„Die Erfahrungen der Eltern taugten unter den neuen Bedingungen nicht mehr. Damit war die wichtigste kulturelle Transmission zerstört: die der Generationen innerhalb der Familie. Und so befanden sich die Jungen, eben ins Leben Eintretenden in einer kulturellen Wüste.“
(Jacek Kuron)
Einige „Abi-Motto-Vorschläge“ an einem Gießener Gymnasium sorgen für Aufregung. Bei der Wahl des Abitur-Mottos der Liebigschule waren folgende Sprüche in die engere Wahl gekommen: „NSDABI – Verbrennt den Duden“, „Abi macht frei“ und „Abi Akbar – Explosiv durchs Abi“. Weit über Gießen hinaus brach ein Sturm der Entrüstung los. Ein Berliner Freund schickte mir einen dort erschienene Artikel zu und fragte mich, was denn in Gießen los sei, das ja bisher nicht als Nazi-Hochburg in Erscheinung getreten sei. Die Geschichte scheint sich zur diesjährigen Syltaffäre auszuweiten. In Kampen auf Sylt grölten vor einem Jahr akademisch gebildete und wohlsituierte Partygäste rassistische und ausländerfeindliche Parolen. Ich habe noch diesen BWL-Schnösel mit über die Schulter geworfenem Kaschmirpullover vor Augen, der vor der Kneipe den sogenannten Hitlergruß entbietet. Auch das Gießener Liebiggymnasium genießt den Ruf einer Schule, auf die mit Vorliebe die Gießener Bourgeoisie ihre natürlich hochbegabten Kinder schickt. Gymnasiale und akademische Bildung scheinen vor gar nichts zu schützen. Erinnern wir uns: Das Gros der Teilnehmer an der sogenannten Wannseekonferenz im Januar 1942, auf der die Vernichtung der europäischen Juden beschlossen wurde, trug einen Doktortitel. Es gibt im Kontext des Umgangs mit der NS-Vergangenheit noch immer nichts Harmloses. Insofern stört mich die Bagatellisierung der Vorfälle an der Liebigsschule im Kommentar eines Redakteurs des Gießener Anzeigers, der vorschlägt, das Ganze als pubertäre Provokation zu behandeln, die den Beteiligten bald selbst peinlich sein werde. Wir erleben gegenwärtig, wie eine ganze heranwachsende Generation bereits in der Wolle mit rechtem Gedankengut eingefärbt zu werden droht. Gestern wurde eine Gruppe von Jungnazis festgenommen, die unter dem Titel „Letzte Verteidigungswelle“ firmierte. Deren Anführer soll 15 Jahre, der Rest der Gruppe zwischen 14 und 18 Jahren alt sein. Das Beispiel von Hubert Aiwanger zeigt, wohin es führt, wenn man einem Jugendlichen ein antisemitisches Flugblatt durchgehen lässt. Er hält dann 30 Jahre später Reden, die davon zeugen, dass Älterwerden nicht unbedingt mit demokratischer Läuterung einhergehen muss. Die Frage ist, warum Torheiten, die Jugendliche begehen und die zur Jugend hinzugehören mögen, Nazi-Torheiten sein müssen? Es gab mal Zeiten, da entwickelten junge Leute einen eher anarchistisch-subversiven Humor, dessen Scherze nicht auf Kosten der Ärmsten der Armen gingen, heute blüht beim akademischen Nachwuchs der Herrenzynismus. Dem jugendlichen Rechtsradikalismus muss eine sich demokratisch nennende Gesellschaft mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln begegnen, vor allem durch verstärkte Bildungs- und Aufklärungsbemühungen. Ansonsten wird eine bloß noch konsumierende Gesellschaft von Fressern, Säufern, Touristen und Smartphone-Wischern die Orientierung an den humanen Werten endgültig verlieren. Ich halte es im Zusammenhang mit derartigen sprachlichen Entgleisungen mit dem 2018 verstorbenen israelischen Schriftsteller Amos Oz, der im Jahr 2014, als er den Siegfried Lenz Preis erhielt, in seiner Dankesrede sagte: „Ich habe eine bestimmte Verantwortung für die Sprache. Wenn sie missbraucht wird, ist es meine Pflicht loszubrüllen. Ich reagiere wie ein Rauchmelder. Wenn Menschen als ‚unerwünschte Ausländer‘ bezeichnet werden oder als ‚Parasiten‘, muss ich Alarm schlagen. Denn eine enthumanisierte Sprache ist das erste Indiz für eine enthumanisierte Gesellschaft.“
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Die Nachrichten und Bilder aus Gaza sind schier unerträglich. Was geschieht mit uns, wenn wir sie uns jeden Tag anschauen und nichts dagegen unternehmen. Die Flut an Schreckensnachrichten und -bildern, die täglich über uns hereinbricht, hat eine „Normalisierung des Grauens“ zur Folge, wie Herbert Marcuse das schon zu Zeiten des Vietnam-Kriegs genannt hat. Wir verschlingen unentwegt eine derart hohe Dosis an Dramatik und Elend, dass wir jede Fähigkeit zur Verarbeitung und Wahrnehmung einzubüßen drohen. Je deutlicher eine Barbarei zu sehen ist, je mehr Wiederholungen uns präsentiert werden, desto schneller vergessen wir sie. Wir konsumieren Horror wie andere Leute Alkohol und Canabis. Alles zeigen, alles ausbreiten, alles präsentieren: Dies ist das beste Mittel, um uns gegen das Unglück, von dem die Medien berichten und von dem sie vampiristisch zehren, immun zu machen. Die Fülle der Nachrichten wird zum Widersacher der Wahrheit, unsere Aufnahmefähigkeit und Verarbeitungskapazität kollabiert unter dem Ansturm schrecklicher Bilder. Die Metastasen des Zynismus breiten sich aus und drohen unsere Fähigkeit zu Widerstand und Revolte zu zerstören. Abgesehen davon, dass wir, ob wir es wollen oder nicht, zu Komplizen des Unrechts werden, das wir geschehen lassen und dem wir zusehen.
