„Ich habe keine Identität in diesem Land, wenn jüdisches Leben hier nicht geschützt ist.“
(Edgar Selge)
Wenn ich, wie gestern Abend, Bilder von der Weltklimakonferenz und – immer wieder eingeblendet – vom nahenden ökologischen Kollaps sehe, frage ich mich jedes Mal: Wie kann es sein, dass wir seit Jahren, wenn nicht seit Jahrzehnten, wissen, wie es um den Planeten und die Natur bestellt ist, und dennoch nichts oder fast nichts tun, um sie zu retten? Datieren wir unser Wissen auf das Jahr 1972, als der Club of Rome seinen Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ vorgelegt hat, hatten wir rund 50 Jahre Zeit, unseren Umgang mit der Natur zu ändern und etwas zu unternehmen. Die weltweite Kohlendioxid-Konzentration war im Jahr 2022 so hoch, wie noch nie. Wäre man den in Paris 2015 gefassten Beschlüssen zur Begrenzung der Erderwärmung gefolgt, hätte der CO2-Ausstoß inzwischen beträchtlich sinken müssen. Ist das „Apokalypse-Blindheit“, von der bereits Günther Anders sprach? Oder müssen wir inzwischen nicht sogar von einer Apokalypse-Sehnsucht ausgehen? Wie sonst kann man sich das verbissene Festhalten an für schädlich erkannten Praktiken erklären, das ja in vielen Feldern des Lebens zu beobachten ist? Die rasant steigenden Verkaufszahlen der SUVs mit Verbrennermotoren deuten genauso in diese Richtung wie die unglaublich hohe Zahl von Flugreisen. Hinter unserem Rücken spielt sich ein suizidale Logik ab, als ginge von der Idee des kollektiven Untergangs eine geheime Lockung aus. Diesen Fragen bin ich bereits im Jahr 2011 nach der Havarie von Fukushima ausführlich nachgegangen. Der damals geschriebenen Text ist im Magazin Auswege der GEW unter dem Titel „Katastrophentagebuch“ erschienen und kann dort nachgelesen werden.
Eine gewisse Nekrophilie hatte Herbert Achternbusch bereits seinen bayerischen Landsleuten attestiert, die immer wieder die CSU wählten: „Wer die CSU wählt, legt seinen Kindern Reißnägel aufs Butterbrot, ist für atomare Verkrüppelung, weiße Spatzen und grüne Hühner. … Wer die CSU wählt, der teert sein Blumenbeet, der ist für das Waldsterben und für Verwüstung … der fährt mit 180 an den nächsten Baum, der schlägt seine Frau mitten ins Gesicht, der hängt sich an seinem Arbeitsplatz auf und stellt einen Rekord im Fluchen auf, der klaut aus seinen eigenen Taschen, verkürzt die Schulzeit seiner Kinder, … kürzt seine eigene Rente, der legt sich auf die Straße und stellt einen Panzer drauf.“
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Heute Nacht habe ich mir einen steifen Hals zugezogen. Manchmal verfliegt das im Laufe des Vormittags, einfach dadurch, dass ich mich bewege, manchmal ist es aber auch ein ernstes Krankheitszeichen und dauert dann länger. Ich erinnerte mich daran, dass ich in Italien einmal mit einer jungen Frau zu einer Bergwanderung verabredet war. Auch an diesem Morgen erwachte ich mit Schmerzen im Halswirbel-Bereich, wollte aber auf keinen Fall auf die Wanderung und vor allem auf die Begegnung mit der schönen jungen Frau verzichten. Sie merkte schnell, dass mein Kopf nicht frei beweglich war, weil ich, wenn ich irgendwohin schauen wollte, den ganzen Oberkörper drehen musste. Sie habe auf der Schauspielschule, die sie damals noch besuchte, eine Übung gelernt, die ihr in solchen Fällen einige Male sehr geholfen habe. An einer geeigneten Stelle machten wir Rast und sie zeigte mir die Übung, die aus drei Teilen bestand und mir tatsächlich gut tat. Wir konnten die geplante Wanderung fortsetzen und bestiegen an diesem langen Sommertag noch einen 2000er Berg im Hinterland des Gardasees. Am Abend gingen wir im See schwimmen. Von ihrer Mutter habe ich vor einiger Zeit erfahren, dass sie die Schauspielerei an den Nagel gehängt hat, weil sie sich von den Strukturen am Theater eingeengt fühlte, und nun als Clown arbeitet. Oder sagt man Clownin? Mit der Formulierung: Sie arbeitet als weiblich gelesener Clown, ist man, glaube ich, auf der sicheren Seite. Sie tritt, entnahm ich dem Internet, vor allem in Krankenhäusern vor kranken Menschen auf. Sie scheint nach einer längeren Suchbewegung herausgefunden zu haben, was für sie das Richtige ist. Ein Satz aus einem Interview mit ihr hat mir gefallen: „Es geht vielleicht gar nicht darum, fröhlich zu sein, sondern um die Konzentration auf das Lebendige. Es gibt in jedem Menschen bis zum letzten Atemzug etwas Lebendiges und Schönes und den Wunsch nach Nähe, Schönheit, Liebe und Wärme .…“
