„Positiv an Deutschland ist vor allem der Kräuterquark.“
(Sibylle Berg)
Als ich dem Schriftsteller Christian Baron, der in diesen Blog gelegentlich reinschaut, neulich schrieb, dass ich die 100. Ausgabe der Durchhalteprosa zum Anlass nehmen wolle, über deren Fortführung nachzudenken, antwortete er mir: „Dank auch für die neue Durchhalteprosa. Ich hoffe auf deutlich mehr als 100!“ Die anerkennenden Worte aus berufenem Mund habe ich als Ermutigung genommen, vielleicht doch weiterzumachen. Solange es noch geht. Ich habe mich außerdem derart an das morgendliche Schreiben der DHP gewöhnt, dass ich mir ein Leben ohne diese täglichen Schreibübungen gar nicht vorstellen kann. Sie sind eigentlich der einzige stabile Faktor in meinem alltäglichen Leben, das ohne diese ins Amorphe zerflösse. Ich habe es gelegentlich schon gesagt: Die tagebuchartige, kleine Form, die sich im Kontext der DHP herausgebildet hat, ist die endliche gefundene, mir gemäße Form des Schreibens. Auf das Schreiben längerer Texte habe ich keine Lust mehr, oder ehrlicher: Dafür reicht meine Konzentrationsfähigkeit nicht mehr aus. Vor ein paar Jahre habe ich noch regelmäßig längere Essays für die Zeitung „junge Welt“ und meine Bücher verfasst, so etwas würde ich heute nur noch unter großen Mühen hinbekommen. Und die will ich einfach nicht mehr auf mich nehmen.
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„Ich erinnere mich, wie mein Vater mich besserte – oder um es schlichter zu sagen, mich schlug …“
(Anton Tschechow)
Ich kann nach wie vor Menschen nicht verstehen, die behaupten, frühe Schläge durch ihre Eltern hätten ihnen nicht geschadet. Im Gegenteil: Was wäre aus ihnen geworden ohne diese Züchtigungen? Es sei nur zu ihrem Besten gewesen, und sie leiten aus der Anzahl der Schläge das Ausmaß der elterlichen Liebe und Zuneigung ab. Mir haben die Züchtigungen durch meine Eltern, vor allem den Vater, immensen Schaden zugefügt. Sie haben dazu beigetragen, mir den Weg in die Welt der Menschen zu versperren und Angst zu meinem Lebensgrundgefühl zu machen. Noch im Erwachsenenalter zuckte in Schreckmomenten mein angewinkelter Arm hoch, zum Schutz gegen vermutete Schläge. Es hat lange gedauert, bis sich dieser verkörperlichte Reflex auf die Misshandlungen verlor.
Es handelt sich bei der oben skizzierten Rechtfertigung elterlicher Bestrafungen und körperlicher Züchtigungen um die Grundfigur dessen, was in der Psychoanalyse als „Identifikation mit dem Aggressor“ bezeichnet wird. Diese wird zu den Abwehrmechanismen gezählt, auf die das Ich im Falle innerer oder äußerer Bedrohungen zurückgreift. Durch die Verschmelzung mit dem angsteinflößenden Angreifer wird Angst vermindert und gebannt. Dieser in der Kindheit eingeübte Mechanismus liefert den libidinösen Kitt, der klassengespaltene Gesellschaften zusammenhält. Die Vorunterwerfung unter die Gewalt der Eltern bildet das Modell für alle nachfolgenden Unterwerfungen. Alle späteren Herrschaftsverhältnisse profitieren von ihr und würden ohne diese nicht funktionieren. Martin Luther mit seinem Gespür und seiner Vorliebe für Herrschaftsverhältnisse hat das zeitig beschrieben: „… dass alle, die man Herrn heißt, an der Eltern Statt sind und von ihnen Kraft und Macht zu regieren nehmen müssen.“ Das Fatale und Ausweglose besteht für die Kinder darin, dass Liebe und Gewalt wie zu einem Zopf verflochten sind. Es ist dieselbe Hand, die uns strafend ins Gesicht schlägt und dann wieder zärtlich streichelt. Dieses Zugleich sorgt für eine oft lebenslang wirksam bleibende Einbindung der Aggression in Fügsamkeit und Unterwerfung. Würde das Kind sich wehren, verlöre es die Person, auf deren Zuwendung und Sorge es angewiesen ist. Heinrich Mann hat im Untertan gezeigt, dass ein deutscher Lehrer sich der Zuneigung seiner Schüler erst dann sicher sein konnte, wenn er sie gezüchtigt hatte. „Am Geburtstag des Ordinarius bekränzte man Katheder und Tafel. Diederich umwand sogar den Rohrstock.“ Mit dem zuvor auch er gelegentlich durchgeprügelt worden war. Es ist überliefert, dass eine Schülergruppe im Rheinland etwa zur gleichen Zeit einen Lehrer, der wegen Überschreitung des Züchtigungsrechtes zu einer Haftstrafe verurteilt worden war, am Tage seiner Haftentlassung mit rot-weißen Fahnen am Bahnhof abholte und im Triumphzug zur Schule begleitete. (Folkert Meyer: Schule der Untertanen, Hamburg 1976, Seite 87) Etwas davon spürte ich noch auf den Klassentreffen unseres Abiturjahrgangs. Je länger die Schulzeit zurücklag, desto einhelliger herrschte die Meinung, diese sei im Großen und Ganzen prima gewesen und es gebe nichts zu beanstanden. Selbst Lehrer, die anfangs zu Recht als Sadisten und Quälgeister verpönt waren, wurden im Laufe der Jahre in der idealisierenden Erinnerung zu Respektspersonen. Ich fand mich mit meiner Sicht auf Schule und Schulzeit mehr und mehr in der Rolle eines Miesmachers vor und geriet darüber in eine Außenseiterposition. Man redet sich die Vergangenheit schön und schließt Frieden mit den größten Arschlöchern. Solche Idealisierungen dienen immer auch dem eigenen Selbst und schützen vor Traurigkeit und Depression, die einen befallen könnten, würde man der Vergangenheit und der eigenen Rolle in ihr ins Auge schauen. Es war alles halb so wild und hat uns nicht geschadet, so fällt das Resümee der „alten Herren“ aus, die, wie Adorno bemerkte, mit den gleichen Lehrern, unter denen sie einst gelitten und gegen die sie rebelliert haben, „am gleichen Tisch beim gleichen Bier zum Männerbund sich zusammensetzen“.