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„Die intimsten Reaktionen der Menschen sind ihnen selbst gegenüber so vollkommen verdinglicht, dass die Idee des ihnen Eigentümlichen nur in äußerster Abstraktheit noch fortbesteht: personality bedeutet ihnen kaum mehr etwas anderes als blendend weiße Zähne und Freiheit von Achselschweiß und Emotionen.“
(Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung)
„Authentisch“ ist auch so ein Wort, das ich nicht mehr hören kann und mit dem Schindluder betrieben wird. Der Begriff stammt aus dem Griechischen und bedeutet ursprünglich „zuverlässig, richtig, echt“. Nun ist es gegenwärtig allerdings so, dass je unechter alles wird, desto häufiger von Authentizität die Rede ist. Irgendwelche abgeschmirgelten und aalglatten Politiker legen Wert darauf, als „authentisch“ zu gelten. Im Zeitalter vollkommener Austauschbarkeit, wo alles gefaked ist, wird Authentizität zu einer der am häufigsten verwendeten Vokabeln. Kim Kardashian, an der nichts echt ist, wird sicher von sich behaupten, authentisch zu sein. Authentisch ist zu einer Vokabel des Betrugs geworden. Der Begriff hat Konjunktur, während das von ihm ursprünglich einmal Bezeichnete verschwindet.
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„Die Unglücklichen sind gefährlich!“
(Goethe: Clavigo)
Im Gewühl des freitäglichen Feierabendverkehrs kam es am 23. Mai auf dem Hamburger Hauptbahnhof zu einer Messerattacke, bei der 18 Menschen verletzt worden sind, vier von ihnen schwer. Bemerkenswert an diesem Fall ist, dass die Tat von einer 39-jährigen Frau verübt wurde. Gewalt ist nach wie vor überwiegend männlich und Taten wie diese sind extrem selten. Messerattacken sind hierzulande inzwischen derart häufig, dass wir davon sprechen können, dass sich ein neues „Modell des Fehlverhaltens“ herausgebildet hat. Diesen Begriff hat der französische Ethnologe und Soziologe Georges Devereux in seinem Buch „Normal und anormal“ für das Phänomen vorgeschlagen, dass sich aus einem oder mehreren spektakulären Verbrechen so etwas wie eine kriminelle Mode entwickelt. Ich denke, das wir in Deutschland inzwischen so weit sind. Eine Kultur stellt ihren Mitgliedern in Situationen großen Stresses eine Art Tatschablone zur Verfügung, an der sie sich, wenn sie eine Tat planen, orientieren können. In Folge 112 der DHP bin ich im Januar 2025 anlässlich der Messerattacke von Aschaffenburg etwas ausführlicher auf Devereux und seinen Erklärungsversuch eingegangen. Auf dem Onlineportal „Telepolis“ habe ich mich zur Konjunktur der Messerattacken bereits vor vier Jahren gründlicher geäußert: https://www.telepolis.de/features/Wuerzburg-Amok-oder-Terror-6121294.html?seite=all Die Hamburger Täterin wurde umgehend in die Kategorie „psychisch gestörte Einzeltäterin“ eingeordnet und in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, wo sie auf ihren Prozess warten wird. Sie war offenbar erst einen Tag vor dem Messerangriff am Hauptbahnhof aus einer geschlossenen Anstalt in Niedersachsen entlassen worden und war wohl auch nicht zum ersten Mal in einer derartige Einrichtung. Wiederholt war sie auf Polizeidienststellen erschienen, hatte dort vergeblich um Hilfe gebeten und deutliche Anzeichen einer psychischen Notlage vorgeführt. Wenn man Menschen nach einer Unterbringung in der Psychiatrie oder einem Gefängnis einfach so auf die Straße setzt, ohne dass sie über eine Perspektive und Bleibe verfügen, geht man ein hohes Risiko ein. Vor allem für die Anderen, die Mitmenschen. In eine völlig desolate Situation geraten, kann ein psychischer Desintegrationsprozess einsetzen, der manchmal dazu führt, dass archaische Spaltungsneigungen wiederaufflammen. Die ganze Welt wird auf einmal zum „bösen Objekt“, gegen das man sich mit allen Mitteln zur Wehr setzen muss. Jetzt kann es jeden treffen. Der Nährboden solcher entgrenzten Gewalt ist häufig Einsamkeit. Ich erinnere mich an einen harmloser verlaufenen Fall, wo ein gerade entlassener Häftling in die Stadt ging, dort an einem Kiosk sein Entlassungsgeld versoff und dann einen Backstein in ein Schaufenster warf. Nachmittags war er wieder „zu Hause“. „So hoch könnt ihr die Mauern gar nicht machen, das ich nicht wieder reinkomme“, kommentierte er seine schnelle Rückkehr.