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„ … das waren doch sie, die Freundinnen, in ihrer unerfüllten Sehnsucht.“
(Durs Grünbein)
In den letzten Tagen habe ich mit großem Interesse das neue Buch von Durs Grünbein gelesen, das „Der Komet“ heißt. „Der Komet“, heißt das Buch, weil in den Jahren, von denen die Rede ist, die Menschen den Einschlag eines Kometen befürchteten, der sich der Erde bedrohlich nähern und dessen glühender Schweif alles in Brand setzen könnte. In Brand gesetzt wird am Schluss tatsächlich ganz Dresden, allerdings nicht durch den Kometen, sondern durch britische und amerikanische Bomber, die die Stadt in Schutt und Asche legten – durch den brennenden Schweif und den Rückschlag des Nationalsozialismus, könnte man sagen. Durs Grünbein schildert das Leben seiner Großmutter Dora, die als junges Mädchen mit Oskar, einem Fleischergesellen, von Schlesien nach Dresden zieht. In Schlesien hatte sie als Ladenmädchen gearbeitet: „Auch das war keine echte Lehre, nur eine schlechte Erfahrung.“ In Dresden führen Dora und Oskar ein bescheidenes, aber streckenweise durchaus glückliches Leben. Dora zehrt von den Erinnerungen an ihre schlesische Kindheit: „Wilde Blaubeeren finden, ein Rehkitz im Feld (nisht berühren!), Schmetterlinge beim Auf- und Zuklappen ihrer Flügel beobachten, die Lerchen im Himmelsblau, keinem Wesen etwas zuleide tun, schauen, nur schauen.“ Doch es sind die Nazi-Jahre, die die Szenerie mehr und mehr einfärben und nach den beiden greifen. Die Geschichte bemächtigt sich ihrer und ihre Lebenspläne werden unglücklich durchkreuzt. So wird der Roman über die Großmutter zugleich einer über die Dresdner Gesellschaft unterm Nationalsozialismus. Dieses Zugleich herzustellen gelingt Grünbein meisterlich. Oskar wird eingezogen und verschwindet in den verschneiten und dann blutgetränkten Weiten der Sowjetunion, Dora bleibt mit den Kindern in Dresden zurück und erlebt dessen Untergang im Feuersturm des Jahres 1945. Beeindruckt hat mich der Detailreichtum des Buches, die Fülle der Alltagsbeobachtungen und die Sensibilität, mit der Grünbein sich seinen Figuren nähert, wie es ihm gelingt, Geschichte und Lebensgeschichten spür- und fühlbar miteinander zu verschränken. Er schildert, wie die Männer aus dem Stadtbild verschwinden und die zurückgelassenen Frauen sich zusammentun und das Leben meistern. „Die Zeit ohne die Männer, das war das Unvergessliche, hatte ganz eigenartige Formen der Verschwisterung zustande gebracht.“ Dora findet in Trude ein starke Gefährtin. Diese besitzt ein anarchistisches Temperament, lässt sich von keinem etwas vorschreiben und hat auch vor den Nazis in ihrer näheren Umgebung keinen Respekt und schon gar keine Angst. Von Trude lernt Dora die Kunst des Verschwindens und Sich-Durchmogelns, nichts ins offene Messer zu laufen, sondern listig zu sein. Durs Grünbein hat seine Großmutter Dora noch kennengelernt – sie lebte bis in die 1990er Jahre – und hat sie sehr gemocht. Das spürt man in diesem eindrucksvollen Buch auf beinahe jeder Seite. Die Schilderung der Bombardierung und des Feuersturms, im dem Dresden unterging, verschmilzt für uns Leser mit den Bildern der aktuellen Kriege. Wie auf einem doppelt belichteten Foto schieben sich die Szenen von damals über die von heute. Was es heißt, eine Stadt dem Erdboden gleichzumachen und in Schutt und Asche zu legen ist mir durch die Erzählung von Durs Grünbein noch einmal ganz anders unter die Haut gegangen, als durch die täglichen Bilder der Kriege in der Ukraine und in Gaza. Ich sehe die allabendlichen Bilder jetzt mit anderen Augen. Die allzu konkreten Fernsehbilder lassen einen abstumpfen, der Roman schärft die Sinne und die Wahrnehmung für das Leiden anderer. Lesen ist eine unüberbietbare und unersetzliche Schule der Empathie.
