„Yo lo visto! Ich habe es gesehen! Das ist ein unscheinbarer Satz. In diesen finsteren Jahren der Geschichte unseres Landes blieb mir nicht mehr, als mich auf diesen Standpunkt zu stellen.“
(Frederik Hetmann über Francisco Goya)
Ich habe gerade gefrühstückt, sitze nun am Schreibtisch und schaue durchs Fenster ins Graue des späten Januartages. Das Grau wird dadurch verstärkt, dass heute der Jahrestag der sogenannten Machtergreifung durch Adolf Hitler ist – und ich seit ewigen Zeiten die Fenster nicht geputzt habe. Neben mir liegt der Entwurf für eine Patientenverfügung, um die ich seit Wochen herumschleiche, wie die Katze um den berühmten heißen Brei. Daneben liegt das Formular für den Widerspruch gegen das Anlegen einer digitalen Patientenakte. Auch das muss ausgefüllt und auf den Weg zur Krankenkasse gebracht werden. Sonst wird man ohne weitere Umstände digitalisiert.
In den letzten Tagen habe ich ein Buch von Frederik Hetmann über Goya gelesen, das „Der Maler und das Kind“ heißt. Der alte Goya beantwortet Fragen seiner Pflegetochter Maria zu der Zeit, in der sie geboren wurde und aufwuchs. Es sind die Jahre der Napoleonischen Kriege und der Besetzung Spaniens durch französische Truppen. Goya hat mich schon fasziniert, als ich noch Schüler war und zum ersten Mal sein Bild „Der Koloss“ gesehen habe. Ich bewundere den Mann und seine Kunst seitdem sehr. Wie oft saß ich staunend und grübelnd vor seinem Capricho „Der Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer“? Wenn er nur diese Zeichnung hinterlassen hätte, er hätte das Seine getan. Es kam mir stets vor wie eine Illustration von Horkheimer und Adornos Werk „Dialektik der Aufklärung“: Der Aufstieg der Vernunft geht mit seinem Gegenteil schwanger und hat eine dunkle Nachtseite.
Hetmann gelingt es, wie es ihm schon bei Georg Büchner und Rosa Luxemburg gelungen ist, auch im Fall Goyas, Geschichte und Lebensgeschichte, Allgemeines und Besonderes spürbar und lebendig zu verknüpfen. Frederik Hetmann, der eigentlich Hans-Christian Kirsch hieß, ist 2006 in Limburg an der Lahn gestorben. Vage, aber mit guten Gefühlen erinnere ich mich an seinen frühen Roman „Mit Haut und Haar“, der die Jahre der Rebellion und des Aufbruchs einer Generation von Jugendlichen vor den 68ern zum Gegenstand hat, und sein autobiographisches Buch „Jahrgang 1934“. Ein vergessener Autor, den wiederzuentdecken sich lohnte.
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Wir befinden uns im 15. Jahrhundert. Der panische Großinquisitor Torquemada reist mit dem jungen Dominikanermönch Diego in einer Kutsche durch Spanien, immer auf der Suche nach Ketzern und Abweichlern. Es herrscht ein Klima universalen Verdachts, es blüht das Denunziantentum. Viele wissen etwas oder haben etwas gehört. Die Opfer der Denunziation werden peinlichen Verhören unterzogen und landen nach ihren erzwungenen Geständnissen auf dem Scheiterhaufen oder auf der Galeere. Innerhalb von 300 Jahren und bis in Goyas Lebenszeit, verschlingt die Inquisition in Spanien circa 12.000 Opfer. Erst 1834 wird das religiös motivierte und kirchlich angeordnete Morden beendet. Das besondere Augenmerk der Inquisition gilt konvertierten Juden und Moslems, die verdächtigt werden, heimlich dennoch ihrem alten Glauben anzuhängen. Diego ist ein scharfer Kritiker dieser Praktiken, und die ganze Reise über verwickelt er den Großinquisitor in Streitgespräche über Fragen der Glaubens- und Gewissensfreiheit. Im Laufe der Zeit gibt er seinen Widerstand auf und entwickelt sich zum glühenden Anhänger Toquemadas und Verfechter der Unfreiheit. Als Toquemada sein Ende kommen fühlt, wird er von großen Zweifeln heimgesucht. Er fragt sich: „Wie kann ein Terror behoben werden, dem es gelungen ist, Menschen hervorzubringen, die in ihm allein ihre Daseinsberechtigung finden?“ Er distanziert sich von den Maßnahmen seines Terrors und propagiert die Aufhebung der Inquisition. „Wir haben leider über die ganze Welt Finsternis gebracht. Man wird viel Licht brauchen. … Die Gefängnisse sollen geöffnet werden, und die Menschen, die zu Unrecht der Freiheit beraubt worden sind, müssen sie unverzüglich zurückerlangen. … Von heute an wird es keine Angst mehr auf Erden geben. Wir werden alles von neuem beginnen.“ Diego kann es im Eifer des Konvertierten nicht fassen, dass sein Lehrmeister seine früheren Ansichten widerruft und fordert ihn auf zu schweigen. In seiner Ratlosigkeit und Verzweiflung schlägt er seinem Meister ins Gesicht.