Bereits am Donnerstag hatte ein 13-jähriger Grundschüler in Berlin mit einem Messer auf einen Mitschüler eingestochen. Nach einer Operation soll dessen Zustand leidlich stabil sein. In Berlin sollen nach Polizeiangaben in den letzten beiden Jahren rund 30 Prozent der Täter, die mit Messern agierten, unter 21 Jahre alt gewesen sein. Der Anteil von jungen Männern und männlichen Jugendlichen, die einen Migrationshintergrund aufweisen, ist laut Kriminalstatistik in dieser Tätergruppe überproportional hoch.
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Mir fallen die zahlreichen Wiederholungen auf, die die Durchhalteprosa thematisch durchziehen. Bei Umberto Eco stieß ich in der Einleitung seines aus dem Nachlass erschienenen Buches „Pape Satàn“ auf eine Formulierung, die mich in diesem Punkt etwas entlastet: „Obwohl ich viele Wiederholungen beseitigt habe, sind einige vielleicht noch stehengeblieben, da sich in diesen fünfzehn Jahren gewisse Phänomene mit besorgniserregender Regelmäßigkeit wiederholt haben, was zu Rückgriffen und Beharren auf Themen geführt hat, die beunruhigend aktuell geblieben sind.“ Anders gesagt: Manche Aussagen muss man solange wiederholen, bis das von ihnen Bezeichnete in der Wirklichkeit verschwunden ist. Solange bestimmte Skandale fortwirken und Zustände fortbestehen, muss man sie immer wieder anprangern. Nochmal anders ausgedrückt: Solange wir den Kapitalismus und seine menschenfeindlichen Auswüchse im Hause haben, muss man ihn und sie immer aufs Neue beim Namen nennen. Es liegt also an und in der Sache selbst, wenn bestimmte Themen in der DHP immer wieder vorkommen.
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„Die Verunreinigung ist eine eingebildete Angst, die sich über Gefühle verbreitet, so wie die Angst vor Verunreinigung durch die Einbildungskraft ausgelöst wird. Diese Angst spielt eine entscheidende Rolle bei der Kennzeichnung von Objekten, die aus dem Gemeinwesen ausgeschlossen werden sollen.“
(Eva Illouz: Undemokratische Emotionen)
Zum Beispiel dieses Thema: Es existiert so etwas wie ein rechtsradikales Syndrom, zu dem verschiedene „Symptome“ gehören. Im einzelnen kann der Rechtsradikalismus wechselnde Züge annehmen, aber dennoch zeigt sich, dass bestimmte Einzelseiten in seiner Physiognomie regelmäßig im Verein mit anderen auftreten. So ist, wer gegen Ausländer wettert, in der Regel auch gegen Schwule und für die Prügelstrafe. Es existiert hier eine sozialpsychologische Komplementarität, wonach bestimmte gesellschaftliche Affekte sich mit anderen verbinden. Nazis mögen keine Katzen, keinen Knoblauch, den „Juden“ unter den Gewürzen, keine „Zigeuner“, keine Fremden und keine Christopher Street Day-Paraden und Regenbogen-Fahnen. Alles, was nicht sichtlich „unsereiner“ ist, was nicht sesshaft ist und so herumzieht, was ge- und vermischt ist, ist ihnen verhasst und muss verschwinden.
Im Kern von rechtspopulistischen Bewegungen stoßen wir stets auf die Idee der „Reinheit der Gesellschaft“, der „ethnischen Homogenität“. Das rechte Lager verspricht, Eindeutigkeit und Übersichtlichkeit dadurch herzustellen, das „Ausländer, linke Zecken, Juden, Verbrecher, Sozialschmarotzer und Behinderte“ verschwinden. Die dahinter stehende Idee ist die von einer guten, homogenen Gemeinschaft, die sich ihrer negativen Teile entledigt, eine Wahnidee, wie sie antidemokratischer nicht sein kann. Demokratie ist, im Gegensatz zu einem weit verbreiteten Missverständnis, keine dumpfe Gesinnungsgemeinschaft, sondern eine Gesellschaftsform, die die Entfaltung von Verschiedenheit und den friedlichen Austrag von Dissens ermöglicht. Demokratie will und soll eine Gesellschaftsform sein, in der, wie Adorno schrieb, nicht alle gleich sein müssen, sondern in der man ungestraft und „ohne Angst verschieden sein kann“. Sie basiert, sozialpsychologisch betrachtet, auf reifen, dialektischen Ich-Funktionen, zu deren wichtigsten Ambivalenz- und Angsttoleranz gehört. Sie setzt ihre Träger instand, in und mit Widersprüchen zu leben und zu denken, diese, wo sie sich nicht auflösen lassen, auszuhalten und Schwebezustände zu ertragen. Demokratie ist nur möglich mit demokratischen Bürgern, die auch in krisenhaften Zeiten erwachsen bleiben, nicht in Panik verfallen und ihr Differenzierungsvermögen aufrechterhalten. Die Fähigkeit, sich in andere einfühlen zu können, hat in Deutschland nie zu den öffentlich geförderten Tugenden gehört. Sie wäre aber das einzig wirksame Gegengift gegen einen Rückfall in Barbarei, Rassismus und Xenophobie.
