99 | Paul Austers Spinne

„Er war, so hoffte er, ein mehr oder weniger vernünftiger Mensch, aber in diesen aufgeheizten Tagen wirkte alles, was gegen das Steinewerfen sprach, zunehmend unvernünftig, und wenn schließlich der erste Stein geworfen wurde, würden Fergusons Sympathien dem Stein gelten und nicht dem Fenster.“

(Paul Auster: 4321)

„Wär‘ geil, wenn ihr unsere Pflanzen nicht klauen oder vom Balkon herunterreißen würdet“, hat einer der am meisten von nächtlichem Vandalismus betroffenen Nachbarn auf Zettel geschrieben, die er an seinem zur Straße gelegenen Balkon angebracht hat. Ich habe starken Zweifel an Nutzen und Wirksamkeit dieser Plakataktion. Als würde der gemeine Vandale erst lesen, bevor er sein sinnloses Zerstörungswerk beginnt. Und nach der Lektüre denken: „Mensch, die Leute haben ja eigentlich recht!“ Wenn Vandalen vor ihrem Wüten eine Pause der Besinnung einlegten, wären es keine Vandalen, dachte ich beim Weitergehen. Auch das Anwanzen an die vermeintliche Vandalen-Sprache finde ich peinlich und sinnlos. Der Vandale hat keine Sprache, seine Sprache ist die blinde Zerstörung, seine Haltung ein amorpher Negativismus, der gegen Argumente und vernünftige Einwände perfekt abgedichtet ist. Gegen den Vandalismus ist erst einmal kein Kraut gewachsen. Das einzige denkbare Gegenmittel wären tragfähige Bindungen – an Mitmenschen und das Gemeinwesen. Der Vandalismus grassiert besonders in Quartieren, in denen die Einwohner sich der Gemeinde wenig verbunden fühlen und keine oder nur rudimentäre nachbarschaftlichen Beziehungen existieren. Solche Dinge lassen sich nicht dekretieren und staatlicherseits und von oben einführen. Sonst wären sie nur Sozialtechnik und also ein neuerlich vergeblicher Versuch eines Brückenschlags. Vandalismus ist ein genauer Indikator für den Grad der Integration beziehungsweise Desintegration, der in einer Gesellschaft herrscht. In einer stark integrierten Gesellschaft sind die Hauptzwecke allen gemeinsam, und das Ziel, das die Allgemeinheit sich setzt, wird für jeden zu einer Forderung. Es müsste eine freie, sozialistische Gesellschaft sein, sonst wäre die Gemeinsamkeit betrügerisch und verlogen. In einer klassengespaltenen Gesellschaft basiert Harmonie entweder auf Manipulation, also dem betrügerischen Vortäuschen gemeinsamer Interessen, oder auf Terror und Gewalt. Der alchimistische Terror zwingt das Widersprüchliche zusammen und hindert den Austrag der Konflikte. Bis sie sich eines Tages umso katastrophaler äußern.

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Von diesem Pokalendspiel werden nur die Bengalos in Erinnerung bleiben und die ständigen und also sinnlosen Aufforderungen des Stadionsprecher, diese doch bitte nicht abzufackeln. Im Minutentakt ergingen diese Aufforderungen an die Zuschauer, besonders die aus Kaiserslautern, die sich in puncto Feuerwerkskörper offenbar besonders hervortaten. Genutzt hat es nichts. Das Spiel war derart ereignisarm, dass ich mich geärgert habe, es angeschaut und Lebenszeit damit verschwendet zu haben. Eigentlich ein Nullzunull-Spiel – mit einem Kunstschuss von Granit Xhaka zum 1:0, leider bereits in der 16. Minute. Aber in meiner Euphorie über das Ende der Bayern-Hegemonie und die zahlreichen schönen Bayer-Tore in den letzten Monaten habe ich mich verleiten lassen, den Abend mit Fußball-Glotzen zu verbringen und auf Mehr zu hoffen. Aber da kam nichts mehr. Ich fürchte, der gestrige Abend hat einen Vorgeschmack von dem vermittelt, was uns die Europameisterschaft bescheren wird. Gestern gab es jedenfalls kein Gran Euphorie oder gar Enthusiasmus, die uns die Hohepriester des Fußballs und des mit ihm zu erzielenden Profits ständig verheißen. Die Verwendung dieses hehren Begriffs im Kontext von Fußball und Massenkultur sollte sich eigentlich von selbst verbieten. „Enthusiasmus“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie: Von den Göttern durchdrungen sein, das Göttliche in sich tragen, die Durchdringung der menschlichen Existenz vom Heiligen. Kurzum, der Begriff stammt aus einer anderen Welt und sollte nicht zur Kennzeichnung derart profaner Dinge wie einem Fußballspiel oder einem Konzert von Taylor Swift verwendet werden.

