65 | Der erste »Reichsbürger«

»Über das Tagebuch. Es trifft doch immer nur eine gewisse Schicht von Vorfällen, die sich in der geistigen und physischen Sphäre vollziehen. Was uns im Innersten beschäftigt, entzieht sich der Mitteilung, ja fast der eigenen Wahrnehmung.«

Ernst Jünger

Neulich fand ich einen Benachrichtigungsschein der Post im Briefkasten. Man habe mich nicht angetroffen, und ich könne ab Montag eine Postsendung da und da abholen. Dieses da und da liegt ein paar Kilometer entfernt am Stadtrand. Ich rechnete mit einer Zusendung eines Berliner Verlages, der mich gefragt hatte, ob ich das Buch von Olivier Guez »Lob des Dribbelns« noch während der laufenden Fußball-WM rezensieren könnte. Ich artikulierte Interesse, zumal ich den Autor wegen eines Buches über Josef Mengele, das ich vor Jahren gelesen habe, schätze. Ich bestieg also mein altes Hollandrad und radelte gemächlich los. Ich betrat den Supermarkt, in dem sich die Abholstation der Post befindet. Ich zeigte den Benachrichtigungsschein und meinen Ausweis vor. Eine junge Frau begab sich auf die Suche und schleppte wenig später ein Paket von der Größe eines Kühlschranks heran, allerdings eines kleinen, wie ich zugebe. Mit diesem Paket könnte die Nasa einen Asteroiden beschießen, um ihn aus der Bahn zu katapultieren. Entgeistert starrte ich das Riesenpaket an und fragte, ob sie sicher sei, dass dieses Paket für mich bestimmt sei. Sie schaute auf den Zettel, schaute aufs Paket und sagte: „Ja, das ist für Sie“. Das Buch hätte ich natürlich locker auf den Gepäckträger meines Rades klemmen und dann losradeln können. Nicht aber dieses Riesentrum. Kurzum, ich musste den ganzen Heimweg schieben und ständig darauf achten, dass das Paket nicht abstürzte. Eine Hand am Lenker, die andere auf dem Paket hinter dem Sattel. Der Heimweg dauerte auf diese Weise gut eine halbe Stunde. Fast zeitgleich mit mir verließ eine junge Frau die Auslieferungsstelle der Post. Auch sie trug ein Paket unter dem Arm, allerdings war das relativ klein und handlich. Als wir so nebeneinander Richtung Innenstadt gingen, sagte ich, als wir an einer Ampel warten mussten, zu ihr: „Wenn man jemanden mal richtig bestrafen möchte, schickt man ihm am besten kurz vor Weihnachten ein Paket.“ Sie lachte und verabschiedete sich kurz darauf, weil sie zu Hause angelangt war. Sie hatte es nicht ganz so weit wie ich. Irgendwann hatte ich es ebenfalls geschafft und stellte, zu Hause angekommen, das Paket erst einmal im Flur ab.

Unterdessen habe ich das Paket geöffnet. Es enthielt drei Flaschen edlen Glühweins, die in einem flachen Karton lagen, der wie in einer russischen Puppe in einem größeren Karton lag und mit reichlich Holzwolle rundherum abgepolstert war, damit die Flaschen beim Transport nicht zu Bruch gehen. Sie sind tatsächlich unbeschadet bei mir angekommen und werden während der Tage im Kellerwald geöffnet und mit Freunden und Freuden getrunken.

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Mein alter Freund Christian ist aus Hamburg zu Besuch. Einmal im Jahr unternimmt er eine Tournee in den Süden und besucht Freunde aus seiner Zeit in Gießen. Zu diesen zähle auch ich. Wir haben zusammen Handball gespielt, aber damals schnell gemerkt, dass uns auch darüber hinaus einiges verbindet. Zum Beispiel politische und literarische Interessen und Orientierungen. Auch Christian hat es geschafft, seinen linken Überzeugungen treu zu bleiben. Er hat von seinem Geologie-Studium keinen Gebrauch gemacht, sondern ist Physiotherapeut geworden und arbeitet in einer Klinik. Aber seine Leidenschaft gilt der
Musik. Er spielt Gitarre und mischt in seinem Keller Stücke zusammen, die er auf einem Internetportal veröffentlicht. Dabei besteht eine gewisse Vorliebe für die Vertonung von Rilke- und neuerdings Trakl-Gedichten.

