„Bruchstücke, immer nur Bruchstücke.“
(Peter Kurzeck)
Gestern Abend sah ich auf Arte den deutsch-österreichischen Film “Der Fuchs“ von Adrian Goiginger. Dieser Film hat mich so angerührt, dass ich die halbe Nacht nicht schlafen konnte. Franz wird als kleiner Junge als „Verdingbub“ von seinen Eltern zu einem reichen Bauern gegeben – in eine moderne Form der Leibeigenschaft. Als er mit Erreichen der Volljährigkeit aus der Verdingung entlassen wird, fällt er Werbern in die Hände, die ihn für die Wehrmacht rekrutieren und bald in den Krieg nach Frankreich schicken. Bei einem Gang in den Wald stößt er auf einen verwaisten Fuchswelpen, der fiepsend neben seiner toten Mutter hockt. Franz nimmt ihn an sich und versorgt ihn. Es entsteht in der Folge eine enge Bindung der beiden. Was mich so berührt hat, ist, dass Franz sich in dem kleinen Fuchs wiedererkennt. In dem er sich um den verwaisten Welpen kümmert, begegnet er sich selbst: dem von den Eltern weggegebenen und verstoßenen Bauernsohn. Als er mit seiner Einheit nach Russland verlegt werden soll, muss er sich unter großen Schmerzen von seinem adoptierten Fuchs trennen. Es kommt zu einer dramatischen Abschiedsszene, in der Franz gezwungen ist, das Füchschen mehr oder weniger gewaltsam zu verscheuchen. Nun gewinnt Franz auch ein Verständnis für die Notlage seines Vaters, als dieser gezwungen war, ihn aus ökonomischer Not heraus wegzugeben. Als Franz nach Kriegsende in seine österreichische Heimat zurückkehrt, trifft er im Elternhaus niemanden mehr an. Das Haus ist eine Ruine, die Familie hat sich aufgelöst. Der Vater ist gestorben, nichts lässt sich mehr ändern, jeder Lernprozess kommt zu spät. Ein trauriger Film, der mich in seine Traurigkeit tief hineingezogen hat, weil auch ich mich in Franz, dem kleinen Fuchs und der Heimatlosigkeit wiedererkannte.
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Robert F. Kennedy Junior wurde von dem gewählten US-Präsidenten Donald Trump als Gesundheitsminister nominiert. Er ist als Impfgegner und Vertreter von Verschwörungstheorien aller Art in Erscheinung getreten und unterhält beste Beziehungen zum ultrarechten Milieu. Vor allem während der Corona-Pandemie sorgte er mit Verschwörungserzählungen für Befremden. Bei einer Demonstration der „Querdenker“ am 29. August 2020 rund um die Berliner Siegessäule gehörte Kennedy zu den Hauptrednern. Dort warnte er: „Sie nutzen die Quarantäne, um 5G in all unseren Gemeinden einzuführen und uns damit zu kontrollieren“. Bill Gates warf er vor, die Corona-Pandemie „seit Jahren geplant zu haben“. Kennedy zum Gesundheitsminister zu machen ist so, als hätte man seinerzeit Al Capone zum Justizminister berufen.
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„Your body, my choice. For ever“
(Nicholas Fuentes)
Weltweit ist eine Remaskulinisierung zu beobachten, die das Schlimmste an den Männern und der männlich dominierten kapitalistischen Kultur hervorkehrt und fördert: Krieg, Gewalt, Sexismus und Dummheit. Es gibt einen organisierten Gegenschlag gegen die Emanzipation der Frauen und den Feminismus. Von der Truppe, die sich um Trump formiert, wird dieser Gegenschlag demonstriert und groß in Szene gesetzt. Männer aus dem Trump-Kosmos entblöden sich nicht zu sagen: Frauen sind männlicher Besitz und sollen sich um den Haushalt kümmern. Während des Wahlkampfs trat Donald Trump als Verfechter „wahrer Männlichkeit“ auf. Nach der Wahl fluten sexistische Posts und Vergewaltigungsphantasien das Netz. Der rechtsextreme Influencer Nick Fuentes droht den Frauen: „Eure Körper gehören uns“.
Plötzlich kehrt alles wieder, von dem man dachte, es sei ein für allemal im Orkus der Geschichte verschwunden. Und es gibt Frauen, die ihrer Degradierung zum sprechenden Küchengerät begeistert applaudieren. Der Aufstieg des rechten Populismus wird energetisch angetrieben vom gekränkten Stolz und den Rachegelüsten der Männer, die ihre Vorherrschaft verloren glaubten. Ohnmächtige, kleine Männer sagen: „Aber ich bin immerhin ein Mann! Und Deutscher!“ Nationalismus und Chauvinismus sind Kompensationsversuche männlicher Verlusterfahrungen und realer Erbärmlichkeit. Menschen sind dann am gefährlichsten, wenn ihnen die Felle davonschwimmen und sie reale oder vermeintliche Macht einbüßen. Gestern wurden Zahlen des Bundeskriminalamts veröffentlicht, aus denen hervorgeht, dass die Straftaten gegen Frauen in zahlreichen Kriminalitätsfeldern von Stalking über häusliche und sexualisierte Gewalt bis hin zum Femizid stark zugenommen haben. Beinahe jeden Tag wird eine Frau in Deutschland Opfer eines Tötungsdelikts. Kein Wunder bei der Großwetterlage, kann man da nur sagen. Freilich: Großwetterlagen für sich genommen tun nichts, aber ohne sie wären viele Taten undenkbar.