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Björn Hoeckes Behauptung, er habe die SA-Parole „Alles für Deutschland“ für einen Allerweltsspruch gehalten, erinnert mich an eine Szene aus dem Gefängnis. Ein Beamter hatte einen Gefangenen, der den Arbeitsbeginn verschlafen hatte, mit den Worten aus dem Bett gescheucht: „Arbeit macht frei.“ Da der Gefangene ein Sinto war, traf ihn dieser Weckruf des Beamten besonders. Er zeigt ihn an, und es kam zu einer gerichtlichen Auseinandersetzung. Um es kurz zu machen: Der Beamte beteuerte, nicht gewusste zu haben, dass der Satz „Arbeit macht frei“ eine Nazi-Parole gewesen sei und über den Eingängen von verschiedenen Konzentrationslagern, unter anderem in Dachau, gestanden habe. Das Gericht glaubte ihm und sprach ihn vom Vorwurf der Volksverhetzung frei. Der Gefangene nahm den Freispruch zum Anlass, sich mit der Aufforderung an das Justizministerium zu wenden, entsprechende Fortbildungen anzubieten und den Nachwuchs in der Geschichte des Nationalsozialismus besser zu schulen.
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Wo meine Hirnantilope gerade nach Butzbach gesprungen ist, folge ich ihr noch eine Weile in ihren Sprüngen. Ich habe in Zellen Hitlerbilder angetroffen, die dort, für jeden sichtbar, an Spinden und Wänden hingen. Wenn ich Beamte bat, die Bilder zu entfernen, stieß ich häufig auf Unverständnis. Ich solle mich nicht so haben, hieß es. Wie oft hörte ich Sätze wie diesen: „Der Gefangene XY mag zwar Nazi sein, ist aber ansonsten ein netter Kerl und schwer in Ordnung! Der hält sich an die Hausordnung, ist ein guter Arbeiter und gibt keine Widerworte.“
Vor etlichen Jahren ging ich gegen Abend über eine bestimmte Station im Gefängnis. Aus einer Zelle drang laute Musik. Als ich näher kam, stutzte ich und hörte etwas genauer hin. „Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen, SA marschiert mit ruhig festem Schritt und die Toten marschieren in unseren Reihen mit“, war da zu hören. Das sogenannte „Horst Wessel-Lied“, das Kampflied der SA und die Hymne der NSDAP, die natürlich auf dem Index steht und deren Abspielen verboten ist, wie das Herzeigen von Hakenkreuzen und anderen Nazi-Symbolen. Ich holte den Beamten, der drei oder vier Zellen weiter in seinem Büro saß und die Musik dort auch hören musste. Ich fragte den Kollegen, ob er so etwas hier dulde. „Was meinst du denn?“, fragte der ahnungslos. „Na, hör doch mal genauer hin“, empfahl ich ihm, worauf er sagte: „Das ist doch Volksmusik“, sagte er. „Das war tatsächlich mal Volksmusik und zwar zwischen 1933 und 1945“, erwiderte ich und musste ihm tatsächlich erklären, was es mit diesem Lied auf sich hat. Ich besorgte ihm zum nächsten Tag den Text aus dem Internet. Das Lied kam von einer Kassette, die man diesem Gefangenen über die Effektenkammer offiziell ausgehändigt hatte. Natürlich stand draußen nicht drauf, was drinnen zu hören war. Auf der Kassette stand „Alte Kameraden“ oder so etwas in der Art. Unsereiner wird ja schon beim Wort „Kameraden“ hellhörig, aber die Bediensteten finden da nichts dabei, sie sind selbst „Kameraden“.
Die Nazis wissen, wie man solche Sachen verpacken muss, damit sie in den Knast gelangen und den „Kameraden“ ausgehändigt werden. Einen Moment erwog ich, eine Meldung zu machen, dachte dann aber, dass das den Mann noch weiter in die Verhärtung treiben würde und sah davon ab. Am nächsten Tagen führte ich ein Gespräch mit ihm, in dem der er sehr erregt auf die Musik verwies, die bei den Islamisten liefe und bei denen keiner wisse, was es damit auf sich habe und auch niemand etwas sage. Ich forderte ihn auf, die Beschallung der Station mit dieser Nazi-Musik zu unterlassen. Andernfalls würde ich gegen ihn vorgehen. Er fühlte sich relativ sicher, da man ihm die Musik offiziell ausgehändigt hatte und bei meiner Entscheidung, nichts Offizielles zu unternehmen, spielte auch der Gedanke mit, irgendwelche ahnungslosen Kollegen zu schützen und nicht ans Messer zu liefern. Ein paar Tage später beobachtete ich, wie der Mann mit der Horst-Wessel-Kassette, der bei den Malern arbeitet und sich im Haus relativ frei bewegen kann, an einer Gittertür klopfte, um eingelassen zu werden. „Name und Dienstgrad?“, fragte der Beamte aus seinem Büro heraus. „Obersturmbannführer B.“, kam es zackig zurück, und der Beamte öffnete prompt und ohne jeden Widerspruch.
Es ist einfach so, dass gewisse Berufe Menschen mit einer autoritären Charakterstruktur anziehen. Und es gibt Einrichtungen, die autoritäre Gesinnungen treibhausmäßig produzieren. Wer im Knast als Beamter etwas werden will, muss diesen Korpsgeist reproduzieren. Die Uniform zieht gewisse Männer an, denen die Uniform auf dem Körper sitzt wie eine zweite Haut. Es gibt oder gab unter den im Gefängnis Arbeitenden eine verbreitete Homophobie und Ausländerfeindlichkeit, und eine Tabuisierung weicher Regungen wie Mitgefühl und Empathie. Wer sie praktizierte, galt als Weichei und Gefangenenversteher. Bei Einstellungsgesprächen habe ich häufig erlebt, dass Kandidaten, die Zivildienst geleistet hatten, eigentlich gleich ausschieden. „Er hat gedient“, war ein Lob und eine längere Zeit in der Bundeswehr galt als wichtige Basisqualifikation.
„Totale Institutionen“ (Erving Goffman) – und dazu gehören Gefängnisse und psychiatrische Anstalten – sind und bleiben trotz aller Reformbemühungen totale Institutionen, in denen unmittelbare Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse und vordemokratische Zustände überdauern. Es gab und gibt hier eine erschreckende Kontinuität. Wir befanden uns tief in der Bundesrepublik, und ich hatte doch gelegentlich das Gefühl, mich noch im „Dritten Reich“ zu befinden.
