitter ist das Es, wenn es tippen könnte.“
(A. L. Kennedy)
Jetzt bekommt meine Oberkieferprothese tatsächlich eine Gaumenplatte. Ohne sie würde die Konstruktion nicht halten. Sie ist durch das eingebaute Metall derart schwer, dass sie einfach der Schwerkraft folgt und runterfällt. Gestern Abend ist sie mir beim Husten rausgefallen. War eben in der Praxis, wo man Abdrücke genommen hat. Nun muss ich ein paar Stunden ohne auskommen, dann kann ich mir am Nachmittag das hoffentlich gut sitzende Teil wieder abholen. Meine Sorge: Werde ich noch etwas schmecken und vor allem: Wird die Gaumenplatte mich beim Sprechen behindern? Wir man mich noch verstehen können? Drastischer kann man kaum mitgeteilt bekommen, dass man alt und hinfällig ist.
Anderntags hat sich die Lage etwas entspannt und der Panikpegel ist merklich gesunken. Ich bin gestern Nachmittag, nachdem ich das Teil eingesetzt bekommen habe, gleich in die Stadt und habe Freunde besucht. Die merkten schon, dass ich etwas lispelte und verwaschen sprach, aber man könne mich trotzdem gut verstehen. Es hat sich als richtig erwiesen, unter Menschen zu gehen und loszureden und mich nicht zu Hause zu vergraben. Lesungen werde ich wahrscheinlich keine mehr durchführen können, aber meine Sozialphobie wird sich der Prothese als Begründung nicht bedienen können können. Schokolade, die ja am Gaumen schmilzt und ihren Geschmack von dort aus im Mund verteilt, wird nicht mehr so gut munden, aber eine Verringerung des Schokoladenkonsums wäre zu verschmerzen, vielleicht sogar zu begrüßen.
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Die Leute vom ehemaligen Kasseler ABC-Buchladen haben sich, nachdem sie in Teil 72 der DHP auf meine Bemerkung zum Ende ihres Ladens gestoßen sind, bei mir gemeldet und folgendes richtiggestellt:
Dass es den ABC-Buchladen nicht mehr gibt, hat nichts zu tun mit dem Niedergang der linken Bewegung, und untergegangen ist er auch nicht.
Wir haben ihn geschlossen, weil die äußeren Bedingungen immer unerfreulicher geworden sind (wie Zwang zur Digitalisierung, Nerverei mit der Bank, deren Kredite wir nicht mehr brauchten, Mindestumsätze bei Verlagen…) und wir nach langen Jahren der fröhlichen Selbstausbeutung zurück an die Hochschule (mein Kollege) und in Rente (ich) gegangen sind und sich niemand gefunden hat, die/der den Buchladen fortführen wollte. (Geht aber vielen andern Betrieben auch nicht anders.)
Darum sind wir in Schönheit und im Wissen, eine Leerstelle zu hinterlassen, abgetreten.
Das nur, damit der Pessimismus nicht überhand nimmt…
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„Es gab in Deutschland immer noch dieses falsche Klassenbewusstsein, dieses Ersatz-Bewusstsein, das mehr Ressentiment, ein Missgunstdenken als ein kämpferisches Selbstbewusstsein war.“
(Karin Struck: Zwei Frauen)
In der Stadt habe ich eben einem alten Gießener Linken getroffen. Leute wie er können sich den Umstand, dass ich in einer der beiden Gießener Tageszeitungen eine regelmäßige Kolumne habe, nicht erklären und greifen zu den absurdesten Erwägungen. „Du hast dich kaufen lassen. Du dienst denen als Feigenblatt“, sind die gängigsten. Inmitten der kapitalistischen Propaganda eine kleine linke Insel sozusagen, die kaschieren soll, dass der ganze Rest nach der Pfeife der herrschenden Klasse tanzt. Sie gehen fest davon aus, dass meine Texte zensiert und bestimmte Passagen gestrichen werden. Wenn ich das dementiere, weil es schlicht und einfach noch nie passiert ist und ich das auch gar nicht mir mir machen lassen würde, schauen sie mich ungläubig an. Sie wissen Bescheid, soll das heißen. Ich bekomme im Übrigen keinen Cent für meine Texte. Man hatte mir ursprünglich einen derart lächerlichen Betrag angeboten, dass ich darauf verzichtet habe. Das vergrößert meine Unabhängigkeit und bringt meine Erpressbarkeit gegen null. „Du weißt doch, wie der Kapitalismus funktioniert“, sagte der Genosse, den ich vorhin traf, und ich erwiderte: „Ganz sicher nicht so plump, wie du es dir vorstellst und wie du es in deiner ML-Grundschulung gelernt hast. Das, was du der Zensur zuschreibst, regelt der Markt viel eleganter und geschmeidiger.“
Ich bin immer wieder erstaunt über das schlichte Weltbild vieler Leute, die sich für links halten und es wahrscheinlich auch sind. Ein Teil des elenden Zustands der Linken geht sicher auf das Konto solch simpler Welterklärungen, die der Wirklichkeit weit hinterher hinken. Dass in manchen Zeitungsläden die junge Welt und das Neue Deutschland und andere linke Zeitungen nicht angeboten werden, liegt in ihren Augen daran, dass die Behörden solchen Zeitschriftenläden Schwierigkeiten bereiten und sie unter Druck setzen. Ich antworte dann: „Wenn eine hinreichend große Anzahl von Mitbürgern und Mitbürgerinnen nach diesen Zeitungen verlangen würden, würden sie die auch anbieten. Sie haben bloß keine Lust, von drei bestellten Exemplaren abends regelmäßig mindestens zwei wieder zurückzuschicken. Das macht ihnen Arbeit und bringt nichts ein. Dadurch, dass unsere Zeitungen so langweilig sind und die Bedürfnisse der Menschen nicht zum Ausdruck bringen, nehmen wir unsere Zerschlagung in eigene Regie. Da braucht es keine zusätzliche Repression.“ Als Kaiser Vespasian eine Latrinensteuer für öffentliche Bedürfnisanstalten erhob und sein Sohn ihm deswegen Vorhaltungen machte, hielt er ihm eine Münze, die aus dieser Steuer stammte, unter die Nase und sagte: „Non olet“ – „stinkt nicht“. Wenn sich mit linken Zeitungen Geld machen ließe, würden die Ladenbesitzer nach dieser Maxime des Vespasian verfahren. Das markiert den Unterschied zwischen den autoritär gelenkten Ländern wie zum Beispiel der Türkei, Belarus, Russland und den wenigen verbliebenen liberalen Demokratien in Westeuropa. Ich weiß den Unterschied zu schätzen und bin froh, in einer der letzteren zu leben, die einen gewissen Spielraum für abweichende Meinungen lassen. Es ist relativ einfach: Märkte sind tolerant dem Privatleben gegenüber. Wen jemand anbetet, mit wem jemand schläft und was jemand denkt, geht niemanden etwas an. Dem Geld ist das alles egal, so lange es nicht an seiner Selbstvermehrung gehindert wird. Gewisse Gedanken müssen allerdings im Bereich des Denkens verbleiben, sobald Taten aus ihnen werden oder sie die Massen ergreifen, sieht es anders aus. Dann würde auch hier wie Kai aus der Kiste die Gewalt hervorbrechen. Danach, dass das linke Denken die Massen ergreift, sieht es derzeit nicht aus, so dass sich die Herrschenden in Toleranz üben können.