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„Die Zeit der revolutionären Kämpfe ist vorüber. Eine Periode der Reaktion hat begonnen, deren Ende die gegenwärtige Generation wohl nicht mehr erleben wird … Es ist unnütz, das Unmögliche zu wollen. Man muss der Wirklichkeit ins Gesicht sehen und sich Rechenschaft darüber geben, dass die Volksmassen zur Zeit den Sozialismus gar nicht wollen.“
(Bakunin 1874 in einem Brief an seinen Freund Guillaume)
Es ist lange her, dass ich die Sonne zum letzten Mal zu Gesicht bekam. Heute treibt ein stürmischer Wind den Regen gegen die Fensterscheiben. Weil die Fenster alt und undicht sind, muss ich Papiertücher auslegen, die das eindringende Wasser aufnehmen. Ich habe bei diesem Wetter keinen Fuß vor die Tür gesetzt, was nicht gut ist und nicht allzu oft vorkommt. Aber bei diesem Wetter jagt man keinen Hund vor die Tür, wie gesagt wird, und so blieb ich im Haus und am Tisch und auf dem Sofa und las weiter die Gespräche mit Bakunin, die lehrreich und interessant und oft sogar unterhaltsam sind. 1875 schrieb er in einem Brief an seinen Freund Élisée Reclus: „Du hast Recht, die Revolution ist für den Augenblick in ihr Bett zurückgetreten, wir fallen in die Periode der Evolution zurück, das heißt in die der unterirdischen, unsichtbaren und oft unfühlbaren Revolution … Ich stimme mit dir überein zu sagen, dass die Stunde der Revolution vorüber ist, nicht wegen des schrecklichen Unheils, dessen Zeugen wir waren, und der furchtbaren Niederlagen, deren mehr oder weniger schuldige Opfer wir waren, sondern weil ich zu meiner großen Verzweiflung konstatiert habe und täglich von neuem konstatiere, dass der revolutionäre Gedanke, die revolutionäre Hoffnung und Leidenschaft in den Massen sich absolut nicht vorfinden, und wenn sie fehlen, kann man sich die größte Mühe geben, man wird nichts ausrichten …“ Dieser Brief ist von beklemmender Aktualität.
Bakunins Ähnlichkeit mit Bud Spencer – eigentlich ist es umgekehrt – ist verblüffend. Bei einer Veranstaltung hatte ich mal ein Bild von ihm aufgehängt und darunter geschrieben: „Michail Alexandrowitsch Bakunin (1814 – 1876) – tauchte 100 Jahre nach seinem Tod unter dem Namen Bud Spencer wieder auf.“ Das behagte nicht allen Besuchern der Veranstaltung, aber Bakunin hätte es sicher gefallen.
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Heute habe ich den ersten Termin bei der Krankengymnastin, die mich gestern anrief und fragte, ob ich heute am frühen Nachmittag kommen könne. Wenn ich ehrlich bin, erhoffe ich mir eine Wunderheilung. Das behalte ich aber besser für mich.
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Am Morgen nach der ersten Behandlung muss ich feststellen, dass ich bei einer freundlichen und kompetenten Physiotherapeutin war, aber nicht bei einer Wunderheilerin. Sie hat mich mit der Aufforderung entlassen, gewisse Übungen täglich zu Hause zu absolvieren. Doch welche waren das? Mit Schrecken merke ich, dass ich sie nicht mehr zusammen bekomme. Ich habe nächste Woche wieder einen Termin. Da werde ich besser aufpassen und mir notfalls Notizen machen. Die Devise lautet also: üben, üben, üben und sich, also mich, nicht hängen lassen!