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„Man erträgt das Unerträgliche, solange es eben geht, und dann greift man zum Teppichmesser oder knüpft eine Schlinge.“
(John Niven)
Bei der Auswahl meiner Lektüre hatte ich in der letzten Zeit eine glückliche Hand: Christoph Hein, Rachel Kushner, Werner Steinberg haben mir jeweils eine gute Woche bereitet. Die letzten Tage hat mich das Buch eines schottischen Autors beschäftigt und gefesselt, der John Niven heißt. Sein Buch trägt den Titel „O Brother“ und ist die Geschichte der Beziehung der Brüder John und Gary. Sie entstammen einer schottischen Arbeiterfamilie, die sich auf dem Weg in die Mittelschicht befindet. Während John, der zwei Jahre Ältere, nach anfänglichen Schwierigkeiten und diversen Suchbewegungen seinen Weg findet und ein erfolgreicher Autor wird, kann Gary in der bürgerlichen Gesellschaft nie wirklich Fuß fassen. Er führt ein Leben als Kleinkrimineller, konsumiert diverse Drogen und landet irgendwann im Knast. Der Eintritt ins sogenannte normale Leben gelingt ihm auch danach nicht, sein Leben geht in freien Fall über. Es existieren irgendwann keine Netze mehr, die seinen Sturz aus der Welt aufhalten könnten. Es endet, zermürbt von dauernden schwersten Kopfschmerzen, im Warteraum eines Krankenhauses, wo Gary aus den Ärmeln seines Pullovers eine Schlinge knüpft und sich aufhängt. Er wurde 42 Jahre alt. Der Roman erzählt von der wechselvollen Beziehung der beiden Brüder und vor allem dem vergeblichen Bemühen Johns und der Familie, dem Bruder und Sohn eine Hilfe zu sein. Gary kann und will diese nicht annehmen und stößt Menschen, die es gut mir ihm meinen, immer wieder vor den Kopf. Der Tiefpunkt: Er klaut, um Drogen kaufen zu können, der Mutter ihre Ersparnisse aus ihrem Sparschwein. Ein in einem rauen, aber herzlichen Ton verfasstes Buch, das ganz nebenbei auch eine Geschichte der englischen Rockmusik und Jugendkultur um die Jahrhundertwende herum ist. John Niven spielte selbst in einigen Bands und arbeitete in der Musikindustrie, bevor er sich fürs Schreiben entschied. Das war, wie dieser wunderbare Roman belegt, eine gute Wahl.
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Seit Tagen schmerzt meine linke Hüfte, die noch nicht operierte Seite. Letzten Sommer wurde sie nach einem Sturz mit dem Rad geröntgt. Die Ärztin zeigte mir anschließend das Bild und meinte, dass das 2016 operierte Hüftgelenk in Ordnung, das andere aber ziemlich marode sei. Sie fragte, ob die Hüfte mich schmerze, und als ich verneinte, fügte sie hinzu: „Wir operieren keine Röntgenbilder, sondern schmerzende Gelenke.“ So lange die linke Hüfte keine größeren Probleme bereite, sei eine Operation nicht angezeigt. Beim Denken an eine nun womöglich geänderte Lage wurde mir heute Morgen ganz blümerant.
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Jeden Abend hören wir dasselbe traurige Lied: Die israelische Armee bombardiert im Gazastreifen eine Schule, eine Kindergarten, eine Klinik, unter der sich eine Kommandozentrale der Hamas befunden hat. Die „Terroristen“ benutzen zivile Einrichtungen als „menschliche Schutzschilde“, um ihre teuflischen Pläne ausführen zu können. Das mag es auch mal gegeben haben, aber wenn es sich jeden Tag wiederholt, wenn wir es allabendlich zu hören bekommen, entpuppt es sich als das, was es wohl ist: eine Propagandalüge. Die französisch-israelische Soziologin Eva Illouz hat darauf schon in ihrem Buch „Undemokratische Emotionen“ hingewiesen.