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Heute wurde eine bundesweite Razzia gegen Aktivisten der Letzten Generation durchgeführt. Fünfzehn Objekte wurden durchsucht, zahlreiche Unterlagen wurden beschlagnahmt, die Beweise für von Mitgliedern der Letzten Generation begangene Straftaten liefern sollen. Auch die Webseite der Gruppe wurde auf Anordnung der Staatsanwaltschaft München abgeschaltet. Letztlich geht es den Behörden darum, den Nachweis zu führen, dass es sich bei der Letzten Generation um eine „kriminelle Vereinigung“ handelt. Vielfach wird in den Medien so getan, als stünde das bereits fest. Damit soll letztlich die radikale Klimabewegung insgesamt kriminalisiert und ins Abseits gestellt werden. Diese Praxis folgt einer alten Übung: Den Boten für die Botschaft strafen, die er überbringt. Verfolgt werden nicht diejenigen, die den Planeten gegen die Wand gefahren haben, sondern diejenigen, die retten wollen, was noch zu retten ist. Staatliche Repression ist das, was Angst macht und Leute davon abhalten soll, sich dieser Bewegung anzuschließen, mit ihr zu sympathisieren und Geld für sie zu spenden. Erste Reaktionen am heutigen Mittwoch deuten darauf hin, dass diese Rechnung nicht aufgeht und sich Massen von Menschen solidarisieren, auch wenn sie nicht mit allen Aktionen der Gruppe einverstanden sind. Dazu zähle ich mich auch. Mir würden Razzien bei den Herren Lindner und Wissing mehr einleuchten. Dort könnte man mal nach Belegen für Einflussnahmen der Autoindustrie und der fossilen Energiewirtschaft und anderen Lobbystrukturen suchen. Frau Faeser möchte wohl demonstrieren, dass sie nicht nur gegen Reichsbürger und Rechtsradikale vorgeht, sondern auch gegen Menschen aus dem politisch linken Spektrum und der Klimabewegung. Da die ganze Aktion von Bayern ausgeht, können wir getrost unterstellen, dass sie Teil des dortigen Wahlkampfs ist und zeigen soll, dass der Staat kein Papiertiger ist. Im Kampf gegen das rot-grün versiffte Preußen setzt man sich über rechtsstaatliche Grundsätze wie die Unschuldsvermutung schon mal locker hinweg. Die Generalstaatsanwaltschaft München und das Bayerischen Landeskriminalamts ließen verkünden: „Die Letzte Generation stellt eine kriminelle Vereinigung gemäß § 129 StGB dar! (Achtung: Spenden an die Letzte Generation stellen mithin ein strafbares Unterstützen der kriminellen Vereinigung dar!)“ Auch wenn man später auf öffentlichen Druck hin etwas zurückruderte, eine Stigmatisierung der Gruppierung bleibt. Staatsanwaltschaft und Bayerisches Landeskriminalamt agieren einstweilen selbst nach Art einer kriminellen Vereinigung, zu der sie die Letzte Generation gern erklären lassen möchten. Wenn politisch immer noch nicht willfährige Gerichte im Nachgang der heutigen Aktion die Verfahren einstellen und der Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung fallen gelassen werden muss, könnte sich das Ganze als Rohrkrepierer erweisen und dem großen Vorsitzenden Söder auf die Füße fallen. Insgesamt findet in puncto Klimapolitik eine ungute Radikalisierung statt, die der Sache schadet. Die Auseinandersetzungen spitzen sich spürbar zu. Auch im städtischen Alltag ist das zu beobachten. Immer häufiger kommt es zu zumindest verbalen Auseinandersetzungen zwischen Rad- und Autofahrern. In der sogenannten Fahrradstraße unter meinen Fenstern häufen sich die Missverständnisse, mehrfach drohten diese in einer Schlägerei zu enden.
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Endlich mal eine gute Nachricht: Die deutsche Wirtschaft schrumpft. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist im ersten Quartal des Jahres um 0,3 Prozent gesunken. Weiter so! Das ist wirksamer Umweltschutz.