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„Indem die Natur den Menschen zuließ, hat sie vielmehr als einen Rechenfehler begangen: ein Attentat auf sich selbst.“
(Emile Cioran)
Die Weltklimakonferenz in Baku wird genauso ein Flop wie die letzten Konferenzen: viel CO2-Ausstoß und Gerede von rund 40.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern für nichts. Eine Klimakonferenz in einem Land abzuhalten, das vom Öl- und Gasverkauf lebt, ist für sich genommen schon eine Absurdität. Aserbaidschan wird seit über zwanzig Jahren von Ilham Alijew autokratisch regiert, der zahlreiche politische Gegner eingekerkert hat. Eine solche gigantische Konferenz in einem solchen Land abzuhalten ist grotesk und beschämend. Währenddessen fallen Bomben und häufen Trümmer auf Trümmer, die Wasserpegel steigen und steigen, das Wasser steht der Menschheit buchstäblich bis zum Hals. Und was tun wir? Wir taumeln gut gelaunt und unter Abspielen lauter Bumsmusik auf den Abgrund zu. Die traurige Wahrheit ist: Wir haben es so gewollt und uns dafür entschieden. Leid tut es mir für die vielen an der Erzeugung der Malaise Unbeteiligten, die mit in den Abgrund gerissen werden. Um derentwillen hätten wir das Schlimmste unbedingt vermeiden sollen und müssen. Nach einer amokartigen Logik reißen die reichen Industrieländer alle mit in Tod, Verderben und Untergang. Die ganze sogenannte Moderne entpuppt sich rückblickend ein einziger riesiger Amoklauf des wild gewordenen Geldes. Einen Amokläufer kann man notfalls erschießen, das rasende Geld zu stoppen, ist ungleich komplizierter. Man muss die Beziehungen und Vermittlungen, die es herstellt, auf einer anderen Grundlage neu und anders organisieren und verselbständigte und verdingliche Strukturen in die menschliche Gesellschaft zurückholen. Das setzt tiefgreifende Umbauten auch in den Menschen und ihrer Innerlichkeit voraus. Die Bedingungen dafür scheinen im Moment nicht sonderlich günstig zu sein oder gänzlich zu fehlen.
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Warum schreibe ich? Warum tue ich mir das an? Andere Leute setzen sich auf den Balkon oder an den warmen Ofen, trinken Weißwein oder Weizenbier, schauen fern, treffen sich mit Freunden oder halten einfach ihren Kopf in die Luft und lassen den lieben Gott einen guten Mann sein, wie man so sagt. Ich aber versuche zu schreiben, quäle mich an den Schreibtisch, auf dem der Laptop steht und die Zettel mit den Notizen liegen. Es drängt mich keiner und gelesen werden meine gedruckten oder sonstwie veröffentlichten Texte lediglich von einer Handvoll Leute. Meine teilweise schon vor Jahren erschienenen Bücher sind heute noch lieferbar. Ob meine Texte als Buch erscheinen, ist so bedeutsam, wie der berühmte Sack Reis, der in China umfällt. Also nochmal: Warum schreibe ich überhaupt? Warum tue ich mir das an? Die Gründe müssen in meiner Person liegen. Ich kann ohne zu schreiben nicht leben. Schreiben ist mein Weltbezug, meine Art zu existieren. Nur schreibend ertrage ich das Leben. Nur schreibend kann ich eine Distanz zwischen dem grassierenden Wahnsinn der Welt und mich legen. Wenn ich etwas Beobachtetes oder Gehörtes in Worte gefasst, bearbeitet und beschrieben habe, kann ich mich im Gefühl einer Existenz vom Schreibtisch erheben. Der frei flottierende Wahnsinn beunruhigt mich und muss schreibend gebannt werden. Nichts darf verloren gehen, daher die vielen Zettel um mich herum. Selbst neben dem Bett liegen Zettel, auf die ich nachts schlaftrunken etwas kritzele, das ich morgens oft nicht mehr entziffern kann. Nie werde ich fertig mit dem Schreiben, ich hinke immer hinterher.
Angefangen hat die kontinuierliche Schreiberei vor mittlerweile vier Jahrzehnten in den Bergen oberhalb des Gardasees. Wie so oft stand am Beginn die Bewältigung eines Trennungsschmerzes. Der Text sollte eigentlich ein Brief werden, der dann aber länger und länger wurde. Ich schrieb auf einer mechanischen Schreibmaschine, bis das Farbband nichts mehr hergab, und setzte den „Langen Brief zum langen Abschied“, wie ich meinen Text in Anlehnung an den Titel eines Romans von Peter Handke nannte, zu Hause fort. Der Text wurde auch deswegen immer umfangreicher, weil ich irgendwann begriff, dass hinter der aktuellen Trennung eine andere, viel ältere Trennung lag, die durch die neue aus der Latenz der Verdrängung geholt wurde, in die ich sie verschoben hatte. Hinter aktuell erfahrenen Zurückweisungen und Demütigungen tauchten gewissermaßen Urszenen der Kränkung und Verletzung auf, die natürlich häufig auch nur Deckerinnerungen sind und hinter denen noch weiter zurück liegende Verletzungen vermutet werden können, die sich dann oft im Nebel der frühkindlichen Amnesie verlieren. Deckerinnerungen bringen traumatische Situationen chiffriert zum Ausdruck.
Schreibend habe ich versucht, mich dem lebensgeschichtlichen Incognito zu entreißen, wie Ernst Bloch das genannt hat, und mich halbwegs zur Kenntlichkeit zu bringen. Lesen und Schreiben habe ich mein Leben zu verdanken – oder das, was ich einstweilen so nenne. Dieser Prozess reißt nie ab und endet wahrscheinlich erst mit dem Tod. Oder wenn der Geist sich auflöst und das große Vergessen sich breitmacht. Bis dahin ist Schreiben für mich wie eine permanente Schwimmbewegung, die verhindert, dass ich im Fluss der Zeit versinke. Nur schreibend gelingt es mir, den Kopf über der Wasseroberfläche und den Wahnsinn einigermaßen auf Distanz zu halten. Distanz zu dem, was sich uns gegenüber so kompakt und machtvoll als Wirklichkeit aufspreizt und uns zu Anpassung und Unterwerfung nötigt.
