„Wie der World Wide Fund for Nature in einer Studie herausgefunden hat, konsumiert der Durchschnittsamerikaner mittlerweile jede Woche eine Menge an Mikroplastik, die für die Erzeugung einer Kreditkarte genügen würde.“
(Douglas Rushkoff)
Unsere Hausbesitzerin hat mich gebeten, heute im Lauf des Vormittags einen Mann von den Stadtwerken ins Haus zu lassen, der einen neuen Wasserzähler einbauen will. Der Zeitrahmen, den er benannt hat, ist etwas vage: zwischen 8 und 13 Uhr. Also bin ich zeitig aufgestanden und halte mich bereit. Weil wir eine sehr freundliche und kulante Hausbesitzerin haben, übernehme ich solche Aufgaben gern. Als ich in dieses Haus eingezogen bin, habe ich mich noch bei ihrer Großmutter Erna vorgestellt, dann hatte ich es jahrelang mit ihrem Vater zu tun, der inzwischen auch bereits verstorben ist, nun seit etwa fünfzehn Jahren mit ihr, demnächst vielleicht mit ihrem Sohn. Als ich Anfang der 1970er Jahre einzog, befand sich im Erdgeschoss eine Tanzschule. Wenn im Sommer die Fenster geöffnet waren, drangen die Kommandos von Frau Eichhorn bis zu mir unters Dach hinauf. Die alte Dame, die die Tanzschule leitete, ist nun bereits seit 25 Jahren tot. Ich bin inzwischen der Methusalem hier im Haus; ich wohne am längsten hier und bin der Älteste unter den Mietern. Als ich einzog, war ich Anfang zwanzig und der Jüngste. Ich hätte mir damals nicht vorstellen können, dass ich dieses Haus erst „mit den Füßen voran“ verlassen würde.
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„Die meisten Menschen führen ein Leben in stiller Verzweiflung.“
(Henry David Thoreau: Walden)
In der Buchhandlung kam ein Mann auf mich zu, der eine beachtliche Wampe vor sich her trug, die über den Gürtel quoll und fast die Hemdknöpfe wegsprengte. Als er noch ein paar Schritte entfernt war, wurde er von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt, der bis an den Rand des Erbrechens führte. Als sich der Husten gelegt hatte, musste er ein paar Mal heftig niesen. Der Leib des ganzen massigen Manns bebte und zitterte. Er legte dabei eine Hand vor den Mund. Die Vorstellung, dass er wenig später mit dieser Hand Bücher berühren würde, flößte mir einen unabweisbaren Ekel ein und veranlasste mich, die Buchhandlung fluchtartig zu verlassen. Genau für solche Fälle wurden die Masken erfunden, dachte ich beim Hinausgehen. Die menschliche Fähigkeit, sich die Konsequenzen des eigenen Handelns für andere zu überlegen und in die eigenen Handlungsplanung einzubeziehen, scheint schwächer zu werden oder gar abzusterben. Meine Frage seit Jahren: Wie soll gesellschaftliches Leben ohne sie, die den Kern der Moral ausmacht, funktionieren? Der libidinöse Kitt nicht nur der warenproduzierenden Gesellschaft, sondern jeder Gesellschaft, wird porös und beginnt zu bröckeln, wenn jeder nur noch tut, was er will und worauf er Lust hat. Es gibt ein unhintergehbares Minimum an Anstand und Rücksichtnahme, ohne die gesellschaftliches Leben in Barbarei umzukippen droht. Eine politische Großwetterlage, in der es vorrangig um Macht und Geld geht und die Reichsten den Ton angeben, begünstigt die Zerstörung der Moral natürlich.
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Heute, also am 11. März, wird Nina Hagen 70 Jahre alt. Hab eben ihr zu Ehren die Platte „Nina Hagen Band“ aus dem Jahr 1978 aufgelegt. Ihr hoher Narzissmus-Faktor und ihre esoterischen Eskapaden haben mich immer etwas abgeschreckt. Aber diese Platte ist einfach famos und hat ihren Platz in der Rock-Geschichte.