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„Nicht damit die Tüchtigen an die erste Stelle kommen, d.h. uns beherrschen, müssen wir die Gesellschaft verändern, sondern im Gegenteil, weil die Herrschaft dieser ‚Tüchtigen‘ ein Übel ist.“
(Max Horkheimer: Dämmerung)
Die Begegnung mit dem Genossen hat mich darauf gebracht, dass es an der Zeit wäre, über die Geburt des Sozialismus aus dem Geist des Ressentiments nachzudenken. Das Ressentiment ist mit dem Neid verschwistert, es erwächst aus dem Gefühl des Zukurzgekommenseins. Der Neid richtet sich nicht nur darauf, dass es den anderen materiell besser geht, sondern dass sie behaust und selbstsicher sind. Der Neid, sagt Sartre, ist letztlich immer Neid auf die „Valorisierung“ der anderen, während die eigene unterblieb oder nicht hinreichend war. Selbst nicht gut genug geliebt, neidet man den anderen die Wertschätzung, die ihnen durch frühe elterliche Zuwendung zuteil geworden ist und die sich in ihnen als sicheres Gefühl des eigenen Wertes reproduziert. Alle anderen Formen des Neides sind davon abgeleitet und mit diesem wie zu einem Zopf verflochten. Man bekommt durch pädagogische Selektionsprozesse früh einen Platz am Katzentisch des Lebens zugewiesen, von dem aus man zu den anderen herüber schielt, deren Tisch reich gedeckt ist und denen gebratene Tauben in den Mund fliegen. Das Ressentiment ist das schmerzhafte Nachgefühl dieser Erfahrungen, das sich von seinen ökonomisch-sozialen Ursprüngen löst und auf tendenziell alle Lebensbereiche überträgt. Es erzeugt eine Abneigung gegen „die da oben“, gegen Eliten, gegen „Juden“, gegen all jene, denen es vermeintlich oder auch real besser geht. Je mehr überflüssige Verzichtsleistungen und Repression eine Gesellschaft ihren Mitgliedern auferlegt, desto größer das Bedürfnis nach Sündenböcken, auf welche die gestaute Wut verschoben werden kann. In den seltensten Fällen kehrt die Wut sich gegen jene, die für das allgemeine Unglück verantwortlich sind. Das Ressentiment als Lebensgrundgefühl ist leicht verschiebbar und heftet sich mal an diese, mal an jene Gruppe. Es bildet den Nährboden für eine konformistische Bösartigkeit, die sich gegen alles wenden kann, was anders ist. Wer sein Brot nicht im Schweiß seines Angesichts verzehrt, gilt als Parasit und muss vernichtet werden. Das Ressentiment fordert gleiches Unrecht für alle. Ich fürchte, dass das, was man landläufig unter Sozialismus versteht und was sich unter seiner Fahne versammelt und ausgebreitet hat, zu einem Großteil von diesem Ressentiment energetisch angetrieben wurde und wird. Das hat der Idee und der Praxis des Sozialismus schweren Schaden zugefügt. Bis hin zu den in seinem Namen errichteten Arbeitslagern und den Gesetzen gegen Parasitismus, die im ganzen Ostblock herrschten und zu Zwangseinweisungen in die Psychiatrie führen konnten. Als ob der Schweiß und harte körperliche Arbeit an sich etwas Verdienstliches und etwas Positives wären. Als träumten nicht alle Menschen davon, ein Leben ohne schwere Arbeit zu führen, einfach nur da zu sein und ihren Kopf in die Luft zu halten. Der Stand der Produktivkräfte würde das ja objektiv längst möglich machen. Statt gemeinsam für eine Gesellschaft zu kämpfen, in der das realisiert wäre, bekämpft man jene, die es leichter haben und sich nicht so eingrenzen müssen, wie man selbst. Einer, der das früh gesehen hat, war Max Horkheimer, der in seinem Buch Dämmerung notierte: „Die Schande dieser Ordnung liegt nicht darin, dass es einigen besser, sondern dass es vielen schlecht geht, obgleich es allen gut gehen könnte.“ Lars Gustafsson, der 2016 verstorbene schwedische Schriftsteller, stand auch in einer nicht so lustfeindlichen Tradition des Sozialismus. Er konnte sich nicht damit abfinden, dass auf dem Leben eine Strafe einer täglichen achtstündigen Arbeit stand. Er schrieb in einem Die Wege der Freiheit betitelten Essay: „ … das Problem der sozialen Ungerechtigkeit hat eigentlich weniger mit himmelschreienden Unterschieden des Lebensstandards zu tun als vielmehr mit dem Umstand, dass die meisten Menschen niemals Zugang zu ihrem Leben erhalten. Ich habe sozusagen lieber einen Zugang zu meinem Leben ohne einen Swimmingpool, als dass ich ihn mit einem solchen Verliere. Wenn man die soziale Ungerechtigkeit am Konsum zu messen beginnt, hat man die Prämissen des Feindes schon akzeptiert.“
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Wenn wir denn jemals eine Chance haben wollen, müssen wir den Mut aufbringen, uns eine ganz andere Gesellschaft jenseits von Industrialismus und kapitalistischem Fortschritt vorzustellen. Schluss mit dem Individualverkehr, weg mit diesen idiotischen Geländewagen, mit denen Mütter aus den besseren Stadtteilen ihre Früchtchen über vierspurige Stadtautobahnen zur Schule fahren und auf dem Rückweg, nachdem sie den 150-Liter-Tank gefüllt haben, nochmal kurz in der zweiten Reihe vor dem Bio-Laden anhalten. Weg mit diesen Fastfood-Lokalen und dem im Stehen und Gehen hinuntergeschlungenen Scheißfraß; weg mit den ganzen Fernsehprogrammen mit hohem Verblödungskoeffizienten; weg mit den lärmenden Quads, den Smartphones und sogenannten sozialen Medien, die die jungen Leute in digitale Zombies verwandeln; weg mit den Spielekonsolen, dem Coffee to go in diesen unsäglichen Bechern, von denen in Deutschland stündlich hunderttausende verbraucht werden; weg mit den Laubbläsern und Hochgeschwindigkeitszügen und der ganzen sinnlosen Fliegerei von einem gesichtslosen Ort zum anderen. Schluss mit diesem grässlichen, krank machenden Lärm. Das Recht auf Stille wird eine entscheidende Qualität einer neuen Gesellschaft sein, die sich vom Fetisch Wachstum verabschiedet hat und ihren Zusammenhalt nicht auf Konsum gründet. Wir benötigen stattdessen Tugenden des Unterlassens, Prämien aufs Nichtstun, Kontemplation statt Produktion, Faulheit statt rastlosem Tun. „Vielleicht wird die wahre Gesellschaft der Entfaltung überdrüssig und lässt aus Freiheit Möglichkeiten ungenützt, anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen“, schrieb Adorno in seinem Buch Minima Moralia. Rund einhundertzwanzig Jahre früher lässt Büchner in Leonce und Lena den Valerio, einem Gefährten von Leonce, der eigentlich ein Vagabund und früher Anarchist ist, sein Programm in deftiger Sprache und ohne akademische Krawatte so formulieren: „Wir lassen alle Uhren zerschlagen, alle Kalender verbieten und zählen Stunden und Monden nur nach der Blumenuhr, nur nach Blüte und Frucht.“ Valerio setzt hinzu: „Und ich werde Staatsminister, und es wird ein Dekret erlassen, dass, wer sich Schwielen in die Hände schafft, unter Kuratel gestellt wird; dass, wer sich krank arbeitet, kriminalistisch strafbar ist; dass jeder, der sich rühmt, sein Brot im Schweiße seines Angesichts zu essen, für verrückt und der menschlichen Gesellschaft für gefährlich erklärt wird; und dann legen wir uns in den Schatten und bitten Gott um Makkaroni, Melonen und Feigen, um musikalische Kehlen, klassische Leiber und eine commode Religion!“