Einstweilen scheint der real existierende Kapitalismus das letzte Wort zu haben, alle Auswege sind verriegelt und verrammelt – „überall Türen, die nirgendwohin führen“, wie es bei Paul Nizan heißt. So bleibt mir nichts als der Versuch, die bestehenden Verhältnisse am Maßstab ihrer besseren Möglichkeiten zu messen und die Versöhnung des Wirklichen und des Möglichen wenigstens schreibend vorwegzunehmen. Nur wenn es mir schreibend halbwegs gelungen ist, Selbstverborgenheit aufzuheben und ideologischen Nebel zu vertreiben, verschwinden vorübergehend die mich ständig begleitenden Gefühle der Vernichtung und der Angst. Herbert Achternbusch, zu dem ich seit jeher eine gewisse Nähe und geistige Verwandtschaft verspürt habe, hat das in einem Wolken überschriebenen Text so ausgedrückt: „Genauer betrachtet: Ich hatte immer ein elementares Gefühl der Vernichtung, und dieses Gefühl loszuhaben, war der Erfolg von Texten. Wenn die Niederschrift eines Textes dieses verheerende Gefühl vertrieben hatte, musste er gut sein, da brauchte ich sonst keine Kategorie. Aber ich wurde süchtig …“
Süchtig auch in dem Sinne, dass es besser ist „nichts zu schreiben, als nicht zu schreiben“, wie Goethe es in den Wahlverwandtschaften ausgedrückt hat. Jeder, für den Schreiben mehr ist als ein mondäner Zeitvertreib, kennt den Wahrheitsgehalt dieses Satzes.
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Heute werden Menschen, die sich fotografieren lassen wollen, aufgefordert zu lachen oder mindestens zu lächeln. Allerhand Tricks werden angewandt, um dieses Lachen und Zähneblecken künstlich hervorzurufen. Alle wahrhaft großen Fotografen hätten sich solche Mätzchen verbeten. Der Fotograf Peter Köhn ist der Auffassung, für ein gutes Portrait sei ein Lächeln so wichtig wie ein elektrischer Außenspiegel für ein Auto, nämlich gar nicht. Man stelle sich vor, August Sander hätte die von ihm porträtierten Menschen aufgefordert, „Cheese“ oder „Spagettiiii“ zu sagen. Der Reiz seiner Fotografien besteht gerade darin, dass die Menschen selbst entscheiden konnten, welche Miene sie aufsetzten und was sie auf ihren Gesichtern ausdrücken wollten. Würdevoll und ernst blicken Bauern und Handwerker in die Kamera. Sie waren noch frei vom Fröhlichkeits- und Gute-Laune-Diktat. Synthetisch erzeugte Fröhlichkeit bringt eigenartige Grimassen und den Eindruck einer mühsam unterdrückten und übertünchten Traurigkeit hervor.
Davon sind die Portraits frei, die man eingangs des in der letzten Folge vorgestellten Bandes mit Zeugnissen über Bakunin findet. Hier sind circa dreißig Fotografien von Marx bis Weitling versammelt, auf denen würdevolle Männer und eine Frau (George Sand) ernst in die Kamera blicken. Niemand lächelt oder zeigt auch nur ansatzweise ein für die Kamera erzeugtes Lachen. Alle sind sich des Ernstes der Lage und des Moments des Fotografiertwerdens bewusst. Ein Foto war vor 150 Jahren etwas Besonderes und Einmaliges. Man zog seine besten Kleider an und ging vorher nochmal zum Friseur und ließ sich Haare und Bart stutzen. Selbst Bakunin sieht man im Sonntagsstaat – ich hoffe, dass er mir diese Bezeichnung verzeiht. Er hat den rechten Arm auf eine Art Säule gelegt und hält einen Stock mit silbernem Knauf in der Hand. Bei Bakunin ist vorstellbar, dass er sich den feinen Zwirn von einem Freund hat leihen müssen, wobei das bei seiner Statur nicht so einfach gewesen sein dürfte. Er soll sehr groß gewesen sein und seine Mitmenschen in der Regel um Haupteslänge überragt haben. Er starb von einer schweren Krankheit gezeichnet und politisch resigniert 1876 im Schweizerischen Exil. Sein von einem befreundeten Künstler gestalteter Grabstein trägt die Inschrift: „Wer nicht das Unmögliche wagt, wird das Mögliche niemals erreichen“.