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„Dass dieser ‚Homo sovieticus‘ etwas radikal anderes ist als ein autoritärer Hausmeister Krause. Die verstehen nicht, dass dort 1917 ein gänzlich neuer Staat entstanden war, in dem alles, einschließlich Wirtschaft und Bildung, absolut homogen ausgerichtet wurde und man die Menschen brutal in eine einzige Richtung drängte. Und dass diese Sowjetmentalität in Russland weiterhin ungebrochen fortexistiert. Inzwischen jedoch nicht mehr im Namen einer ‚Befreiung des Proletariats‘. Jetzt ist es purer, stumpfer Nationalismus und ein nihilistisches Recht des Stärkeren.“
(Marko Martin: Süddeutsche Zeitung vom 13.12.2024)
Ich bekomme immer wieder in Diskussionen und durch Zuschriften mit, wie zentral für gewisse Linke die Erzählung ist, Putin habe im Fall der Ukraine in Notwehr gehandelt. Ein imperialistischer Westen und eine aggressive Nato seien ständig weiter nach Osten vorgedrungen und hätten Putin gar keine andere Wahl gelassen, als irgendwann zum Angriff überzugehen. Bei den Putin-Schönrednern lebt der Mythos einer friedlichen, sozialistischen Sowjetunion weiter, die von aggressiven Feinden umzingelt ist und zu einem Kampf auf Leben und Tod gezwungen ist. In der Zeit nach der Russischen Revolution bis zum Ende des Bürgerkriegs entsprach dieses Bild ja auch der Realität. Und ich leugne natürlich nicht, dass es einen expansionistischen Drang des Kapitalismus gab und gibt; die Geschichte der beiden letzten Jahrhunderte liefert dafür genügend Beispiele. Auch die gegenwärtige amerikanische Regierung zeigt deutlich imperialistische Züge. Den ehrwürdigen Begriff Sozialismus in Bezug auf Russland anzuwenden, ist ungefähr so daneben, wie die katholische Kirche oder die CDU für christlich zu halten. Es war, wie Ernst Bloch sagte, eigentlich so, dass die Realität der Sowjetunion die beste antikommunistische Propaganda lieferte. Putin ist „ein KGB-sozialisierter Massenmörder“ (André Glucksmann), der von der Idee durchdrungen ist, den alten Glanz und Einfluss des russischen Reiches wiederherzustellen. Seit geraumer Zeit zeigt er, dass er für die Realisierung dieses Traums bereit ist, über Leichen zu gehen. Nun habe ich es auch leichter, weil ich nie dem Irrtum anhing, es handele sich bei der Sowjetunion um eine sozialistische Gesellschaft. Meine frühe freiheitlich-sozialistische Prägung, die ganz wesentlich dem Einfluss meines im Jahr 2017 gestorbenen Freundes Burkhard geschuldet ist, immunisierte mich gegen solche Verwechslungen. Die Blutspur, die die sowjetisch-russische Geschichte durchzieht, beginnt nicht erst mit Stalin, sondern reicht zurück bis in Lenins und Trotzkis Zeiten. Ich habe das im Laufe der letzten Monate und Jahre in der „Durchhalteprosa“ immer wieder an Beispielen zu zeigen versucht. Die Nibelungentreue, die gewisse Linke Putin entgegenbringen, finde ich zutiefst befremdlich.
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„Nur durch den zauber bleibt das leben wach.“
(Stefan George)
Die Sendung „Die Anstalt“ unternahm diese Woche eine Ehrenrettung der Bürokratie, die im Zuge der Durchsetzung des Neoliberalismus mehr und mehr in Verruf geraten ist. Alle wollen ihr ans Leder und sie abbauen. Auf die Absichtserklärung, Bürokratie abbauen zu wollen, kann oder will heute keine Partei verzichten. Bürokratie, die Max Weber als Gestalt einer rationalen, plan- und berechenbaren, sich an Regeln und Gesetze haltenden Herrschaft – im Unterschied zu absolutistischer Willkür und Formen charismatischer Herrschaft – charakterisiert hatte, gilt seit einiger Zeit als zu bekämpfendes Hindernis, das durch markt- und gewinnorientiertes Handeln zu ersetzen ist. Der Gegenbegriff zu Bürokratie heißt Kreativität, die als Produktivkraft des postfordistischen Kapitals gefeiert und gefordert wird. Heute wird propagiert: Kreativität ist der Rohstoff, der es uns erlaubt, uns im globalen Wettbewerb, mit dem wir es heute zu tun haben, zu behaupten. Es wimmelt von sogenannten „Kreativen“, die überall ihre Startups gründen. Es ist ein dialektisches, also widersprüchliches, Ding mit der Bürokratie. Hat man sie, droht sie alle Lebensbereiche zu erfassen und alles Lebendige und Unkalkulierbare zu entzaubern und zu ersticken. Hat man sie nicht und stattdessen nur das freie Spiel der Marktkräfte, droht das „Survival of the Richest“, wie der Titel es Buches von Douglas Rushkoff über Elon Musk und seine Milliardärskollegen heißt. Die Superreichen brauchen keinen staatlichen Schutz und keine Kranken- und Rentenversicherung und empfinden jede bürokratische Einmischung als Behinderung ihres expansionistischen Drangs. Eine Demokratie, die für alle da sein will und soll, ist auf eine funktionierende Bürokratie angewiesen, muss sich aber mit den Gefahren der Sklerose permanent auseinandersetzen und Gegengifte entwickeln und kultivieren.