Einmal wurde das sehr deutlich. Die Abteilung, der im Gefängnis zugeteilt war, plante, ihre „Team-Tage“ zu einem Besuch des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald zu nutzen. Der Kollege, der die Organisation der Fahrt übernommen hatte, teilte den Mitreisenden in einer Konferenz mit: „Wohnen werden wir in Weimar. Von da aus ist es nicht weit nach Buchenwald. Viele der Kollegen, die da geschafft haben, haben damals auch in Weimar gewohnt.“
Ich erschrak. Hatte dieser Gefängnismitarbeiter die SS-Leute aus dem KZ als seine Kollegen bezeichnet? Sah er sie als seine Kollegen, die im Grunde die gleiche Arbeit verrichteten wie er? Vielleicht barg diese Äußerung mehr Wahrheit, als ihm bewusst war. Waren die SS-Leute aus Buchenwald am Ende auch meine Kollegen? Gab und gibt es eine Kontinuität zwischen Konzentrationslagern und Gefängnissen? Solche Überlegungen waren meinem Kollegen vollkommen fremd. Er meinte es so, wie er es sagte, und er sagte das vollkommen arglos. Manche SS-Männer haben in Weimar gewohnt, und sind von da aus zu ihrer Vernichtungsarbeit auf den Ettersberg gefahren. Sie haben da „geschafft“. Der Kollege hat mir, freilich ohne es zu wollen, zu einer wichtigen Einsicht verholfen, oder eine wichtige Einsicht, die ich schon mal hatte, erneuert: Die SS-Männer sind mit ihren Aktentaschen mit Brotbüchsen und Thermoskannen drin mit dem Bus „zur Arbeit“ ins Konzentrationslager gefahren. Sie versahen dort „ihren Dienst“. Vor 1933 waren sie Buchhalter oder Gärtner, dann wurden sie KZ-Aufseher und Menschenschinder, um nach 1945 wieder in ihre alten Berufe zurückzukehren und anderswo „ihren Dienst“ zu versehen.
Der Schriftsteller Horst Krüger nahm auf Einladung von Fritz Bauer vier Wochen lang als „stummer Zeuge“ und journalistischer Beobachter am Frankfurter Auschwitz-Prozess teil. Er hat seine Beobachtungen in seinem autobiographischen Buch Das zerbrochene Haus. Eine Jugend in Deutschland (Hamburg 1976) festgehalten. Am ersten Prozesstag, dem er beiwohnte, fragte er in der Mittagspause einen Kollegen: „Und die Angeklagten? Wo sind denn die eigentlich?“ Er hatte im Gerichtssaal nur behäbige Frankfurter Bürgergesichter wahrgenommen. Der Kollege klärt ihn auf, dass die Angeklagten direkt vor ihm säßen. Da begriff Horst Krüger, dass man sie nicht unterscheiden kann, dass sie sind wie alle. „Zweiundzwanzig Männer sind hier angeklagt, acht sind in Haft, vierzehn gegen Kaution in Freiheit, und alle sehen mit ganz wenigen Ausnahmen natürlich aus wie alle anderen, benehmen sich wie alle anderen, sind wohlgenährte, gut gekleidete Herren im gehobenen Alter: Akademiker, Ärzte, Kaufleute, Handwerker, Hausmeister, Bürger unserer neudeutschen Gesellschaft im Überfluss, freie Bundesbürger, die draußen ihr Auto vor dem Römer stehen haben und zur Verhandlung kommen wie ich. Da ist nichts zu unterscheiden.“ Die Massenmörder sind inzwischen wieder das, was sie vor den Massenmorden waren. Auffallend viele von ihnen arbeiten als Buchhalter. „Bestand denn die ganze SS aus Buchhaltern“, fragt sich Horst Krüger irritiert. Der ehemalige Nazi ist kein zähnefletschendes Ungeheuer, sondern der nette Mann von gegenüber, der im Park seinen Hund ausführt und den Enkeln auf dem Rückweg vom Büro ein Eis mitbringt. Adorno bezeichnete die KZ-Schergen, von denen einige in Frankfurt vor Gericht standen, als „Normalungetüme“.
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Am 19. April ist Jean Ziegler 90 Jahre alt geworden. Er erinnert sich an seine erste Begegnung mit Jean-Paul Sartre als junger Student in Paris. Er habe zu ihm gesagt, dass ein Leben nur dann einen Sinn hat, wenn man ihm einen gibt. Ziegler antwortet auf die Frage nach dem Sinn seines Lebens mit seinem Lebenslauf. Er verschrieb sich dem Kampf gegen Ungerechtigkeit – bis zum heutigen Tag. Das ergab und ergibt Sinn.
In einem älteren Interview, das ich nicht vergessen habe, sagte Ziegler einmal: „Aber der Begriff des Revolutionärs steht mir nicht zu, ich bin ein in Genf lebender Kleinbürger. Aber von Che habe ich das Prinzip der subversiven Integration gelernt. Das heißt, als Kommunist in einer kapitalistischen Gesellschaft zu leben und dort die Waffen der Veränderung zu nutzen, die einem gegeben sind. Vor etlichen Jahren hatten mich Genossen aus Kuba gebeten, Che während einer zehntägigen UNO-Konferenz in Genf als Fahrer zur Seite zu stehen. Am letzten Abend, bevor er abfuhr, waren wir im Hotel in Grand Saconnex, und ich sagte zu ihm, er solle mich mitnehmen nach Kuba, ich wolle mit ihm kämpfen und Teil der Revolution werden. Er reagierte damals sehr kühl, bat mich zu sich ans Fenster, wies auf die Leuchtreklamen der Banken, die man von dort aus sehen kann und sagte: ‚Schau auf die Stadt, hier lebst du, hier musst du kämpfen.‘ Er hatte natürlich Recht.“
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Heute – am 22. April 2024 – jährt sich Kants Geburtstag zum 300. Mal. Bei einem Festakt am Abend wird Bundeskanzler Olaf Scholz vor der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften eine Rede über Kants berühmte Schrift „Zum ewigen Frieden“ halten. Hoffentlich schlafen die Zuhörerinnen und Zuhörer nicht ein – und das nicht wegen Kant. Man kann nur hoffen, dass Daniel Kehlmann (oder wer sonst auch immer) ihm eine spannende Rede geschrieben hat. Eines der in meinen Augen besten Bücher über Kant stammt von den Brüdern Hartmut und Gernot Böhme und heißt „Das Andere der Vernunft“. Erschienen ist es 1983 im Suhrkamp Verlag. „Das Andere der Vernunft, das ist inhaltlich die Natur, der menschliche Leib, die Phantasie, das Begehren, die Gefühle – oder besser: all dieses, insoweit es sich die Vernunft nicht hat aneignen können.“ Das betrifft laut den Gebrüdern Böhme auch die Philosophie Kants, in der sich Spuren dieser Verdrängung finden lassen.