Was in Deutschland, aber nicht nur dort, gerade schiefläuft, konnte man zum Beispiel bei diesem Pokalendspiel sehen. Unter den Augen zahlloser Polizisten und vor laufenden Kameras brennen Leute in einem vollbesetzten Stadion en masse Feuerwerkskörper ab. Das ist ja nicht nur verboten, sonder auch nicht ganz ungefährlich. Also keine sinnlose staatliche Anordnung, die es zweifellos auch gibt, sondern ein Verbot, das aus guten Gründen ausgesprochen wurde. Leute setzen aus Jux und Dollerei oder aus Indifferenz die Gesundheit anderer aufs Spiel und kommen damit durch. Die Leute wurden mindestens zwei dutzend Mal höflich aufgefordert das zu unterlassen, sicht- und spürbare Konsequenzen: Fehlanzeige. Man möchte vor laufenden Kameras keine unschönen Szenen produzieren und lässt sich stattdessen zwei Stunden lang auf der Nase herumtanzen. Die Weigerung mancher Zeitgenossen, sich an Regeln zu halten und Rücksicht auf andere zu nehmen, bleibt folgenlos. Und das vor den Augen eines Millionenpublikums. Kapitulation vor der Dummheit und Dreistigkeit, was ist das für ein Signal auch an junge Fernsehzuschauer? Die im Stadion anwesenden Schüler werden gedacht haben: Das erleben wir tagtäglich in der Schule. Die Lehrerinnen und Lehrer ordnen etwas an und können die Umsetzung dieser Anordnung nicht garantieren. Sie sind ohnmächtig und wir können letztlich machen, was wir wollen. Es ist scheinbar überall so! Regeln und Anordnungen sind Kinkerlitzchen, nichts als unverbindliche Empfehlungen der Behörden, die man getrost ignorieren kann. Man macht, wonach einem ist und wozu man Lust hat. Regeln einhalten, ist etwas für Loser und Schwächlinge. Richtige Männer wählen AfD und lassen es im Stadion ordentlich krachen. Sie ziehen ins Stadion wie in einen Krieg.

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„Gegen die Zerstörung der Welt gibt es nur eine Verteidigung: den kreativen Akt.“

(Kenneth Rexroth, zitiert nach Paul Auster 4321)

Einen bestimmten Geschichtsabschnitt wird das Haus, das im Zentrum von Jenny Erpenbecks Roman „Heimsuchung“ steht, von einem Architekten bewohnt, der zahlreiche Spuren am und im Haus hinterlassen hat. Kurz bevor die Behörden ihn festnehmen wollen, flieht er nach Westberlin und lässt schweren Herzens sein Haus zurück. Ein letztes Mal geht er über die Sandsteinplatten, die er zum Garten hin gelegt hat. Einmal noch steigt er die Treppe hinauf, die an bestimmten Stellen knarrt und knarzt. Durch dieses Fenster hat ihn unlängst ein Marder angestarrt und umgekehrt. „Heimat planen, das ist sein Beruf. Vier Wände um ein Stück Luft, ein Stück Luft sich mit steinerner Kralle aus allem, was wächst und wabert, herausreißen, und dingfest machen. Heimat. Ein Haus die dritte Haut, nach der Haut aus Fleisch und der Kleidung. Heimstatt. Ein Haus maßschneidern nach den Bedürfnissen seines Herrn. Essen, Kochen, Schlafen, Baden, Scheißen, Kinder, Gäste, Auto, Garten.“

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Dieser Tage sah ich Bilder vom sogenannten D-Day. Am 6. Juni 1944, also vor achtzig Jahren, landeten alliierte Truppen aus den USA, Großbritannien, Kanada und Frankreich an den Stränden der Normandie und liefen zunächst einmal in gänzlich ungeschütztem Gelände ins Maschinengewehrfeuer der Deutschen. Der Strand war von Leichen übersät, das Wasser vom Blut rot gefärbt, die Verluste enorm hoch. Rund 10.000 alliierte Soldaten starben am Tag der Landung oder wurden verletzt. Dann begann die Befreiung der Normandie, die den Untergang Nazi-Deutschlands einleitete. Endlich wurde die lange geforderte Zweite Front eröffnet, die die sowjetische Armee entlastete, die bislang die Hauptlast des Krieges getragen hatte. Gerade angesichts des Abwehrkampfes der Ukraine gegen Russland sollten wir uns daran erinnern, dass es unter anderem 20-jährige Farmersöhne aus Wisconsin und Arkansas gewesen sind, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, um Europa von der Nazi-Tyrannei zu befreien. All jene, die sich nun gegen Waffenlieferungen an die Ukraine aussprechen, müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, den Feinden der Freiheit in die Hände zu spielen. Pazifismus ist angesichts einer solchen Bedrohung objektiv Hilfeleistung für den Totalitarismus. Gerade wir Deutschen sollten nicht vergessen, dass wir das, was wir bis heute an Freiheit genießen, der Einsatzbereitschaft alliierter Soldaten und ihren Waffen verdanken. Wie wäre die Geschichte ohne schlagkräftige Waffen und mutige Soldaten verlaufen?