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Es gibt doch noch Inseln der Vernunft im Meer des Irrsinns. So hat die australische Regierung Kindern und Jugendlichen unter sechzehn Jahren den Gebrauch von Social Media verboten. Die Gefahren durch Falschinformationen, die Beeinflussung der Selbst- und Körperbilder durch die ständige Präsenz von schönen, schlanken Menschen und grassierendes Mobbing wurden unter anderem als Gründe angeführt. Jetzt wird es darauf ankommen, ein wirksames System der Altersüberprüfung und der Zugangsregelung zu etablieren. Ich habe mich in meinen Texten seit Jahren gefragt, warum es sich demokratisch nennende Gesellschaften zulassen, dass Jugendliche in einer hochsensiblen und prägenden Entwicklungsphase ihres Lebens unter den Einfluss von derartigen Verhetzungs-, Hass- und Verblödungsmaschinen geraten. Gewisse Firmen erheben und sammeln riesige Datenmengen und versprechen sich große Profite, das ist alles. Ein mutiger Schritt der australischen Regierung, dem sich hoffentlich andere Länder anschließen werden.
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„Ist der Abfent da, ist der Heilige Abend unvermeidlich“, sagt Gerhard Polt. Dass die Adventszeit angebrochen ist, bekommen der radikale Islamist und andere Fanatiker dadurch mit, dass man ihnen zu Ehren eingangs der Fußgängerzone Anti-Terror-Poller aufstellt, an denen man aber auch in höherem Tempo bequem vorbeikommt und ungehindert in den ersten Glühweinstand rasen kann. Weihnachtsmärkte werden tatgestimmten Amoktätern jedes Jahr um diese Jahreszeit als mögliche Ziele von Attacken präsentiert. Eine namenlose und ortlose Wut bekommt so eine mögliche Adresse. Es ist eigentlich erstaunlich, dass es seit dem Angriff auf den Berliner Weihnachtsmarkt im Jahr 2016 zu wenigen größeren Weihnachtsmarkt-Attacken gekommen ist. Dieses Jahr ist bislang nur zu vermelden, dass eine Frau in Berlin lauthals das sogenannte Sylter-Lied anstimmte, mit dem Refrain „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“. Das passt irgendwie auch auf einen deutschen Weihnachtsmarkt. Dennoch nahm die Polizei die Personalien der Frau auf und leitete ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Volksverhetzung ein. Nach der Machtübernahme der AfD wird sich das erübrigen.
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Gestern bei Caren Miosga hat Lindner die marktradikale Katze aus dem Sack gelassen und im Eifer des Wortgefechts gesagt: „Wir sollten in Deutschland ein kleines bisschen mehr Milei und Musk wagen“. Dieser Satz stammt wahrscheinlich aus dem Laptop des gleichen FDP-Mitarbeiters, von dem auch das berühmte „D-Day“-Papier und die Prognose einer bevorstehenden „offenen Feldschlacht“ stammen. Er wird Christian Lindner bei der Vorbereitung auf die Sendung diesen Pfeil in den Köcher gesteckt haben, für den Fall, dass er in Bedrängnis gerät. Und das geschah relativ bald, weil Miosga für ihre Verhältnisse hart mit ihm ins Gericht ging. Vielleicht denkt sich Lindner: „Von Trump und Musk lernen, heißt siegen lernen. Vielleicht gelingt es uns, wenn wir mal ordentlich die Sau rauslassen, doch noch, die Fünfprozenthürde zu überspringen.“ Vielleicht sollte er sich öfter mal auf der Kühlerhaube seines Porsche ablichten lassen. Man kann nur hoffen, das alteuropäische Residuen dafür sorgen, dass die Masche der anarchistischen Milliardäre und Millionäre hierzulande noch nicht verfängt.