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Seit ich Bekanntschaft mit dem Marxismus gemacht habe, befindet er sich in der Krise. Bereits in den 1970er Jahren häuften sich Buchtitel zur „Krise des Marxismus“ und darüber hinaus „Zur Krise der Linken“. Diese Krise besteht im Kern darin, dass der Marxismus den Kapitalismus nicht nur theoretisch durchdringen und erklären will, sondern ihn zugleich revolutionär auseinandersprengen und aufheben will. Und genau dieser für ihn wesentliche Zusammenhang scheint zerrissen zu sein. Die Begriffsbildung der Kritik geht nicht mehr quasi automatisch mit den Bedürfnissen der Massen nach Emanzipation einher. Die Marxschen Begriffe verlieren ihren Sinn, wenn die Menschen die gesellschaftliche zweite Natur nicht mehr als Entfremdung erleben, sondern als Erfüllung ihrer Wünsche. Wenn sie kein Leiden mehr zum Ausdruck bringen und für keine immanente Unruhe mehr einstehen. Eine ursprünglich „kritische Theorie“ in praktischer Absicht fällt auf den Status einer „traditionellen Theorie“ zurück, wie Max Horkheimer in seiner programmatischen Schrift aus dem Jahr 1937 herausgearbeitet hat. Die Zeitschrift Probleme des Klassenkampfs konnte in den 1970er Jahren scharfsinnig die „Sozialstaatsillusion“ entlarven und den Gang der Kapitalakkumulation beschreiben, es folgte praktisch nichts mehr daraus. Der Marxismus wurde zu einer akademischen Disziplin und brachte kein massenhaftes Leiden mehr zur Sprache. Jenseits der Detailkritik müssen wir uns heute fragen, ob der Marxismus angesichts seiner Zugehörigkeit zum Universum des Industrialismus und der heute zu lösenden Probleme noch angemessene Begriffe zur Verfügung stellt? In diesem späten Abschnitt der Geschichte und nach all den Erfahrungen mit schief gelaufenen Revolutionen müssen wir uns weiterhin fragen, ob es überhaupt möglich ist, dass eine soziale Revolution, welche eine klassenlose Gesellschaft schaffen will, aus seinem Kampf zwischen Klassen einer Klassengesellschaft hervorgehen kann? Oder ob eine solche Revolution nur entstehen kann, wenn das Subjekt der Revolution selber bereits klassenlos ist? Also zum Beispiel eine freie Assoziation von lauter einzelnen Revolutionären und Revolutionärinnen bildet? Der amerikanische Anarchist Murray Bookchin hat solche Fragen in seinem Text Hör zu, Marxist! schon früh aufgeworfen und zu beantworten versucht. Aber auch er ist inzwischen leider verstorben und kann uns nicht mehr helfen. Wir müssen es also selbst versuchen. Aber wir stehen auf den Schultern von Riesen und sollten uns ihrer Vorarbeiten bedienen und uns auf sie stützen. Zu nennen wären hier aus meiner Sicht unter anderen Antonio Gramsci, Henri Lefebvre und Peter Brückner, dessen Hauptwerk Psychologie und Geschichte viele dieser Fragen aufwirft und seit Jahrzehnten wie ein unbenutzter Handwerkskasten in einer linken Rumpelkammer herumsteht beziehungsweise in Antiquariaten verstaubt. Wenn bloß diese Furcht nicht wäre, linke Gewissheiten und Glaubenssätze zu verletzen und danebenzukleckern! Meine Hirnantilope springt zu einer Karikatur aus den 1970er Jahren. Freud, Marx und Marcuse sitzen an einem Tisch und löffeln Suppe. Mit dem Rücken zum Betrachter steht ein kleiner Junge am Tisch, der ein wenig ängstlich und schüchtern über die Schulter blickt. Dieser kleine Junge sind wir gewesen und sind es teilweise bis heute geblieben. Unbeirrt und mechanisch wird die zu einem sterilen Grundvokabular erstarrte Marxsche Theorie wiedergekäut. Mitte der 1970er Jahre hatte ich das Glück eine Woche lang Herbert Marcuse in Gesprächen und Diskussionen in den Schweizer Bergen zu erleben. Als Berliner Genossen von irgendeiner KPD-Aufbauorganisation ihm vorhielten, Marx habe aber auf Seite 586 der Grundrisse dies und das geschrieben, antwortete Marcuse sinngemäß: „Genosse, das steht in einem Buch, das vor über einhundert Jahren geschrieben worden ist.“ Es sei unmarxistisch, den jeweiligen gesellschaftlichen Kontext, in dem bestimmte Marxsche Sätze gefallen seien, außer Acht zu lassen. Seine Begriffe und Theorien besäßen einen Zeitkern und könnten veralten. Der Marxismus sei kein Kanon heiliger Texte, wir müssten den historischen Materialismus auf sich selbst anwenden. Das und nur das sei lebendiger Marxismus. Und er fügte hinzu: „Eine Theorie, welche die Praxis des Kapitalismus nicht eingeholt hat, kann schwerlich eine Praxis anleiten, die darauf abzielt, den Kapitalismus aufzuheben.“ Eine gehörige Portion dieser Marcuse‘schen Haltung „heiligen Texten“ gegenüber stünde uns heute erst recht gut zu Gesicht.
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Die letzten Tage habe ich beinahe komplett an der Lahn verbracht. Die Wassertemperatur stieg mit jedem sonnigen Tag und beträgt jetzt 18 Grad, was eine gute Temperatur zum Schwimmen ist. Für die meisten Leute ist das noch zu kalt, was gut ist, weil es sie fernhält. Es gab Stille, Eisvögel, kein Partyvolk, keine Bumsmusik – wunderbar. Meine Notizen mache ich am Steg mit einem Bleistift, der mir letztes Jahr mal in den Fluss gefallen ist und den ich wieder rausgefischt habe. Dadurch wurde er zu einem kostbaren Gegenstand, auf den ich nun besonders achte. Habe nun den Sommer eingeläutet und werde ab jetzt bei gutem Wetter morgens vor dem Frühstück schwimmen gehen, dann Brötchen holen und noch mit der Kühle auf der Haut frühstücken. Hab einen Nachmittag mit dem Hundemann verplaudert, der mir Fotos vom alten Gießen und aus seiner Jugendzeit zeigte. Damals fuhren noch Oberleitungsbusse und Straßenbahnen durch die Stadt und Gießen war mindestens so schön wie Marburg. Wir saßen in seinem Garten, tranken ein Weizenbier und verbrachten ein/zwei Stunden gemeinsam. Ein volltrunkener Russe torkelte vorüber und der Hundemann hatte Sorge, er könnte in die Lahn fallen. Er kennt hier jeden und kommt mit den meisten Leuten gut klar. Mit manchem ist er schon zusammen zur Schule gegangen. In der Krone einer Esche hockte ein Kuckuck und ließ seinen nicht sehr phantasievollen Ruf vernehmen. Der nerve manchmal, wenn er ihn morgens mit dem ersten Sonnenlicht wecke, sagte der Hundemann. Aber das gehöre hier draußen halt dazu.