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Am Sonntagmorgen höre ich, während ich das Frühstück zubereite, manchmal die Sendung „Kakadu“, das Kinderprogramm von Deutschlandfunk Kultur. Der Sender ist halt eingestellt und so läuft er auch am Sonntagvormittag. Aber ich finde es auch interessant, in eine solche Kindersendung mal reinzuhören. Diesen Sonntag sollten Kinder dafür gewonnen werden, sich an der Insektenzählung zu beteiligen, die vom 31. Mai bis zum 9. Juni stattfinden soll. Die Moderatorin telefonierte mit Kindern und fragte sie nach ihren Interessen an und ihren Kenntnissen über Insekten. Irgendwann war ein neunjähriger Dreikäsehoch aus Berlin am Telefon, dessen Antwort auf die Frage, ob er sich an der Zählung beteiligen werde, mich verblüffte: „Die Woche über habe ich für so etwas keine Zeit.“ Der Terminkalender dieses Kindes ist bereits jetzt derart gefüllt, dass für solche Kinkerlitzchen kein Raum bleibt. „Eng getaktet“, nennt man das in diesen Kreisen. Unter den Kindern, die beim Deutschlandfunk anrufen, ist der Anteil von altklugen Bourgeoisiefrüchtchen relativ hoch. Die Eltern, die noch ein bisschen pennen wollen, sagen zu ihren Wunderkindern: „Ruf doch mal beim Kakadu an!“, drehen sich rum und schlafen noch eine Runde weiter. Dann hat die ukrainische Haushaltshilfe den Tisch fürs Frühstück gedeckt, und der künftige Chef darf stolz erzählen, wie es ihm am Telefon ergangen ist und wie er es den Losern gegeben hat, die ihre Zeit mit Insektenzählen verplempern – während er sein erstes Startup-Unternehmen gründet und an die Börse führt.

Apropos Insekten zählen: Sagt die Mutter auf dem Balkon zu ihrem Sprössling: „Nein, Liam, diese Fliege hatten wir vorhin schon! Die darfst du nicht nochmal zählen.“

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„… so hatte er es gelernt, leider war inzwischen dem, was er gelernt hatte, die Wirklichkeit abhanden gekommen.“

(Jenny Erpenbeck)

Mit diesem „Veralten von Lebensprogrammen“, wie es Alexander Kluge ausgedrückt hat, habe ich mich seit vielen Jahren und immer wieder beschäftigt. Es scheint mir ein zentraler Aspekt zu sein, wenn es darum geht zu verstehen, mit welchen Leidenserfahrungen der Wirklichkeitsverlust einhergeht, von dem viele, vor allem ältere Menschen bedroht sind. Die gesellschaftlich-sozialen Umbrüche der Gegenwart lassen ein Klima entstehen, das voller Ängste und regressiver Gefahren steckt. Massen von Menschen befinden sich in der Lage von Hebbels Meister Anton, der die Welt nicht mehr versteht. Sie erleben die Modernisierungs- und Abstraktifizierungsschübe der Gegenwart als Zugleich von Wirklichkeitsverlust, Erfahrungs- und Identitätsberaubung und reagieren gereizt auf die Vielzahl unverständlicher neuer Verhaltenszumutungen. Von rechtspopulistischen Parteien erhoffen sie sich eine Rückkehr zum Gewohnten und Althergebrachten. Irgendwann soll die äußere Realität wieder zu den inneren Texten passen, die sie als Begleittext und Kommentar zur Realität sprechen. Realitätsstruktur und Identitätsstruktur gehen nicht mehr synchron. Lebensprogramme bilden sich in Kindheit und Jugend aus und sollten dann, wenn es gut geht, ein Leben lang Orientierung stiften. Nun ist die heutige Lege dadurch gekennzeichnet, dass das, was Hänschen gelernt hat, dem Hans nichts mehr nützt. Der Gendergerechtigkeit halber: Was Minchen gelernt hat, nützt Wilhelmine nichts mehr. In Kindheit und Jugend Gelerntes taugt angesichts des rasanten Tempos des gesellschaftlichen Wandels schon bald nicht mehr zur Orientierung. Im Gegenteil: Das Festhalten am Erlernten und die Treue zu erworbenen Einstellungen trägt zur Verunsicherung bei. Man kann aber Gewohnheiten nicht einfach wegwerfen wie ein altes Wischtuch und sich einfach bei Amazon ein neues bestellen. Entweder man geht mit der Zeit, wie man so sagt, oder man läuft Gefahr, ins Abseits zu geraten. Solange man einer abseitigen Position einen Sinn abgewinnen kann, lässt sie sich ertragen. Bricht dieser Sinn auch noch weg, wird die Lage brenzlig. Man kann an den Ver-Rückungen, die man erleidet und die an einem vorgenommen werden, auch verrückt werden. Deutungen passen irgendwann auf kein Lebensgelände mehr so richtig. Die Stadt ist voller Menschen, denen genau das passiert ist. Auch ich bin nicht gefeit davor, obwohl ich die Kunst, Trauben, an die ich nicht herankomme (oder die ich nicht verstehe), für sauer zu erklären, zur Perfektion getrieben habe. Mal sehen, wie lang dieser mentale Schutzmechanismus noch funktioniert und mir zur Hilfe kommt. Ich merke natürlich, dass und wie ich zum Sonderling und seltsamen Kauz werde. Kein Smartphone zu besitzen und mit sich herumzutragen, ist ja bereits ein Stigma und eine Art von Behinderung.