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„Jetzt, mit diesem kleinen Text hier, versuche ich erneut, mein Schweigen zu überwinden, ungeschickt und hölzern. Wenn jüdisches Leben hier nicht sicher ist, dann bin auch ich nicht sicher, dann ist kein Satz, kein Wort von mir etwas wert.“
(Edgar Selge)
Ein Artikel von Edgar Selge aus der Süddeutschen Zeitung vom 2./3. Dezember 2023 hat meine Hirnantilope mächtig auf Trab gebracht. Selges Ausgangspunkt ist sein (und unser) Schweigen nach dem Massaker vom 7. Oktober, begangen von Hamas-Leuten an israelischen Juden. Sein gegenwärtiges Schweigen erinnert ihn an ein anderes Schweigen, das er aus seinem Elternhaus kannte. Es ist das Schweigen über den Massenmord an den Juden unterm Nationalsozialismus. Dieses Schweigen wurde in der Familie Selge zunächst von Edgars älterem Bruder gebrochen, der seinen Vater zur Rede stellte und nach seiner Rolle im Nationalsozialismus befragte. „Später, nach dem Tod meines Vaters, machte ich es ähnlich mit meiner Mutter. Ich drückte sie mit meinen Fragen und Vorwürfen in die Enge, bis sie mich bat, ihre Wohnung zu verlassen, weil sie von Magenstichen gepeinigt wurde.“ An dieser Stelle des Textes fiel mir ein Zusammentreffen mit meiner Stiefmutter ein, das sich Ende der 1980er Jahre ereignet hat. Ich fuhr an einem heißen Sommerabend nach Kassel, weil ich am nächsten Tag meinen Vater besuchen wollte, der an der Hüfte operiert worden war und in einer städtischen Klinik lag. Ich traf meine Stiefmutter im Garten beim Pflücken von Stachelbeeren an, die sie noch am selben Abend einkochen wollte. Irgendwann kam sie mit den Eimern voller Früchte nach oben und begann, sie fürs Einkochen vorzubereiten. Sie griff händeweise Früchte aus dem Eimer, warf sie in ihre Schürze und begann mit einem Kneipchen, Stiele und Blütenansätze zu entfernen. Während sie so da saß und die Früchte durch ihre Hände wandern ließ, begannen wir ein Gespräch. So etwas ging nie länger gut. Irgendwann landeten wir unweigerlich bei Adolf Hitler und dem sogenannten Dritten Reich. Das ging eigentlich jedes mal nach demselben Muster vonstatten. Die Dialoge folgte einem festgelegten Skript. Sie verteidigte Hitler, indem sie seine „Verdienste“ hervorhob. Innerhalb kurzer Zeit sei es ihm gelungen, die Arbeitslosigkeit zu beseitigen. „Und das rechtfertigt in deinen Augen die Vernichtung von Millionen Juden?“, fragte ich. „Ach, was wisst ihr schon?“, erwiderte sie. Die Juden hätten ja beinahe überall ihre Finger im Spiel gehabt und nahezu alles kontrolliert. Die Vernichtung der Juden war in ihren Augen eine Art Notwehr. Die Methoden, das gebe sie zu, seien hier und da ein wenig unschön und übertrieben gewesen. Es hätte genügt, sie nach Madagaskar zu bringen und dort anzusiedeln. Das habe „der Führer“ ja vorgehabt und sei von den Engländern und ihrer Seestreitmacht an der Umsetzung gehindert worden. Irgendwann schlug ich vor, das Thema fallenzulassen. „Bist du mit einer Frau zusammen?“, wollte sie nun wissen. Nach der Trennung von meiner Frau war die Position vakant und wurde von wechselnden Partnerinnen besetzt. Ich hatte zu jener Zeit gerade eine schmerzhafte Trennung hinter mir und litt unter extremen Liebeskummer. Ich war also in einem Zustand gesteigerter Empfindlich- und Verletzbarkeit. Das weckte ihren stiefmütterlichen Sadismus, und sie begann, mit Wonne Salz in meine Wunden zu streuen. Ich sei unfähig, eine Frau an mich zu binden, ich hätte Frauen nichts zu bieten, könne keine Familie ernähren und so weiter und so fort. Ich bat sie mehrfach, von dem Thema ab und mich damit in Ruhe zulassen. Aber nun hatte sie Blut geleckt und setzte immer weiter nach. Sie wusste genau, was meine verletzlichen Stellen waren, und es bereitete ihr offensichtlich Vergnügen, mich zu quälen. Bestimmt drei oder vier Mal forderte ich sie auf, aufzuhören, ohne Erfolg. Schließlich wurde ich laut und schrie sie an. „Ach, wenn du am Ende mit deinem Latein bist, wirst du laut und brüllst herum“, erwiderte sie. Die Situation eskalierte, und ich wollte mich voller Wut auf sie stürzen. Eine lang in mir gestaute, seit der Kindheit mitgeschleppte, archaische