Mit dieser Szene endet der Roman „Finsternis bedeckt die Erde“ des polnischen Autors Jerzy Andrzejewski. Der kommunistischen Inquisition ist es geschuldet, dass Andrzejewski die Handlung seines Romans ins ausgehende Mittelalter verlegen muss. Er schlägt der Sack und meint den Esel – und der ist die auch nach Stalins Tod fortbestehende Herrschaft der kommunistischen Partei in Polen. Dass der Roman in Polen erscheinen konnte, zeugte von einem vorübergehenden Tauwetter, aber noch ist der Autor zur Camouflage gezwungen. Diktaturen machen erfindungsreich und verfeinern, wie Ernst Jünger sagte, den Stil. Als Andrzejewski 1968 gegen die polnische Teilnahme am Einmarsch in die Tschechoslowakei protestierte, der dem „Prager Frühling“ ein gewaltsames Ende setzte, durften seine Werke nicht mehr gedruckt werden. Andrzejewski starb 1983. Sein bekanntester Roman „Asche und Diamant“ wurde 1958 von Andrzej Wajda verfilmt. Der von mir sehr verehrte Andrzej Wajda starb im Jahr 2016.
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„Denken heißt Zusammenhänge herstellen.“
(Oskar Negt)
Am Freitag, den 2. Februar 2024, ist Oskar Negt gestorben. Er wurde 89 Jahre alt. Sein Tod macht mich enorm traurig. Oskar Negt war für mich zeitlebens ein wichtiger Bezugspunkt, auf seinen politisch-gesellschaftlichen Kompass war Verlass. Wer meine Texte und Bücher gelesen hat, weiß, welche Rolle Negt für mein Denken spielt. Gerade in den letzten Wochen bin ich immer wieder auf seine Gedanken zum Thema Demokratie und Gemeinwohl zurückgekommen. Zugunsten des Gemeinwohls müssen dem expansionistischen Drang des Kapitals Grenzen gesetzt werden, die ihm von einem demokratischen Sozialstaat gezogen werden müssen. Eine demokratische Gesellschaft muss daran arbeiten, den Angst- und Panikpegel abzusenken, indem sie Arbeits- und Lebensverhältnisse herstellt, die es den Menschen ermöglichen, ein halbwegs sorgenfreies Leben führen zu können. Angst und Demokratie verhalten sich umgekehrt proportional zueinander. In heutigen Zeiten, da die Demokratie unter Druck gerät und von vielen Seiten unter Beschuss genommen wird, könnten wir einen wie Oskar Negt und seinen kritischen Blick auf die Verhältnisse dringend brauchen.