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Was bin ich froh, dass ich beim Schreiben keiner Parteilinie folgen muss. Und keiner staatlichen Zensur unterliege. Die einzige Zensur, der ich mich – allerdings freiwillig – unterwerfe, ist die durch die Vernunft. Wer nicht weiß, was das für eine Instanz ist, woher sie stammt und aus welchen Quellen sie sich speist, dem kann ich nicht helfen. Die Quellen, aus denen sich meine Vernunft gespeist hat und speist, lege ich ja regelmäßig offen. Die Durchhalteprosa ist ja auch eine Quellensammlung der Ursprünge meiner Vernunft – und manchmal auch Unvernunft. Beides gehört zusammen.

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Gestern traf ich im Park den kroatischen Bauarbeiter, der genau wie ich seit einigen Jahren Rentner ist. Er erzählt mir oft, was er sich am Mittag gekocht hat. Darauf verwendet er große Sorgfalt und er verfügt für einen alten Hagestolz über ein erstaunlich reichhaltiges Repertoire an Gerichten. Wenn er unterstreichen möchte, wie gut ihm ein Essen gelungen ist, steckt er die Kuppe des Mittelfingers in den Mund und erzeugt mit den Lippen ein zartes schmatzendes Geräusch. Gestern saß er wie ein Großgrundbesitzer auf einer Bank in „seinem Park“, stützte sich auf seinen geschnitzten Stock und wies auf die frisch gemähten Wiesen um sich herum: „Ich habe mal mähen lassen“, sagte er schmunzelnd. Wie alle auf sich gestellten Menschen beobachtet er die Welt um sich herum genau und versucht, sich einen Reim auf die merkwürdigen und verstörenden Phänomene der Gegenwart zu machen. Manchmal schildert er irgendeine Szene und fragt dann: „Kannst du mir das erklären?“ Gestern lief eine über und über tätowierte junge Frau mit ihrem Kind an uns vorüber. „Was soll denn das Kind denken?“, sagte er kopfschüttelnd. Fürs Champions League-Finale am Samstag will er sich noch eine gute Flasche spanischen Rotwein besorgen, obwohl seine Sympathien auf Seiten von Dortmund liegen. Aus den Tagen, als die Mannschaft um Tilkowski, Kurrat, Emmerich und Held das Europapokalendspiel gegen Liverpool gewann, sind auch bei mir Restsympathien für Borussia Dortmund geblieben. Das war im Jahr 1966 und der BVB gewann den Europapokal der Pokalsieger nach Verlängerung durch Tore von Held und Libuda mit 2:1. Im Moment werden diese Restsympathien auf eine harte Probe gestellt, da sich der BVB für die nächste Saison den Rüstungskonzern Rheinmetall an den Sponsorenhals geschmissen hat. Ein Konzern, der sein Geld mit Waffen verdient, die weltweit in Kriegen zum Einsatz kommen und also Menschen töten. Wie geht das mit den „Werten“ zusammen, von denen auch im Fußball in letzter Zeit so viel die Rede ist?

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Ich taumele durch die Gegend wie ein betrunkener Somnambuler.

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Früher haben die Menschen mit ihren Händen Dinge hergestellt und zu diesem Zweck manchmal Maschinen benutzt, die die Wirkung ihrer Hände verstärkten. Heute sind die wenigen übrig gebliebenen Menschen Anhängsel der Maschinen. Die Maschinen stellen Dinge her, die Menschen schalten das Licht an und aus, fahren die Computer hoch und schließen abends die Türen ab. Das ist alles. Die Menschen liegen wie Fische auf dem Sand und japsen nach Anerkennung. Wer sie ihnen gibt oder verspricht, dem laufen sie nach.

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Zum Sylter Partyfaschismus fällt mir nichts ein. Jedenfalls nichts, was ich nicht in den letzten Jahren schon dutzende Male gesagt und geschrieben hätte. Auch diesen Typ des BWL-Nazis mit über die Schulter geworfenem Kaschmirpullover kenne ich seit Langem – unter anderem von den Terrassen der Verbindungshäuser. Schon Alfred Andersch wusste: Akademische Bildung schützt vor gar nichts! Es ist die Normalität der bürgerlichen Ordnung, aus der all das Schreckliche hervorwächst. Nur, wer zu nichts Bürgerlichem taugt, taugt auch nicht zum Faschisten, sagte mein verehrter Lehrer Peter Brückner.

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Die Zahl der Hinrichtungen weltweit hat im vergangenen Jahr deutlich zugenommen. Amnesty International dokumentierte nach eigenen Angaben für 2023 mindestens 1.153 Exekutionen in 16 Ländern. Das sei die höchste Zahl gerichtlicher Hinrichtungen seit 2015, heißt es in dem neuen Bericht.

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Saša Stanišić‘ neues Buch trägt den wunderbaren Titel: „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“. Sein Roman „Herkunft“ hat mich vor etlichen Jahren schwer beeindruckt.

Wieder mal habe ich ein Zettel unter dem Scheibenwischer an der Windschutzscheibe vorgefunden: „Ihr Fahrzeug wurde beim Einparken leicht beschädigt.“ Ich könne mich bei der Polizeistation Gießen-Süd melden. Hab geschaut und vor lauter Beulen und Kratzern nichts Neues entdecken können. Es ist sicher der zehnte Zettel dieser Art in den letzten Jahren. Ich würde die Dunkelziffer derer, die das Auto angedozzt haben, ohne einen Zettel zu hinterlassen, zehnfach höher ansetzen. Das Auto ist von kleinen und kleinsten Beschädigungen derart übersät, dass ich sie weder datieren noch zuordnen kann. So isses heutzutage in der Stadt.