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Heute durfte ich das Rotkehlchen, zu dessen Revier unser Hinterhof gehört, eine Weile aus nächster Nähe betrachten. Ich hatte sogar Zeit, das Fernglas herbeizuholen, und konnte beobachten, wie sich der Schnabel im Rhythmus des Gesangs öffnete und schloss. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, dass dem Tier bewusst war, dass ich es betrachte und dass es sich für mich ins Zeug legte. Aber das ist sicher Bullshit und eine eitle Unterstellung. Irgendwann hatte es genug und flog davon, um den nächsten Hinterhof zu beschallen und zu schauen, ob es dort hübsche und paarungsbereite Rotkehlchen-Damen gibt.
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Was ja in der Berichterstattung über die Rüstungsmilliarden selten Erwähnung findet, ist der Umstand, dass die aus Steuermitteln gewonnen Milliarden in die Taschen privater Unternehmen fließen. Dieser Tage hörte ich, dass die Aktienkurse der Rüstungsindustrie, namentlich die von Rheinmetall, durch die Decke gehen. Das sind ja alles keine Genossenschaften oder staatliche Betriebe, sondern sie befinden sich in Privatbesitz. Der Düsseldorfer Konzern Rheinmetall verzeichnet seit einem Jahr eine Verdreifachung seines Aktienkurses und plant, die Dividenden der Anteilseigner deutlich zu erhöhen. Über diese Seiten des Krieges sprechen wir zu wenig: Es gibt Leute, für die ist der Krieg ein gutes Geschäft und sie verdienen sich an ihm dumm und dämlich. Man sollte es so deutlich sagen: Das geplante sogenannte Sondervermögen ist auch eine Subventionierung privater Rüstungsfirmen.
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„Lebend kommt hier keiner raus.“
(anonymes Grafitti)
Die Kolumne „Das Beste aus aller Welt“ von Axel Hacke im Magazin der Süddeutschen Zeitung lese ich regelmäßig. Diese Woche beginnt sie so: „In Zoran Terzics Buch ‚Idiocracy – Denken und Handeln im Zeitalter des Idioten‘ las ich den Witz vom Mann, der eine Atombombe am Seil hinter sich herzieht. Als ihn jemand darauf anspricht, dass die Bombe explodieren könnte, antwortet er: ‚Kein Problem, ich habe noch eine zweite.‘ Damit ist alles über den aktuellen amerikanischen Präsidenten gesagt.“
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Vor zwei Jahren habe ich von Stalins Versuchen berichtet, Zitrusbäume am Stadtrand von Moskau und auf seinen Datschen auf der Krim anpflanzen zu lassen. Die Bäume gingen wegen der klimatischen Bedingungen ein, die Gärtner wurden exekutiert. Ganz ähnlich hielt Stalin es mit den Menschen, die er je nach Lage und Anforderungen der Industrialisierung umsiedeln ließ. Menschen ertragen, was sie nicht aushalten, lang und sind erstaunlich biegsam. Sie lassen allerhand mit sich machen, aber doch nicht alles. Irgendwann ist ihre Anpassungsfähigkeit erschöpft und dann werden sie rebellisch oder krank oder beides.
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„Die grundlegende Schwäche der westlichen Zivilisation ist Empathie“, verkündet Elon Musk. Empathie ist aber das einzig halbwegs wirksame Gegenmittel gegen die aus der Grundstruktur einer warenproduzierenden Gesellschaft aufsteigenden Kälte, die ansonsten die ganze Gesellschaft in eine einzige Gletscherlandschaft verwandeln würde. Marx sprach davon, dass im Zuge der kapitalistischen Entwicklung nichts bleibe als das Prinzip der „gefühllosen baren Zahlung“. Das ist der Präponderanz des Tauschwerts über den Gebrauchswert geschuldet, der in der entfalteten Tauschgesellschaft zum bloßen Appendix verkümmert und irgendwann abstirbt. Apologeten und Profiteure des Kapitalismus fürchten Empathie wie der Teufel das Weihwasser. Mitgefühl schmälert den „Killerinstinkt“ und erzeugt „Beißhemmungen“, was im sozialdarwinistischen Kampf um Standort- und Marktvorteile schädlich ist und den Profit schmälert. Um den Kältetod, der im Fall einer Universalisierung der Warenform droht, zu vermeiden, haben schlauere Köpfe aus der herrschenden Klasse begriffen, dass es ohne ein gewisses Minimum an Empathie nicht geht. Empathie soll nun den Mitarbeitern verabreicht werden, wie man uns als Kindern Lebertran verordnet und eingeflößt hat. Empathie, in Maßen verabreicht und verinnerlicht, wirkt wie Schmieröl, das die Maschine einer über Markt und Tausch vermittelten Gesellschaft am Laufen hält und dem Kältetod vorbeugt. Die Krux besteht darin: Hat man die Fähigkeit zur Empathie über längere Zeit mit dem Unkraut-Ex der kalten Berechnung und Schonungslosigkeit begossen, verdorrt diese und ist dann nicht mehr wiederzubeleben. Empathie kann, wenn sie einmal abgestorben ist, nicht synthetisch nachproduziert oder wiederbelebt werden.