In Kontext von Milei, Musk und Lindner fiel mir wieder mal der wunderbare Text von Fernando Pessoa ein, der „Ein anarchistischer Bankier“ heißt und der roten Reihe von Wagenbach erschienen ist. Eingangs dieser Erzählung heißt es: „Wir hatten das Abendessen beendet. Mir gegenüber saß mein Freund, der Bankier, ein großer Händler und namhafter Schieber; er rauchte wie einer, der nicht denkt. Die Unterhaltung war allmählich ins Stocken geraten und erstarb schließlich ganz. Ich versuchte auf gut Glück, sie wieder in Gang zu bringen, und bediente mich dabei der erstbesten Idee, die mir durch den Kopf ging. Lächelnd wandte ich mich ihm zu: „Richtig! Mir wurde erzählt, Sie seien früher Anarchist gewesen.“ „Ich bin es nicht nur gewesen, ich bin es noch immer. In dieser Hinsicht habe ich mich nicht geändert. Ich bin Anarchist.“ Wenig später sagt der Bankier: „Sie haben mich mit diesen Idioten von Bombenlegern, mit denen von der Gewerkschaft verglichen, um zu beweisen, ich sei anders als sie. Das bin ich auch, nur ist der Unterschied folgender: die da (jawohl, die da, nicht ich) sind nur in der Theorie Anarchisten, ich bin es in der Theorie und in der Praxis. Die da sind Anarchisten und Dummköpfe, ich bin Anarchist und gescheit. Darum, mein Guter, bin ich der wahre Anarchist. Die von den Gewerkschaften und die Bombenleger (ich war ja auch einer von ihnen und habe sie gerade um des wahren Anarchismus willen verlassen) – sie stellen ja nur den Abfall des Anarchismus dar, sie sind die Drohnen der großen anarchistischen Lehre.“
Der Text von Pessoa ist eine interessante und zugleich höchst amüsante Lektüre
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Apropos Anarchismus: Dieser Tage bin ich in dem Film „Monte Verità – Der Rausch der Freiheit“ (29. November auf 3Sat) mal wieder dem österreichischen Psychoanalytiker und Anarchisten Otto Gross begegnet, der sich 1906 auf dem Monte Verità aufhielt, um dort seine Drogensucht zu kurieren und seine therapeutische Fähigkeiten an anderen Gästen des Bohème-Treffpunkts auszuprobieren. Gross ist einer der faszinierendsten Gestalten in der Geschichte der deutschsprachigen Linken, ein Grenzgänger zwischen Politik, Kunst, Therapeutik und Scharlatanerie. Wie Aeneas den Anchises auf seinen Schultern aus Troja tragen musste, so trug Otto Gross zeitlebens seinen übermächtigen Juristen- und Kriminologen-Vater auf seinen Schultern durch sein Leben, das dadurch nie wirklich seines werden konnte. Allzu viel an seinem Leben war entfremdet, ein eingepflanztes seelisches Implantat. Das Verhältnis von „Eigenem und Fremden“ zu ergründen, war Gross` Lebensthema und sein theoretisches und praktisches Bestreben. In den meisten Fällen triumphiert der Willen der Eltern über den Willen zur Selbstbehauptung, das Kind kapituliert und unterwirft sich den übermächtigen Eltern, auf deren Wohlwollen es angewiesen ist. Ich habe da einiges von Otto Gross gelernt und in meine Denken übernommen. Am Ende obsiegte bei ihm das Fremde. Man fand ihn im nachrevolutionären Berlin des Jahres 1920 halbtot auf der Straße. Sein Freund und Weggefährte Franz Jung hat das in seinen Memoiren „Der Torpedokäfer“ so beschrieben: „Otto Groß ist in den ersten Monaten der Unruhen nach dem ersten Weltkrieg auf der Straße buchstäblich verhungert. Die Freunde können einmal und vielleicht auch noch ein andermal mit dem Revolver in der Hand Apotheken in der Nacht überfallen und Opium herausholen, aber das kann nicht zur Regel werden. Groß fühlte sich im Stich gelassen, hatte auch keine Kraft mehr, jemanden aufzusuchen und dort wieder für eine Zeit unterzukriechen. Er hatte sich eines Nachts in einen sonst unbenutzten Durchgang zu einem Lagerhaus geschleppt und ist dort liegen geblieben. Er wurde zwei Tage später aufgefunden. Eine Lungenentzündung, verschärft durch völlige Unterernährung, konnte nicht mehr behandelt werden. Er ist den Tag darauf gestorben. Der Stern eines großen Kämpfers gegen die Gesellschaftsordnung – der Stern ist explodiert, erloschen und untergegangen; die Zeit war nicht reif, das Gesindel der Satten noch zu zahlreich. Vorläufig ist der einzelne noch machtlos gegen sein Verhängnis.“
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In den letzten Tagen habe ich Heryk Grynbergs Erinnerungen an sein Überleben als jüdisches Kind im von den Nazis besetzten Polen gelesen. „Der jüdische Krieg“ heißt die 1972 bei Suhrkamp erschienene Erzählung. Einmal schildert er seine Flucht aus der Perspektive des Vaters, in dessen Begleitung und Schutz das Kind in Kammern, Scheunen und Ställen überlebt. Als der Vater „in den Wald geht“ und im Partisanenkampf ums Leben kommt, versuchen Mutter und Sohn sich in der Anonymität der Großstadt Warschau durchzuschlagen. Ihre Flucht vor den Häschern endet aber neuerlich auf dem Land, wo sie die Ankunft der sowjetischen Flugzeuge erleben. Alle, die sich versteckt gehalten haben und noch leben, stürzen ins Freie. Der Krieg ist vorüber, Mutter und Sohn haben ihn überlebt. Ein in seiner kargen und nüchternen Sprache erschütterndes Buch.
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Bei VW regt sich erfreulich heftiger Widerstand gegen die Sparpläne der Konzernspitze. Tausende von Arbeitern und Arbeiterinnen haben gestern mit bundesweiten Warnstreiks begonnen und sind auf Straßen und Plätze gegangen. Jahrzehnte lang haben sich sie sich krumm gelegt und sollen nun Werksschließungen und Lohnkürzungen einfach so hinnehmen und nach Hause gehen. Immer mehr Beschäftigte sind nicht bereit, sich zu fügen und das Spardiktat zu befolgen. Die Arbeiterklasse erwacht und regt sich. An der Spitze der Bewegung steht mit Daniela Cavallo eine unerschrockene, charismatische Betriebsrätin, die entschlossen ist, den Kampf aufzunehmen und das Zeug hat, die Belegschaft wachzurütteln und mitzureißen. So eine bräuchten wir als Kanzlerkandidatin.