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„Es gibt bestimmte Dinge, die ich als Schriftstellerin sagen möchte, Dinge, an die ich glaube. Und ich denke, es ist an der Zeit, Dinge zu sagen, an die man wirklich glaubt. Das ist fast die einzige Vereinbarung, die man mit sich selbst treffen kann, wenn man schreibt oder Kunst macht. Wenn man einen anderen Weg einschlägt, hört man auf zu existieren und verkauft sich sozusagen selbst.“
(A. L. Kennedy)
Gestern saß ich auf dem Steg und las in A. L. Kennedys neuem Buch Der Kern der Dinge. Dort heißt es gleich zu Beginn: „In Großbritannien, wo ich normalerweise lebe, haben wir uns weniger um die Welt gekümmert, als wir sollten, und auch weniger um uns selbst. Jetzt, da sich die unvermeidlichen negativen Folgen der Achtlosigkeit entfalten, sehen sich viele von uns gezwungen, neu anzufangen. Einige können das nicht. Es kommt häufiger zu Akten des Nihilismus und der Verzweiflung. Angesichts des Klimazusammenbruchs, des nationalen Zusammenbruchs, des persönlichen Zusammenbruchs haben manche Menschen keine Ressourcen mehr, um auch nur eine winzige Herausforderung zu meistern. Brücken, Flüsse, Bahnübergänge, kalte, dunkle Räume, die sich mal wie ein Zuhause angefühlt haben – sie alle werden Zeugen des Aufbruchs, der Flucht. Unsere Schwächsten wurden hart dafür bestraft, dass sie als inakzeptable Lebewesen existieren. Eine neue Welle der Bestrafung ist im Anmarsch. Unser Land, unsere Währung, unsere Gewissheit – sie alle sind von etwas befallen, das wir als politisch-intellektuelle Krankheit bezeichnen könnten. Wir könnten unsere Schwierigkeiten auch einfach Hass nennen. Jeden Tag mehr Versagen und Misserfolg. Uns jeden Morgen müssen wir uns entscheiden – aufgeben oder neu anfangen?“
Im Zuge dessen, was ihr in Großbritannien zugestoßen ist und was sie dort unter Boris Johnson erlebt hat, hat Frau Kennedy sich radikalisiert – auch sprachlich. Sie versucht erst gar nicht, ihre Wut zu sublimieren und pfeift auf die Normalität. Als sie dieses neue Buch schrieb, befand sie sich bereits auf der Flucht, versteckt in einer Hütte in den Wäldern des Bundesstaates New York. Dort droht ihr ein „Hüttenkoller“. Nicht zufällig beschäftigt sie sich deswegen mit Stephen Kings Roman The Shining, dessen Verfilmung durch Stanley Kubrick sie als noch nicht ganz fünfzehnjährige Schülerin gesehen hatte. Außerdem leidet sie unter Symptomen von Long-Covid und fürchtet, dass dieses sich unversehens in eine Demenz verwandeln könnte. „Ich schreibe mit meinem Gehirn. Ich brauche es“, sagt A. L. Kennedy. Das gilt wahrlich nicht für alle Schriftsteller und Schriftstellerinnen. Viele kommen auch ohne Hirn aus. Sie wurde in Großbritannien bedroht, man schickte ihr anonyme Briefe mit Morddrohungen, für ihren Roman Als lebten wir in einem barmherzigen Land fand sie in England keinen Verlag mehr. Schon der Titel des Buches lässt erahnen, warum. Im Zentrum des Romans steht die Wiederbegegnung von Anna, der Protagonistin, mit einem Mann namens Buster, der in den 1980er Jahren eine Gruppe von linken Straßenkünstlern namens OrKestrA, der Anna angehörte, ausspionierte. Nun hat Kennedy das Gefühl, in Großbritannien bestimmte Dinge nicht länger sagen und schreiben zu dürfen. Seither ist sie heimatlos, noch heimatloser, wie man es als Linke oder Linker ohnehin ist. Sie kämpft gegen die „Stilzchen“, von denen es in letzter Zeit nur so wimmelt und die uns besitzen, aussaugen und klein machen wollen. Anna hat mit den Schülern ihrer fünften Klasse Grimms Märchen vom Rumpelstilzchen gelesen und besprochen. Sie sind sich einig, dass sie keinen Handel mit jemandem eingehen werden, der zwar Stroh zu Gold spinnen kann, sich dann aber als fieser Kobold entpuppt, und dass es wichtig ist zu lernen, das Böse bei seinem Namen zu nennen. Man kann alle Ungeheuer besiegen, wenn man weiß, wer sie sind und wie sie heißen. Wenn wir die Stilzchen und Vampire in die Flucht geschlagen haben, könnten wir gemeinsam etwas aus unseren Ländern machen, was den Namen Heimat verdient und in dem Barmherzigkeit gedeiht. „Das Problem ist“, sagt Kennedy, „dass unser öffentlicher Diskurs Barmherzigkeit verachtet und ins Abseits schiebt. Aber Barmherzigkeit ist, was dich rettet, und wenn du gegenüber jemandem barmherzig bist, der die mit Barmherzigkeit begegnet, rettet ihr euch gegenseitig.“ Das ist eigentlich, etwas prosaischer ausgedrückt, die Idee des Sozialstaats, den man in Schweden „Folkhemmet“, Volksheim, nannte oder nennt. Soziale Demokratie ist eine unvergleichliche Erfindung, die das Bedürfnis des Menschen nach Sicherheit, Geborgenheit und Zusammengehörigkeit mit seinem Verlangen nach Freiheit und Selbstverwirklichung vereint. Keiner soll mehr ohne Arbeit und Versorgung und ein Dach über dem Kopf sein, und alle Schulkinder erhalten täglich eine Mahlzeit und alle haben Anspruch auf unentgeltliche Krankenversorgung und eine sichere Rente. Das ist es letztlich, was A. L. Kennedy unter Barmherzigkeit versteht. Nun muss sie erleben, wie all diese Errungenschaften vor die Hunde gehen und statt Solidarität Feindseligkeit und Gleichgültigkeit unter den Menschen zunehmen. Und wir sind zu bequem und medial eingelullt, um Demokratie und Sozialstaat wirksam verteidigen zu können. Die Stilzchen haben uns fest im Griff.