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Ich darf auf keinen Fall vergessen, daran zu erinnern, dass vor 500 Jahren vor allem im Südwesten des späteren Deutschland Burgen, Schlösser und Klöster brannten, entzündet von wütenden Bauern, die ein Ende der Leibeigenschaft propagierten und ihre Rechte und Menschenwürde einforderten und für eine gerechtere Welt stritten. Für Tage und Wochen hatte das Volk die Macht übernommen. Die deutsche Geschichte wäre anders verlaufen, wenn dieser frühe Aufstand nicht von fürstlichen Heeren blutig niedergeworfen worden wäre. Die Konterrevolution verlief äußerst grausam – viel grausamer als der vorangegangene Versuch einer Revolution. In der Schlacht von Frankenhausen metzelten die Söldnerheere der Fürsten die schlecht bewaffneten Bauernhaufen nieder und nahmen auch Thomas Müntzer, einen ihrer Wortführer, gefangen. Er starb als Aufrührer unter dem Schwert. Martin Luther – Müntzers theologischer Antipode – hatte sich auf die Seite der Fürsten und Grundherren geschlagen, die Christen zum Gehorsam gegenüber der Obrigkeit angehalten und damit ein in Deutschland bis auf den heutigen Tag wirksame autoritätsfixierte Einstellung geprägt. Zu diesem Aspekt der Geschichte empfehle ich eine neuerliche Lektüre von Herbert Marcuses Beitrag zur „Studie über Autorität und Familie“, der in dem Suhrkamp-Bändchen „Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft“ enthalten ist. Das angedeutete Ende des Bauernkriegs warf die demokratischen Kräfte für Jahrhunderte zurück. Die Folgen dieser und nachfolgender gescheiterten Revolutionen sind bis heute spürbar. Ernst Bloch hat über Thomas Müntzer eine Monographie geschrieben. „Geschlagen ziehen wir nach Haus, unsere Enkel fechtens besser aus“, diese Parole aus der Zeit nach der Niederlage der Bauern hatte es Ernst Bloch ganz besonders angetan. An ihr wollte er die Macht und die Kraft des Utopischen verdeutlichen: Der Geist der Hoffnung auf eine andere, bessere Welt ist nicht tot zu kriegen und taucht an unerwarteter Stelle immer wieder auf. Große Ideen haben, wie Hegel und nach ihm Marx sagten, ihr „sous terre“, eine unterirdische Geschichte. Sie wirken wie Maulwürfe unterirdisch weiter, bis sie in revolutionären Zeiten ihren Mulm erneut aufwerfen. Irgendwann ergibt der Mulm vieler Maulwürfe, die zusammenwirken, eine Revolution. Ob Bloch diese Hoffnung gut hundert Jahre nach dem Erscheinen seines Buches noch immer hegen würde? Ich denke: ja.