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Nun ist auch die UN-Plastik-Konferenz in Busan gescheitert. 170 Länder haben in der letzten Woche über eine Reduktion der Plastikproduktion und ein verbindliches Plastikabkommen verhandelt und keine Einigung erzielt. Die Konferenz scheiterte am Widerstand Öl produzierender Länder wie Russland, Iran und Saudiarabien, die weiter an der Herstellung von Plastik verdienen wollen. Wenn alles so weitergeht wie bisher, rechnen Experten mit einer Verdreifachung der Plastikproduktion bis zum Jahr 2060. Wie König Midas, dem sich alles, was er berührte in Gold verwandelte und der dadurch schließlich Hungers starb, wird die Menschheit, der sich alles in Plastik verwandelt, am und im Plastik ersticken. Völlig zu Recht sprach die Hippiebewegung von den angepassten konsumistischen Zeitgenossen als „Plastic People“. „The Plastic People of the Universe“ war eine tschechische Undergroundband der 1960er und 1970er Jahre. In puncto Umweltzerstörung glichen sich beide damals noch existierenden verfeindeten Systeme. Plastik galt auch dem „realen Sozialismus“ als Insigne des Fortschritts. „Plaste und Elaste aus Schkopau“ stand auf einem Transparent, das über der Transitautobahn nach Berlin prangte und stolz auf die volkseigene Plastikproduktion in Sachen-Anhalt hinwies.
Dieser Tage las ich, dass immer mehr Plastikpartikel über die Nahrung und Atmung in den Körper gelangen. Es wird geschätzt, dass jede Person etwa 5 Gramm Mikro- und Nanoplastik wöchentlich mit der Nahrung aufnimmt. Sie gelten auch als Risikofaktor für Schlaganfall und Herzinfarkt. Man stieß auf sie im Plaque-Material, das Herzkranzgefäße verstopft und so Infarkte auslöst. Vielleicht ist das ja auch die Lösung des Rätselns meines Infarkts. Ich trinke seit Jahren Leitungswasser, das ich gedankenlos in Plastikflaschen fülle. Die werde ich ab sofort durch Glasflaschen ersetzen. Das hatte mir U schon vor vielen Jahren geraten, als man noch nichts von Mikroplastik und den damit verbundenen Gesundheitsrisiken wusste. Manchmal ist sie einfach eine Prophetin und verfügt über einen untrüglichen Instinkt in solchen Dingen.
Sie liest mir seit Wochen einen Roman vor, der in Irland spielt und vom Leben des jungen Wilbur erzählt, der als Waise durchs Leben stolpert und herauszufinden versucht, wie Leben geht. Der Roman ist im Hanser-Verlag erschienen, stammt vom schweizerisch-irischen Autor Rolf Lappert und heißt „Nach Hause schwimmen“. Wilburs Suchbewegung führt ihn mitunter auch auf Abwege. Irgendwann landet er in der Besserungsanstalt „Four Towers“. Sein Idol ist Bruce Willis, und so richtet Wilbur zusammen mit anderen Zöglingen in mühsamer, wochenlanger Arbeit einen Kellerraum zum Kraftraum her. Zu dessen Einweihung hält der Direktor der Anstalt eine Rede, in der er zunächst den Fleiß und das Durchhaltevermögen der Renovierungsgruppe lobte. „Das Ende eines schlappen Applauses abwartend, erinnerte er die Jungen daran, dass es bei der Ertüchtigung des Körpers nicht darum gehe, Kraft zu entwickeln, um Schwächere zu drangsalieren, sondern darum, ein Gleichgewicht zwischen Körper und Geist zu finden. Muskeln seien dazu da, um Arbeit zu verrichten und Gutes zu tun, nicht um die Faust für den Kampf zu stählen.“ In allen Anstalten, in denen Männer verwahrt werden, steht der Kraftsport hoch im Kurs, und dieser dient in erster Linie dazu, den Körper in eine Kampfmaschine zu verwandeln, die anderen abzuschrecken und die Hierarchie auszutarieren. Wer das größte Gewicht nach oben bringt, dessen Aktien stehen gut. Die Rede, die Direktor Moriarty im Roman hält, hätte man auch in der JVA Butzbach halten können und müssen, und sie wäre dort genauso sinnlos gewesen, wie in der Besserungsanstalt „Four Towers“. Das macht sie aber nicht weniger wahr und richtig.
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Der Vandale hat die Bitte eines Nachbarn, seine Blumenkästen doch bitte nicht vom Balkon zu reißen (Folge 99 der DHP), erwartungsgemäß ignoriert. Vor ein paar Tagen lag einer der Blumenkästen zerbrochen im Eingang des Nachbarhauses, Erde und Pflanzen waren weiträumig verstreut.