Gestern haben wir uns gegen Mittag auf dem Alten Friedhof verabredet, den Christian während seiner Gießener Jahre nicht entdeckt hat. An der Pforte, die ich gewöhnlich benutze, stand immer noch ein schwarzes Trekkingrad, das mir schon vorige Woche aufgefallen war. Es ist gut in Schuss und mit einem massiven Schloss an einen Fahrradständer angeschlossen. Bislang ist das Rad von Vandalismus und Plünderung verschont geblieben. Das liegt vielleicht an der Nähe zum Friedhof, der selbst hartgesottenen Dieben und Vandalen Respekt einflößt. Als ich mit meinem Rad die Pforte durchquert hatte und in Richtung unseres vereinbarten Treffpunkts auf der anderen Seite des Friedhofs ging, dachte ich plötzlich: Der Besitzer des Rades ist mit dem Rad zu seiner eigenen Beerdigung gefahren. Deswegen steht es nun auf immer dort. Bis zum jüngsten Tag, wenn es den denn gibt.

Christian war schon da und wartete auf mich. Ich hatte im Laufe des Jahres einige Bücher für ihn zurückgelegt, die ich mitgebracht hatte und ihm nun mit kleinen Erläuterungen überreichte. Wir deponierten sie auf dem Gepäckträger meines Rades und begaben uns auf einen Rundkurs über den Friedhof. Es wimmelte von Eichhörnchen. Ich Trottel hatte ausgerechnet jetzt keine Nüsse in den Taschen. Gerade hatte ich Christian davon erzählt, dass vor ein paar Monaten einmal ein Eichhörnchen an meinem Hosenbein hinaufgeklettert war, da näherte sich eins und erklomm nun Christians Hosenbein. Gut synchronisiert, kann man sagen. Auch er spürte die Krallen durch den Hosenstoff hindurch und war ein wenig erschrocken und irritiert. Die Eichhörnchen haben gelernt, dass Leckerlis, wenn sie denn jemand dabei hat, in der Hosentasche verborgen sind. Es war klirrend kalt, und so beschlossen wir nach einer guten Stunde, ein nahegelegenes Café aufzusuchen. Dort setzten wir unser auf dem Friedhof begonnenes Gespräch fort. Das war um den Begriff „moderne Leiden“ gekreist, den der amerikanische Medizinhistoriker Edward Shorter verwendet und zum Titel eines seiner Bücher gemacht hat. Es gebe jeweils eine „Krankheit der Saison“, die vermittelt über die Medien in den „gesellschaftlichen Symptompool“ eingespeist werde, aus dem sich die auf der Suche nach einer Konkretisierung ihres diffusen leib-seelischen Leidens befindlichen Zeitgenossen bedienen könnten. Unser Gespräch drehte sich um die Frage, ob es sich bei Long-Covid um eine solche Krankheit handeln könnte, die es Massen von Menschen ermöglicht, ihrem diffusen Leiden und Unbehagen in und an der Kultur einen Namen zu geben. Das entlastet ungemein, zumal Long Covid inzwischen eine gesellschaftlich und medizinisch approbierte Erkrankung darstellt und schon länger nicht mehr mit dem Odium des Hysterischen behaftet ist. Long Covid könnte auf diese Weise andere Leiden wie Burnout und Stress ablösen. Long Covid erlaubt es, ein breit gefächertes symptomatisches Geschehen zu einem Syndrom zu bündeln und zu benennen. Nur ist dagegen noch kein Kraut gewachsen. Im Öko-Café saßen die üblichen Verdächtigen herum und besprachen die Weltlage. Beim Hinausgehen grüßte ich diesen und jenen. Einer bemerkte noch: „Guten Rutsch sollte man sich in unserem Alter ja nicht mehr wünschen.“ Ich stellte mein Rad in der Innenstadt ab und begleitete Christian zum Bahnhof. Er fuhr mit dem Zug ins Umland, um weitere Freunde zu besuchen, die aufs Dorf gezogen sind. Bevor er nach Frankfurt weiterführe, werde er sich nochmal bei mir melden, versprach er beim Abschied auf dem Bahnsteig.