- A. L. Kennedy: Als lebten wir in einem barmherzigen Land, Hanser-Verlag, München 2023
- A. L. Kennedy: Der Kern der Dinge, Geparden-Verlag, Zürich 2023
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Ein Kanu legte neben mir an, dem zwei Menschen entstiegen. Es handelte sich um eine Lehrerin und einen Lehrer, die mit ihrer achten Klasse eine Kanufahrt auf der Lahn unternahmen. Sie waren am Vormittag in Fronhausen gestartet und wollten nun in Gießen ihre Tour beenden. Die Flotte war weit auseinandergezogen. Die ersten Kanus hatten bereits vor einer halben Stunde den Steg passiert, da war von den letzten noch immer nichts zu sehen. Dabei blieb das pädagogische Personal erstaunlich gelassen. Sie holten sich im nahegelegenen Lokal ein Getränk, setzen sich in aller Ruhe auf den Steg und warteten auf die Nachzügler. Zwei ältere Damen, die auf dem Steg ihren mitgeführten Proviant verzehrten, wunderten sich über die Sorglosigkeit der beiden Lehrpersonen. Die Schüler könnten kentern und dabei Schaden nehmen. Die Schüler seien keine Kinder mehr, könnten alle schwimmen, warum also sich Sorgen machen? Im Laufe der nächsten Viertelstunde trafen dann die noch fehlenden Boote samt Insassen wohlbehalten ein. Vor allem die Schülerinnen stöhnten und klagten über Blasen an den Händen. Sie wurden eingewiesen und man verabredete sich an einem bestimmten Punkt in Gießen, wo ein Bus wartete, der sie nach Hause bringen sollte. Als endlich wieder Ruhe eingekehrt war, wandte ich mich meiner Lektüre zu. Und der Beobachtung von einem Eisvogelpaar, das am anderen Ufer auf Fischfang ging. Manchmal ist eine kleine Unterbrechung meiner Einsiedelei ja auch ganz angenehm. Bei A. L. Kennedy stieß ich prompt auf den passenden Satz zu meinem bevorstehenden Bad im Fluss: „Natürlich kann er nicht im selben Fluss schwimmen. Ein Fluss ist nie derselbe.“
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„Man wirft den jungen Leuten den Gebrauch der Gewalt vor. Sind wir denn aber nicht in einem ewigen Gewaltzustand? Weil wir im Kerker geboren und großgezogen sind, merken wir nicht mehr, dass wir im Loch stecken mit angeschmiedeten Händen und Füßen und mit einem Knebel im Munde.“
(Georg Büchner)
Wer die Kontraste-Sendung vom 25.Mai über Rechtsradikale in Brandenburg gesehen hat, wird Sympathien für Lina E. aus Leipzig empfinden, die mit einer Gruppe militanter Linker gewaltsam gegen Nazis vorgegangen ist. Sie wurde dieser Tage vom Oberlandesgericht Dresden zu fünf Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Als ich in dem Kontraste-Beitrag sah, wie Nazis in Teilen Brandenburgs auftreten und mit welcher Brutalität sie gegen Andersdenkende vorgehen, stiegen in mir Rachegelüste auf, deren Vollstreckerin Lina war und ist. Auch linke Bewegungen bedürfen solcher Rachegestalten, die stellvertretend für uns, die wir weitgehend in Passivität verharren und die Dinge geschehen lassen, Rache üben und sich wehren. Man denke nur an die bewaffneten Banditen Italiens, die hier Briganten hießen und in die Berge gingen und die Patrones gelegentlich gewaltsam zur Rechenschaft zogen. Die jungen, ungebundenen Burschen waren die Delegierten der dörflichen Gemeinschaft und übten in deren Namen Rache. Da musste man den anderen nichts umständlich erklären. Carlo Levi hat das Brigantenwesen im Süden Italiens in seinem wunderbaren Roman Christus kam mur bis Eboli beschrieben. Wie oft habe ich in Situationen der Demütigung und Kränkung davon geträumt, über die Kraft und die Fähigkeiten von Bud Spencer zu verfügen und einen Demütiger mit einem mächtigen Fausthieb außer Gefecht zu setzen! Und dennoch sollte uns Linken dann doch die Vernunft in den zum Schlag erhobenen Arm fallen. Es ist etwas anderes, ob es im direkten Handgemenge zu Gewalt gegen den politischen Gegner kommt, oder ob man ihm auflauert und mit einem Hammer traktiert. Der Kampf um eine menschliche Gesellschaft steht nicht nur unter dem Gesetz des revolutionären Pragmatismus, sondern auch der revolutionären Moral. Linke kennen den dialektischen Zusammenhang von Mitteln und Zielen, oder sollten ihn kennen. Das Ziel – die befreite Gesellschaft – muss in den angewandten Mitteln aufscheinen. Losgelöste Gewalt gegen Funktionsträger des Systems oder politische Gegner gehört nicht zu diesen Mitteln, sondern verwandelt sich hinter dem Rücken der Akteure in ein Instrument, den Kampf für die Einrichtung einer menschlichen Gesellschaft insgesamt zu diskreditieren. Sie stärkt das repressive Potenzial der herrschenden Gesellschaftsordnung – ohne die Opposition gegen die wachsende Repression zu aktivieren. Nun ist es natürlich so, dass jede militante Opposition sich einer zunehmenden Unterdrückung aussetzt. Das ist kein Grund zum Verzicht auf Widerstand und Opposition, sonst hätte es nie einen geschichtlichen Fortschritt gegeben. Der militante Widerstand muss der regulativen Idee der Befreiung verpflichtet sein und bedarf der Rückendeckung durch große Teile der Bevölkerung, die sich in ihm wiedererkennen und die Aktivisten schützen. Bis das hierzulande so sein wird, werden wir noch viel mühsame Aufklärungsarbeit zu verrichten haben. Vielleicht kommen wir auch zu spät und haben keine Chance mehr, etwas auszurichten. Ich habe es neulich schon mal gesagt: Mir graut davor, dass Leute wie die, die in diesem Film zu sehen waren, wie sie auf einen am Boden liegenden Migranten eintraten, eines Tages an die Macht kommen und sich mit dem, was sie tun, im Einklang mit einer völkischen Regierung befinden. Sympathien großer Teile der Bevölkerung genießen sie jetzt schon, aber noch fehlt ihnen die offene Rückendeckung durch die Macht und „die da oben“.