Zum ersten Mal habe ich ihn live reden hören und sehen, als er im Juni 1972 auf dem Frankfurter Römer im Rahmen des Kongresses „Am Beispiel Angela Davis“ sprach. Auch Herbert Marcuse, bei dem Angela Davis studiert hatte, ergriff damals das Wort und überbrachte ihre Grußbotschaft an die rund 10.000 Zuhörerinnen und Zuhörer Es ging damals – vielleicht zum letzten Mal – um nichts weniger als die Revolution. Kurz darauf zog die Idee der Revolution sich von der öffentlichen Bühne zurück und verschwand in ihrem Sous terre, wie es Maulwürfe so an sich haben. Meine nächste Begegnung mit Oskar Negt fand im Jahr 2002 per Telefon statt. Er gab im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung eine Nummer der Zeitschrift „Das Parlament“ heraus, die sich mit dem Thema Gewalt beschäftigen sollte. Ich hatte im selben Jahr in der Frankfurter Rundschau zwei große Artikel zum Amoklauf von Erfurt veröffentlicht und Negt fand, ich könnte und sollte zu der geplanten Ausgabe des Parlaments einen Beitrag zum Thema Amok und Gewalt besteuern. Ich nahm den Auftrag an und lieferte im Laufe des Sommers meinen Beitrag pünktlich ab. Da die Bundeszentrale ein Proporzunternehmen ist, in dem alle im Bundestag vertretenen Parteien mitzureden haben, stieß mein Text auch auf Widerspruch. Man schickte mir eine List der Veränderungswünsche und bat mich, diese einzuarbeiten und zu berücksichtigen. Ich war empört und erwog, meinen Text zurückzuziehen. Entweder man würde ihn so drucken, wie ich ihn abgeliefert hatte oder er würde gar nicht erscheinen. Man riet mir, mich mit Oskar Negt in Verbindung zu setzen, der als Herausgeber dieser Ausgabe ein gewichtiges Wort mitzureden hatte. Ich erinnere mich, dass es ein langes Telefonat wurde. Er bat mich in seiner ruhigen bedächtigen Art, nicht voreilig zu handeln, sondern genau abzuwägen. Auch die zensierte und korrigierte Fassung enthalte noch so viel gute und wichtige Denkanstöße, dass er glaube, ich könnte der Veröffentlichung auch in der veränderten Version durchaus zustimmen. Ich bin froh, dass ich Oskars Rat gefolgt bin. Der Text erschien im November 2002 im Parlament unter der Überschrift „Die Innenseite der Globalisierung – Über die Ursachen von Wut und Hass“. Er ist sicher einer der Texte von mir, der am meisten gelesen und diskutiert worden ist. Noch heute werde ich gelegentlich darauf angesprochen. Ein Link zum Text findet sich unter meinem Wikipedia-Eintrag.
Allen, die neugierig geworden sind und etwas von Oskar Negt lesen wollen, empfehle ich als Einstieg seine beiden autobiographischen Bände „Überlebensglück“ und „Erfahrungsspuren“, die, wie sein Gesamtwerk, im Göttinger Steidl-Verlag erschienen sind. Für das GEW-Magazin Auswege habe ich vor Jahren das Buch von Oskar Negt „Philosophie des aufrechten Gangs – Streitschrift für eine neue Schule“ besprochen: https://www.magazin-auswege.de/2014/10/einuebung-des-aufrechten-gangs/
Ich werde zur Erinnerung an Negt und ihm zu Ehren sein Buch „Die Faust-Karriere“ noch einmal lesen, das im Jahr 2006 erschienen ist. Faust verkörpert für Negt den Urtypus des „unternehmerischen Menschen“. Es geht in diesem Buch, wenn ich es richtig erinnere, auch um die Nachbarschaft von Goethes Weimar und Himmlers Buchenwald und deren dialektischen, also widersprüchlichen Zusammenhang. Großartig und lesenswert bleibt auch Negts Buch „Kindheit und Schule in einer Welt der Umbrüche“, das im Jahr 1997 ebenfalls im Steidl-Verlag erschienen ist.
Mein Freund R schrieb mir vor ein paar Tagen: „Jetzt ist auch Oskar Negt nicht mehr am Leben. Es bleibt kaum noch jemand, an dem man sich anlehnen, an dem man sich orientieren kann.“ So ist es leider.
