„Schwimmen zwei junge Fische des Weges und treffen zufällig einen älteren Fisch, der in der Gegenrichtung unterwegs ist. Er nickt ihnen zu und sagt: ‚Morgen, Jungs. Wie ist das Wasser?‘ Die zwei jungen Fische schwimmen eine Weile weiter, und schließlich wirft der eine dem anderen einen Blick zu und sagt: ‚Was zum Teufel ist Wasser?‘“
(David Foster Wallace)
Das Rotkehlchen in meiner Nachbarschaft singt unverdrossen. Was für ein Trost, dass es immer noch da ist, noch immer nicht die Flucht ergriffen hat und es mit uns Menschen aushält. Der Botanische Garten ist seit gestern geschlossen und bleibt es für die nächsten Monate. Nach dem Bad in und dem Aufenthalt an der Lahn ist nun also auch dieser Fluchtweg erst einmal versperrt. Jetzt bleiben mir nur der Alte Friedhof und die Eichhörnchen, die sich hoffentlich auf meine Nüsse freuen. Und der jämmerliche Park vor meiner Haustür, den ich aber nur in Notfällen aufsuche oder um mich mit Niko, dem kroatischen Bauarbeiter, zu treffen.
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„… damals, als alles noch besser, nein, besser nicht, aber weniger schlimm gewesen ist.“
(Werner Kofler: Kalte Herberge)
Kanzler Merz‘ Äußerung zum „Stadtbild“, die für viel Empörung gesorgt hat, findet Anschluss an ein uraltes Ressentiment. „Die Stadt drängt zum Verbrechen“, hieß es mit Anbruch der Moderne und vor allem zur Zeit der Verstädterung, also Ausgangs des 19. Jahrhunderts, in konservativen Kreisen. Die Stadt galt als Ort des Lasters, der Ausschweifung und Verführung. Wer vom Land zuwanderte, konnte dort leicht auf Abwege geraten und unter die Räder kommen. Die Irrenhäuser richtete man auf dem Land ein, wo die Luft gut und die Gefahren der Verführung gering waren. Die Gesellschaft galt als die gesündeste, die über die meisten Bauernhöfe verfügte. Im Klartext meint Merz ja, dass unsere Großstädte von allzu vielen Fremden bevölkert würden, dass ausländische Jugendliche eben nun mal zur Kriminalität prädisponiert sind und sich um die Bahnhöfe herum zu viele Schwarze aufhalten. Sein Hinweis, man solle seine Töchter und Frauen fragen, die wüssten, was er gemeint habe, ist blanker und übelster Populismus. Im Klartext kann man Merz‘ Aussage ins AfD-Sprech übersetzen: „Es sind viel zu viele Kanaken im Land, und die tendieren nun mal zur Kriminalität!“ Durch solche Volten hofft er, in den Gewässern der AfD fischen und an sie verloren gegangene Wählerschichten zurückholen zu können. Merke: Wer nicht sichtlich Unsereiner ist, dessen Status in der Gesellschaft ist prekär. Rechte Strömungen, zu denen auch Friedrich Merz zu rechnen ist, sind allesamt beherrscht von einer Obsession: der Idee der Reinheit der Gesellschaft, der Homogenität und der absoluten Sicherheit. Dahinter steht die Idee von einer „guten Gemeinschaft“, die von ihren negativen Teilen gereinigt ist. Von jenen Elementen, von denen man annimmt, dass sie die „gute Gemeinschaft“ korrumpieren. Die Vorstellung von einem homogenen sozialen Körper, von einer „guten Gemeinschaft“, ist eine Wahnvorstellung, wie sie antidemokratischer nicht sein kann. Demokratie ist keine Gesinnungsgemeinschaft, sondern ein System von Regeln, das vor allem die Entfaltung von Dissens und Verschiedenheit ermöglicht. Was aber nichts daran ändert, dass die vom grün-alternativen Milieu naiv gepriesene und gefeierte Diversität auch ihre problematischen Seiten hat. Ein Mindestmaß an Homogenität muss in einer Population anzutreffen sein, sonst tritt ein Zustand der Anomie und der Unregierbarkeit ein, den kein vernünftiger Mensch wollen kann. Ohne dieses Minimum zerfällt nicht nur die bürgerliche Ordnung, was man ja noch begrüßen könnte, sondern jede Ordnung. In seinem Buch „Psychologie und Geschichte“ hat Peter Brückner darauf hingewiesen, dass „eine zureichende Ordnung und Stabilität des Systems der Gesellschaft und des Staats nur gewährleistet sein kann, wenn die Funktionen und Gefüge der Person, wenn ‚Psyche‘: Bewusstsein, Gefühl, Affekt, Triebgewohnheit, Körperlichkeit, Denkneigungen und -formen der Individuen in die Funktionen und Gefüge des Systems pertiell einbezogen sind.“ Es gibt in diesem Feld nichts eindeutiges, sondern es geht dialektisch, das heißt widersprüchlich, zu. Etwas ist zugleich so und auch wieder nicht so. Das ist der Kern dessen, was man Dialektik nennt. Jedes Ding geht mit seinem Gegenteil schwanger, heißt es irgendwo bei Marx. Dialektik hält im Denken fest, was in der Realität widersprüchlich ist. Sie ist die Reflexionsform widersprüchlicher Prozesse. Sie ist nichts für Leute, die es gern eindeutig haben und sich mit Ambivalenzen schwer tun. Ich habe mich bemüht, mit offenen Widersprüchen und Schwebezuständen leben zu lernen und der Versuchung zu widerstehen, mehr oder weniger gewaltsam und vorschnell Eindeutigkeit herzustellen. Um mit offenen Widersprüchen leben zu können, benötigt man „dialektische Ich-Funktionen“, wie Hans Kilian das genannt hat. Deren Ausbildung gehört hierzulande nicht zu den geförderten pädagogischen Zielen und Konzepten, an denen es infolgedessen den meisten gebricht.