Dass Immanuel Kant auch Humor hatte, davon zeugt eine Bemerkung in einer seiner Vorlesungen. Kant mutmaßt dort, dass Paviane sprechen könnten, wenn sie nur wollten; sie täten es nur deshalb nicht, weil sie sonst befürchten müssten, zur Arbeit herangezogen zu werden.
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Von Edgar Allan Poe gibt es eine Detektivgeschichte, in der nach einem Brief gesucht wird. Dieser wird nicht gefunden, weil er keineswegs versteckt hinter einem Spiegel oder einer aufgeschlitzten Tapete steckt, sondern offen und für jeden sichtbar auf einer Ablage liegt.
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In einer Fernsehsendung sehe ich eine ältere Frau in Uganda, die an Malaria erkrankt ist und widerstrebend einem Arzt vorgeführt wird. „Früher“, sagt sie, „haben wir Kräuter gesammelt, gestoßen und aufgekocht. Den Sud haben wir drei Tage lang getrunken, dann war man gesund. Heute müssen wir den Anweisungen des Arztes folgen.“ Wir sehen hier noch einmal, wie die Traditionen der Volksmedizin, die meist weiblich waren und von Frauen weitergegeben wurden, auf die moderne, wissenschaftsgestützte Medizin, die an Universitäten und von Männern gelehrt und betrieben wird, aufeinanderprallen. Statt die durchaus vorhandenen Erfolge der volkstümlichen Heilkunst anzuerkennen und aufzugreifen, wird auch in Afrika die wissenschaftliche die volkstümliche Medizin verdrängen. Das ist für die Pharma-Giganten ein Riesengeschäft. Dass das nicht nur ein Segen und ein Fortschritt ist, beginnen manche in Europa inzwischen zu begreifen. Wenn die mündliche Überlieferung alter Kenntnisse eines Tages nicht mehr möglich ist, weil die Trägerinnen des Wissens ausgestorben sind, wird es zu spät sein. Bestimmte Formen des Wissens sterben mit ihren Trägerinnen und Trägern unwiederbringlich aus.
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„Ein Schuss ist eine Aktion aus der Ferne, ein Angriff mit dem Messer, einer Nahkampfwaffe, etwas geradezu Intimes; und die Verbrechen, die mit einem Messer begangen werden, sind Resultate intimer Begegnungen.“
(Salman Rushdie)
In den letzten Tagen habe ich „Knife – Gedanken nach einem Mordversuch“ gelesen. Salman Rushdie berichtet in diesem Buch davon, wie sich am 12. August 2022 in Chautauqua, im Nordosten der USA, ein mit einem Messer bewaffneter Attentäter auf ihn stürzte und auf ihn einstach. Ausgerechnet zu Beginn einer Veranstaltung, bei der es um die Schaffung von sicheren Zufluchtsstätten für verfolgte und bedrohte Schriftsteller gehen sollte. Über dreißig Jahre, nachdem Khomeini wegen Rushdies Roman „Die satanischen Verse“ eine Fatwa über ihn verhängt hatte, fühlte sich ein 22-jähriger Sohn libanesischer Einwanderer, der so gut wie nichts von Rushdie gelesen hatte und kaum etwas über ihn wusste, berufen, das Urteil zu vollstrecken. Von einer beserkerhaften Wut erfüllt stach er mit einem Messer siebenundzwanzig Sekunden lang auf ihn ein, bis endlich andere zu Hilfe kamen und ihn wegrissen. Er verletzte ihn schwer, unter anderem am Auge, das nicht gerettet werden konnte. Im Buch schildert Rushdie, wie er die Tat erlebte, den Krankenhausaufenthalt und die anschließende Reha und schließlich die Rückkehr nach New York. Wenn man derart angegriffen wird, werden nicht nur Muskeln, Sehnen und Knochen verletzt, sondern auch und vor allem das Welt- und Selbstvertrauen. Dass sich ein Mitmensch als Gegenmensch erwies, kann so schnell nicht vergessen und verdrängt werden. Eine Welt, „die Welt“ bricht zusammen, „das Verständnis von Realität gerät ins Wanken“. Voller Dankbarkeit spricht Rushdie in diesem Zusammenhang von seiner Frau, der Dichterin und Fotografin Eliza Griffiths, die diese Zeit gemeinsam mit ihm durchstand. Aus ihrer Liebe bezog und bezieht er die Kraft zum Weiterleben und Weiterschreiben. Bald wurde ihm klar, dass er nicht umhin kam, über die Messerattacke zu schreiben, bevor er sich wieder anderen Themen zuwenden könnte. Und zwar musste er in der ersten Person darüber schreiben, nicht in der dritten, was er bisher bevorzugt hatte: „Wenn fünfzehnmal auf einen eingestochen wurde, fühlt sich das definitiv nach erster Person an.“
Im Mittelpunkt des nun vorliegenden Buches stehen fiktive Gespräche mit dem Täter. Begegnen wird er ihm real erst in der noch ausstehenden Gerichtsverhandlung, von der sich Rushdie eine schuldangemessene Verurteilung des Täters erhofft, aber in puncto Wahrheitsfindung nichts erwartet. Dazu ist der junge Mann zu vernagelt. Davon zeugt schon der Umstand, dass er die Tat, die vor den Augen von Hunderten von Zuschauern stattfand, bestreitet. Er äußert kein Bedauern über das, was geschehen ist, und scheint auch im Nachhinein nicht von Zweifeln an der Richtigkeit seines Handelns befallen worden zu sein. Er ist ein Fanatiker, der nach einem Wort von Lichtenberg „zu allem imstande ist, aber sonst zu nichts“. Ich denke, dass Rushdie den jungen Mann richtig einschätzt, wenn er in ihm einen sogenannten „Incel“ sieht, einen unfreiwillig zölibatär lebenden Mann, der die Trauben, die ihm zu hoch hängen, für sauer erklärt. Er hasst Frauen und, weil sich dieser Hass ausweitet, das Lebendige insgesamt. Rushdie würde ihn gern fragen, welchen Wert er seinem Leben beimisst. Er würde ihn gern nach Sokrates fragen, „der sagte, das unerforschte Leben sei es nicht wert, gelebt zu werden. Woraus folgt, dass nur das erforschte Leben lebenswert ist. Meine Frage: erforschen Sie ihr Leben? Gehen Sie jeden Tag in sich und versuchen herauszufinden, was Sie über Ihr Tun und Handeln denken?“ Rushdie weiß , dass der Täter, den er im Stillen nur „Arschloch“ nennt, einer Zwiebel gleicht, die aus lauter Häuten besteht: Zieht man die letzte ab, so ist sie nicht mehr. Der Berliner schnoddert an dieser Stelle: „Ik bin in mir jejangen, da is ooch nüscht!“