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In einem langen Gespräch zwischen Otto Kernberg und Manfred Lütz, das unter dem Titel „Was hilft Psychotherapie, Herr Kernberg?“ im Herder-Verlag erschienen ist, fällt von Kernberg die lapidare Bemerkung: „Aber wenn durch eine soziale Krise, durch Krieg, Überschwemmungen oder Erdbeben, die Gesellschaft aus den Fugen gerät, dann nehmen Persönlichkeitsstörungen zu. Stabile soziale Verhältnisse fördern normales Verhalten.“ Ein Gang durch die Stadt belehrt einen über die Richtigkeit dieser Kernbergschen Beobachtung. Ganz offensichtlich scheint es so zu sein, dass die Stabilität des gesellschaftlichen Gefüges einen großen Einfluss auf die psychische Stabilität der Einzelnen hat. Persönlichkeitsstörungen, die im geregelten Alltag leidlich eingekapselt und von Berufsarbeit gedeckelt waren, können unter Bedingungen einer Krise aufbrechen. Nur charakterstarke Menschen vermögen nun ihre moralische Orientierung zu bewahren. Bei den meisten lösen sich verinnerlichte Normen rasch auf, wenn sie von außen nicht mehr gestützt werden und ihre Befolgung nicht mehr kontrolliert wird. Persönlichkeitsstörungen treten jetzt aus der Latenz hervor, manifestieren sich spürbar im Alltag und lassen ihn unberechenbar und partiell gefährlich werden. Die Verzahnung von Trieb- und Gesellschaftsstruktur ist das angestammte Forschungsgebiet der Sozialpsychologie, wie sie in Umrissen von Erich Fromm erarbeitet worden ist. Wenn wir die Gegenwart verstehen wollen, müssen wir die in dieser Tradition stehenden Forschungen, wie diejenigen von Peter Brückner, wieder aufnehmen und fortsetzen. Meine eigene ist über die Formulierung von Ansätzen und Thesen nicht hinausgekommen, die sich verstreut und fragmentarisch auch in der Durchhalteprosa finden. Vielleicht ist die Zeit der systematischen Theoriebildung auch vorüber und wir haben uns einer „systematisch-unsystematischen Denkweise anzunähern“, wie Peter Brückner bereits vor rund 50 Jahren mutmaßte. Der Weltgeist sei partikular geworden, und diese Partikularität müsse auch in unserer Theoriebildung ihren Ausdruck finden. Vielleicht kaschiere ich mit diesen Argumenten auch lediglich meine wachsende Bequemlichkeit und nachlassende Konzentrationsfähigkeit. Seit ungefähr zwanzig Jahren bevorzuge ich beim Schreiben die kleine und fragmentarische Form und drücke mich vor der gründlichen und systematischen Ausarbeitung meiner Gedanken, früher hätte man gesagt: vor der „Anstrengung des Begriffs“. Wahrscheinlich ist es eine Mischung aus alldem. Ich kann übrigens längere systematisch-theoretische Texte seit einiger Zeit auch nicht mehr lesen. Ich schaffe es nicht mehr, die nötige Konzentration aufzubringen. Zwei Linke, die sich dieser Mühe noch einmal unterzogen haben, sind Reimut Reiche und Helmut Dahmer, deren Bücher „Triebschicksal der Gesellschaft“ beziehungsweise „Freud, Trotzki und der Horkheimer-Kreis“ all jenen zur Lektüre empfohlen sei, die sich begriffliches Denken nicht haben austreiben lassen und an einer systematischen Denkweise festhalten.
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Seit Ende Januar, genauer: Seit dem Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz, lese ich Primo Levis Bericht über seine Befreiung aus diesem Lager. „Die Atempause“ beginnt damit, dass vier junge Sowjetsoldaten sich zu Pferd dem Lager nähern, am Stacheldraht anhalten und „von seltsamer Befangenheit gebannt, auf die durcheinanderliegenden Leichen, die zerstörten Baracken und auf die wenigen Lebenden“ blickten. Wenig später verlässt Levi in Gesellschaft eines Griechen, den er in diesen Tagen der Auflösung und des Umbruchs kennengelernt hat, das Lager und begibt sich auf eine abenteuerliche Reise durch verwüstete Landschaften, die ihn zurück nach Italien führen soll. Ab und zu verkehren Züge, aber niemand weiß, wohin sie fahren. Manchmal stehen sie stundenlang in irgendeinem Niemandsland. Die Insassen ernähren