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„Weil wir im Kerker geboren und großgezogen sind, merken wir nicht mehr, dass wir im Loch stecken mit angeschmiedeten Händen und Füßen und mit einem Knebel im Munde.“
(Georg Büchner)
Meine Hirnantilope absolviert mal wieder einen ihrer Sprünge. Es ist noch zu Gefängniszeiten gewesen, da stieß ich bei Janwillem van de Wetering auf folgende Passage: „Nun gibt es Gefangene, die den Kerker für den einzig möglichen Aufenthaltsort halten und meinen, außerhalb des Gefängnisses gäbe es nichts. Diese Art Gefangene … soll man in Ruhe lassen; sie sind verdummt, sie wollen gar nichts tun, und solange sie in solchem Geisteszustand sind, ist ihnen nicht zu helfen.“ Ich entsinne mich, dass sich in unserer Gesprächsgruppe, in der wir diese Passage aus dem Buch „Der leere Spiegel“ gelesen hatten, heftige Diskussionen über das Phänomen der „freiwilligen Knechtschaft“ entspannen. Das, was man in jüngster Zeit „liberale Demokratie“ nennt, weil man den Begriff Kapitalismus nicht mehr verwenden möchte, basiert letztlich auf der Verinnerlichung vormals äußeren Zwangs, so dass die Menschen all das von sich aus anstreben, wozu man sie früher zwingen musste. Die Gewalt, mittels derer man die Menschen zuvor zur Arbeit anhalten musste, steckt nun in den Individuen selbst. Darin besteht im wesentlichen die Differenz zwischen totalitärer und demokratischer Herrschaft. Den Gedanken von Janwillem van de Wetering interpretierten alle an der Gruppe Beteiligten schließlich so: Man muss noch einen Geruch von etwas anderem in den Nase haben, um die Gegenwart der Gefangenschaft als Bedrückend erleben und von Ausbruch zu träumen zu können. Als Kommentar brachte ich zur nächsten Sitzung eine Passage aus einem Brief mit, den Adorno 1957 seinem Freund Horkheimer geschrieben hatte: „Zum Schluss noch ein Gedänkchen: in allen Bewegungen, welche die Welt verändern möchten, ist immer etwas Altertümliches, Zurückgebliebenes. Das Maß dessen, was ersehnt wird, ist immer bis zu einem gewissen Grade Glück, das durch den Fortschritt der Geschichte verloren gegangen ist. Wer sich ganz auf der Höhe der Zeit befindet, ist immer auch ganz angepasst, und will es darum nicht anders haben.“ Widerstand kann also nur leisten, wer eine Differenzerfahrung gemacht hat und im Bloch‘schen Sinn „ungleichzeitig“ ist. Es muss noch etwas nicht ganz von der Warenform Erfasstes vorhanden gewesen sein, von dem man wenigstens noch einen Zipfel zu fassen bekommen hat. Das macht einem ein Gedächtnis, aus dem die Fähigkeit erwachsen kann, dem Bestehenden das Realitätsmonopol streitig machen zu können. Wenn die Erinnerung an den Gebrauchswert gänzlich getilgt ist, ist die Entfremdung komplett und jeder Ausweg verbaut. Der französische Soziologe und Philosoph Henri Lefebvre hat diesen Zustand, in dem den Menschen noch das Bewusstsein der Entfremdung abhanden kommt, als „Entfremdung zweiten Grades“ bezeichnet. Wir leben unter Bedingungen einer Herrschaftstotalität von Verdinglichung, aus der auszubrechen immer schwieriger und unwahrscheinlicher wird. Gegen Ende der Sitzung kamen wir auf Platos Höhlengleichnis zu sprechen, in dem es ja im Kern bereits um ein ähnliches Thema geht. Die Höhlenbewohner, die nie die Sonne gesehen haben, kennen nur die Schattenwelt, in der sie leben, und halten diese für die reale Welt. Wie manche Gefangene nach ihrer Entlassung alles daran setzen, wieder ins Gefängnis zurückzukehren, so würden auch Platos Höhlenbewohner vom Sonnenlicht derart geblendet, dass sie umgehend in die Höhle zurück wollten.
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„Freude aus Verunsicherung ziehn – wer hat uns das denn beigebracht!“
(Christa Wolf: Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra)
Letztens erlebte ich auf dem Wochenmarkt mit, wie ein Öhmchen aus ihrer Einkaufstasche Eierschachteln hervorzog und unserer Händlerin geben wollte. Diese erklärte der alten Frau daraufhin, dass sie gemäß einer neuen EU-Verordnung gebrauchte Eierschachteln nicht mehr zurücknehmen und weiterverwenden dürfe: „Tut mir leid, aber so isses.“ Sie könne die Schachteln noch annehmen, müsse sie aber ins Altpapier werfen. Diese kleine Szene charakterisiert die Lage vieler, vor allem alter Menschen. Ihr Leben lang haben sie etwas auf ein und dieselbe Weise gehandhabt, plötzlich soll das nicht mehr gehen und nichts mehr wert sein. Was Hänschen oder Gretchen gelernt hat, nützt dem Hans oder der Grete nichts mehr, im Gegenteil: Es bringt sie in eine Position abseitiger Erstarrung und trägt zu ihrer Isolierung bei. Das ist eine Facette dessen, was Alexander Kluge als „Sinnentzug“ bezeichnet hat und die Lebensrealität vieler Menschen kennzeichnet. Sie werden zu komischen Käuzen und Sonderlingen, über die die gesellschaftliche Entwicklung hinweggegangen ist. Treue zum Erlernten und zu überlieferten kulturellen Normen kann die Verunsicherung nicht aufhalten, obwohl sie als Allheilmittel gegen Verunsicherung von den Konservativen aller Länder gepriesen wird. Niemand weiß eigentlich mehr genau, was das Richtige ist, was man tun, was das Schlechte, das man unterlassen soll. Alles ist in der Schwebe, unfixiert wie Quecksilber. Was erschwerend hinzukommt: Das Leben unter solchen Bedingungen hat uns niemand beigebracht. Wir sind geprägt auf ein Leben unter eindeutigen Zuständen. „Man muss mit der Zeit gehen“, und: „Der Fortschritt ist nicht aufzuhalten“, seufzen die Leute und fügen sich in ihr vermeintliches Schicksal.