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„Nichts langweilt mich weniger als das Nichtstun: dasitzen und sein.“
(Peter Bichsel)
Wenige Tage vor seinem 90. Geburtstag ist am 15. März 2025 der Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel gestorben. Ich habe ihn sehr geschätzt. Er war ein Meister der kleinen Form. Er schrieb unzählige Kurz- und Alltagsgeschichten. Etwas von Robert Walser und dessen Vorliebe für „Mikrogramme“ lebte in ihm fort. Außerdem war Bichsel ein unermüdlicher Streiter für wahrhaft demokratische Verhältnisse. Dass er obendrein den Schalk im Nacken hatte, sieht man auf beinahe jedem Foto von ihm. Eine meiner Lieblingsgeschichten von Peter Bichsel heißt „Der Briefträger“ und ist in dem bei Suhrkamp erschienenen Band „Gegen unseren Briefträger konnte man nichts machen“ enthalten. Sie erzählt von einem Briefträger, der „die Post verteilte wie eine persönliche Gunst. Er – so schien es – entschied darüber, wer einen Brief bekommt, eine Postkarte, eine Mahnung oder eine Zeitung. … Er war so etwas wie ein Götterbote. Es waren sozusagen seine eigenen Briefe – auf die er ab und zu wohlwollend verzichtete, sie wohlwollend einem glücklichen oder unglücklichen Empfänger übergab.“ Der Briefträger in Bichsels Geschichte ist ein leidenschaftlicher Leser. Er las in den Zeitungen, bevor er sie in den Briefkasten steckte, er öffnete Drucksachen und studierte die Postkarten. „Er las, er blieb stehen, er schüttelte den Kopf über einen Rechtschreibfehler, er freute sich über eine gute Nachricht, und wenn ihm eine Postkarte ganz besonders gefallen hatte, dann legte er sie nicht nur in den Briefkasten, sondern läutete, grüßte freundlich und sagte: ‚Ihrer Schwester im Tessin geht es sehr gut, sie haben wunderschönes Wetter, und sie hat sich gut erholt.’ Hätte jemand über sein Verhalten bei der Post geklagt, er hätte wohl Schwierigkeiten bekommen und wäre wohl im Wiederholungsfall entlassen worden. Aber geklagt hat niemand. … Das Postgeheimnis war bei ihm in guten Händen. … Er liebte uns, und seine Schnüffelei war Anteilnahme.“
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George Orwells Schluss aus den Erfahrungen im Spanischen Bürgerkrieg: Der linke Pazifismus, der einer bedrohten Demokratie Waffenlieferungen verweigert, ist naiv und spielt den Feinden der Freiheit direkt in die Hände. Die Haltung der liberalen Demokratien – in diesem Fall vor allem Frankreichs und Englands – sei „objektiv profaschistisch“ und eine Hilfeleistung für den Totalitarismus. Dabei träumte auch Orwell von einer Gesellschaft mit Freundlichkeit als bestimmendem Kommunikations- und Umgangsstil. Diesen Orwell lernen wir in Rebecca Solnits Buch „Orwells Rosen“ näher kennen. Einstweilen, also bis wir diesen Zustand erkämpft haben, sei die Demokratie, seien die Grund- und Menschenrechte bedingungslos zu verteidigen. Diese Position vertrete ich auch in Bezug auf die von Russland attackierte Ukraine. Das noch einmal an die Adresse jener gerichtet, die mich wegen meiner Haltung Putin gegenüber immer mal wieder kritisieren.
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Meine Hirnantilope vollführt einen wilden Sprung. Auf einer meiner zahlreichen Radtouren ins Hinterland des Gardasees begegnete mir eines Tages eine Viper. Der von der Sonne erwärmte Asphalt hatte die Schlange angelockt und ich hatte sie nun aus ihrem zusammengerollten Dämmer aufgescheucht. Sie kroch über die Straße, stieß dann auf ein kleines Mäuerchen, das ihr den Weg versperrte. Ich stieg ab, um sie aus respektvollem Abstand zu betrachten. Die ganzen italienischen Jahre über hatten mich vor allem die Einheimischen vor der Viper und ihrem giftigen Biss gewarnt. Er könne im Extremfall für Menschen tödlich sein, hörte ich immer wieder. Das Tier war vielleicht 50 Zentimeter lang, grau-braun mit einer schwarzen Maserung. Der Kopf war vom Körper deutlich abgesetzt und dreieckig. Die Viper kroch die Mauer entlang und verschwand dann im Gras des angrenzenden Feldes. Bis heute habe ich diese Begegnung nicht vergessen. Unten auf der Einfahrt zu meinem Quartier lag öfter eine zusammengerollte Ringelnatter. Ringelnattern waren mir aus Kindertagen am Edersee vertraut und ich wusste, dass sie harmlos und ungiftig sind. Manchmal fand ich eine von Autoreifen zerquetschte Schlange auf der Straße, die ich jeden Tag zum See hinter und abends wieder hinauf fuhr. Schweißgebadet langte ich nach rund einer Stunde in meinem Quartier an und stellte mich erst mal unter die im Garten montierte Dusche. Dann holte ich Schnittsalat und Kräuter aus dem Garten und bereitete mein Abendessen zu. Dazu gab es einen rotem Brolo oder einen weißen Lugana aus der Cantina Marsadri, die am südlichen Ende des Sees an der Straße von Saló nach Verona liegt. Die oberhalb des Gardasees in Häusern von Freunden verbrachte Zeit war wahrscheinlich die schönste meines Lebens. Unvergesslich ist ein Aufenthalt mit U in der Phase unserer Verliebtheit.