sich vom Pilzen und Beeren und dem, was sie auf ihren Streifzügen finden oder von freundlichen Menschen geschenkt bekommen. Wie und was Primo Levi von den Begegnungen auf dieser neun Monate währenden Odyssee erzählt, ist atemberaubend. Sein Bericht ist eine ethnologische Studie darüber, was der Krieg aus und mit Menschen macht und wie schwer es ihnen fällt, aus der Verwilderung wieder in ein halbwegs geordnetes Leben zurückzufinden. Mitunter hat Levi in dem bunten Menschengewirr das Gefühl, Teil eines gigantischen Wanderzirkus‘ zu sein. Seine wichtigsten Überlebensmittel sind seine präzise Beobachtungsgabe und sein Humor, der ihn selbst in scheinbar ausweglosen Situationen nicht verlässt. Die „Atempause“ bezieht sich auf ein eigenartiges Interregnum: Der Krieg ist zwar vorbei, aber es ist auch noch kein wirklicher Friede. In einem der vielen Züge trifft er auf zwei junge Frauen aus Minsk. Ihre Mutter war gestorben, der Vater vom Krieg weg- und irgendwohin gerissen worden. Sie hatten gelernt, „jeden Tag neu zu leben, mit einem einzigen Köfferchen durch Kontinente zu reisen, wie die Vögel unter dem Himmel, sie nicht säen, nicht ernten und sich um das Morgen nicht kümmern“. Der Wind wehte sie hin und her. Alle waren den Launen eines „fernen, unbekannten und wetterwendischen Schicksals ausgeliefert, dessen Symbol die Räder schienen, die sie und uns trugen, in der sinnlosen Perfektion des Kreises, ohne Anfang und ohne Ende.“ So schnell, wie man sich begegnet und kennenlernt, trennt man sich auch wieder und jeder geht seines Weges, von dem er hofft, dass er ihn eines Tages nach Hause führt. Mitunter blieb ein Zug irgendwo einfach stehen, Manchmal für Stunden, manchmal auch für Tage. Levi und seine Mitfahrer landen eines Tages auf einem ehemaligen Exerzierplatz. „Unter der sengenden Sonne des heißen russischen Sommers spielte sich das Leben hauptsächlich auf diesem Platz ab: man schlief, entlauste sich, stopfte seine Kleider, kochte auf primitiven Feuerstellen, manche aktivere Gruppen spielten Ball oder kegelten und belebten so das Bild.“ Immer wieder trifft Levi auch auf Menschen, die sich ihre Menschlichkeit durch die wirren Zeitläufte bewahrt haben und zu Akten der Solidarität in der Lage sind. Sie springen anderen, deren Not groß ist, bei und helfen selbstlos und manchmal sogar mit Freude. Levi spricht von der „biblischen Gastfreundschaft der Bauern“. Je nach individueller Vorgeschichte und Prägung wecken vergleichbare äußere Umstände in dem einen Menschen das Beste, in einem anderen das Schlimmste und Schlechteste.
Irgendwo auf seiner Irrfahrt trifft er Flora wieder, die ihm bereits im zu Auschwitz gehörenden Lager Buna begegnet war, wo er als Chemiker und sie zum Putzen der Sanitätsräume eingesetzt waren. In Italien war sie Prostituierte gewesen, bis sie den Deutschen in die Hände fiel und von der Organisation Todt in die Ukraine transportiert wurde. Nun treffen sie sich hier entlang des Schienenstrangs irgendwo in einer aufgelassenen weißrussischen Kaserne, dem sogenannten Roten Haus, wieder. Dort existiert eine ziemlich ramponierte Bühne mit ansteigenden Zuschauerrängen. Die Gestrandeten richten eine Theatergruppe ein und hauchen dem Theater neues Leben ein. Besonderer Beliebtheit erfreut sich das neapolitanische Volkslied „Mein Hut, der hat drei Ecken“. Es wurde vom überwiegend italienischen Publikum allabendlich eingefordert und mit starkem Applaus bedacht. „Warum? Vielleicht, weil unter der grotesken Vermummung der schwere Atem eines kollektiven Traums spürbar wurde, des Traums, der aus dem Exils und aus dem Nichtstun aufsteigt, wenn Arbeit und Schmerz aufhören und sich nichts mehr als Schutz zwischen den Menschen und sein eigenes Ich stellt; vielleicht, weil die Ohnmacht und Nichtigkeit unseres Lebens, des Lebens überhaupt, sichtbar wurden und das bucklige und verzerrte Profil der aus dem Schlaf der Vernunft geborenen Ungeheuer.“