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„Und obwohl die Vorgänge so unwiderleglich real sind, möchte man seinen Augen nicht trauen, so unvorstellbar war es und so unbegreiflich, dass man versucht ist, sich in Interpretationen, Analyse, Theorien zu flüchten, die doch kaum mehr sind als hilflose Versuche der Rationalisierung, einen Sinn hinter all dem Sinnlosen und offenkundig Verbrecherischen und Völkermörderischen zu finden. Einen Schlüssel, der alles erklärt und auf den Begriff bringt: die Wiederkehr des Bösen, an sich, die logische Reaktion der vom Westen gedemütigten Großmacht, und viele andere.“
(Karl Schlögel: Auf der Sandbank der Zeit)
Warum sollten alte Männer wie Trump und Putin den Krieg fürchten? Auch einen, der mit Atomwaffen geführt wird. Er brächte ihnen den Triumph, dass das Ende ihrer Lebenszeit mit dem Ende des Lebens überhaupt zusammenfiele. Wenn sie stürben, stürben alle anderen ebenfalls. Ich-Zeit und Welt-Zeit kämen zur Deckung – der Traum vieler Diktatoren. Hitler hat das kurz vor Kriegsende dem Luftwaffenadjutanten Nicolaus von Below gegenüber vielleicht am klarsten ausgesprochen: „Wir können untergehen. Aber wir werden eine Welt mitnehmen.“ Wahrscheinlich ist es eine Obsession aller autoritären Herrscher, ihre Lebensgeschichte mit der Weltgeschichte zusammenfallen lassen zu wollen. Das macht unsere Lage derzeit so gefährlich.
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„Dass einer paranoid ist, schließt nicht aus, dass sie hinter ihm her sind.“
(Eine Gefängnisweisheit)
Mir war heute danach, in alten Tagebüchern zu stöbern. In dem von 1988 stieß ich auf folgenden Eintrag, der sich auf ein Ereignis im Butzbacher Gefängnis bezieht: „Ein marokkanischer Arbeitsimmigrant verdient sich etwas dazu, indem er in kleinem Maßstab mit Haschisch dealt. In seiner Kneipe versorgt er Freunde und Bekannte mit kleinen Mengen. Die Polizei kommt dahinter und setzt einen V-Mann auf ihn an. Man fragt ihn, ob er für 10.000 DM Haschisch besorgen kann. „Das wird schwierig werden“, aber er will es versuchen. Es gelingt. Daraufhin ordert der V-Mann Stoff für 35.000 Mark. Der Marokkaner wittert eine gute Verdienstchance, bittet um Verlängerung der Frist, liefert dann. Jetzt wird er verhaftet. Ein Gericht verurteilt ihn zu sechseinhalb Jahren Haft. Im Gefängnis bricht eine Psychose aus. Er fühlt sich überall bedroht, fürchtet um sein Leben. Er wird aus Sicherheitsgründen von einem anderen Gefängnis in Hessen nach Butzbach verlegt. Unangenehme Fälle schieben sich Gefängnisse gern untereinander zu. In Butzbach bedroht er in vermeintlicher Notwehr einen Mitgefangenen mit einem Messer. Er wird innerhalb der Anstalt mehrmals verlegt, von einer Station auf die nächste. Schließlich verlegt man ihn ins Lazarett. Dienstagmittag wird er von dort auf eigenen Wunsch, wie es heißt, ins Zellenhaus zurückverlegt. Eine halbe Stunde später findet man ihn erhängt auf.