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Ich hatte mich gerade auf einer Bank im botanischen Garten niedergelassen und begonnen, in Mark Twains Buch „Leben auf dem Mississippi“ zu lesen, da näherte sich ein neugieriges Rotkehlchen und hüpfte um meine Füße herum. Knorrige Wurzeln buchten sich unter einer alten Kastanie aus dem Boden heraus, die dem Rotkehlchen als Landeplatz dienen. Es hockte für Momente ganz ruhig zu meinen Füßen und sah mich aus seinen aufmerksamen Augen an. Ich versuchte, es zu einer Landung auf meinem ausgestreckten Zeigefinger zu animieren, aber das war ihm dann doch zu viel der Nähe. Irgendwann wurde es ihm langweilig und es schwirrte davon. Gut, dass Donald Trump keine Bücher liest, dachte ich, während ich die ersten Seiten von Mark Twain las, auf denen ein paar Mal vom „Golf von Mexiko“ die Rede ist, den Trump in „Golf von Amerika“ umbenennen möchte. Twain erzählt auf die ihm eigene humorvolle Weise von seinen Lehrjahren auf dem Mississippi in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als er den Beruf eines Lotsen erlernte. Noch ein tolles Buch, das mir der Zufall in die Hände spielte, als ich heute in den öffentlichen Bücherschrank in meiner Nachbarschaft schaute. Bevor ich nach Hause ging, strich ich der bronzenen Antilope, dem Wappentier dieses Blogs, noch über den Rücken. Weil zahllose Eltern ihre Kinder da schon draufgesetzt haben, ist diese Stelle ganz blank und abgewetzt.
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„Die Gerechtigkeit wohnt auf einer Etage, zu der die Justiz keinen Zutritt hat.“
(Friedrich Dürrenmatt)
In die zur Meisterfeier des FC Liverpool versammelten Menschenmassen ist am Montag, den 27. Mai, ein Mann mit seinem Auto gefahren. Über 60 Menschen wurden verletzt, einige von ihnen schwer. Ein 53-jähriger weißer Brite wurde als Tatverdächtiger festgenommen. Die Polizei stuft die Tat nicht als religiös oder politisch motiviert ein und sucht nach einem möglichen Motiv. Möglicherweise handelt es sich also um einen „acte gratuit“, vom dem bei André Gide die Rede ist, also eine letztlich absurde, gewalttätige und zerstörerische Handlung ohne Sinn und nachvollziehbares Motiv. Gide fügte, als er den Begriff prägte sogleich hinzu: „Freilich handeln Menschen nie wirklich unmotiviert; den ‚acte gratuit‘ gibt es nur dem Anschein nach.“ Ich fühlte mich an die Amokfahrt in Münster im Jahr 2018 erinnert, als ein 48-jähriger Mann seinen Kleinbus in den Außenbereich einer Gaststätte steuerte, drei Menschen tötete und weitere 20 Personen teils schwer verletzte. Ich habe über dessen mögliche Motive damals ein paar Überlegungen angestellt und diese unter dem Titel „Aus der Welt gefallen – Versuch über die Einsamkeit“ in der Tageszeitung „junge Welt“ veröffentlicht. Es könnte sein, dass es Parallelen zum Liverpooler Fall gibt. Die Polizei wird wahrscheinlich kein Motiv ausfindig machen, weil die Motive in einem Bereich liegen, der sich dem polizeilichen Verständnis und dem Alltagsverstand entzieht. Der Täter kennt sie vermutlich selbst nicht. Dass der Täter Drogen konsumiert haben soll, hilft uns beim Versuch, die Tat zu verstehen nicht weiter. Drogenkonsumenten sind bisher nicht dadurch aufgefallen, dass sie Autos in Menschenmengen steuern. Für mich existiert da kein kausaler Zusammenhang. Aber in er Erklärungsnot greift man zu jeden Strohhalm.
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„Aufgabe von Kunst heute ist es, Chaos in die Ordnung zu bringen.“
(Theodor W. Adorno)
Kunst und Wissenschaft geraten gegenwärtig weltweit unter Druck. Allenthalben wird gespart und werden Subventionen gekürzt. Bei rechten Populisten stehen Kunst und Wissenschaft unter Verdacht, subversiv zu sei, was sie ja, wenn sie sich nicht unter staatliches Kuratel stellen lassen, auch sind oder sein können. Eine der Wahrheit verpflichtete Wissenschaft ist für jede Form von Herrschaft eine Gefahr. Herrschaft lügt (fast) immer und versucht, aus ihren wahren Absichten ein Geheimnis zu machen. Für das, was sich an Triebelend, Angstbereitschaft und Feindseligkeit in der Seele des Bürgers sammelt, bilden Kunst und Wissenschaft den Projektionsschirm. Es sind die eigenen pathogenen Phantasien des Bürgers, die diese Begriffe zum Schimpfwort machen und Berührungsängste verbreiten. Trump setzt diese Ressentiments ganz gezielt in Gang, und kann sich des Beifalls des „kleinen Mannes“ sicher sein, dem schon beim Hören dieser Begriffe „das Messer in der Tasche aufgeht“ und die Lynchlust erwacht. Deswegen ist es gut und wichtig, dass die „Süddeutsche Zeitung“ gerade jetzt den britischen Dirigenten Simon Rattle zu Wort kommen lässt, der im Interview sagt: „Kunst ist wichtig, sie muss gefördert werden, sie macht uns menschlich. … Und weil die Welt immer befremdlicher wird, brauchen wir mehr Kunst. … Wir müssen die Leute mit Kunst füttern und ihnen sagen, dass sie in der Kunst etwas finden, was sie eines Tages brauchen können.“ Von Seiten der Herrschenden aus will man verhindern, „dass die Menschen sich diesen unheilbaren Virus einfangen: die Kunst. Das ändert ihr Leben, das bringt sie in Kontakt mit anderen Menschen. Dafür müssen wir kämpfen. Wir müssen auf der Kunst bestehen.“ (SZ vom 17./18. Mai 2025) Manchmal gelingt es guter und wahrhafter Kunst – zumindest für einen Augenblick – den Schleier von Macht und Herrschaft zu zerreißen und den Blick freizugeben auf einen versöhnten Zustand, in dem der Mensch nicht länger des Menschen Wolf und die Natur nicht mehr der Feind ist, den es zu unterwerfen gilt.