Wut brach sich Bahn und ich drohte ihr an, sie zu erwürgen. Mit zum Würgen geöffneten Händen ging ich schreiend auf sie zu. Irgendwie gelang es ihr, hinter ihrem Rücken die Tür zur Küche zu öffnen, hindurchzuschlüpfen und sie wieder zu schließen. Die geschlossene Tür brachte mich zur Besinnung und unterbrach den Kreislauf meiner Wut. Ich sackte auf einem Stuhl im Esszimmer zusammen und atmete tief durch. Wenn ich kurz zuvor außer mich geraten war, wie man so sagt, so kam ich jetzt wieder langsam zu mir. Aber wahrscheinlich war ich, als ich außer mich geriet, ganz in und bei mir, fürchte ich. Es muss ja keineswegs immer positiv sein, bei und ich sich zu sein, wie dieses Beispiel lehrt. Ich kam zu dem Entschluss, dass es besser wäre, die Wohnung zu verlassen und meiner Stiefmutter vorerst aus dem Weg zu gehen. Ich schlief bei Bekannten, sofern an Schlaf nach dieser Explosion überhaupt zu denken war. Das Herz schug mir bis zum Hals und ich brauchte ewig, um zur Ruhe zu kommen. Am nächsten Vormittag besuchte ich meinen Vater. Ich erzählte ihm meine Version des vorangegangenen Abends, meine Stiefmutter würde ihm später die ihre erzählen. Und wie immer würde er sich auf ihre Seite schlagen und ihr Glauben schenken. Ich hatte mir als Kind und Heranwachsender so gewünscht, er würde sich einmal auf meine Seite schlagen und in einem Konflikt für mich Partei ergreifen. Vater und Stiefmutter waren mir gegenüber stets eine Einheit. Das wiederholte sich auch jetzt: Tage später rief mein Vater mich an und bat mich, mich vorerst nicht mehr in meinem Elternhaus blicken zu lassen. Dieses Hausverbot wurde erst aufgehoben, als ein großer, runder Geburtstag meines Vaters nahte. Man lud mich zu Abrüstungsverhandlungen in ein Kasseler Restaurant ein, und wir besprachen die Modalitäten meiner Teilnahme an den Feierlichkeiten. Meine Abwesenheit beim 90. Geburtstag des Vaters hätte in der Verwandtschaft Fragen aufgeworfen, die man vermeiden wollte. Das wäre „peinlich“ gewesen, wie man damals sagte. Ein paar Jahre später starb mein Vater. Bei seiner Beisetzung habe ich meine Stiefmutter zum letzten Mal gesehen. Ich bin ihr danach zwanzig Jahre lang konsequent aus dem Weg gegangen und habe ihr die Peinlichkeit meiner Abwesenheit bei ihren runden Geburtstagen nicht erspart. Auch an ihrer Beerdigung habe ich nicht teilgenommen. Die Eskalation an jenem Stachelbeer-Abend hat mir für meine Arbeit im Gefängnis eine wichtige Lektion erteilt. Seither weiß ich, wie schnell man zum Mörder werden kann und welche tödliche Kraft nicht geheilte seelische Verletzungen und uralte Kränkungen entfalten können. Manchmal wunderten sich Gefangene, die mir erzählen wollten, wie es zu einer von ihnen begangenen Tötung gekommen war, über meine Kenntnis solcher Dynamiken. Ich konnte ihnen helfen, einen sprachlichen Ausdruck für etwas zu finden, das ihnen selbst rätselhaft geblieben war. Und manche Dinge müssen ausgesprochen werden, damit sie einen Abschluss finden können. Vielleicht habe ich diese Geschichte von der Beinahe-Tötung meiner Stiefmutter auch deswegen aufgeschrieben.
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„Haltet euch fern von den Idioten … Die Regel lautet: acht von zehn … Acht Idioten an einem guten Tag. Sonst: neun. An einem schlechten Tag triffst du zehn Leute und einer wie der andere ist ein kompletter Vollidiot.“
(Lemmy Kilmister)
An einem der Weihnachtsmarktstände stehen in der Mittagspause drei weibliche Angestellte, die ein Büro miteinander teilen, an einem Tisch und essen Kartoffelpuffer. Diese kommen fetttriefend aus einer Fritteuse und bestehen zu großen Teilen aus Chemie. Sie gehören in den stetig wachsenden Bereich dessen, was der französischen Bauernaktivist José Bové als „Malbouffe“, als „Schlechtessen“ oder drastischer: als Scheißfraß bezeichnet hat. Sein Kampf gegen die weltweite Gleichschaltung des Geschmackssinns brachte ihn für Jahre ins Gefängnis. Die Frauen fotografieren die sogenannten Kartoffelpfannkuchen und verschicken sie zusammen mit ihren gute Laune simulierenden Gesichtern an ihre Follower. Ihr Lachen ist genauso falsch wie die Kartoffelpuffer.