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Auf dem Mannheimer Marktplatz sind am Freitag, dem 31.Mai 2024, bei einer Messerattacke vor einer Veranstaltung der islamkritischen Bewegung „Pax Europa“ sechs Menschen verletzt worden. Wie die Behörden mitteilten, gehören fünf Angehörige der Bewegung zu den Verletzten. Zudem habe der Angreifer einen Polizeibeamten mehrmals von hinten in den Bereich des Kopfes gestochen und ihm lebensgefährliche Verletzungen zugefügt. Ein anderer Polizeibeamter schoss auf den Angreifer, der dadurch ebenfalls verletzt wurde. Alle Verletzten seien in Krankenhäuser gebracht worden und hätten zum Teil notoperiert werden müssen. Nach Informationen des SWR ist der Täter ein 25-jähriger Mann, der aus Afghanistan stammt und im Jahr 2013 nach Deutschland gekommen sein soll. Er habe zuletzt im südhessischen Heppenheim gelebt, also etwa 30 Kilometer nordöstlich von Mannheim. Dem Staatsschutz war er bislang nicht aufgefallen. Er hat offenbar, obwohl seine Asylantrag abgelehnt wurde, einen gültigen Aufenthaltstitel für Deutschland. Die Attacke muss diesem Mann eine Herzensangelegenheit gewesen sein, sonst hätte er die Reise nach Mannheim nicht auf sich genommen. Ein islamistischer Fanatiker eben, der „zu allem in der Lage ist, aber sonst zu nichts“, wie Lichtenberg so trefflich formulierte.

Der schwer verletzte Polizist ist am Sonntag an den Folgen seiner Verletzungen gestorben.

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Wo gerade soviel Aufhebens um den Abschied von Marco Reus von Borussia Dormund gemacht wird, will ich mal richtig „nachtreten“ und unserem allzu kurzen Gedächtnis ein bisschen auf die Sprünge helfen. Vor ziemlich genau zehn Jahren, im Dezember 2014, notierte ich in meinem Tagebuch: Gestern berichtete die SZ über Marco Reus, der 540 000 Euro Strafe zahlen muss, weil er fünf Bußgeldbescheide bekommen hat wegen überhöhter Geschwindigkeit, und das, obwohl er keinen Führerschein besitzt und nie einen besaß. Er ist sieben Jahre lang ohne Führerschein gefahren. In der Süddeutschen Zeitung heißt es weiter: „Die Geschichte von Marco Reus erzählt mehr über das Milieu, in dem er tätig ist, als manche wissenschaftliche Abhandlung das könnte. Diese Geschichte erlaubt einen Blick in eine entrückte Welt, in der schon Talente über jedes Maß hinaus hofiert werden und gleichzeitig ungeschriebenen Regeln folgen müssen, um in der Parallelwelt einer Mannschaftskabine akzeptiert zu werden. Zu diesen Regeln gehört das Auto, dessen technische Daten ebenso den Stellenwert eines Spielers wiedergeben wie die Monströsität des Gehalts. Diese entrückte Welt hat eigene Rechts- und Moralvorstellungen, in ihr gibt es keine Behörden, bei denen man Autos anmelden muss, auch Flensburg liegt nicht in dieser Welt.“

Zur Erinnerung: Reus war 2014 bereits 25 Jahre alt und kein Teenie mehr. In der laufenden Saison, seiner letzten beim BVB, soll Reus ein monströses Gehalt von sieben bis acht Millionen Euro beziehen, von „verdienen“ kann in solchen Fällen ja nicht die Rede sein. Die Beträge sind derart obszön, dass es einem die Spreche verschlägt. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Kohle wandert in die Taschen von Tätowierern, Friseuren oder die Erweiterung und den Unterhalt des Fahrzeugparks. Oder man verspeist in seiner Verzweiflung vergoldete Steaks, wie weiland Ribery. Das vertreibt für eine Weile die innere Leere.

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Der stadtbekannte rechtsradikale Schwadroneur ließ sich dieser Tage über neuere Entwicklungen im Fußball aus, in Sonderheit bei Bayern München, das eigentlich sein Verein ist. „Gut, dass der Beckenbauer nicht mehr miterleben muss, dass ein Neger nun Trainer bei den Bayern ist. Weit hammer‘s bracht! Beim Strauß hätt‘s das nicht gegeben.“

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Es würde sich lohnen, eine Geschichte des libertären Sozialismus in Deutschland zu schreiben und ihn so dem Vergessen zu entreißen. Aber das übersteigt meine schwindenden Kräfte und Fähigkeiten. Namen von Menschen, die mir spontan einfallen und die Erwähnung finden müssten: Johann Most, Rudolf Rocker, Otto und Alice Rühle, Karl Korsch, Heinz Langerhans, Fritz Brupbacher, Max Hoelz, Augustin Souchy, Erich Mühsam, Gustav Landauer, B. Traven, aus unserer Generation Hans-Jürgen Krahl, Rudi Dutschke, Hans Peter Duerr, Helmut Reinicke, Ulrike Heider, um nur ein paar Namen zu nennen.