Eines Nachmittags taucht vor dem Roten Haus ein Wagen auf, der auf seiner Ladefläche ein mobiles Kino transportiert, das nun drei Abende lang in der Kaserne gastiert und mehr oder weniger sehenswerte Filme vorführt. So vergeht für die dort Untergebrachten die Zeit ein klein wenig schneller und leichter. Manches am Bericht von Levi ist neben aller Tragik auch grotesk und komisch. Ich fühle mich gelegentlich an Wladimir und Estragon aus Becketts Warten auf Godot erinnert, die ja ebenfalls ihre Zeit mit Warten zubringen. Während bei Godot bis zum Schluss unklar bleibt, ob er überhaupt existiert, taucht in der weißrussischen Steppe eines Tages tatsächlich ein Zug auf, der sich dann etappenweise auf den Weg macht. Die Reise zieht sich immer noch Wochen hin, führt über Rumänien, Ungarn, Österreich und München schließlich über den Brenner. Irgendwann werden die Insassen der Waggons den Amerikanern übergeben, die sie umgehend mit DDT desinfizierten. „Es war schon Nacht, als wir über den Brenner fuhren … Am 19. Oktober 1945, nach fünfunddreißig Tagen Reise, traf ich in Turin ein: das Haus stand noch, alle Familienangehörigen waren am Leben, niemand hatte mich erwartet.“
Das Buch „Ist das ein Mensch?“, in dem er sein Jahr in Auschwitz zu beschreiben versucht, hat Levi gleich nach seiner Rückkehr zu schreiben begonnen. Seinen abenteuerlichen Rückweg aus Auschwitz beschreibt er 1963. 1987 stürzte er sich beim Blick in das vertraute Treppenhaus seiner Wohnung in Turin über das Geländer in die Tiefe und setzte seinem Leben ein Ende. „Es ist immer Krieg“, hatte der Grieche gesagt, mit dem Levi nach dem Ende des Lagers Auswitz eine nomadische Zeit verbracht hatte, die für ihn auch eine Lehrzeit in Sachen Dissidenz und Überlebenskunst gewesen war. Der Historiker Volkhard Knigge, der längere Zeit die Gedenkstätte Buchenwald geleitet hat, hat viele Gespräche mit ehemaligen Lagerinsassen geführt. Aus ihnen hat er gelernt: Die meisten, die ein Konzentrationslager überlebt haben, wollten fortan Herren ihres Schicksals sein, stärker als der Tod, dem sie im KZ entronnen sind. Sie wollten entweder ewig leben, oder sie wollten dem Tod zuvorkommen. Unsere Erklärungsversuche reichen an ein Phänomen wie den Suizid nicht wirklich heran. Er wird in jedem einzelnen Fall etwas Rätselhaftes behalten, das sich unseren Erklärungsversuchen entzieht. Auch die Suizide von Jean Améry und Primo Levi bilden da keine Ausnahme.
Ich hoffe, dass die Art und Weise, wie ich dieses Buch vorgestellt habe und wie ich über es gesprochen, beziehungsweise geschrieben habe, schon hat deutlich werden lassen, dass „Die Atempause“ ein ganz besonderes Buch eines ganz besonderen Autors ist. Es ist sicher meine bemerkenswerteste und bedeutsamste Lektüre der letzten Zeit. Sie hat mich tagelang in ihren Bann gezogen und in Atem gehalten. Es war das richtige Buch in diesen Tagen.
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„Die Kunst der Medizin besteht darin, den Kranken solange bei Laune zu halten, bis die Natur ihn heilt.“
(Voltaire)
Eine entsetzliche Nacht liegt hinter mir. Schlaflos wälzte ich mich aus einer unbequemen Lage in die andere, alle dreißig Minuten musste in aufstehen, um pinkeln zu gehen. Mein Herz schlug bis zum Hals und in einem Rhythmus, der mir Furcht einflößte. Oder war es die Furcht, die mein Herz derart wild schlagen ließ? Ab einem bestimmten Zeitpunkt ist nicht mehr auszumachen, was Ursache und was Wirkung ist. Gegen Morgen fiel ich in einen kurzen, flachen Schlaf. Ich träumte von der Arztpraxis, in der ich bis vor sechs oder sieben Jahren Patient war. Im Traum wurde ich freundlich empfangen und fachkundig ver- und umsorgt. Manchmal bekommt man auf diesem Weg Winke, die man nicht ignorieren sollte. Das Unbewusste spricht meist nicht direkt und plump mit uns, sondern wählt den Umweg über Bilder und Metaphern. Aber auch, wenn es sich verrätselt artikuliert, versteht es uns sehr gut, oft besser, als wir uns selbst. Wir müssen