Man hat einen Straftäter produziert, man hat einen großen Schlag gegen die Rauschgiftszene gelandet, wie es entsprechender Stelle in den Nachrichten immer heißt. Man hat einen harmlosen Menschen, in dessen Kultur es üblich ist, Haschisch zu rauchen, systematisch zum Straftäter hergerichtet, hat ihn aufgebaut, abgestraft, eingekerkert, in den Wahnsinn getrieben. Was für ein Zynismus, einem, der auf diese Weise kaputt gemacht worden ist, zu bescheinigen, er leide unter einem Verfolgungswahn. Ähnlich haben Psychoanalytiker im „Dritten Reich“ Juden bescheinigt, sie litten unter paranoiden Zuständen, wie Paul Parin mir erzählt hat.“
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„Es geht nicht um meine spezielle Existenz. Ich hatte schon als Kind das Gefühl, dass man mich hätte fragen können. Ich hätte es abgelehnt, weil ich mich einfach nicht für meine Existenz interessiere! Nicht, weil ich eine besonders schlechte habe, aber ich finde die Existenz überhaupt als eine absolute Zumutung. Man wird nicht gefragt.“
(Ilse Aichinger: Interview mit der Süddeutschen Zeitung aus dem Jahr 2006)
Die Frau, die täglich mehrmals durch meine Straße geht und sich dann vorn im Park auf einen Stein setzt, wo sie bis Anbruch der Dämmerung verharrt, pfeift neuerdings leise vor sich hin. Das ist der einzige Laut, den ich jemals von ihr gehört habe. Sie spricht mit niemandem, sie scheut jeden Blickkontakt, bleibt streng für sich und signalisiert ihrer Umgebung, dass sie ihr gestohlen bleiben kann. Nichts durchbricht den Kreis der Einsamkeit, der sich um sie gebildet hat, oder: den sie um sich herum gezogen hat. Mir geht es im Augenblick kaum anders. U ist auf einer Theaterfortbildung im Odenwald, und ich habe seit Freitag mit niemandem gesprochen. Fehlt nicht viel und auch ich fange an zu pfeifen. Einstweilen höre ich ein wundervolles Oboenkonzert von Telemann. Immer wieder komme ich auf die Barockmusik zurück, die mich durch ihre kristalline Klarheit beeindruckt. Seit meinen Tagen an der Kasseler Musikakademie habe ich ein Faible für die Oboe und andere Blasinstrumente. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich damals auch Stücke von Georg Philipp Telemann gespielt und gelegentlich auch zur Aufführung gebracht. Schade, dass ich das Flötespielen irgendwann aufgegeben habe. Es schien mir mit meiner erwachenden Männlichkeit nicht vereinbar. Wie blöd ich war!
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„Mittags fuhr ich auf der Eisenbahn per Dampf nach Fürth, Hänschen auf dem Schoß. Die Bewegung ist von steigender Geschwindigkeit; wie schnell es geht, bemerkt man am besten, wenn man gerade an einem Gegenstand vorüberkommt, Meilensteine, Bäume, Häuser verschwinden, wie sie auftauchen.“
(Friedrich Hebbel: Tagebuch, Februar 1843)
Weil gesellschaftliche Strukturen mit psychischen Strukturen, weil Inneres und Äußeres, aufs Engste verflochten sind und sie sich wechselseitig stützen und bedingen, nehmen, wenn eine Gesellschaft aus den Fugen gerät, auch die schweren Persönlichkeitsstörungen zu. Jeder Gang durch die Stadt liefert einem reichlich Anschauungsmaterial für die Richtigkeit dieser These. Über die Verrückungen der Gegenwart nicht verrückt zu werden, wird immer anstrengender. Das liegt an einer eigenartigen Desynchronisation: Der Film der äußeren Realität läuft schneller als der innere Text, den die Menschen dazu sprechen. Die Texte, die sie in ihrer Kindheit gelernt haben, passen nicht mehr zu der Gesellschaft, in der sie nun als Erwachsene leben. Je größer die Lücke wird, desto heftiger sehnen sie sich danach, dass eines Tages die äußere Realität wieder zu ihren inneren Texten passt. Die gesellschaftliche Entwicklung verläuft immer rasanter, die Menschen bleiben im Durchschnitt eher langsam. Der rechte Populismus verspricht, ihnen an dieser Stelle Erleichterung zu verschaffen. Das ist ein Geheimnis seines Erfolgs.
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Es hatte den ganzen Tag über geregnet, erst gegen Abend klarte es auf und die Sonne sandte von Westen her ein paar späte Strahlen über die Dächer. In der Krone einer riesigen Eiche in meiner Nachbarschaft hatten sieben oder acht Tauben Platz genommen. Sie saßen da in einem Abstand von jeweils einem halben Meter und versuchten, ein bisschen Wärme abzubekommen. Sie hockten da in einer Reihe, wie Touristen an Deck eines Schiffes in ihren Liegestühlen. Ihr Brustfedern leuchteten hell in der Abendsonne. Als die Sonne unterging, zogen sich auch die Tauben auf ihre Schlafbäume zurück.
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Heute war gegen 11 Uhr eine Frau vom Betreuungsgericht hier, die zu meinem Nachbarn wollte, um ihm Hilfe anzubieten. Er gewährte auch ihr keinen Zutritt, so dass sie nach einer Weile unverrichteter Dinge abzog. Die Leute, die zu ihm wollen, klingeln dann irgendwann bei mir. Warum jemand, der so offensichtlich Unterstützung benötigt, sie nicht annimmt, wenn sie ihm angeboten wird, erschließt sich mir nicht, oder nur in psychopathologischen Kategorien, die ich nicht anlegen möchte. Es könnte sein, dass er sich schämt wegen des Zustands seiner Wohnung, der tatsächlich katastrophal ist. Die Frau eben fragte, wann ich ihn zuletzt gesehen hätte, und ich sagte ihr, dass ich ihm vorgestern Milch gebracht hätte, um die er gebeten hatte. Da lebte er noch. Er kriecht oder rutscht über den Boden, weil er sich auf einem Bein nicht fortbewegen kann. Ich weiß auch nicht weiter. Wenn nichts geschieht, wird es in einem Desaster enden.