Ein paar Meter weiter trinken hunderte von Studenten und Angestellten eine menschenverachtende Plörre, die als Glühwein verkauft wird. Alle umklammern ihre Smartphones und drücken und wischen auf ihnen herum. Sie zeigen sich wechselseitig irgendwelche Videos und lachen brüllend darüber. All solche Menschenansammlungen meide ich. Ich kann damit nichts anfangen. Ich bin dadurch natürlich auch von den Menschen getrennt. Da ich aber nicht dazugehören möchte, leide ich nicht sonderlich unter meiner Absonderung. Es gibt Formen der Einsamkeit, die erlitten werden, und solche, für die man sich mehr oder weniger freiwillig entschieden hat, die gewählt und aufgesucht werden. Mit der Freiwilligkeit ist das natürlich so eine Sache. Auch für diese Form der Einsamkeit gibt es Determinanten. Ich habe viel über die in meinem Lebenslauf wirksamen nachgedacht und in der Durchhalteprosa auch eine Menge darüber geschrieben. Im Sinne Sartres könnte ich sagen: Ich habe versucht, etwas aus meiner Einsamkeit, die mir auferlegt ist, zu machen. Sie ist eine Bedingung des Schreibens und Lesens. Die Kausalität ist ein wenig anders, als ich zunächst vermutet hatte: Ich bin nicht einsam, weil ich lese und schreibe, sondern ich schreibe und lese, weil ich ab ovo einsam und von den Menschen getrennt bin. Ich habe dann etwas aus dem gemacht, was man mit mir gemacht hat. Die Verächtlichkeit und Blasiertheit, mit der ich mitunter auf meine Mitmenschen und ihre Vergnügungen blicke, hat also auch etwas von dem Fuchs aus der Äsopschen Fabel, der die Trauben, an die er nicht herankommt, für sauer erklärt.
In der Nobelpreis-Rede von Jon Fosse las ich gerade: „Das Schreiben ist eine einsame Sache, wie gesagt, und diese Einsamkeit ist wirklich gut – solange der Weg zurück zu den anderen offen ist …“ Der Satz, vor allem sein letzter Teil, gab und gibt mir zu denken.
Am Nikolaustag hat sich die Fraktion der Linkspartei aufgelöst. Sie wurde „liquidiert“, wie der offizielle Sprachgebrauch für diesen Vorgang lautet. Ab jetzt bilden die verbliebenen 28 Abgeordneten nur noch eine „Gruppe“, die mit minderen Rechten und weniger Geld ausgestattet ist. Obwohl das ein zutiefst deprimierendes Ereignis ist, versuchte Dietmar Bartsch, Haltung zu bewahren und Optimismus zu verbreiten. Dafür wird er – noch – bezahlt. Ob es ihm jemand abnimmt, dass es jetzt erst richtig los- und aufwärts geht? In endlosen Variationen wird der Satz des sozialdemokratischen Parteiphilosophen Josef Dietzgen vom Ende des 19.Jahrhunderts wiederholt: „Wird doch unsere Sache alle Tage klarer und das Volk alle Tage klüger.“ Dieser geschichtsphilosophisch, letztlich hegelianisch begründete Optimismus muss endlich überwunden werden, damit es besser werden kann. Bartsch hätte sagen sollen: „Freundinnen und Freunde, es steht schlimm um unsere Sache und das Volk wird von Tag zu Tag dümmer. Ich weiß auch nicht, wie es weitergehen kann und soll. Ich kann euch keinen Trost spenden. Wir müssen gründlich nachdenken und dann neu beginnen.“
Sarah Wagenknecht, die andere Hälfte der auseinandergesprungenen Partei-Kugel, ist auf allen Kanälen, jeden Abend in einer anderen Talkshow zu sehen. Unterwegs zu ihrem nächsten Burnout. Ihr Gesicht hat sich in der letzten Zeit merklich verändert. Von Gesichtshärte sechs zu Gesichtshärte neun. Auch sie wird durch ihre Öffnung nach rechts die Linke nicht retten können.
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Wie auf Verabredung treten am Samstagvormittag die Bewohner des gegenüber liegenden Hauses auf den Hof und beginnen, die Kartons zu zerkleinern, die ihnen Paketboten im Laufe der Woche gebracht haben. Eine Viertelstunde ist das Geräusch reißender Pappe und ihre lautes Gerede zu hören. Dann werden die Deckel der blauen Tonnen zugeschlagen und für diese Woche ist Schluss. Kein Wunder, dass die Geschäfte in der Stadt eins nach dem anderen kaputtgehen. Mal ganz abgesehen von den miserablen Arbeitsbedingungen der Paketboten.