Da die Gespräche mit A. fiktiv bleiben und die forensische Aufarbeitung noch auf sich warten lässt, beschießt Rushdie, ein Jahr nach der Tat mit seiner Frau nach Chautauqua zu reisen und sich den Ort des Geschehens anzuschauen. Er besucht das Gefängnis, in dem der Täter und Beinahe-Mörder, so hoffte er, einen beträchtlichen Teil seines Lebens verbringen würde. Dann begeben sie sich zum Amphitheater, auf dessen Bühne die Veranstaltung hatte stattfinden sollen. Die Begegnung mit dem Tatort hat die erhoffte kathartische Wirkung:. „Komm, wir sind hier fertig“, sagte ich zu Eliza und griff nach ihrer Hand. „Lass uns nach Hause fahren.“
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„Alles, alles ging verloren. Die Stimme der Erniedrigten und Beleidigten ist nirgend mehr zu hören.“
(Rosanna Rossanda)
Am 23. April vor 100 Jahren wurde Rossana Rossanda geboren, die große alte Dame des italienischen Kommunismus, der ja immer etwas Besonderes war und seine eigenen Wege ging. Sie selbst bezeichnete sich als „typische bürgerliche Intellektuelle“, die „eine kommunistische Wahl getroffen hat“. Wie schon so oft, empfehle ich auch jetzt: Lest „Die Tochter des Jahrhunderts“, ihre Autobiographie, die 2007 im Suhrkamp Verlag erschienen ist. Man wünscht Rossana Rossandas Memoiren verständige Leser, solche, „die der herrschende Zynismus noch nicht stumpf gemacht hat“, schrieb Hans-Martin Lohmann nach Erscheinen des Buches. Rossana Rossanda ist 2020 in Rom gestorben.
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Vor 50 Jahren wurde das faschistische Salazar-Regime in Portugal durch das Militär im Bund mit einer breiten Volksbewegung gestürzt. Die sogenannte Nelkenrevolution erlief weitgehend unblutig. Die portugiesische Kolonialherrschaft in Afrika wurde beendet und eine demokratische Wahl abgehalten, aus der die Sozialisten als stärkste Kraft hervorgingen. Die nächsten Sommer verbrachten viele euphorisierte europäische Linke in Portugal. Heute weht auch in Portugal ein anderer Wind, der eher von rechts kommt und nach rechts weht. Die rechtspopulistische Partei „Chega“ – zu Deutsch „Es reicht“ – konnte bei den Parlamentswahlen im März 2024 ihr Ergebnis von 2022 mehr als verdoppeln und sitzt nun mit 18 Prozent als drittstärkste Partei im Parlament.
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„Welche menschlichen Haltungen gedeihen eigentlich in einem gegebenen sozialen Klima, welche verdorren?“
(Peter Brückner)
Im Kontext der aktuellen Debatten um das Bürgergeld und die von ihm angeblich begünstigte Faulheit fiel mir ein Begriff von Adorno ein, den er im Kontext der Studien zum autoritären Charakter entwickelt hat: „No Pity for the Poor“. Gerade die sogenannten „kleinen Leute“ weisen eine Verhärtung gegen die Armen und Erfolglosen auf. Es läge eigentlich nahe, dass gerade sie sich solidarisieren würden, aber genau das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Von keiner Bevölkerungsgruppe wird so sehr gegen die Armen gewettert als von jenen, die selbst nahe dran sind oder jeden Moment dorthin abrutschen können. Der junge Max Horkheimer machte im frühen 20. Jahrhundert bereits die traurige Erfahrung, dass die Masse der Menschen sich mit ihren Unterdrückern identifiziert, statt sich mit denen zu solidarisieren, die sich gegen sie auflehnen oder ihre Opfer sind. In seinem frühen Buch Dämmerung schrieb er: „Auch dass die beherrschten Klassen, von den fortgeschrittensten Gruppen abgesehen, der Verlogenheit ihrer Vorbilder folgen, ist zwar schwer verständlich, aber doch hinreichend allgemein bekannt. Besteht doch die Abhängigkeit dieser Klassen nicht allein darin, dass man ihnen zu wenig zu essen gibt, sondern dass man sie in einem erbärmlichen geistigen und seelischen Zustand hält. Sie sind die Affen ihrer Gefängniswärter, beten die Symbole ihres Gefängnisses an und sind bereit, nicht etwa diese ihre Wärter zu überfallen, sondern den in Stücke zu reißen, der sie von ihnen befreien will.“ Genau das können wir im Moment erneut beobachten: Statt sich im Schicksal der Bürgergeld-Bezieher wiederzuerkennen, identifiziert sich die Masse der „kleine Leute“ mit politischen Kräften, die den Armen das Fell über die Ohren ziehen und sie ihrem Diktat unterwerfen wollen. Der Weg zur Solidarität mit anderen führt über die Wiederentdeckung der Qualen und die Einfühlung in die Leiden des Kindes, das wir einmal waren und das wir auf dem Weg zum Erwachsenwerden zum Verschwinden und Verstummen bringen mussten. Die Dressur zum Gehorsam in der frühen Kindheit und die ein Leben lang wirksame Identifikation mit dem Aggressor verhindern die Entwicklung der Fähigkeit zu Erbarmen und Mitgefühl – mit uns und anderen. Die neoliberale Großwetterlage ist der Entwicklung solcher Haltungen nicht günstig, sondern fördert mit ihrem Kult des Winners und des Erfolgs Mentalitäten der Missachtung von Armut und Hilfsbedürftigkeit.