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„Viel länger als ein halbes Jahr habe ich jedenfalls niemals in diesem Zeitraum hintereinander am gleichen Ort gewohnt …“
(Erich Mühsam)
Eine Entenmutter mit elf Kleinen schwimmt vorüber. Neugierig nähern sie sich, um zu schauen, ob es bei mir etwas zu holen gibt. Gibt es natürlich nicht, wie sie schnell merken. Sie ziehen weiter und stillen ihren Hunger, indem sie am Ufer Wasserpflanzen rupfen. Das ist auch besser so. Seit Tagen ist die Luft über dem Fluss voller Pappelsamen. Manchmal, wenn Wind aufkommt, sieht es wie Schneetreiben aus. Die Wasseroberfläche ist von einem Flaum bedeckt, an den Rändern verdichtet sich der Pappelsamen zu einer Art schwimmendem Teppich. Nach dem Schwimmen muss man sich die Flocken absammeln, in den Barthaaren sitzen sie besonders hartnäckig fest. Ein Storch mit großer Spannweite gleitet über den Fluss. Er kommt bei dem heftigen Wind ohne jeden Flügelschlag voran. Am gegenüberliegenden Ufer fischen die Eisvögel, ihr Gefieder schillert blau-grün und rot. Ich sitze einfach nur da und schaue, was in der Restnatur los ist. Zwischendurch lese ich in den Unpolitischen Erinnerungen von Erich Mühsam, die sehr unterhaltsam sind. Eine Triggerwarnung: Auf Seite 110 verwendet Erich Mühsam das Wort Neger: „Ich mietete mich in der Rue des Martyrs im ‚Hotel des deux Hémisphères‘ ein, in dem zumeist Artisten wohnten, Zirkusreiterinnen, Neger, eine ganz internationale Schar, mit der ich gute Nachbarschaft hielt.“ Wer sich darüber aufregt, dass ein Anarchist Anfang des 20. Jahrhunderts das Wort Neger verwendet, dem ist nicht zu helfen. Ich sah neulich eine Lehrerin weinen, als sie begründen sollte, warum sie sich weigert, mit ihrer Abiturklasse Wolfgang Koeppens 1951 erschienenen Roman „Tauben im Gras“ zu lesen. Ich würde nicht Koeppens Roman aus dem Verkehr ziehen, wie es die eifernde Lehrerin forderte, sondern diese Lehrerin.
Was für ein unruhiges, umtriebiges Leben Mühsam geführt hat und welchen Menschen er dabei begegnet ist! Viel Zeit verbringt er in Kneipen und Cafés, wo sich die Boheme trifft. Zum Beispiel im Berliner Café des Westens, das er so schildert, als wäre es ein heutiges Szenelokal: „Große Mode war der Ästhetizismus, die Müdigkeit, der Absinth, das Morphium, die Blasiertheit und in Liebesdingen jedwede Anomalie. Das Sinnlose wurde als Sinn des Lebens proklamiert, das Wesenlose als Wesen der Welt.Soziale Empfindungen waren Gegenstand spitzigen Spottes, Mitgefühl mit Leid und Gebresten war zulässig als Würze genießerischer Selbstbespiegelung. Ich galt als hoffnungsloser Rationalist, meine Anteilnahme an den Kämpfen und Sorgen der Arbeiterklasse als Verrücktheit oder Pose.“
Vor ein paar Tagen stand am Weg ein uraltes Kinderklappstühlchen, das ich mitnahm und auf das ich mich nun zum Lesen setze. Man muss sich vorsichtig draufsetzen, sonst kippt man leicht nach hinten um. Abends verstecke ich es in der Gabelung eines Baumes. Am zweiten Tag ist es verschwunden.
Ein Tretboot mit multiethnischer Besatzung nähert sich. Vier Typen sitzen drin und lachen. Zwei treten vorn, die beiden anderen fläzen sich hinten so hin, die Köpfe in den im Nacken verschränkten Händen, die Beine ausgestreckt. Eine Haschischwolke wabert um das Boot herum und breitet sich über dem Fluss aus. Es ist ungewöhnlich, dass es ein Tretboot so weit die Lahn hinauf schafft. Eine halbe Stunde später kehren sie um, immer noch kiffend und lachend.
Als ich meinen Rucksack packe, fällt mein Blick auf etwas Blaues, das durch den Rost ins Wasser gefallen sein muss. Es scheint Us kostbares Taschenmesser zu sein, das sie vor einiger Zeit aus Frankreich mitgebracht hat. Mit dessen Hilfe hat sie vor ein paar Tagen eine Melone zerschnitten. Von oben war nicht dranzukommen, also muss ich nochmal die Hose ausziehen und in den Fluss steigen. Am hinteren Teil des Stegs ist der Grund morastig und ich versinke bis zu den Knien im Schlamm. Langsam taste ich mich zu der Stelle vor, wo das Messer liegt. Ich brauche allerdings noch einen Stock, um dranzukommen. Nach einigen Fehlversuchen bekomme ich es zu packen und kann es bergen. Us Freude ist groß – und ich freue mich über ihre Freude. Sie hatte den Verlust des Messers noch gar nicht bemerkt.
Als ich in die Stadt zurückkehre, stoße ich vorn an der Ampel auf eine kleine Gruppe von Studenten. Eine junge Frau sagt gerade: „Ihr wollt euch heute Abend schon wieder betrinken? Ich glaube, ich pausiere heute mal. Mir ist noch schlecht von gestern.“
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Heute ist der 2. Juni. Vor 56 Jahren fing alles an – mit der Ermordung von Benno Ohnesorg.
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„Geschichte ist das Muster, das man hinterher in das Chaos webt.“
(Carlo Levi)
Eine Episode aus Levis Roman geht mir nicht aus dem Sinn. Giovanni ist ein kleiner Junge aus dem Dorf Aliano, in dem Levi die Zeit seiner Verbannung verbringen musste. Giovanni kam beinahe jeden Nachmittag vorbei und Levi schenkte ihm seine leeren oder fast leeren Farbtuben. Giovanni begann, mit Levi zusammen zu malen. Levi schildert ihn als einen „begeisterten Bub“ mit großem künstlerischen Talent. Da er ein Bauernsohn aus Lukanien war, wurde auch er Bauer. Sein Talent konnte sich nicht entfalten und verkümmerte unter den täglichen Pflichten und Verrichtungen. Schon mit seiner Geburt stand fest, was aus Giovanni einmal werden würde. Die Vergangenheit des Großvaters war die Gegenwart des Vaters, und dessen Gegenwart markierte die Zukunft des Sohnes. Eine eherne Abfolge der Generationen, aus der es keine Möglichkeit zu entkommen gab. Erst in der Gegenwart reißt diese Kette zwischen den Generationen ab und die jungen Leute in Lukanien sind ihren ihren Altersgenossen in Tokio oder Miami ähnlicher als ihren leiblichen Vätern und Müttern. Ob das tatsächlich die Befreiung ist, als die sie von der Verfechtern des heiligen Marktes gepriesen wird, wurde von Pasolini, Bufalino und auch Levi bezweifelt. Die zweifellos gewachsenen Wahlmöglichkeiten wurden mit einem enormen Verlust an Lebenswissen und der Einbettung in Traditionen bezahlt. Das freie Markt- und Geldsubjekt ist einsam, heimatlos und unglücklich und wird zunehmend ein Fall für die Psychiatrie und die Pharmaindustrie.