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„So trainierst du deine Kreativität“, lockt ein Online-Magazin sogenannte User auf seine Seiten. Kreativität ist die heiß begehrte neue Produktivkraft des Kapitals. Wer in den westlichen Metropolen seine Arbeitskraft zu halbwegs günstigen Konditionen verkaufen will, muss über sie verfügen. Früher war es mal das immer etwas suspekte Vermögen von Künstlern und Bohemiens, heute ist die Kardinaltugend der digitalisierten städtischen Mittelschicht. „Hier wohnen Kreative“, sagte neulich jemand zu mir und deutete auf das Gebäude einer ehemaligen Brauerei, in dem nun nach der Sanierung Luxuswohnungen entstanden sind.
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Beim jährlichen Besuch meines Freundes Christian, der seit vielen Jahren in Hamburg lebt, kamen wir auf unsere Zugänge zur Sexualität zu sprechen. Genauer redeten wir darüber, wann und unter welchen Umständen uns das Wort „ficken“ zum ersten Mal begegnet ist. Mir war es während der Schulzeit gänzlich unbekannt und ich lernte es erst in den Jahren der Revolte an der Uni kennen. In seiner derben Körperlichkeit bildete es einen starken Kontrast zu den Begriffen, in denen in meinem Elternhaus „über diese Dinge“ gesprochen worden war, wenn überhaupt davon und darüber geredet wurde. „Es gibt da jetzt so gewisse Dinge, denen muss man nicht nachgeben“, sagte mein Vater in einem der Aufklärung dienenden Gespräch mit mir. Und ließ es vorerst dabei bewenden. Meine Stiefmutter, der alles Körperliche Widerwillen, ja Ekel einflößte, sagte ihren Söhnen immer wieder: „Wirklich Verliebten genügt ein zärtlicher Kuss durch die Maschen eines Zaunes. Man muss sich nicht aneinander drängen und reiben.“ Das Unten des Körpers fiel bei ihr mit dem Unten in der Gesellschaft zusammen. „So machen es die Proleten!“ Liebe sei im Kern etwas Geistiges, der Gleichklang zweier Seelen. Wenn dann irgendwann – in der Ehe – auch das Körperliche noch dazu komme, sei das „wunderschön“. Daraus entstünden dann ja auch die Kinder. Als bei einem meiner Brüder einmal die Hosennaht zwischen den Beinen aufgeplatzt war, sagte seine Mutter: „Das liegt an dem dicken Molch, den du in der Hose hast.“ Die Metaphern und Bilder, sie sie verwendete, um das Unaussprechliche auszudrücken, sagten mehr, als ihr lieb war und verrieten viel über ihr Unbewusstes. Wenn ich einen nächtlichen Samenerguss hatte, den ich damals noch gar nicht mutwillig herbeiführte, sondern eher erlitt, musste ich meine Schlafanzugshose auswaschen. Meine Stiefmutter hatte mir das aufgetragen, weil sie „das“ nicht mit der restlichen Wäsche zusammen waschen könne. Mein Sperma war also ein Schmutz besonderer Art, aggressiv und bösartig, den man einer „Sonderbehandlung“ unterziehen musste. Mein Vater ermahnte mich, an Tagen vor Klassenarbeiten auf keinen Fall zu onanieren, weil das dem Körper derart viel Kraft entzöge, die mir dann beim Verfassen der Arbeit fehlte. Besser wäre es, ich würde es ganz unterlassen. Bis in unsere Jugendzeit hielt sich die Mär, Onanieren führe zu einem Schwund das Rückenmarks und des Gehirns. Wenn man es regelmäßig betreibe, werde man unweigerlich zum Kretin. In einer 1960 erschienenen „Sittenlehre“, die ich aus den Beständen der Schulbücherei unseres Gymnasiums geerbt habe, steht: „Eine Verirrung des Sexualtriebs ist die Selbstbefleckung. Sie ist oft die eigentliche sittliche Not der heranwachsenden Jugend. … Die bewusst und frei gewollte Vergeudung der gottgegebenen Zeugungskräfte zur Befriedigung der geschlechtlichen Lust ist nicht nur in sich schwer sündhaft, sondern birgt zugleich, zur Gewohnheit geworden, große Gefahren für Leib und Seele. Sie führt vielfach zur Erschöpfung der physischen Kräfte und zu schweren Schädigungen des ganzen Nervensystems. Sie erzeugt jene düstere Stimmung, die allen echten Frohsinn verscheucht und zur Arbeit unlustig macht.“
Kein Wunder also, dass die sexuelle Befreiung eine eine wichtige Komponente der antiautoritären Revolte der späten 1960er Jahre war. Das lustvolle Onanieren wie die Sexualität insgesamt habe ich erst jenseits des Elternhauses als Erwachsener und im Kontext der Revolte kennengelernt. Der Weg war weit und steinig.