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„Die Krawatte muss gelockert, das Gerät repariert, seiner Funktion wieder angepasst werden; für die ganze Gesellschaft ist ein beschädigtes Instrument ein beunruhigender Skandal, der sofort beseitigt werden muss, das Geschick der Menschheit, des homo faber steht bei jedem defekten Auto, bei jedem Flugzeugunglück, bei jeder kaputten Uhr symbolisch auf dem Spiel.“
(Jean-Paul Sartre: Genet, Komödiant und Märtyrer)
Der von Donald Trump verkündete Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas ist schon wieder perdu. Irgendein Anlass, wieder Bomben auf die aufgehäuften Trümmer und obdachlos umher irrenden Menschen zu werfen, findet sich immer. Man muss den Frieden schon wollen, und Netanjahu und seine rechtsradikalen Freunde wollen offensichtlich keinen Frieden. Und die Hamas wahrscheinlich auch nicht. Autoritäre Regimes sind auf die Existenz eines äußeren und inneren Feindes angewiesen, dessen Präsenz sie am Leben hält. „Wer keinen Feind mehr hat, begegnet ihm im Spiegel“, hat Heiner Müller lakonisch bemerkt. Krieg gegen einen äußeren Feind bannt die Zentrifugalkräfte, die klassengespaltene und konfliktgeschüttelte Gesellschaften zu zerreißen drohen. In der Soziologie nennt man das „negative Integration“: Eine Gesellschaft soll durch die Konstruktion eines Feindbildes zusammengehalten werden, statt durch demokratisch ausgehandelte und vereinbarte Ziele. Ein Beispiel für eine negativ integrierte Gesellschaft bietet die russische, die sich seit ungefähr dreißig Jahren permanent in irgendeinem Krieg befindet. Innerhalb einer „gut“ und „positiv integrierten“ Gesellschaft sind die Hauptzwecke allen gemeinsam, und das Ziel, das andere sich setzen, wird für jeden einzelnen zur Forderung. Wie weit sind wir inzwischen von einem solchen Zustand entfernt! Im Westen leben wir in einer Gesellschaft, in der alle nur noch tun, „was sie wollen“, „worauf sie Lust haben“ und was „Spaß bringt“. Unter diesen Bedingungen einer gesellschaftlichen und politischen Desintegration müssen wir jedenfalls mit einem Rückgang der Zivilisation und einem Anwachsen der Barbarei rechnen.
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Gestern war ein sonniger Herbsttag. Nach dem Frühstück haben wir das Auto bestiegen und sind ein Stück aus der Stadt hinausgefahren. Manchmal müssen wir einfach mal raus aus der Stadt. Bei Waldgirmes haben wir es abgestellt und sind durch das „Tal des mäandernden Baches“ Richtung Hofgut Bubenrot gelaufen, wo, wie ich früher schon einmal berichtet habe, der ehemalige hessische Umweltminister Werner Best gelebt hat. Das war noch im Goldenen Zeitalter der Sozialdemokratie, wo die SPD in Hessen stabile Mehrheiten erzielte. Er ist auf einem kleinen zum Hofgut gehörenden Friedhof beigesetzt und ein Stelenkreis auf einem nahegelegenen Hügel erinnert an ihn. Ich bin früher an vielen Sommertagen mit dem Rad hierher gefahren und in die Pilze gegangen, wie man so sagt. Oder habe mich ins Gras gesetzt und gelesen. Am Hofgut stehen einige Nussbäume, die aber bereits abgeerntet waren. Pferde standen auf einer Koppel und zupften Heu aus einem aufgehängten Netz. Sie schnaubten zur Begrüßung und sahen zu uns herüber. Ein Bussard kreiste über der Koppel. Beim Gehen genossen wir das Rascheln unserer Füße im Laub. Bei der gefällten tausendjährigen Eiche setzten wir uns auf eine Bank und reckten unsere Gesichter in die Sonne, die noch ein wenig wärmte und das Laub bunt leuchten ließ. Obwohl wir nach Pilzen Ausschau hielten, fanden wir keine essbaren. Es ist wahrscheinlich bereits zu kalt. In den drei Stunden, die wir umhergingen, begegneten wir keinem Menschen. Wir verspürten beide so etwas wie Glück und waren froh, dass wir den Ausflug unternommen hatten. Trotz, oder gerade wegen meiner Gangstörung sollte ich so etwas öfter mal machen. So lange es noch geht. Tägliches Gehen soll auch Alzheimer vorbeugen, las ich gestern in der Zeitung.
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Rechtzeitig vor der großem Anti-AfD-Demo Ende des Monats hat ein geschäftstüchtiger Kebab-Anbieter die Zeichen der Zeit erkannt und ein handgeschriebenes Transparent – ein „echtes Demo-Transpi“, das der Pächter der Filiale bei irgendwelchen Aktivisten in Auftrag gegeben hat – vor seiner Gießener Filiale aufgehängt: „Crunchy Kebab – dein Bollwerk gegen rechts“. Es werden bis zu 60.000 potenzielle Kebab-Esser in der Stadt erwartet. Der Aufmarsch gegen rechts – gesponsert von Crunchy Kebab, so weit kommt‘s noch. Wenn dann eines Tages die Mehrheitsverhältnisse kippen, muss man sehen, dass man rechtzeitig die Zielgruppe wechselt. Solange die Käufer schwerpunktmäßig aus den mehrheitlich grün wählenden und studentisch geprägten Bezirken der Städte stammen, kann man es sich leisten, weltoffen zu sein und als Verfechter von Diversität aufzutreten. Noch wehen Regenbogenfahnen von den Fassaden der Kaufhäuser und Geschäfte – jedenfalls in den alten Bundesländern. Solange sich Geschäfte machen lassen, sind dem Kapital die politischen, religiösen und sexuellen Präferenzen seiner Kunden egal. Danach, also wenn es hart auf hart kommt, werden die Seiten gewechselt.