Giovannis Tochter erzählt in einem Radio-Feature von ihrem Vater und seiner Beziehung zu Carlo Levi, den sie hier alle gemocht hätten – nicht nur, weil er, der nicht nur Schriftsteller und Maler, sondern auch Arzt war, alle kostenlos behandelt hatte: https://www.youtube.com/watch?v=Ls8zqQ3l8r8 Kurz vor seinem Tod im Jahr 1975 ist Carlo Levi übrigens noch einmal an den Ort seiner Verbannung zurückgekehrt.
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Eine Frau fährt am Sonntagvormittag mit ihren gigantischen weißen SUV durch die Fußgängerzone. Sie hält vor einen dieser Bubble-Tea-Läden, lässt die Scheibe runter und brüllt ihre Bestellung in Richtung der jungen Frau, die drinnen Dienst tut. Die bringt dann auch prompt das sogenannte Getränk in einem großen Plastikbecher, aus dem ein fetter Trinkhalm ragt, ans Auto. Die Frau reicht diesen nach hinten weiter, wo ihr Früchtchen bereits sehnsüchtig auf das Zuckerwasser wartet. Sie zahlt und fährt dann durch die Fußgängerzone zurück. Es sind diese kleinen Dinge, die Hoffnung machen, dass die Energiewende gelingen und der Klimawandel gestoppt werden kann.
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„Gerechtigkeit gibt‘s im Jenseits, hier auf Erden gibt‘s das Recht.“
(William Gaddis: Letzte Instanz)
In Folge 64 der DHP, die unter dem Titel Die Normalisierung des Grauens erschienen ist, habe ich von der Messerattacke eines jungen Mannes aus Eritrea auf zwei Schülerinnen in Illerkirchberg bei Ulm berichtet, die zufällig seinen Weg kreuzten. Eine von ihnen erlag den schweren Verletzungen, die der Mann ihr zugefügt hatte, die andere kam mit dem Leben davon. Seit letzter Woche steht der Mann nun vor dem Ulmer Landgericht und schweigt. Interessant finde ich, dass die Gemeinde die Flüchtlingsunterkunft, aus der der Täter auf die Straße trat und die beiden Mädchen attackierte, abreißen ließ. Das Gelände wurde planiert und Gras eingesät, das damit symbolisch auch über die Sache wachsen soll. Ein archaisches Verfahren, das man früher Wüstung nannte. In einem Haus ist ein Mord begangen worden, nun wird das Haus niedergerissen. Damit soll das durch die Tat gestörte Gleichgewicht wiederhergestellt werden. Die Tat soll in gewisser Weise ungeschehen gemacht werden. Wir reduzieren alles auf den Täter und dessen individuelle Schuld. Diese wird taxiert und in Zeit umgerechnet, die dem Täter von seiner freien Lebenszeit abgezogen wird und die er hinter Gittern verbringen muss. Der große Blaise Pascal sagte: Wir haben die Macht der Richter erfunden, weil wir das Recht nicht finden konnten! Das, was wir pathetisch Rechtsordnung nennen, ist in Wahrheit unser Versuch, ein verworrenes Gefüge zu stiften, das ein leidliches Zusammenleben ermöglicht. Seien wir froh, dass wir es (noch) haben. Ein Blick in Weltgegenden, wo man sie abgeschafft oder nie eingeführt hat, lehrt einen das Fürchten. Die Rechtsordnung bietet leidlich Schutz vorm Lynchen und willkürlichem Wegsperren. „Leidlich“ muss man leider sagen, denn Unrecht gibt es auch im Rechtsstaat. Das habe ich während meiner Arbeit im Gefängnis immer wieder mal erfahren und mitbekommen.
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Gestern sah ich auf 3sat einen Film über die österreichische Provinz Wachau und erfuhr nebenbei, dass es über weite Strecken keine Brücken über die Donau gibt. Man ist auf Fähren angewiesen, wenn man ans andere Ufer gelangen will. Als Fährleute wurden lange Zeit nur Leute eingestellt, die nicht schwimmen konnten, und es war ihnen auch danach verboten, schwimmen zu lernen. Der Grund ist einleuchtend: Sie sollten in Gefahrensituationen das Schiff nicht verlassen können, sondern darum kämpfen, sich selbst zu retten – und vor allem Schiff und Fracht, also den Besitz des Eigentümers. Über die Bilanz dieses Schwimmverbotes erfuhr man in dem Beitrag nichts.
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Ich hatte vor circa zwei Jahren schon einmal von einem ähnlichen Zufall berichtet. Damals hörte ich im Radio einen Beitrag über John Steinbecks Buch Meine Reise mit Charley, und tage später stieß ich auf dieses Buch in einem dieser öffentlichen Bücherschränke. Ich habe Anfang 2020 von meinen Leseeindrücken in der Zeitung junge Welt unter dem Titel Auf Rosinantes Rücken berichtet. Nun gab es eine Art Dé·jà-vu. Ich las in den Unpolitischen Erinnerungen von Erich Mühsam von Franziska zu Reventlow, die Mühsam – und nicht nur er – sehr verehrt hat. Dort sagt er am Ende eines ihr gewidmeten Kapitels: „Die Gräfin war eine schöne Frau, ihr Äußeres von strahlendem Reiz, und das Herz erfüllt von der Sehnsucht nach einer schönen und freien Menschenwelt.“ Zwei Tage später fand ich im selben Bücherschrank einen Band aus dem Jahr 1958, der drei Romane der Reventlow vereint. Unter anderem auch den Roman Der Geldkomplex, von dem bei Mühsam ausführlich die Rede ist. Als Widmung hat sie diesem Roman vorangestellt: Meinen Gläubigern zugeeignet. Franziska zu Reventlow erhält aus einer Erbschaft einen lang ersehnten Geldbetrag, der sie endlich ihrer Sorgen entheben sollte. Sie vertraut das Geld einer Bank an, die dann prompt pleite geht. Das Geld war vollständig beim Teufel. Sie nahm es mit dem ihr eigenen Humor und setzte ihr Bohème-Leben fort. Alle waren ständig blank und pumpten sich irgendwo Geld, schnorrten sich so durch. Auch Mühsam war ein Meister dieser Lebensform. Die Nazis haben ihn deswegen und wegen seiner anarchistischen Gedanken gehasst und nahmen ihn nach dem Reichstagsbrand umgehend fest. In der Folge wird er in verschiedenen Gefängnissen gequält und gefoltert, bis man ihn schließlich im Juli 1934 im KZ Oranienburg ermordet.
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