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Hab heute Morgen lange mit Günter telefoniert. Er lebt in Essen. Vor Kurzem ist seine Frau, mit der er ewig zusammen war, gestorben. Er hat eine Weile gebraucht, um den Kopf wieder über die Wasseroberfläche zu bekommen und leidet sehr unter dem Verlust. Ich habe Uli, seine Frau, auch sehr gemocht. Früher bin ich auf dem Weg von und nach Holland öfter mal bei ihnen vorbeigefahren und habe ein oder zwei Tage bei und mit ihnen verbracht. Wir kennen uns aus alten Sponti-Zeiten. Günter war damals Asta-Vorsitzender in Gießen und ein sehr quirliger-kluger Kopf. Er lachte gern und viel und war ein großer Musik-Freak Und er konnte etwas, was ich nie gekonnt habe: organisieren. Uli und er bewohnten eine Hofreite auf einem Dorf in der Umgebung von Gießen, in deren Innenhof wir rauschende Feste gefeiert und einige kulturelle Veranstaltungen durchgeführt haben. Bis wir uns vor einiger Zeit aus den Augen verloren, waren Uli und Günter wichtige Menschen in meinem Leben. Nun hat der traurige Anlass von Ulis Tod Günter mir wieder näher gebracht. Irgendwann wollen wir uns mal treffen und schauen, was wir miteinander anfangen können. Vielleicht verabreden wir uns mal am Edersee. Hier in meiner Bücherhöhle kann ich eigentlich niemand empfangen und schon gar nicht beherbergen.

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Das Elend in den westlichen Gesellschaften besteht im Kern darin, dass der Konsum seinem Wesen nach nihilistisch ist, keinen Zusammenhalt herstellt und keine stabile moralische Ordnung stiftet. Dem Geld ist alles egal und so auch seinem Zwilling: dem Konsum. Und gleichzeitig ist der Konsum alles, was diese Gesellschaften zu bieten haben. Jetzt, das das moralische Defizit so deutlich zutage tritt, bemüht man sich um sich um eine moralische Wiederaufforstung. Ich fürchte, sie kommt zu spät und kann das moralische Waldsterben nicht aufhalten. Den westlich-kapitalistischen Gesellschaften ist ihr Wozu unwiederbringlich abhanden gekommen. Sie werden zerfallen. Wie oft habe ich bereits diese Sätze von Christoph Hein zitiert: „Ein Mensch, dem der Lebenssinn abhandenkommt, wird Selbstmord begehen. Eine menschliche Einrichtung, sei es eine Familie oder sei es ein Staat, die nur noch – und sei es bestens – funktioniert, aber die nichts darüber hinaus verbindet, die von keiner gemeinsamen Idee oder Vision oder ideellem Interesse getragen und verbunden ist, ist tot und wird verfallen.“ Leider wird das, was danach kommen wird, noch schlimmer sein. Michel Houellebecq hat zum Thema Zerfall noch den wenig tröstlichen Gedanken beigesteuert: „Wenn es eine Idee gibt, die all meine Romane durchzieht, dann ist es die Idee von der absoluten Unumkehrbarkeit von Zerfallsprozessen, wenn sie einmal begonnen haben.“ Leider kann ich ihm in diesem Punkt nicht widersprechen.

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Vor einer Buchhandlung in der Fußgängerzone stehen draußen fahrbare Tische, auf denen Sonderangebote feilgeboten werden. Darunter auch ein Buch von Paul Auster. Durch „4321“ auf den Geschmack gekommen, hat er noch einen weiteren „Backstein“ fabriziert, der „In Flammen“ heißt und vom Leben und frühen Tod des amerikanischen Autors Stephen Crane erzählt. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich vor Austers Buch nichts von und über Crane wusste. Nun weiß ich immerhin, dass er fürs Erste ein junger Bursche war, „de sich zu orientieren versuchte, ein Grünschnabel, der im Wald herumstolpert und nach einem Weg ins Freie sucht“. Sowohl Crane als auch Auster würde es gefallen haben, dass gestern an einem der Exemplare von „In Flammen“, das draußen auf einem Stapel lag, eine winzige Spinne herumturnte und sich von der unteren rechten Ecke des Buches abseilte auf das Exemplar, das darunter lag. Plötzlich besann sie sich anders und kletterte wieder hinauf. So ging das ein paar Mal hin und her. Ich sah dem kleinen Tier, das sich in die Welt der Kultur verirrt hatte, eine Weile zu. Dann ging ich weiter und zurück nach Hause, wo die letzten 300 Seiten des vorigen Auster-Romans auf mich warteten.