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Hunderttausende Menschen demonstrieren in Serbien seit Monaten gegen das korrupte und autokratische Regime von Aleksandar Vučić. Diese ursprünglich von Studenten getragene Bewegung hat inzwischen das ganze Land und breite Bevölkerungsschichten erfasst und gehört zu den wenigen Ereignissen der Gegenwart, die Hoffnung machen. Die Bilder, die am Wochenende aus Belgrad zu sehen waren, haben mich schwer beeindruckt. Auch mein Freund Srdjan, der mit Frau und Kindern in den serbischen Bergen lebt, hat mir euphorisch von den Veränderungen berichtet, die sich in seinem Heimatland vollziehen. Und er ist ein genauer Beobachter und verlässlicher Zeuge. In der Türkei scheinen sich nach der Inhaftierung von Imamoglu, dem Bürgermeister von Istanbul, ähnliche Prozesse anzubahnen. Trotz Versammlungsverboten gehen Tausende, ja Hunderttausende auf die Straße und fordern den Rücktritt von Erdogan und eine demokratische Entwicklung der Türkei. Für türkische Verhältnisse hält sich die Polizei bislang einigermaßen zurück. Es wurde reichlich Tränengas eingesetzt und vom Gummiknüppel Gebrauch gemacht, aber nicht geschossen. Wie lange wird diese Zurückhaltung noch geübt? Ergogan stieß gestern finstere Drohungen aus und kündigte mehr Härte im Umgang mit der Opposition an. Es wäre zu begrüßen, wenn diese Bewegungen auf Westeuropa übersprängen. Die sogenannten liberalen Demokratien sind mürrisch geworden in ihrer Haut, träge und sklerotisch, und könnten eine Frischzellentherapie gut gebrauchen. Vor allem müsste eine wahrhafte Demokratisierung auch die Grundstruktur der Gesellschaft, die Eigentumsverhältnisse und die Dunkelzonen des Sozialsystems erfassen, wozu Knäste, Irrenhäuser, Heime und Anstalten aller Art gehören. Erst dann würde aus einer halben eine ganze Demokratie und die Welt im Sinne Blochs tatsächlich und für alle zu so etwas wie „Heimat“. Objektiv möglich wäre das schon länger, aber alles wird von den an der Aufrechterhaltung des Status quo interessierten Kräften gegen diese bessere Möglichkeit mobilisiert, vor allem von der medialen Verblödungsmaschinerie.
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„Indem die Natur den Menschen zuließ, hat sie vielmehr als einen Rechenfehler begangen: ein Attentat auf sich selbst.“
(Emile Cioran)
Der Klimawandel hat sich im letzten Jahr noch einmal beschleunigt. Laut eines Berichts der Weltorganisation für Meteorologie sind entscheidende Kipppunkte inzwischen überschritten und die Folgen der Erderwärmung werden für Hunderte, wenn nicht Tausende von Jahren unumkehrbar sein. Daran wird es auch nichts ändern, dass das Ziel, bis 2045 klimaneutral zu sein, nun im Grundgesetz verankert ist. Lippenbekenntnisse und die Formulierung hehrer Ziele werden uns nicht weiterbringen. In einer weltweiten Aktion müssten der Amoklauf des Geldes und der Raubbau an der Natur radikal gestoppt werden. Das wäre das Einzige, was jetzt noch helfen könnte. Aber nichts deutet darauf hin, dass ein solcher radikaler Schritt erfolgen wird. Der Menschheit wäre zu helfen, aber ihr ist in ihrem gegenwärtigen Zustand nicht zu helfen.