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Aus Anlass des Todes von Michael Verhoeven – er starb am 22. April 2024 im Alter von 85 Jahren – habe ich mir gestern seinen Film „Das schreckliche Mädchen“ angeschaut. Eine Schülerin fängt an, sich mit der NS-Geschichte ihres Heimatortes, einer bayerischen Kleinstadt, zu beschäftigen und stößt bei ihren Recherchen auf mannigfache, teilweise auch handgreifliche Widerstände. Ein Film, der auf einer wahren Begebenheit basiert, dem Fall der Anna Rosmus aus Passau. Die Anfeindungen und Bedrohungen durch Bürger ihrer Heimatstadt, die in ihr eine „Nestbeschmutzerin“ sahen und bis zu Morddrohungen reichten, veranlassten sie, 1994 in die Vereinigten Staaten zu emigrieren. Gerade in der heutigen Zeit bekommt dieser etwas andere Heimatfilm Film aus dem Jahr 1989 etwas beklemmend Aktuelles. Michael Verhoeven sei Dank für diesen und andere Filme, wie zum Beispiel „Die weiße Rose“ aus dem Jahr 1982.
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Ein Gedenktag jagt den anderen. Am 28. April ist der 150. Geburtstag von Karl Kraus. Deswegen hier nochmal einer meiner Lieblingsaphorismen von ihm: „Es genügt nicht, sich keine Gedanken zu machen, man muss auch unfähig sein, sie auszudrücken.“
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Der Hausmeister des Nachbarhauses beschneidet mit einer Motor-Heckenschere die Fichten im Hof. Diese hatte er vor einigen Jahren bereits bis auf Stümpfe zurückgeschnitten. Im Lauf der Jahre hatten diese wieder ausgetrieben und ein dichtes Nadeldach gebildet, das nach oben und an den Rändern wohltuend ausfranste. Den Vögeln gefiel das und sie hatten sich in den kugeligen Baumkronen seit einiger Zeit wieder eingenistet. Und darum geht es: Das wild Wuchernde darf nicht sein, das muss weg! Am Ende der schauderhaften Prozedur werden die Kronen kastenförmig und geradlinig zurückgeschnitten sein, eine Art Psychopathen-Hecke. Nichts darf seitlich oder oben herausstehen. Immer wieder tritt der Schnitter zur Seite und betrachtet sein Werk, fehlt nur noch, dass er eine Wasserwaage holt. Es geht um die Beschneidung, das Zurückschneiden, die Bändigung des wild Wuchernden, um die Begradigung der Natur. Drum herum ist eh alles asphaltiert, da wächst kein Gras und kein Kraut. Das aggressive Gejaule der Heckenschere sagt eigentlich bereits alles. Im Hintergrund geht ein Kollege mit einem Hochdruckreiniger gegen das Moos vor, das es gewagt hat, sich in den Fugen einer Mauer einzunisten, das den Hof zum Nachbargrundstück abgrenzt. Auch das ein neurotischer und völlig sinnloser Akt. Am Ende werden sie sich in der Garage zwei Bierdosen aufreißen und auf ihr nihilistisches Zerstörungswerk anstoßen.
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Wegen des Klinikbesuchs morgen geht mir mächtig die Düse, wie man so sagt. Ich habe ja bereits mehrfach von meiner Iatrophobie und ihren lebensgeschichtlichen Ursachen berichtet. Aber leider ändert die Kenntnis der Ursachen nichts an meiner Angst, die sich solchen Erklärungsversuchen gegenüber resistent verhält. Schon letzte Nacht habe ich unruhig und schlecht geschlafen. Heute grummelt es in meinen Eingeweiden, dass es nur so seine Bewandtnis hat. Das kann ja heiter werden.
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Der Besuch im Uni-Klinikum verschaffte mir mein heutiges Kafka-Gefühl. Ich zog in der Eingangshalle eine Nummer und wartete dann darauf, dass diese Nummer auf einem Display erschien. Ich wurde in Kabine fünf gerufen, wo eine junge Frau meine Überweisung und meine Krankenkassenkarte in Augenschein nahm und etwas auf der Computertastatur herumtippte. Dann durfte ich mich in den ersten Stock begeben und in der Neurologischen Ambulanz melden. Ich durchquerte lange Gänge. Von denen wieder andere Gänge abgingen. Lauter Türen, die ins Nirgendwo führten. Auf meine Fragen verwies man mich auf einen gläsernen Kasten am Ende eines Ganges, in dem ich mich melden solle. In diesem Kasten war aber kein Mensch, und daran änderte sich auch vorerst nichts. Ich fasste mich also in Geduld und wartete. Vorübergehende fragte ich gelegentlich nach der Besatzung des Kastens. Alle zuckten mit den Schultern und murmelten: „Da wird schon jemand kommen, Sie müssen warten.“ Uniformierte Hilfskräfte schoben irgendwelche silbernen Blechkästen über die Gänge. Was sich darin befand, war nicht zu erkennen. Irgendwann ertönte ein Summen in der Tür des Kastens, was ich als Zeichen deutete, dass ich nun vorgelassen würde. Diese erwies als richtige Wahrnehmung. Noch einmal wurde meine Überweisung in Augenschein genommen, dann wurde ich auf eine Wartezone verwiesen, in der ich Platz nehmen sollte. Um mich herum saßen traurige Patienten, die sich wie ich im Warten übten. Außer mir hielten alle ein Smartphone in den Händen, so dass ein Beobachter aus einem fernen Land denken könnte, das gehörte zum therapeutischen Setting der Klinik oder geschehe auf Anordnung des „Vorstehers“. Ein Kind brüllte und tobte herum und demonstrierte die Gründe, warum man es in der Neurologie vorstellen wollte. Sein Vater saß hinter ihm auf einem Stuhl und richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf sein Smartphone. Wenn wundert‘s, wenn das Kind alle möglichen Anstrengungen unternimmt, um seine Aufmerksamkeit vom Gerät weg und auch sich zu lenken? Ein älterer Mann, der im Rollstuhl saß, klopfte gegen die Glasscheibe des Kastens, in dem nun wieder niemand saß. Ein ruhiger, kleiner Junge sortierte überdimensionale Legosteine nach Farben und baute einen Turm daraus, der irgendwann umstürzte. Die Steine wiesen die Farben unserer glorreichen Berliner Ampelkoalition auf und ich konnte mich nicht dagegen wehren, in dem einstürzenden Turm eine Prophezeiung zu erblicken. Eine junge Ärztin rief mich auf und ich folgte ihr in ein Untersuchungszimmer. Sie testete die Empfindungsfähigkeit meiner Beine und Füße und versetzte mir kleine Stromstöße. Dann schickte sie mich in die Wartezone zurück, dort würde mich eine Kollegin abholen, die weitere Untersuchungen durchführen würde. Ich wurde verdrahtet und verkabelt. Im Spiegel sah ich, dass ich aussah wie einer der Übelmänner in „Clockwork Orange“, mit dem irgendwelche psychiatrischen oder neurologischen Experimente durchgeführt werden. Tatsächlich wurde erneut Strom durch meinen Körper geleitet und gemessen, wie viel davon in meinen Füßen ankommt. Elektrische Impulse ließen meine Füße zucken und kribbeln. Das sei ein gutes Zeichen, aber die Interpretation der Testergebnisse würde sie doch lieber der Ärztin überlassen, die ich dann aber nicht nicht mehr zu Gesicht bekam. Stattdessen erhielt ich einen Termin für Mitte August. Dann würde ich dem „Vorsteher“ vorgestellt, der dann höchstwahrscheinlich ein CT und ein MRT anordnen werde. Man müsse sich ein genaueres Bild vom Kopf und dem Rücken machen, um den Ursachen meiner Beschwerden auf den Grund gehen zu können. Ob diese Untersuchungen allerdings noch in diesem Jahr stattfinden könnten, sei ungewiss und eher unwahrscheinlich. Nach vier Stunden verließ ich das „Schloss“ und bestieg mein Rad, um nach Hause zu fahren. Hier heulen passender Weise unablässig irgendwelche Martinshörner. Es ist also alles wie immer. Die Tage reihen sich aneinander wie Perlen an einer Schnur. Wobei Perlen ein Euphemismus ist, es sind eher mickrige grau-braune Linsen.