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„Sicher hängt das damit zusammen, dass wir in der dunklen Zeit einer neuen Weltordnung leben, in der geteilter Schmerz eine der wesentlichen Voraussetzungen ist, Hoffnung und Würde wiederzufinden. Nicht allen Schmerz können wir teilen, aber den Willen dazu. Und aus diesem unvermeidlich unangemessenen Teilen erwächst Widerstand.“
(John Berger: Frida Kahlo)
Dieser Tage sah und hörte ich Pussy-Riot-Mitgründerin Maria Aljochina in der Sendung von Markus Lanz. Sie bildete den Widerpart von Sahra Wagenknecht, die ihre bekannten Thesen zur Genese des Krieges in der Ukraine vortrug: Russland reagiere nur auf die Ausdehnung der Nato nach Osten, von sich aus hege Wladimir Putin keinerlei imperiale Absichten. In ihrem starren Festhalten an alten Positionen machte sie eine ziemlich traurige und unglaubwürdige Figur. Gegen sie, die wie ihr eigener Avatar erschien, wirkte Maria Aljochina ausgesprochen lebendig. Schon rein äußerlich lagen zwischen den beiden Frauen Welten. Hier die Wagenknecht mit ihrem versteinerten Gesicht, die sich in ihre eigenes Kostüm und eine Fotografie von Rosa Luxemburg entfremdet hat, dort die Aljochina, deren ungebändigten wuscheligen Haare unter einer Wollmütze hervorquollen und aus deren Augen trotz all ihrer schmerzhaften Erfahrungen der Schalk und eine ungebrochene Lebendigkeit blitzten. Aljochina lebt nach einer abenteuerlichen Flucht aus Russland inzwischen in Island. Zuvor hatte sie zwei Jahre in einem russischen Straflager verbringen müssen, über das sie ausführlich und erschütternd berichtete. Am stalinistischen Straf- und Lagersystem hat sich im Kern nichts geändert, bis heute regieren die Nachfahren der einstigen Henker mit kaum veränderten Methoden und halten das ganz riesige Land in einem permanenten Überlebensmodus. Anders könne Putin nicht mehr regieren. Würde er tatsächlich Frieden schließen, würden die Menschen gewahr, dass die Opfer, die der Krieg verschlungen hat, umsonst gewesen sind und seine Herrschaft geriete in Wanken. Er kann also mit dem permanenten Krieg nicht aufhören. Auf Lanz‘ Frage: „Haben Sie Angst?“, antwortete Maria Aljochina: „Ich habe noch nie Sicherheit gesucht.“ Eine eindrucksvolle, mutige Frau. In ein paar Tagen erscheint im Berlin-Verlag auf Deutsch ihr Buch „Political Girl: Pussy Riot – Leben und Schicksal in Putins Russland“.
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Chronik der Gewalt. Im Osten von England ist es in der Nähe des Ortes Huntingdon in einem Zug zu einer Messerattacke gekommen. Es ist von elf verletzten Fahrgästen die Rede, einer von ihnen soll auch am Tag nach der Tat noch in Lebensgefahr schweben. Der mutmaßliche Täter wurde festgenommen, es handelt sich um einen 32-jährigen Briten. Da die Behörden einen terroristischen Hintergrund ausschließen, wird die Tat wohl als die eines „psychisch gestörten Einzeltäters“ in die Annalen eingehen. Terror liegt offenbar nur vor, wenn der Täter aus Afghanistan oder Syrien stammt, einen dunklen Bart trägt und bei der Tatbegehung „Alahou Akbar“ ruft. Als könnte es nicht auch der gewissermaßen private Terrorakt eines britischen Bankangestellen gewesen sein, der mittels eines solchen Aktes aus der Monotonie seiner Existenz auszubrechen versucht und „einen Hass“ hat. Es ist noch nicht lange her, da nannte man diesen Tätertypus auch in unseren Breiten „Amokläufer“. In seinen südostasiatischen Ursprungsländern wurde der „Amok“ nach einem bestimmten Skript und mit einem Dolch ausgeführt. In einem für das Online-Portal „Telepolis“ verfassten Text aus dem Jahr 2021 habe ich darauf hingewiesen, dass mit der Konjunktur der Messerattacken der Amok in gewisser Weise auf seine Ursprünge zurückkommt: https://www.telepolis.de/article/Wuerzburg-Amok-oder-Terror-6121294.html?seite=all Die „Abweichung“ vom ursprünglichen Ablaufplan war, wenn man so will, der Ersatz des Dolches, des „Kris“, durch Schusswaffen, der sich in den USA nach der Amoktat von Austin/Texas Mitte der 1960er Jahre durchsetzte und sich bis heute beinahe täglich irgendwo ereignet.