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Vorn im Park kann man den Wahnsinn der Mechanisierung beobachten und vor allem hören. Männer blasen mit gigantischen Laubbläsern die herabgefallenen Blätter von den Wegen, eine Kehrmaschine kehrt die Blätter von der Wiese auf und entleert sie auf große Haufen. Diese werden von wieder anderen Maschinen auf die Ladefläche eines Lastwagens verfrachtet. Zurück bleiben von Reifen aufgerissene Böden, zerstörter Rasen, zerquetschtes oder aufgesaugtes Kleingetier und genervte Nachbarn. Eine typisch kapitalistische Win-Win-Situation.
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In Kalifornien sind innerhalb von zwei Monaten zwei tote Riemenfische an Land gespült worden, die bis zu neun Metern lang werden und gewöhnlich in der Tiefe des Meeres leben. Wenn und solange sie denn leben. Früher erblickten die Menschen in den toten Fischen Boten kommenden Unheils und nannten sie respektvoll „Weltuntergangsfische“. Sie galten ihnen als „Botschafter aus dem Reich des Meeresgottes“, heute stürzt sich die Wissenschaft auf sie und macht ihre Kadaver zu Forschungsobjekten, die auf Seziertischen landen und aufgeschnitten werden. Welches Vorgehen wahrt eher die Würde der Tiere?
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„Menschen sind wir, Menschen! Schlecht und gut! Gut und schlecht! Nichts anderes als Menschen.“
(Joseph Roth: Beichte eines Mörders, erzählt in einer Nacht)
Gestern Abend sah ich auf Arte noch einmal den Film „Capote“ von Bennett Miller aus dem Jahr 2005. Ich hatte ihn seinerzeit als DVD erworben, weil Butzbacher Gefangene den Film unbedingt sehen wollten. Wir haben ihn dann im Rahmen der „Kulturgruppe“ gemeinsam angeschaut und im Anschluss heftig diskutiert. Capotes Roman „Kaltblütig“ gehörte, als Gefangene noch lasen, zu den Büchern, die im Knast hoch im Kurs standen und ständig ausgeliehen waren. Es war vor allem der Titel des Buches, der die Gefangenen neugierig machte und zu diesem recht umfangreichen Buch greifen ließ. Capote interessierte sich für einen vierfachen Mord, der sich in der amerikanischen Provinz ereignet hatte. Die Farmerfamilie Clutter war 1959 in in ihrem Haus brutal ermordet worden. Capote stieß auf diesen Fall durch eine knappe Notiz in der New York Times. Er beschloss, sich die Umstände des Falles aus der Nähe anzuschauen und reiste nach Kansas. Nachdem die beiden Täter ausfindig gemacht und festgenommen waren, gelang es Capote, mit ihnen in Kontakt zu treten. Zu einem der Täter mit Namen Perry Smith entwickelt sich ein intensiver Kontakt. Capote erkannte sich in gewisser Weise in ihm wieder. Smith verkörperte Capotes dunkle Seite, zu der er dank der Begegnung mit ihm Zugang fand. Als seine Freundin Harper Lee ihn fragte, was ihn an dem jungen Mann so fasziniere, sagte Capote sinngemäß: „Wir bewohnten beide dasselbe Haus. Ich verließ es durch den Vordereingang, er durch die Hintertür.“ Als Hubert Fichte Jean Genet fragte, warum er in seiner langen kriminellen Geschichte keinen Mord begangen hätte, antwortete Genet: „Wahrscheinlich, weil ich meine Bücher geschrieben habe.“ In Hebbels Tagebüchern heißt es: „Dass Shakespeare Mörder schuf, war seine Rettung, dass er nicht selbst zum Mörder zu werden brauchte.“ Grundlage für einen humanen Umgang mit Straftätern ist die Erkenntnis, dass sie unseren Verfemten Teil verkörpern, all das, was wir im Zuge unserer Anpassung an die herrschenden Verhältnisse verdrängen mussten. Die Verbrecher begehen ihre Verbrechen für uns mit. Sie sind Sündenböcke, denen wir auch unsere Schuld aufladen, bevor wir sie in die Steinwüste der Gefängnisse jagen.
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Der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften geht in diesem Jahr an die drei Forscher Acemoglu, Johnson und Robinson. Wofür erhalten sie ihn? Dafür, dass sie den Nachweis geführt haben, dass die Demokratie auf lange Sicht die dem Geldverdienen günstigste Staats- und Gesellschaftsform ist. Hier stellt sich erneut die bange Frage: Was wäre, wenn Diktatoren und Autokraten in diesem Feld die Nase vorn hätten und effizienter wären? Anders gesagt: Wahrhafte Demokratie wäre auch dann besser, wenn sie mit ökonomischen Nachteilen verbunden und nicht so profitabel wäre. Es sollte eben nicht nur das Geld und der ökonomische Nutzen zählen. Nochmal anders gesagt: Es gibt Dinge, die sind mit Geld nicht aufzuwiegen.
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