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„Puh, ist das heiß!“, sagt ein Vater zu seinem Töchterchen, das neben ihm die Goethestraße hinuntertrottet. „Ich schwitze ganz schön“, ergänzt er. „Ich auch“, pflichtet ihm das Kind bei. „Morgen ziehe ich eine kurze Hose an“, kündigte der Vater dann an. Den Fortgang ihres Dialogs kann ich vom Balkon aus leider nicht verfolgen, weil sie außer Hörweite geraten.
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Manchmal, eigentlich sehr oft, schäme ich mich für meine Geschlechtsgenossen. Was für tumbe Idioten, Gecken und Wichtigtuer viele Männer doch sind, wie laut und präpotent sie auftreten! Heute haben wir die Badesaison an der Lahn eröffnet, das heißt: U ist zwei Mal hineingestiegen und jeweils zwanzig Meter weit geschwommen, ich habe ihr blasiert zugeschaut und mich herausgeredet. Dann sind wir zu Franco in die Trattoria hinaufgestiegen, wo es bei herrlichem Sommerwetter unter den Bäumen brechend voll war. Die dort versammelten Männer gehörten überwiegend zu der eben beschrieben Kategorie, waren also die reinste Brechreizerregung. In jeder der um die größeren Tische versammelten Gruppe gibt es den Typus des Witze-Erzählers, der bei den anderen im Minutentakt brüllendes Gelächter, wahre Lachsalven auslöst, wie es bezeichnenderweise heißt. Dazu gehören sie passenden kreischenden Frauen, die dem Witze-Erzähler an den Lippen hängen. Aber, was soll‘s, es war sonnig und warm und die Pizza ausgezeichnet. Insgesamt ein gelungener Saisonauftakt, wenn ich Feigling mich auch nicht ins Wasser getraut habe. Wenn es morgen nochmal so schön und warm ist, werde ich es nachholen, habe ich mir vorgenommen. Die Wassertemperatur steigt jetzt von Tag zu Tag. Vor ein paar Tagen waren es noch elf Grad, heute sollen es bereits 14 Grad sein, wie ich einer Quelle im Internet entnehme.
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„Heute weißt du, wie unglücklich deine Mutter war, und du weiß auch, dass dein Vater sie auf seine ungeschickte Art geliebt hat, soweit er überhaupt fähig war, jemanden zu lieben; aber die beiden haben es verpfuscht, und dass du diese Katastrophe als Kind miterleben musstest, hat dich zweifellos nach innen getrieben und einen Mann aus dir werden lassen, der den größten Teil seines Lebens in einem Zimmer verbracht hat.“
(Paul Auster: Bericht aus dem Inneren)
Paul Auster ist tot. Er ist 77 Jahre alt geworden. Ich empfing diese Nachricht gestern aus den Abendnachrichten und sie hat mich schwer erschüttert. Es gab in der letzten Zeit zahlreiche Todesnachrichten, die Menschen betrafen, die mir etwas bedeuteten, aber diese vom Tod Paul Austers war für mich eine der schmerzhaftesten. Ich konnte mich in vielen seiner Texte wiedererkennen, vor allem in dem eingangs zitierten Erinnerungsbuch „Bericht aus dem Inneren“. Vor ein paar Tagen bin ich Auster noch einmal unerwartet begegnet, als ich „Knife“ von Salman Rushdie las. Auster hat sich nach der Messerattacke sehr für ihn eingesetzt. Als Rushdie mit ihm telefonierte, um sich zu bedanke, erzählte er ihm von seinem Lungenkrebs. Noch gebe es Chancen, den Krebs zu besiegen. Das liegt ein Jahr zurück und wir wissen nun, dass die Hoffnungen trügerisch waren.
Vor ein paar Jahren war ich als Zeuge zu einer Gerichtsverhandlung am Landgericht Darmstadt gegen einen ehemaligen Butzbacher Gefangenen geladen. Ich erhielt die Fahrtkosten ersetzt und eine sogenanntes Zeugengeld. Auf dem Rückweg zum Bahnhof kam ich an einer Buchhandlung vorüber. Ich betrat den Laden und stieß auf einen gerade erschienenen Roman von Paul Auster, der „4321“ heißt und den er selbst als „den Roman seines Lebens“ bezeichnet hat. Ich verwendete das unverhoffte „Zeugengeld“ zum Erwerb dieses Romans. Das Buch ist ein richtiger Backstein, das heißt es ist enorm umfangreich und dick. 1250 Seiten wollen erst einmal gelesen sein, und so landete das Buch auf dem Stoß der ungelesenen Bücher und blieb liegen. Gestern habe ich es sofort hervorgeholt und zu lesen begonnen. Es stellt den Versuch dar, ein und dieselbe Lebensgeschichte in vier Varianten darzustellen. Was wäre geschehen, wenn es so angefangen hätte, wenn ich hier anders abgebogen wäre? Fragen, die sich jeder von uns gelegentlich stellt. Meist getrieben von einer von Robert Musil beschriebenen Sehnsucht, zurückzukehren zu einem Punkt, der vor der vermeintlich falschen Abzweigung liegt. Ein Roman eröffnet die Möglichkeit, verschiedene Varianten eines Lebenslaufs durchzuspielen. Am Beispiel Archie Fergusons, der zugleich sein Großvater ist, hat Auster dieses Experiment gewagt.