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Ein ehemaliger Mitschüler hat über fünf Ecken von einem Artikel im Gießener Anzeiger Wind bekommen, in dem ich von unseren frühen Erfahrungen mit Schnee und unseren winterlich-sportlichen Vergnügungen erzählt habe. An einer Stelle heißt es: „Ich hatte das Skifahren schon mit drei oder vier Jahren in Reit im Winkl von meinem Vater gelernt, der mich mit meinen kleinen Rutschern zwischen seine Beine genommen und mir den Schneepflug beigebracht hatte. Von diesen Winterferien gibt es ein paar vergilbte Photographien mit gezackten Rändern. Da lebte meine Mutter noch. Auf einem dieser Bilder sieht man mich an ihrer Hand durch den tief verschneiten Ort gehen und in die Sonne blinzeln.“ Thomas schrieb mir nun und drückte seine Verwunderung darüber aus, dass er vom frühen Tod meiner Mutter nichts gewusst hätte, obwohl wir doch gut befreundet gewesen seien. Ich habe ihm heute Morgen gleich geschrieben:
Dass du vom frühen Tod meiner richtigen Mutter nichts wusstest, wundert mich nicht, denn ich wusste selbst nichts mehr darüber, hatte bestenfalls eine vage und dunkle Ahnung. So perfekt ist die Strategie meiner Eltern – also meines Vaters und der Stiefmutter – aufgegangen, diesen Tod vor mir zu verbergen und ihn zu verschweigen. Franziska ist 1955 an Krebs gestorben, im Diakonissen-Krankenhaus in der Kasseler Goethestraße, unterhalb vom Bebelplatz. Als feststand, dass sie sterben würde, nahm mein Vater mich nicht mehr mit zu ihr, wenn er sie besuchte, und auch an der Beerdigung durfte ich nicht teilnehmen. Vater hielt die Seele für „eine Erfindung des Juden Freud“ und war sich sicher, dass Kinder „nichts merken“ – dass ich also den Tod meiner Mutter nicht mitbekäme, wenn er ihn vor mir verbergen würde. Die Rechnung ist insofern aufgegangen, als ich als 12 oder 15-Jähriger, wann man mich gefragt hätte, ob es etwas Besonderes in meinem Lebenslauf gegeben habe, nicht geantwortet hätte: Ja, meine Mutter ist früh verstorben. Ich musste später die Folgen des frühen Verlustes aus der Struktur meiner Affekte und meines Verhaltens mühsam herausklamüsern. Ihr Tod hatte mir das Urvertrauen geraubt und eine bodenlose und namenlose Angst hinterlassen. An den Rändern meines Bewusstseins stieß ich auf Erinnerungsfragmente, die aber kein konsistentes Bild ergaben. Im Puzzle fehlten jede Menge Teile, die ich dazu erfinden musste. Aber im Grunde machen das alle Menschen so. Wir erschaffen uns ein Bild, mit dem wir es aushalten und leidlich leben können. Oder mit den Worten des verehrten Max Frisch: „Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.“
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Die Weltklimakonferenz war genau die Farce, die man erwarten konnte. Das kommt davon, wenn man Al Capone zum Vorsitzenden einer Konferenz zur Eindämmung von Waffengebrauch und Kriminalität macht. Rausgeworfenes Geld, vergeudete Emotionen und betrogene Hoffnungen, sonst nichts. In der zum regulären Ende der Konferenz vorliegenden Abschlusserklärung ist vom längst fälligen Ausstieg aus Kohle, Gas und Erdöl nicht die Rede. Ein Kotau vor der fossilen Lobby. Am Ende wurde das Abschlussdokument noch einmal etwas umgeschrieben, aber Wischiwaschi ist es geblieben.