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Weil es das, was man früher „Menschenkenntnis“ nannte, immer seltener gibt und die Leute sich auf ihre Sinne nicht mehr verlassen können, werden sie täglich vom Internet und der Boulevardpresse mit Ratschlägen wie diesen versorgt. „Daran erkennst du, ob es jemand gut mit dir meint.“ „Fünf Merkmale, an denen du erkennst, ob dein Kollege ein Psychopath ist.“ Und in letzter Zeit: „Daran erkennst du, ob deine Beziehung toxisch ist.“ Überhaupt ist potenziell alles und jeder „toxisch“ und man erhält täglich Tipp, woran man das erkennt und wie man sich schützen kann. Wir haben es mit einer fortschreitenden Entmündigung zu tun, die ein Aspekt der Infantilisierung ist, auf die unter anderem Amos Oz aufmerksam gemacht hat. (Siehe DHP Folge 118) Eines nicht mehr fernen Tages werden wir die „Menschenkenntnis“ an eine „Künstliche Intelligenz“ delegieren, die wir am Handgelenk mit uns tragen und die unser jeweiliges Gegenüber im Handumdrehen checkt und uns rät, ob wir uns auf einen Menschen einlassen sollen oder besser nicht. Die „Enteignung der Sinne und der Urteilskraft“ könnte man diesen Prozess nennen.
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Am 24. Mai 2025 ist der Filmemacher Marcel Ophüls im Alter von 97 Jahren gestorben. Er ist vor allem mit Dokumentarfilmen, zum Beispiel über den Fall der Berliner Mauer, hervorgetreten. Für den Dokumentarfilm über den stellvertretenden Gestapo-Chef in Lyon, Klaus Barbie, wurde Ophüls 1989 mit dem Oscar ausgezeichnet.
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Passend zum sogenannten Vatertag jaulte heute Vormittag in der Nachbarschaft die Alarmanlage eines Automobils. Wahrscheinlich hatte sich ein Vogel auf die Kühlerhaube des Luxusschlittens gesetzt, der in Wahrheit die Selbstwert-Prothese seines Besitzers ist. Als ich nach einer halben Stunde ernsthaft darüber nachzudenken begann, was man gegen den schauderhaften hohen Pfeifton unternehmen könne, erstarb das Geheul plötzlich. Schon zu relativ früher Stunden drang aus etlichen Wohnungen in der näheren Umgebung Party-Geheul. Mit Lalülala werden die ersten Schnapsleichen in die Uni-Klinik transportiert. Oder sind es bereits Opfer von Schlägereien? Was „Christi Himmelfahrt“ bedeutet, wusste in der Straßenbefragung, die ich heute Morgen im Radio gehört habe, niemand so richtig. Einer vermutete, es handele sich einen Werbegag von Elon Musk, der eine seiner Raketen so genannt habe. „Weit hamers bracht!“, würde Gerhard Polt eine seiner Figuren seufzen lassen.
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Auf der Heimreise nach Leipzig teilt Dimitrij Kapitelman das Schlafwagenabteil mit Larissa aus Mariupol und deren kleinem Sohn Swetoslaw. Larissa erzählt ihm von den Zuständen in der ukrainischen Armee, in der es kaum besser zugehe als in der russischen: „Ein Bekannter war in einer Division, wo einer der Gefreiten seinen Vorgesetzten erschossen hat. Nur um ins Gefängnis zu kommen und nicht mehr dienen zu müssen. Dem haben sie aber gesagt: Nein, erst kämpfst du mal schön fertig. Dann darfst du ins Gefängnis!“ Dimitrij Kapitelmans neues Buch „Russische Spezialitäten“, von dem ich neulich schon einmal geschwärmt habe, bleibt auch nach Abschluss unserer Lektüre eine Leseempfehlung.
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“Wie viel Wahrheit erträgt, wie viel Wahrheit wagt ein Geist?”