Ich ging allerdings nicht direkt nach Hause, sondern machte, weil das Wetter ausnahmsweise angenehm war, noch einen Abstecher in den botanischen Garten. Im Eingangsbereich setzte ich mich auf eine Bank und schaute umher. Auf einem verwilderten Rasenstück ein paar Meter vor mir wuchsen Margeriten, violette Glockenblumen, Schafgarbe und ein paar rötliche Akeleien. Dicht daneben hatte sich eine Taube ins Gras gesetzt und dachte über ihr Leben nach. Das tat ich dann auch, bis mein Freunde Michael auftauchte und sich neben mich setzte. Wir sprachen über dies und das und gingen dann zusammen Richtung Stadt. Auf dem Weg zur Fußgängerzone drang wütendes Kindergebrüll an unsere Ohren. Als wir uns nach der Quelle des Lärms umschauten, erblickten wir einen vielleicht drei oder vier Jahre alten migrantischen Jungen, der seine Mutter oder Großmutter anschrie. Er beließ es allerdings nicht beim Anschreien, sondern trat ihr gegen die Beine und spuckte sie an. Die Frau ließ das alles mit stoischer Gelassenheit über sich ergehen, packte ihn schließlich bei den Armen und versuchte, das tobende Kind zu beruhigen. Der Junge heulte weiter vor Wut und schlug und trat nach seiner Mutter oder Großmutter. Da sich diese Szene unweit eines Spielzeuggeschäfts zutrug, vermutete Michael, dass man dem Kind einen Wunsch abgeschlagen hatte. Das Kind hatte offensichtlich noch nicht gelernt, mit Versagungen halbwegs angemessen umzugehen, und geriet darüber in eine grenzenlose Wut. In einer Atmosphäre des scheinbar grenzenlosen Konsums und prompter Wunscherfüllung können kleinste Versagungen als Vorboten eines drohenden Weltuntergangs und narzisstischen Kollapses gedeutet werden, gegen die Widerstand mit allen Mitteln geboten erscheint. Wenn diese Kinder keinen angemessenen Umgang mit Kränkungen erlernen, drohen sie sich zu menschlichen Bomben zu entwickeln, die bei der kleinsten Bedürfnisspannung zu explodieren drohen. Nur, wer Bedingungen angemessener Versagung vorfindet, kann psychische Strukturen entwickeln, die zwischen Außen- und Innenwelt, Gegenwart und Zukunft vermitteln. Das Kind lernt, dass zwar nicht alle Wünsche erfüllt werden, dass es aber realistisch ist, in der Versagung optimistisch zu bleiben und die Hoffnung nicht zu verlieren, dass eine Wunscherfüllung zu einem späteren Zeitpunkt und grundsätzlich möglich ist. Das neuartigen Entbehrungen ausgesetzte, im landläufigen Sinn „verwöhnte“ Kind, dem Versagungen erspart bleiben, identifiziert demgegenüber die Versagung eines Wunsches mit einem Versiegen der Quelle, aus der Befriedigung überhaupt kommt. Es kann nicht zwischen sinnvollen und sinnlosen Frustrationen unterscheiden, nicht prüfen, ob eine kurze Hunger- und Verzichtsperiode nötig ist, um spätere Befriedigung zu stabilisieren und zu sichern. Werden Wünsche in einem von Verwöhnung bestimmten Klima plötzlich versagt, kann ein primitiver Racheimpuls, der den eigenen Untergang in Kauf nimmt, manchmal nicht unterdrückt werden. Selbst kleine Enttäuschungen werden als Signal für eine drohende totale Versagung gedeutet. Gegen diese ist Kampf mit allen Mitteln geboten, um einer drohenden narzisstischen Katastrophe vorzubeugen. So etwas deuteten wir die Szene, deren Zeuge wir vor dem Spielzeugladen geworden waren. Vielleicht war der Knabe aber auch ein Anhänger der surrealistischen Maxime, derzufolge man seine Mutters schlagen soll, solange sie jung ist.

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In Gießen herrscht, wieder einmal, ein schier grenzenloses Verkehrschaos. Überall sind Straßenzüge gesperrt und Wege und Straßen aufgerissen. Unter meinen Fenstern staut sich in der sogenannten Fahrradstraße der Autoverkehr. Es stinkt nach Abgasen und ist laut. Ständig verliert irgendjemand die Nerven und hupt, als ließe sich so der Stau auflösen. Aber es scheint kurzfristig eine Entlastung zu bringen. Für den, der hupt, für alle anderen ist es eine weitere Zumutung.

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Vor etlichen Jahren habe ich beinahe süchtig die Tagebücher von Walter Kempowski verschlungen. In dem „Sirius“ betitelten Band geht es um das Jahr 1983. Anfang des Jahres beschreibt er mit dem ihm eigenen Sarkasmus seinen allgemeinen körperlichen Niedergang: „Vom Gedächtnis nicht zu reden. Mit Wortfindungsschwierigkeiten ging es los, vielleicht vor zehn Jahren. Nun erzähl‘ ich schon alles doppelt und dreifach, vergesse allerhand und denke manchmal: Bald wirst du nicht mehr wissen, wo du bist. Wie sagte noch Nahmmacher? ‚Erst merkt man es selbst, dann auch die anderen, dann nur noch die anderen.‘“ Zwischen Phase eins und zwei, spätestens aber in Phase zwei, muss man etwas unternehmen, sonst kann es plötzlich zu spät sein. Max Frisch hat im Gespräch mit dem inzwischen verstorbenen Gerhard Roth dazu gesagt: „Eines Tages kommt der Punkt, an dem man nicht mehr die Vitalität hat, sich umzubringen.“