allerdings die Kunst der Dechiffrierens erlernen. Im Fall des Traums von heute Morgen war nicht viel zu dechiffrieren. Der Traum verhüllte und entstellte nichts. Ich verlor meine Angst und konnte meine neurotischen Hemmungen überwinden. Nachdem ich aufgestanden war, kramte ich die Telefonnummer der Praxis hervor. Um ein Haar wäre alles schon wieder daran gescheitert, dass ich an einen Telefon-Avatar geriet. Ich wollte gerade schon resignieren, da fiel mir ein, ich könnte um einen Rückruf bitten. Und, was soll ich sagen, wenig später und erhielt ich tatsächlich einen Rückruf von einem leibhaftigen Mensch, in Gestalt einer freundlichen Arzthelferin, die mir einen Termin innerhalb der nächsten Stunde gab. Mein Auto sprang auf Anhieb an, worin ich ein gutes Omen erblickte. Der Warteraum war keineswegs überfüllt und ich wurde vom Zufallsgenerator an einen Arzt vermittelt, der gerade frei wurde. Ich hatte große Glück mit dieser Wahl und ich fühlte mich auf Anhieb verstanden und gut aufgenommen. Es folgte das übliche Prozedere. Man schickte mich zur Blutabnahme, zum EKG und am Ende des Parcours landete ich wieder im Sprechzimmer des freundlichen Arztes, der mir geduldig die bisherigen Befunde übermittelte. Mitunter erkennen sich Gleichgesinnte an geheimen Zeichen. Jedenfalls kamen wir bald auf den „rollenden Schneeball“ Kästners zu sprechen, also die Gefahr einer Faschisierung. Er hoffe, dass die Massenproteste der letzten Wochen etwas bewirkten und die Entwicklung nach Rechts gestoppt werden könnte. Ich erzählte ihm, dass ich schreibend das Meine zu diesem Kampf beizutragen versuchte, und er versprach, sich meine Texte bei Gelegenheit einmal anzuschauen.
Für zwei Stunden war ich am heutigen Vormittag Teil einer eigenartigen Gemeinschaft, die ihr einigendes Band von außen empfängt: durch den Status des Patienten, also des Leidenden und ärztlichen Rat Suchenden. Man grüßt sich mit den Augen, nickt sich aufmunternd zu und versichert sich auf diese Weise einer die verschiedenen Nationen übersteigenden, weitgehend stummen Solidarität. Das freundliche Nicken soll ausdrücken: „Kopf hoch, es wird schon wieder!“
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Die Familie Semprun emigrierte nach dem Sieg der Faschisten im Spanischen Bürgerkriegs nach Frankreich. Jorge besuchte dort das Gymnasium. Nach dem Einmarsch der Deutschen in Paris erschien einer seiner Mitschüler eines Tages mit einem auf seine Jacke genähten gelben Stern, dem sogenannten Judenstern, in der Klasse. Der Mathematiklehrer fühle sich bemüßigt, sich abfällig über Juden zu äußern und den Mitschüler dem Gespött der anderen auszusetzen. Ein bretonischer Mitschüler schlug daraufhin vor, dass sie zur nächsten Mathematikstunde alle mit einem an die Brust genähten Judenstern erscheinen sollten. Bis auf einen machten alle mit, brachten den Lehrer damit aus der Fassung und sprangen ihrem in Bedrängnis geratenen Mitschüler bei. Man kann diese Episode in Sempruns Roman „Die große Reise“ ab Seite 216 nachlesen. Gerade heute, wo jüdische Studierende und Schüler auch in Deutschland erneut angefeindet und angegriffen werden, kann man diese Episode nur dringend zur Lektüre und zur Nachahmung empfehlen. In Berlin wurde diese Woche ein jüdischer Student von einem propalästinensischen Kommilitonen angegriffen und schwer verletzt. Aus Sicht der Staatsanwaltschaft wurde der 30-jährige jüdische Student „als Stellvertreter einer bestimmten Personengruppe wegen ihrer zugeschriebenen politischen Haltung, Einstellung oder Engagements angegriffen. Der Vorfall werde daher der Hasskriminalität zugeordnet.“ Vor größeren Solidaritätsaktionen an der FU oder anderen Universitäten des Landes ist nichts bekannt geworden. Der Täter läuft frei herum, ihm droht seitens der Universität nicht einmal die Exmatrikulation. Offenbar gehört das Krankenhausreifprügeln von Juden in Deutschland noch immer zur Folklore und gilt allenfalls als Kavaliersdelikt.