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„Hütet euch vor allen Unternehmungen, die solche Kleider verlangen.“
(Henry David Thoreau)
Bei einem seiner seltenen Besuche in Kassel brachte mir mein Bamberger Großvater Ernst, der Vater meiner früh gestorbenen Mutter, ein Geschenk mit, mit dem ich zunächst nichts anzufangen wusste. Im Geschenkpapier war ein kleines Schächtelchen verborgen, das man aufklappen konnte und innen mit dunkelroter Seide ausgepolstert war. In zwei kleinen Ausbuchtungen lagen zwei merkwürdige Gegenstände, die schon wegen ihrer exquisiten Verpackung kostbar sein mussten. Ich löste sie vorsichtig aus der Schachtel und betrachtete sie neugierig. Ich hatte so etwas bewusst noch nie wahrgenommen, obwohl sie auch mein Vater in Gebrauch hatte und beinahe täglich am Arm trug. Das seien Manschettenknöpfe, belehrte man mich, und zeigte mir, wie man sie anlegte. Das Problem war nur, dass ich keine Hemden besaß mit entsprechenden Schlitzen am Ende der Ärmel. Die Manschettenknöpfe seien für die bevorstehende Konformation gedacht, erklärte mir mein Großvater. Sie wurden also einstweilen beiseite gelegt. Ich trug sie dann ein einziges Mal, dann verschwanden sie in irgendeiner Schublade. Krawatten und Manschettenknöpfe wurden von meiner Generation nicht mehr benötigt, wanderten wie Requisiten eines abgesetzten Theaterstückes auf den Speicher. Ich habe keine Ahnung, wo die sicher kostbaren Stücke abgeblieben sind. Als mir mein Freund Manfred, der Jazzer, später mal von einem Flohmarkt ein altes, weites Hemd mitbrachte, behalf ich mich mit Klammern, wie man sie zum Verschließen von Briefkuverts verwendet. Das ging auch. Aber Hemden wurden kein Bestandteil meiner Alltagskleidung. Ich bevorzugte T-Shirts und Pullover. Das ist bis heute so geblieben. Ich meide Veranstaltungen, bei denen erwartet wird, dass man Hemd und Krawatte trägt. Ich erinnere mich, dass mein Vater über eine stattliche Auswahl von Krawatten verfügte und oft prüfend vor seinem Kleiderschrank stand und überlegte, welche Krawatte er zu welchem Hemd und zu welchem Anzug tragen könnte. Die Krawatten hingen sauber aufgereiht innen an der Tür an einem Draht und wurden gelegentlich gebügelt. Diese Sorgen habe ich nicht.
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Dieser Tage hat Ursula Krechel den Büchner-Preis erhalten. Sie gehörte zu einer kleinen Gruppe von Dichtern und Schriftstellern, die sich rund um die Frankfurter Buchmesse im Hungener Schloss trafen, wo Walter von Bebenburg lebte, der unter dem Namen W.E. Richartz Romane veröffentlichte. Die Gäste wurden im Schloss untergebracht, übernachteten in verschiedenen Wohnungen und fuhren anderntags gemeinsam zur Messe und ihren dortigen Terminen. Ich durfte an einer abendlichen Zusammenkunft teilnehmen, bei der neben dem Gastgeber auch Urs Widmer, Peter O. Chotjewitz, Harry Oberländer auch Ursula Krechel anwesend waren. Es wurde viel geraucht und getrunken und Chotjewitz wurde mit steigendem Alkoholpegel immer lauter. Ich fand sein präpotentes Auftreten ein wenig unangenehm. Da ich noch nach Gießen zurückfahren musste, stieg ich irgendwann aus und verabschiedete mich. Ursula Krechel habe ich in angenehmer Erinnerung behalten. Harry Oberländer traf ich vor einigen Jahren in Staufenberg bei einer Gedenkveranstaltung für Peter Kurzeck noch einmal wieder. Er ist Ende 2023 gestorben.
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Gestern Abend sah ich noch einmal den Film „Lieber Thomas“ mit einem grandiosen Albrecht Schuch als Thomas Brasch. Zu sehen, wie ein sensibler Menschen an den deutschen Zuständen schließlich zerbricht, hat mich noch einmal erschüttert. Vor allem den Satz: „Gladow, das bin ich“ fand ich sehr aufschlussreich. In einem Interview sagt er zu seinem Verhältnis zu diesem Berliner Nachkriegsgangster: „Das ist ein alter Mythos aus den fünfziger Jahren in Berlin. Gladow war der Robin Hood von Berlin, und als er dann hingerichtet wurde, war das eine Art Berliner Mythos. Eine Geschichte, in der Anarchismus nicht in einer ideologischen, sondern in einer kriminellen, spontanen, instinktiven Art vorkommt.“ Ich habe seinen Film „Engel aus Eisen“ mehrfach mit Gefangenen angeschaut und kann bestätigen, dass es diesen quasi-instinktiven subproletarischen Anarchismus in gewissen kriminellen Milieus einmal gegeben hat. Ich habe einige dieser Drehpunktfiguren zwischen politischen und kriminellen Subkulturen noch erlebt und kennengelernt und kann Braschs Faszination verstehen. Eine Urgestalt dieses Typus‘ ist Max Hoelz, der in den mitteldeutschen Aufständen der 1920er Jahre eine bedeutende Rolle spielte und eine Kreuzung aus Arbeiterführer und Räuberhauptmann darstellte. Ich habe mich in Folge 76 der DHP, die „Nachmittag mit Graureiher“ heißt, ausführlicher zu Hoelz geäußert. In Italien und Spanien war diese Mischung viel häufiger anzutreffen, was den dortigen Arbeiterbewegungen nicht geschadet hat. „Ihr stammt von bürgerlichen Handwerkern ab; unsere Vorfahren waren Räuber“, erklärte ein spanischer Genosse Franz Borkenau den Unterschied zwischen der mehrheitlich zum Anarchismus tendierenden spanischen Bewegung und der Arbeiterbewegung im Norden Europas, in der erst Ordnung herrschen musste, bevor Revolution sein durfte, und infolgedessen die Sozialdemokratie tonangebend war.
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Es geschehen noch Zeichen und Wunder: Ein demokratischer Sozialist und Muslim wird Bürgermeister von New York, und zwei Frauen gewinnen für die Demokraten die Gouverneurswahlen in New Jersey und Virginia. Mamdani plant, in New York einen Mietendeckel, kostenlose Busse und Gratis-Kinderbetreuung einzuführen, die er durch höhere Steuern für Wohlhabende und Unternehmen finanzieren will. Hier deutet sich endlich mal eine echte Alternative an und es wird konkret: Eine andere Politik ist möglich!