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„Die Götter sahen von ihrem Berg hinunter und zuckten die Achseln.“

(Paul Auster)

Mir fällt auf, was für ein Aufhebens diesmal um die Europawahl gemacht wird. Jetzt, da es beinahe zu spät ist und Europa in die Hände von Rechtspopulisten zu fallen droht, wird darüber gesprochen und den Menschen erklärt, was für eine prima Idee und Errungenschaft Europa darstellt. Damit hätte man viel früher beginnen sollen! Und man hätte die Idee von Europa mit Leben füllen müssen. So haben es viele Menschen nur als bürokratisches und Geld verschlingendes Monstrum erlebt. In ganz Europa spielt sich der Kulturkampf zwischen den „Somewheres“ und den „Anywheres“ (David Goodhart) ab, zwischen lokalen und nationalen Besonderheiten und Bornierungen und kapitalistischer „Weltoffenheit“. In Teil 61 der DHP habe ich die These entfaltet, dass „das Geld queer ist“ und dass es ihm egal ist, welche sexuellen Präferenzen diejenigen aufweisen, die sich seiner Vermehrung widmen. „Märkte sind tolerant dem Privatleben gegenüber. Wen jemand anbetet und mit wem er oder sie schläft, geht niemanden etwas an“, heißt es bei Philipp Blom. Noch gibt es die Vertreter der älteren Psychoklassen, die an der guten alten Geschlechterordnung und traditionellen Werten festhalten. Sie stecken im Damals fest und erleben die Globalisierung als Frontalangriff auf ihre Welt. Sie bilden auf der ganzen Welt die menschliche Basis des Populismus, der ihnen eine Rückkehr zu ihrer Welt verspricht. Das Kapital hingegen sieht in den rückwärtsgewandten Kräften ein Investitionshindernis (siehe DHP 91) und setzt mehr und mehr auf das Lager der Anywheres und ihrer politischen Repräsentanten.

Mit ebenso großem medialen Aufwand wird eine neues „Sommermärchen“ beschworen. Jeden Abend werden wir vor der Tagesschau von den neuesten Entwicklungen rund um die Nationalmannschaft in Kenntnis gesetzt. Man gewinnt den Eindruck, dass der Erfolg herbeigeredet werden soll. Ein von Krisen geschütteltes, zerrissenes und gespaltenes Land sehnt sich nach den Wonnen der Gemeinsamkeit und möchte im Taumel sportlicher Erfolge zu einer Einheit verschmelzen. Der Fußball soll ein großes Wir über dem zerklüfteten Gemeinwesen entstehen lassen. Es wird so getan, als wäre das im Jahr 2006 so gewesen, und man möchte unbedingt eine Neuauflage des damaligen „Sommermärchens“. Viel ist von der vereinigenden Kraft des Fußballs die Rede, die sich allerdings nur dann einstellen kann, wenn dieser Fußball gut und erfolgreich gespielt wird. Daran habe ich im Fall der deutschen Mannschaft großen Zweifel. Dadurch, dass man die Farbe des Trikots wechselt und ein paar alte Heroen ausmustert und andere zurückholt, wird der deutsche Fußball, der seit Jahren ein lahmer, alter Esel ist, ja nicht schlagartig besser. Wir werden sehen, ob man Erfolg medial erzeugen kann.

Mitten in der durch Bauarbeiten extrem verengten Fußgängerzone steht ein junger Mann und fotografiert in aller Seelenruhe seine Brötchentüte. Hinter ihm bildet sich ein Fußgänger-Stau, was ihn aber nicht zu kümmern scheint. Auf der anderen Seite der Absperrung geht eine junge Frau vorüber, die weint. Auch davon nimmt niemand Notiz. Es fällt in der städtischen Anonymität keinem auf, vielleicht auch deswegen, weil es hierhin passt und die angemessene Reaktion auf das städtische Elend ist. Vor einem Geschäft mit automatisch sich öffnenden und schließenden Türen hockt ein Afrikaner mit riesigen Kopfhörern auf den Ohren am Boden und testet, auf welche Bewegung und ab wann der Mechanismus der Türöffnung anschlägt. Er scheint ein wenig verrückt zu sein, aber auch nicht verrückter, als die anderen um ihn herum. Das Ganze ist verrückt, nur merkt es keiner. Die Leute hasten umher und halten die große kapitalistische Profitmaschine am Laufen, die davon lebt, dass sie in ihnen das Bedürfnis nach Dingen weckt, die sie gar nicht brauchen und von deren Existenz sie nichts wussten, bis sie einen Werbeclip gesehen haben, der ihnen suggerierte, dass ihr Glück vom Erwerb eines bestimmten Produktes abhängt. Wenn das nicht verrückt ist! Die Aufmerksamkeit des verrückten Afrikaners wird nun von dem Aufblasgrinch angezogen, der durch heftige Winkbewegungen seiner Plastikarme Kunden in einen Nudelimbiss locken soll. Die Inhaberin kommt heraus und fordert den Mann höflich auf, den Mechanismus nicht zu beschädigen und weiterzugehen. Das tut er dann auch.