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„Dem Opfer die Schuld zuzuschieben, ist ein paradoxes Kunststück, das viel Fachkenntnis und Geschick erfordert, das ist keine Arbeit für Amateure.“
(Robert Castel)
In letzter Zeit ist ständig und überall vom „Mindset“ die Rede. Was zum Teufel ist das denn schon wieder für eine neue Sau, die mit viel Bohei durchs globale Dorf getrieben wird? Ich würde es mir mit dem alten Begriff „Mentalität“ übersetzen. Das erklärt allerdings noch nicht das Gewese, das um den neuen Begriff gemacht wird. Es ist ja kein Zufall, wenn bestimmte Begriffe plötzlich auftauchen und Konjunktur haben. „Mindset“ ist ein Begriff aus dem Arsenal des Neoliberalismus, der suggeriert, der menschliche Wille könne Berge versetzen und mit der richtigen Einstellung könne man alles erreichen. „Das Mindset ist ausschlaggebend für ein erfolgreiches und glückliches Leben und jeder kann sein Mindset für ein solches Leben entwickeln“, bekommt man als Auskunft, wenn man im Netz nach dem Begriff fragt. Umgekehrt bedeutet das: Wenn du erfolglos und unglücklich bist, liegt es daran, dass du es versäumt hast, ein auf Erfolg getrimmtes Mindset zu entwickeln. Du selbst trägst die Schuld an deinem Unglück. Schon gibt es Coaches, die einem bei der Entwicklung eines Mindsets behilflich sind. Noch aus dem vermeintlichen Versagen wird ein Geschäftsmodell gemacht. Individualisierende Techniken erlauben es, das Opfer anzuklagen und seine Schwäche zu manipulieren. Meine vorläufige Einschätzung lautet: Das „Mindset“ bezeichnet die mentale Struktur der zeitgenössischen Geldsubjekte und lässt diese die Verhaltensimperative des digitalen Kapitalismus als ihre ureigensten Impulse und Leidenschaften erleben. Es ist verinnerlichte Außenwelt, eine Tautologie gewissermaßen. Es stellt keine Innerlichkeit im herkömmlichen Sinn dar, also ein eigener, von der Außenwelt abgeschirmter und vor ihr geschützter Bereich des Psychischen, sondern ist eine Beziehung der Außenwelt zu sich selbst, auf dem Wege eines Verinnerlichungsprozesses. Wie weit dieser Prozess der inneren Kolonialisierung getrieben werden kann, ist offen. Ich fürchte: sehr weit – und ob es eine Schranke gibt, die nicht überschritten werden kann und darf, ist unklar.
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Im baden-württembergischen Ludwigsburg sind zwei junge Frauen durch junge Männer, die mit ihren Autos ein Rennen veranstalteten, zu Tode gekommen. Sie hatten ihren Kleinwagen gewaschen und wurden beim Verlassen des Tankstellengeländes von einem der Raser erfasst. Einer der beiden, ein türkischer Staatsbürger, wurde in Haft genommen, nach dem anderen wird noch gefahndet. Pferdestärken sind das „Viagra des männlichen Stolzes“, habe ich in einem älteren Text, der aus einem ähnlichen Anlass geschrieben wurde, einmal formuliert: https://www.streifzuege.org/2021/lackierte-kampfhunde-2/
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Das BSW und Sahra Wagenknecht weigern sich zu akzeptieren, dass sie im nächsten Bundestag nicht mehr vertreten sind. Ihre Reden erinnern an die Trumpsche Rede von der „gestohlenen Wahl“. Ein derart knappes Verfehlen der Fünfprozent-Hürde lädt zu wilden Spekulationen und Verschwörungserzählungen ein. Es war eigentlich von vornherein klar, dass das Konzept einer Ein-Frau-Partei zum Scheitern verurteilt war. Dazu kommt noch die Schmach, dass die Linke, die durch den Austritt von Wagenknecht geschwächt schien, auferstanden ist wie Phoenix aus der Asche.
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Am Donnerstag Abend saß Silke Maier-Witt bei Lanz in der Talkshow. Weitere Gäste waren der jüngste Sohn von Hanns Martin Schleyer, Jörg Schleyer, der ehemalige RAF-Staatsanwalt Klaus Pflieger und Wolfgang Kraushaar, ein aus der Studentenbewegung hervorgegangener Historiker, der vor vielen Jahren mal mein Gast war. Ich habe mich gefragt, warum Frau Maier-Witt sich das angetan hat, wo doch der nicht sonderlich zimperliche Umgang von Markus Lanz mit Gästen, die nicht allseits anschlussfähig sind, bekannt ist. Verlage drängen ihre Autoren und Autorinnen zu solchen Auftritten und arrangieren sie auch. Man kann sich natürlich weigern – aus welchen Gründen auch immer. Bei mir war es trotz aller berechtigten Kritik am Talk-Show-Rummel vor allem die Angst, die ich dann mit allerhand Rationalisierungen überbaut habe. Ich orientierte mich am Verhalten des Fuchses, der die Trauben, die ihm zu hoch hängen, für sauer und ungenießbar erklärt. Wenn man sich dem medialen Zirkus verweigert, wird man irgendwann aus dem Verteiler gestrichen und nicht mehr gefragt. Aber sicher ist auch, dass der Absatz eines Buches nach einem Besuch bei Lanz und anderen Talkshows sprunghaft steigt. Das wird auch bei Silke Maier-Witt der Fall sein, auch wenn ihre Performance, wie das genannt wird, nicht die beste war. Mich hat das Unwillige und Mürrische, das von ihr ausging, für sie eingenommen. Man konnte tatsächlich den Eindruck gewinnen, sie sei nicht freiwillig in diesem Fernsehstudio und jemand habe aus den Kulissen eine Waffe auf sie gerichtet. Ich bin sicher, Alfred Biolek oder Roger Willemsen hätten das Gespräch einfühlsamer geführt und dann auch mehr erfahren. Das Verhörartige in der Gesprächsführung von Lanz war der Wahrheitsfindung ganz sicher nicht förderlich. Maier-Witts Buch liegt in einem Gießener Bücher-Kaufhaus seit Wochen stapelweise auf einem Bestseller-Tisch. Es scheint sich auch ohne mediale Dauerpräsenz der Autorin ganz gut zu verkaufen. Ich muss gestehen, dass es mich nicht besonders reizt.