(Friedrich Nietzsche)
Die apokalyptischen Bilder vom Gletscherabbruch im Schweizer Kanton Wallis zeigen nicht nur den schmerzhaften Heimatverlust der circa 300 Bewohner des nun verschütteten Dorfes Blatten, sondern sind darüber hinaus von einer hohen Symbolik. Die zeigen allen, die sehen wollen und die Wahrheit aushalten, den Zustand der Welt und unser aller Lage: Alles ist ins Rutschen gekommen, bricht ab, wird verschüttet und überschwemmt. 200 Jahre industrielle Naturbeherrschung – ob unter kapitalistischem oder unter sozialistischem Vorzeichen – haben ausgereicht, den Planeten zu ruinieren und an den Rand des Abgrunds zu bringen. Wer das jetzt immer noch nicht begreift, dem ist nicht zu helfen. Und das betrifft bei Lichte besehen Zweidrittel der Leute – wenn nicht noch mehr. Eigentlich machen fast alle weiter wie bisher.
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„Wir haben noch nie so viel kommuniziert wie heute und noch nie so wenig miteinander gesprochen.“
(Joachim Höflich)
Wir befinden uns mitten in der Aktionswoche „Gemeinsam aus der Einsamkeit“. In letzter Zeit ist überhaupt viel von Einsamkeit die Rede. Die Schuld an ihrer Ausweitung und Intensivierung wird im Allgemeinen der Corona-Zeit und den damals verhängten Kontaktbeschränkungen zugewiesen. Dabei haben diese allenfalls Tendenzen verstärkt, die ohnehin längst wirksam waren und sich auch ohne Corona durchgesetzt hätten. Die Krux bei dem ganzen Gerede über Einsamkeit besteht darin, dass die Ursachen nicht zur Sprache kommen. Diese liegen nicht in der Einflusssphäre von Sozialtechnik und Psychohygiene. Die Einsamkeit lässt sich nicht per Dekret abschaffen. Sie stammt aus der Grundstruktur einer warenproduzierenden Gesellschaft, die ihre Mitglieder aus den traditionalen Formen der Gemeinschaft herauslöst und sie tendenziell in soziale Atome, lauter vereinzelte Einzelne verwandelt, deren Unabhängigkeit sich als gegenseitige Gleichgültigkeit und Indifferenz verwirklicht. Kälte wird zum vorherrschenden Modus kapitalistischer Zwischenmenschlichkeit. Im fordistischen Zeitalter waren die Arbeiter in den Fabriken zu mehr oder weniger solidarischen Kollektiven zwangsweise zusammengefasst, heute sind auch sie vor allem Konsumenten. Konsum serialisiert und isoliert die Leute, während die Produktion sie tendenzielle solidarisierte. Alle konsumieren dasselbe, aber jeder konsumiert für sich allein und schielt eifersüchtig auf seine Mitkonsumenten und möchte durch den Erwerb exklusiver Güter einen Distinktionsgewinn erzielen. In ihrem rastlosen Bemühen, sich unterscheiden zu wollen und etwas Besonderes zu sein, werden sich die Leute immer ähnlicher. Obwohl heute alle zigfach vernetzt sind, kennt keiner niemanden. Man arbeitet fieberhaft an der Entwicklung von Kommunikationsmitteln für Menschen, die sich nichts mehr zu sagen haben. Milliarden Whatsapp-Nachrichten und TikTok-Filmchen pro Tag und mehr Einsamkeit als je zuvor. Schon wird künstliche Intelligenz als Heilmittel gegen Einsamkeit gepriesen, dabei gibt es nichts Einsameres, als einen unter seinen Kopfhörern mit einem Roboter kommunizierenden Menschen. KI bietet einem kein Paroli, sagt nur, was man hören möchte. Die KI-Kommunikation ist im Kern tautologisch. Schon kleinste Kinder werden in den digitalen Nexus einbezogen. Sie kennen ihre Erwachsenen nur mit Smartphone in den Händen oder am Ohr. Wir sind Zeugen einer anthropologischen Mutation: Der „homo sapiens“ entwickelte sich unter unseren Augen zum „homo telephonans“, dann im nächsten Schritt zum „homo digitalis“. Die Digitalisierung zerstört unsere Erfahrungsfähigkeit, höhlt die Gehirne aus oder lässt sie erst gar nicht zur Entfaltung kommen und untergräbt die Demokratie, weil sie Hass, Hetze und Lüge befördert. Es gibt nur eine Lösung des Problems: Weg mit diesem ganzen digitalen Geraffel! Da bin ich Verfechter des Maschinensturms, den vor allem englische Handwerker Anfang des 19. Jahrhunderts praktizierten, als sie zu spüren bekamen, dass die neue kapitalfixierte Maschinerie sie ihrer Existenzgrundlage beraubte und ruinierte. Einst wurden die Gesellschaften Europas vom Christentum zusammengehalten, dann für einen kurzen Zeitraum von der Aufklärung, später vom Nationalismus. Jetzt existieren nur noch Märkte, die ihrem Wesen nach nihilistisch sind, eine verblödende Unterhaltungskultur und Informationstechnologien, die alles Mögliche tun, nur nicht wirklich informieren.