Zum Abschluss seines Lebens, so muss man ja nun leider sagen, veröffentliche Paul Auster einen vergleichsweise schmalen Band: den Roman „Baumgartner“. Es ist ein Buch über das Alter, den Tod, den Verlust, den Scherz und die Einsamkeit. Ich habe in Folge 87 der DHP Prosa von meiner Lektüre dieses Romans berichtet. Und einen längeren Essay über dem Waffenwahnsinn in der USA: „Bloodbath Nation“. Dieses Buch habe ich für den „Freitag“, Ausgabe 14/2024, besprochen.
Zu Donald Trump fiel Paul Auster etwas ein: Er sei das Abstoßendste, was er erlebt habe. Trump sei abgrundtief dumm und stolz darauf, nie ein Buch gelesen zu haben.
Die nächsten Wochen werde ich mich durch den fetten Auster-Schinken „4321“ durchkämpfen und dann sicher immer mal wieder von meinen Leseerfahrungen berichten. Die Arte-Mediathek bietet bis Anfang Juni einen sehenswerten Film über Paul Auster an: „Paul Auster – Was wäre wenn“. Hier kommt auch seine Frau, die wunderbare Siri Hustvedt zu Wort, die so viel mehr ist, als die Frau von Paul Auster.
Wir schreiben und machen Kunst, sagte Paul Auster einmal, um unsere Verwundungen der Welt zu zeigen und gleichzeitig in der Hoffnung, dass sie dadurch vernarben und vielleicht sogar heilen. Rundum glückliche Menschen, wenn es so etwas überhaupt gibt, machen keine Kunst. Wir selbst sind keine fertigen und abgeschlossenen Identitäten, sondern Ansammlungen von verschiedenen Teilpersonen, die wir mühsam unter dem Namen „Ich, ich selbst“ zusammenzuhalten versuchen. Goethe sagte von sich, er sei ein Kollektivsingular und bestehe aus mehreren Personen gleichen Namens. Die Reduktion auf „die eine Identität“ schneidet so viele andere Möglichkeiten ab und lässt das Leben verarmen. Und sie macht aggressiv und reizbar: An der Grenze zu anderen Identitäten werden Grenzposten aufgestellt, die den Ausschließlichkeitsanspruch durchsetzen und darüber wachen sollen, dass nichts Fremdes von außen eindringt. Das in unserer Kultur verbreitete Konzept der einen „Identität“ ist die Leimrute, die die Macht ausgelegt hat und auf die man nicht kriechen sollte. Das alles lässt sich von Auster lernen. Auch diese Bemerkung hat mir gut gefallen: Die Familie Auster lebte eine Weile in einer Kleinstadt, „die eigens zu dem Zweck erbaut wurde, damit die Leute von dort weggehen“.
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Plötzlich ist der Begriff „Mindset“ in aller Munde, und ich frage mich: Was soll das denn nun wieder sein? Solchen neuen Begriffen gegenüber verhalte ich mich skeptisch, zumal dann, wenn sie aus dem englisch-amerikanischen Sprachraum zu uns dringen. Ich vermute Betrug und sozialtechnische Beherrschungs- und Kontrollinteressen hinter solchen neuen Trends. „Mind“, habe ich gelernt, heißt Gemüt, Geist, Verstand, Meinung und so weiter, „set“ bedeutet Satz, Kollektion, Sammlung. Mindset könnte also bedeuten: Eine Sammlung von Sätzen, die sich auf den Verstand oder das Gemüt beziehen.
Ich schaue im Internet nach und finde all meine Vorbehalte bestätigt. Ganz oben bei Google wird folgende Definition angeboten: „Das Mindset beschreibt die Denkweisen, Überzeugungen und Verhaltensmuster beziehungsweise die innere Haltung von Menschen. Oft wird das Wort Mentalität als Synonym verwendet. Das Mindset ist ausschlaggebend für ein erfolgreiches und glückliches Leben und jeder kann sein Mindset für ein solches Leben entwickeln.“ Mindset ist ein Begriff von Christian Lindner und der sogenannten „freien Marktwirtschaft“. Der erfolgreiche Mensch sollte über ein dynamisches Mindset verfügen, das stetiges Wachsen und Wachstum begünstigt. Jeder ist seinen Glückes Schmied und hat es in der Hand. Den Rest regelt der Markt. Also: Nicht verwenden, gar nicht erst ins Vokabular aufnehmen. Der Begriff ist kontaminiert und für uns nicht brauchbar.
Wenn „Mindset“, dann historisch-materialistisch gewendet. Das kapitalistische System ist auf eine gewisse Homogenität angewiesen und bringt diese im Laufe seiner Durchsetzungsgeschichte durch „Erziehung, Tradition und Gewohnheit“ (Marx) selbst hervor: Einheit der Sprache, des Marktes, der Münzen, Maße und Gewichte ebenso wie relativ einheitliche Denk-, Wahrnehmungs- und Affektgewohnheiten. Diese verfestigen sich im Laufe der Zeit zu einer Art zweiter innerer Natur, also einem Fundus von tief eingewurzelten Reaktionsmechanismen, von Abwehr- und Entledigungszwängen, von Affekt- und Wahrnehmungsgewohnheiten, die selbst Revolutionen überdauern und sich in einer ökonomisch veränderten Gesellschaft schnell reproduzieren können. Die Geschichte missglückter und halbierter Revolutionen liefert jede Menge Belege für die Wirkmächtigkeit dieser Kräfte. Herbert Marcuse sprach deswegen von einem „psychischen Thermidor“, einer Konterrevolution weit unterhalb der politisch-ökonomischen Programmatik und weit unterhalb der Köpfe. Zu meinem Verständnis von Sozialpsychologie habe ich mich im Corona-Tagebuch 33 geäußert, das die GEW Ansbach unter dem Titel „Wie kommt die Ökonomie in Kopf und Seele?“ noch bereit hält.