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Manche Probleme verstetigen sich im Alter. Ich werde lernen müssen, mit meiner eingeschränkten Beweglichkeit leben und mich damit abfinden zu müssen, nicht mehr alles zu können. Seit einigen Wochen habe ich zwei Mal pro Woche einen Termin bei einer Krankengymnastin, die sich viel Mühe mit mir gibt und es gut mit mir meint. An manchen Tagen geht es nun wieder besser, an anderen denke ich, dass sich an meinem Zustand wenig geändert hat. Gestern sind U und ich gegen Mittag rausgefahren und sind eine größere Runde durch den beginnenden Frühling gelaufen. Und da stellte auch U zu meiner Freude fest, dass ich besser gehe und nicht mehr so schlurfe. Das stimmte uns beide hoffnungsvoll, dass doch noch nicht aller Tage Abend ist. Ich werde dranbleiben und stetig meine Übungen machen müssen und darf mich nicht hängen lassen. Auf unserem Spaziergang blieben wir immer wieder stehen und lauschten dem Gesang eines Vogels. Nicht immer konnten wir ihn einer bestimmten Art zuordnen, aber das ist auch nicht weiter tragisch. Immer wieder versuchten wir, den Gesangskünstler in einem nahen Baum auszumachen, was häufig gelang, weil die Bäume noch nicht belaubt sind. Insgesamt aber gewannen wir den Eindruck, dass wir dem von Rachel Carson bereits vor vielen Jahren prophezeiten „stummen Frühling“ ein großes Stück näher gekommen sind.
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Das Wort, das bei der Übertragung des Fußballspiels zwischen Italien und Deutschland am häufigsten zu hören war, war „Gier“. Sie zählte zwar nicht zu den sieben Todsünden, war aber früher dennoch durchweg negativ konnotiert. Heute gilt es als Lob, wenn ein Spieler und eine ganze Mannschaft „gierig“ ist. Die Konjunktur solcher Begriffe sagt viel aus über unsere Zeit, in der Leute wir Elon Musk und andere Milliardäre zu Idolen aufsteigen und von vielen bewundert werden. Geldscheffeln gilt als Tugend und erstrebenswert.
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„Er schlief zuerst ein. Sie gleich danach. Seine Tabletten hatte er noch nicht genommen. Sie ihre auch nicht.“
(Serhij Zhadan)
Meine Lektüre in den letzten Tagen: Rebecca Solnit: „Unziemliches Verhalten“. Ich kenne sie als Verfasserin des großartigen Buches „Orwells Rosen“ und bin gespannt auf ihre Essays, die dieser Band versammelt. Dann aber vor allem: Serhij Zhadan: „Keiner wird um etwas bitten“. Der ukrainische Musiker und Schriftsteller erzählt in kurzen Stücken vom Leben und Sterben an und hinter der Front und in den von Russland beschossenen Städten der Ukraine. Shadan ist seit einiger Zeit Soldat und versteht seine Kunst als Teil des Kampfes gegen den russischen Aggressor. Dann lese ich noch immer schaudernd und manchmal voller Ekel „Survival of the Richest“ von Douglas Rushkoff. Ich lege es immer wieder mal zur Seite. Wie heißt es in der „Minima Moralia“von Adorno: „Er (der Intellektuelle, G.E.) steht vor der Wahl, sich zu informieren oder dem Verhassten den Rücken zu kehren. Informiert er sich, so tut er sich Gewalt an, denkt gegen seine Impulse und ist obendrein in Gefahr, selber so gemein zu werden wie das, womit er sich abgibt, denn die Ökonomie duldet keinen Spaß, und wer sie auch nur verstehen will, muss ‚ökonomisch denken‘.“
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