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Als ich gestern Nachmittag meinen Freund Christian zum Bus brachte, brach am Busbahnhof am Ende der Fußgängerzone ein Tumult los. Einige türkische oder arabische Jungmänner gerieten aneinander, brüllten sich Beleidigungen zu und bedrohten sich wechselseitig. Andere aus der Gruppe hielten die Hauptstreithähne voneinander fern. Über die Köpfe der anderen hinweg reckten diese die Fäuste und drohten an, die Mutter des jeweils anderen zu ficken. Ein paar Meter weiter stand ein Polizeiauto, in dem zwei Polizisten saßen. Der Tumult vor ihren Augen brachte sie nicht aus der Ruhe oder gar dazu, auszusteigen und einzuschreiten. Solange keine Messer zum Einsatz kommen und kein Blut fließt, besteht offenbar kein polizeilicher Handlungsbedarf. Wahrscheinlich gehört die Szene, deren Zeugen wir gestern wurden, an dieser Stelle Gießens zur Normalität. Die gewaltgesättigte Szene passte für Christian und mich gut in die weihnachtlich dekorierte Fußgängerzone und zur Kakophonie von Adventsmusik, die aus zahlreichen Lautsprechern auf die Passanten eindrang. „Gnadenbringende Weihnachtszeit“ sang gerade der ubipräsente Roland Kaiser. „Hier wird das heutige Gießen kenntlich, hier zeigt diese Stadt ihr Wesen“, sagte ich zu Christian, als er in den Bus einstieg, in dem auch ein Teil der Streithähne verschwunden waren. Ich hoffe, die Fahrt zum „Philosophenwald“ verlief einigermaßen friedlich. Der Name des Zielorts sollte das eigentlich verbürgen.
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Gestern stieß ich bei Florian Illies auf die Caspar David Friedrich-Variante des Kilmister-Satzes, den ich weiter oben zitiert habe: „Ihr nennt mich Menschenfeind, weil ich Gesellschaft meide. Ihr irrt Euch, ich liebe sie. Doch um die Menschen nicht zu hassen, muss ich den Umgang unterlassen.“
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U fragte mich unlängst, als ich mich mit dem Hinweis, ich ginge nun mal mein tägliches Schreibpensum absolvieren, vom Frühstückstisch entfernte, ob ich meine Texte nicht von ChatGBT verfassen lassen könnte. „Ich hoffe doch, dass meine Texte so beschaffen sind, dass sie vor digitaler Nachahmung geschützt sind“, sagte ich. Aber es käme auf einen Versuch an, der aber schon daran scheitert, dass ich nicht weiß, wie man an ChatGBT herankommt und es in Gang setzt.
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Dem Buch von Florian Illies über Capar David Friedrich entnehme ich, dass dieser sich auch als Züchter von Kanarienvögeln betätigte. Die waren von Tiroler Bergarbeitern in den Harz mitgebracht worden. „Aus einem besonderen Grund. Der Kanarienvogel hat neben der Fähigkeit schön zu singen auch die Eigenschaft, sowohl beim Einatmen als auch beim Ausatmen Sauerstoff aufzunehmen. Das macht ihn für giftige Gase so empfindlich wie kaum ein anderes Tier – wenn also in den dunklen tiefen Schächten der Bergleute unter der Erde, der Sauerstoffgehalt so stark sinkt, dass die Kanarienvögel ohnmächtig von ihren Stangen fallen, dann haben die Menschen immer noch zwanzig Minuten Zeit, sich in Sicherheit zu bringen.“ Kanarienvögel dienten also als eine Art lebendiger Rauch- genauer: Gasmelder. Warum ich das erzähle? Der amerikanische Schriftsteller Kurt Vonnegut wird rund hundert Jahre nach Friedrichs Tod als Soldat der US-Armee im Keller eines Dresdner Schlachthofs gefangen gehalten. Von seinen dortigen Erfahrungen gespeist entwickelt er eine „canary in the coal mine theory of the arts“. Diese besagt, „dass Künstler für die Gesellschaft nützlich sind, weil sie so sensibel sind. Sie sind hochsensibel. Sie kippen um wie Kanarienvögel in vergifteten Kohlebergwerken, lange bevor robustere Typen überhaupt eine Gefahr erahnen.“ Ob Amos Oz die Kohlengruben-Kanarienvogel-Theorie der Kunst von Kurt Vonnegut kannte, weiß ich nicht, aber als er im Jahr 2014 den ersten Siegfried Lenz Preis erhielt, gab er der Süddeutschen Zeitung ein Interview, in dem er sagte: „Ich habe eine bestimmte Verantwortung für die Sprache. Wenn sie missbraucht wird, ist es meine Pflicht loszubrüllen. Ich reagiere wie ein Rauchmelder. Wenn Menschen als ‚unerwünschte Ausländer‘ bezeichnet werden oder als ‚Parasiten‘, muss ich Alarm schlagen. Denn eine enthumanisierte Sprache ist das erste Indiz für eine enthumanisierte Gesellschaft.“ Schriftsteller und Künstler fungieren nach Vonnegut und Oz als eine Art Frühwarnsystem vor einer drohenden Entdemokratisierung und Enthumanisierung der Gesellschaft. Wie lange sie diese Ausgabe noch erfüllen können, ist ungewiss, denn auch sie werden von der allgemeinen – und von den sogenannten sozialen Medien vorangetriebenen – Desensibilisierung erfasst. Irgendwann werden sie genauso abgestumpft sein wie der Rest ihrer Mitbürger und nichts mehr merken.
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