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Unten auf der Straße beugen sich zwei alte Damen über ihre Rollatoren und kichern über irgendetwas, dass auf dem Smartphone zu sehen ist, das eine von ihnen hochhält. Ein Anblick, der mich einen Moment lang erstaunt, weil ich ihn sonst eher von Teenies kenne. Aber die Handy-Leidenschaft kennt offenbar keine Altersgrenzen, wie die Dummheit ja insgesamt nicht das Privileg einer bestimmten Altersgruppe ist. Die meisten Menschen haben kein Handy, sondern werden inzwischen von ihren Handys gehabt. Eines Tages werden ihnen ihre elektronischen Geräte ins Fleisch wachsen. Seit fünfzehn Jahren führe ich jetzt einen aussichtslosen Kampf gegen die digitale Idiotisierung der Welt. Aber auch Don Quijote gab ja nicht so schnell auf. Es gibt allerdings einen großen Unterschied: Unsere heutigen Windmühlen sind wirklich Riesen.
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Gestern Abend war ich mit meinem Freund Alex im Kino. Wir haben uns den Film „Das Verschwinden des Josef Mengele“ angesehen, der von Kirill Serebrennikow nach dem Roman des französischen Autors Olivier Guez gedreht worden ist – mit August Diehl als Mengele. Da ich das Buch von Guez vor etlichen Jahren schon gelesen hatte, wusste ich in etwa, was mich erwartet. Der Film erwischte mich dann aber doch mit einer ungeahnten Wucht. Dadurch, dass er streckenweise die Perspektive von Mengeles Sohn Rolf einnimmt, der seinen Vater in Paraquay oder Brasilien besucht, rückten mir die biographischen Ähnlichkeiten mit meiner Familiengeschichte ganz anders auf den Leib und auf die Seele. Ein paar Mal war ich versucht aufzuspringen und den Kinosaal zu verlassen. Etwa wenn der Vater den Sohn auffordert, zum Friseur gehen und sich einen „anständigen Haarschneitt“ verpassen zu lassen. Dieselben Leute, die den KZ-Häftlingen vor der Vergasung die Köpfe kahl schoren, fordern ihre Söhne auf, sich die Haare „anständig“ schneiden zu lassen!
Von meiner Lektüre von Olivier Guez‘ Roman „Das Verschwinden des Josef Mengele“ ist mir besonders die Schilderung eines ungarischen Gerichtsmediziners in Erinnerung, der als Häftling gezwungen war, Mengele bei seiner grauenhaften Tätigkeit zu assistieren. Er hieß Miklós Nyiszly und gehörte zu jenen „Sonderkommandos“, die den vergasten Leichen die Haare abschneiden und die Goldzähne herausbrechen mussten, bevor sie in die Öfen geworfen wurden. Mengele stand mit blutverschmiertem Kittel und blutigen Händen am Sektionstisch. Nyiszly saß an diesem Tag mit Mengele am Schreibtisch. Sie gingen die Akten der bisher untersuchten Zwillinge durch. „ … Dr. Mengele entdeckte auf dem Deckel der einen Akte, einem blassblauen Karton, einen schwachen Fettfleck … Mengele sah mich vorwurfsvoll an und fragte sehr ernst: ‚Wie können Sie nur so sorglos mit diesen Dossiers umgehen, die ich mit so viel Liebe zusammengestellt habe?‘“
Ist das nicht im wahrsten Sinne irre: Ein paar Meter weiter werden die Leichen der vergasten Häftlinge verbrannt, und Mengele echauffiert sich über einen Fettfleck auf einer Akte? Für Mengele war Auschwitz ein Labor, in dem er an der Verbesserung der Menschheit und der Verwirklichung einer historischen Mission arbeitete. So sah er das bis zum Schluss und vertrat es auch gegenüber seinem Sohn. Mein Vater sagte, wenn wir Söhne ihn fragten, was er an und hinter der Ostfront eigentlich gemacht hat: „Was wisst ihr schon!“ und versank erneut in seinem Schweigen, das sich anästhesierend auf die ganze Familie legte und die Beziehungen vergiftete. Die Nachkriegsidylle des gemeinsamen Familienfrühstücks am Sonntagmorgen auf der Terrasse war mit dem Grauen der Bilder unterlegt, die wir inzwischen gesehen hatten und nicht mehr loswurden.
Selbst in einem Film wie diesem kruschpelten Besucher oder Besucherinnen unablässig in ihren Chipstüten.
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Im Bücherkaufhaus gehen zwei dicke Frauen durch die Gänge, ganz offensichtlich Schwestern, die sich sonst höchstens bei einem Platzregen in eine Buchhandlung verirren. Die eine hielt eins dieser schrecklichen Bücher in die Höhe, die im Eingangsbereich stapelweise herumliegen und sagte: „Das könnte was für den Papa sein!“ Ihre Schwester erwiderte: „Das vom letzten Jahr liegt noch ungelesen rum.“ So werden bis Weihnachten Geschäfte gemacht, nicht nur mit Büchern.
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In John Bergers Essay-Sammlung „Gegen die Abwertung der Welt“ stieß ich auf folgenden Satz zum Thema Stille, das mich seit Jahren beschäftigt und immer drängender wird: „Stille, wissen Sie, kann man nicht zensieren, wissen Sie, es gibt Umstände, in denen sie subversiv wird, deswegen muss man sie dauernd mit Lärm zuschütten.“ In der Stille kann etwas enthalten sein, was Herrschaft gefährlich werden kann, deswegen kann der Industrialismus sie nicht dulden. In der Schlussszene von Alexander Sokurows grandiosem Film Faust stolpert dieser prometheische Mensch und gescheiterte Unternehmer Faust durch eine verkarstete und eisige Mondlandschaft und brüllt: „Weiter, immer weiter!“
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