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„Und alle eben Genannten sind Juden. Tatsächlich wurde kein Teil der Welt so tief vom jüdischen Ingenium geprägt. Überall fremd und überall zu Hause, hoch über den nationalen Streitigkeiten, waren die Juden im zwanzigsten Jahrhundert das wesentliche kosmopolitische und integrierende Element Mitteleuropas, sein intellektueller Kitt, die Verdichtung seines Geistes, Schöpfer seiner geistigen Einheit. Deshalb liebe ich sie und hänge leidenschaftlich und wehmütig an ihrem Erbe, als wäre es mein eigenes.“
(Milan Kundera: Der entführte Westen)
Der vormalige Verleger des S. Fischer-Verlages zitiert in einem Artikel für die Süddeutsche Zeitung Heinrich Heine mit den Worten: Das enge „Teutschsein“ gehe mit absoluter Gefühlskälte einher, das Herz ziehe sich gegeüber allen Nicht-Deutschen „zusammen wie Leder in der Kälte“. Der „enge Teutsche“ werde sich dann nicht bloß gegenüber den europäischen Nachbarn als wütender Gewalttäter gebaren, sondern auch gegenüber den nicht-engen Deutschen, Weltbürger-Deutschen zum Beispiel, wie Heine selbst. Peter Bückner hat später über Vaterlandsliebe ähnlich bissig geschrieben: „Wenn die Liebe zum Vaterland erst einmal tief in die Zone des ‚Lebensgrundgefühls‘ eingedrungen ist, haust sie in der deutschen Innerlichkeit zeitweilig wie die Soldateska im Dreißigjährigen Krieg: plündernd und vergewaltigend.“
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Der schwarze Kater, der zum Botanischen Garten und an Markttagen zum Markt gehörte, ist tot. Er wurde auf einem seiner Ausflüge in die Stadt überfahren, erzählte mir einer der Mitarbeiter des Gartens. Ich kannte den Kater seit ungefähr fünfzehn Jahren und bin mir relativ sicher, dass er bei all der Aufmerksamkeit und den Streicheleinheiten, die ihm hier zuteil geworden sind, ein angenehmes Katzenleben geführt hat. Ohne ihn fehlt dem Garten etwas. Jetzt soll eine Füchsin den botanischen Garten zu ihrem Revier gemacht haben. Gesehen habe ich sie allerdings noch nicht.
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„Gerechtigkeit gibt‘s im Jenseits, hier auf Erden gibt‘s das Recht.“
(William Gaddis: „Letzte Instanz“)
Das, was Alexander Dobrindt gerade macht, kenne ich aus der Praxis des Strafvollzugs. Ein Gericht gibt der Klage eines Gefangenen gegen eine offensichtlich rechtswidrige Entscheidung der Strafvollzugsanstalt statt, und diese hält dennoch mit dem Argument an ihrer Praxis fest, das Gericht habe lediglich eine „Einzelfallentscheidung“ getroffen. Auch der nächste Häftling muss, um sein Recht zu bekommen, vor Gericht ziehen und eine Einzelfallentscheidung erzwingen. Obwohl das Berliner Verwaltungsgericht die Zurückweisung dreier Asylbewerber an der deutschen Grenze für rechtswidrig erklärt hat, hält Bundesinnenminister Alexander Dobrindt an seinem angeordneten Vorgehen fest. „Wir sehen, dass die Rechtsgrundlage gegeben ist und werden deswegen weiter so verfahren – ganz unabhängig von dieser Einzelfallentscheidung“, hörte ich den CSU-Politiker sagen, der ja sicherlich die Rückendeckung seines Chefs besitzt. Bis eine höhere Instanz sich grundsätzlich zu der inkriminierten Praxis der Zurückweisung äußert, kann es dauern. Man setzt auf die „normative Kraft des Faktischen“ und hofft, dass die Praxis der ungeprüften Zurückweisung von Asylsuchenden an den deutschen Grenzen Wirkung zeigt. Praktiziert man den Rechtsbruch lang genug, halten ihn die Leute für die gängige Praxis, an der nicht zu rütteln und die offenbar rechtens ist. Ein zynisches Spiel, das letztlich dazu beiträgt, den Rechtsstaat und die Gewaltenteilung zu unterminieren. Trump macht Schule.
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Als ich eben auf dem Balkon mein tägliches Gymnastikprogramm absolvierte, landete eine junge Libelle auf einer Strebe des Geländers. Ein äußerst seltener Gast hier mitten in der Stadt. Sie ruhte sich eine Weile aus und flog dann weiter. Hoffentlich findet sie den Rückweg zum Fluss, wo sie wahrscheinlich zu Hause ist.
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Bei den Frühstücksvorbereitungen hörte ich auf Deutschlandfunk Kultur, wie die Moderatorin mit einer dieser heutigen durchdringenden Frauenstimmen die Musikerin Sophie Auster mit den Worten ankündigte: „Das folgende Stück ist von Sophie Auster, der Tochter von zwei amerikanischen Schriftsteller:innen.“ Mit abgesetztem „innen“. So etwas finde ich eine peinliche Anpassung an den Zeitgeist und schwer erträglich. Warum kann man auf einem Kultursender nicht sagen: Sie ist die Tochter von Siri Hustvedt und Paul Auster? So viel Zeit müsste doch sein.
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