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Wir hatten den Karnevalsumzug gar nicht „auf dem Schirm“, wie man im Computerzeitalter sagt. Als wir das Haus verließen, um einen kleinen Sonntagsspaziergang zu unternehmen, merkten wir, dass vorn auf dem Anlagenring etwas los war. Menschen sammelten sich am Straßenrand und von Fern hörte man, dass sich die ersten Wagen des Umzugs näherten. Der Zug bestand schließlich aus rund siebzig Wagen, von denen eine relativ homogene Musik dröhnte: eine grelle Mixtur aus Kirmes und Techno. Der umstrittene Schlager Layla erfreut sich offenbar immer noch großer Beliebtheit, in anderen Liedern ging es ums Saufen und um Alkohol. Spielmannszüge, die früher die Hälfte des Zuges ausmachten, gab es nur noch wenige, erinnern kann ich mich nur an einen einzigen. Von den Wagen wurden allerhand Süßigkeiten unters Volk geworfen. Es gab fleißige Sammler, die bald ganze Taschen mit Popcorn, Gummibärchen und Bonbons gefüllt hatten. Kinder wuselten um die Beine der Erwachsenen, stürzten sich waghalsig auf den Süßkram und riskierten dabei, unter die Räder der Traktoren und Anhänger zu geraten. Für die Kinder Geflüchteter war es sicher eine Sensation, dass einem die Schokoriegel und Lutscher wie im Paradies einfach so zuflogen. Was mir auffiel, war, dass zwischen den Besatzungen der Wagen und dem Publikum kaum eine Verbindung existierte. Vereinzelt wurde am Straßenrand mal „Helau“ gerufen, von oben grüßten die Karnevalshonoratioren des jeweiligen örtlichen Vereins müde zurück – wie die KpdSU-Führer von der Kreml-Mauer -, ansonsten sprang da kein Funke über. Es wirkte alles ein wenig synthetisch und steril. Der Karneval büßt seine Verankerung in der Bevölkerung ein, jedenfalls außerhalb seiner Hochburgen. Das hat sicher auch damit zu tun, dass inzwischen das ganze Jahr über Fasching und das Feiern universell geworden ist. Um die Sau rauszulassen, benötigen die Leute heute keinen Karneval mehr. Oder anders herum: Es ist das ganze Jahr Karneval. Am Ende des Zuges folgten unmittelbar ein paar Kehrmaschinen und Müllwagen, auf die der Karnevalsabfall verladen wurde. Das verlieh der ganzen Veranstaltung etwas total Nüchternes. Als entledige man sich einer lästigen Verpflichtung, deren Spuren man rasch tilgen wollte. Wie ein Gastgeber, der abrupt den Tisch abzudecken,aufzuräumen und zu spülen beginnt und damit den Gästen signalisiert, dass die Einladung nunmehr beendet und aufgehoben ist. Der unvermittelte Kehraus komplettierte das Bild der Sterilität, das der ganzen Veranstaltung anhaftete. Immerhin konnte U für ihre Schulkinder eine Tasche voll Süßigkeiten einsammeln, für die sich an ihrer Schule sicher dankbare Abnehmer finden werden. Obwohl das Austeilen von Süßigkeiten an Schulen aus medizinischen und pädagogischen Gründen seit einiger Zeit in Misskredit geraten und eher verpönt ist.
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„Vielleicht wird die wahre Gesellschaft der Entfaltung überdrüssig und lässt aus Freiheit Möglichkeiten ungenützt, anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen.“
(Theodor W. Adorno)
Heute sollte eine von Elon Musk finanzierte Rakete Kunstwerke von Jeff Koons zum Mond transportieren. Außerirdischen Existenzen, die eventuell auch dort aufkreuzen, soll damit demonstriert werden, dass die Erdlinge nicht nur Technik und Profit im Kopf haben. Im Programm von Deutschlandfunk Kultur kam ein Philosoph zu Wort, der sich zu einem Vergleich mit Caspar David Friedrich verstieg: Der sei ja auch bereits vom Mond fasziniert gewesen. Wobei der gute Mann völlig übersah, dass es etwas anderes ist, ob ich zwei Männer male, die aus der Ferne sehnsuchtsvoll den Mond betrachten, oder ob ich eine Rakete mit Krempel von Jeff Koons direkt dorthin schicke. Das eine ist Romantik, das andere Imperialismus. Eine zur Vernunft gekommene Menschheit könnte sagen: Wir könnten das machen, aber wir tun es nicht! Bevor wir fremde Planeten kolonisieren, sollten wir erst mal unseren eigenen vor der vollständigen Zerstörung bewahren und vernünftig einrichten. Dazu benötigen wir Tugenden des Unterlassens, Prämien aufs Nichtstun, Kontemplation statt Produktion, Faulheit statt rastlosem Tun. Das sind Haltungen, bei deren bloßer Erwähnung Elon Musk das Messer in der Tasche aufgeht.
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