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Ich habe begonnen ein Buch zu lesen, das sich mit der Geschichte und Ethnologie des Wilderns beschäftigt. Roland Girtler fasst den Wildschütz als eine Art Rebell, eine Symbolfigur der „kleinen Leute“. Der Wilderer oder Wildschütz reklamiert für sich und seinesgleichen ein Recht, das ihm von alters her zustand und das ihm dann von den „hohen Herren“, den feudalen Grund- und Jagdherren, genommen worden ist. Weil das die „kleinen Leute“ fast alle so sahen, genossen die Wilderer ihre Sympathien. Girtler ist einer jener seltenen Historiker, die ihr Wissen nicht nur aus Büchern und Bibliotheken beziehen, sondern aus dem lebendigen Austausch und Gespräch mit Menschen, die das Wildern selbst praktiziert haben oder in Kontakt mit Wilderern standen. Eine seiner frühen Quellen waren seine Eltern, die als Landärzte in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in den österreichischen Bergen noch häufig mit verletzten Wildschützen zu tun hatten und sie mit einer gewissen Sympathie behandelten. Girtler bevorzugt Interviewsituationen, bei denen miteinander gezecht wird. Bei Bier und Most entwickeln sich freie Gespräche, die so in der aseptischen Atmosphäre der Wissenschaft nie zustande kämen. Girtler beschreibt den Zusammenprall einer vorindustriellen, bäuerlichen Welt und der modernen kapitalistischen Gesellschaft, in der für Vagabunden, Lumpen, Sozialrebellen und andere Schattenexistenzen kein Platz mehr ist. Der Arbeiterbewegungsmarxismus hat die Abneigung gegen diese Gestalten und Existenzformen übrigens übernommen. Auch er hielt für sie nur das Arbeitslager und die Umerziehung bereit. Was mich stark für Girtler einnimmt, ist, dass er die Wilderei nicht auf das verbreitete Elend allein zurückführt. Obwohl die Armut und der Hunger ein starker Antrieb zum Wildern gewesen sind und den meisten Rechtsbrüchen eine soziale Notlage zugrunde lag, spielen doch auch die Leidenschaft und die Abenteuerlust eine Rolle. Und die Anerkennung, die dem Wildschütz und seinem Mut gezollt wurde. Immer wieder begegnete Girtler dem Motiv, dass das Wildern jungen Männern Ansehen bei Freunden im Wirtshaus und vor allem bei Frauen und Mädchen verschaffte. Schon Blaise Pascal wusste, dass das eigentliche Interesse des Jägers der Jagd gilt und nicht dem Hasen. In der Sprache von heute würde man sagen: Es geht beim Wildern um den Thrill, den Kick, und erst danach um die Beute. Ein echter Wilderer würde den Hasen vermutlich nicht einmal geschenkt haben wollen, heißt es sinngemäß in Pascals Gedanken.

Mein Interesse an diesem Thema wurde neu geweckt durch meine Beschäftigung mit dem Postraub in der Subach. Drei der Räuber entstammten einer Familie aus Kombach, die als dem Wildern nicht abgeneigt bekannt war und ab und zu das großherzogliche Wild dezimierte. Wobei noch einmal daran erinnert werden muss, dass Holzdiebstahl und Wildfrevel verbreitete Praktiken bei den Landarmen waren, die oft ihre Familien von ihrer Hände Arbeit nicht ernähren konnten. Es gab einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Armut und volkstümlicher Kriminalität. Aber auch der Wilderei der Familie Geiz wird etwas von der Jagdleidenschaft und Abenteuerlust beigemischt gewesen sein, von der bei Girtler die Rede ist. Girtlers Sympathien für die „Wildschütze“, die sich bei ihrem Handeln an gewisse Regeln halten und einem „Ehrenkodex“ folgen, sind unverkennbar. Dennoch unterschlägt er nicht eine andere Gruppe von Wilderern, die er „Raubschützen“ nennt, die vom Auto aus auf von Scheinwerfern geblendetes Wild anlegen, Schlingen auslegen und nicht davor zurückschrecken, Jäger und Förster zu töten, wenn sie ihnen in die Quere kommen. Von ihnen führt ein Weg ins rheinland-pfälzische Kusel, wo zwei Wilderer im Januar 2022 bei einer Verkehrskontrolle eine Polizistin und ein Polizist erschossen. Gegen Ende des Jahres 2022 wurde der Hauptangeklagte wegen zweifachen Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Sein Mittäter wurde wegen Beihilfe zur Wilderei zwar schuldig gesprochen, eine Strafe wurde allerdings nicht verhängt, da er als Kronzeuge maßgeblich zur Aufklärung des Falls beigetragen hatte. Girtler unterscheidet zwischen „ehrenhaften“ und „unehrenhaften“ Wilderern. Zur letzteren Gruppe gehören zweifellos die Täter von Kusel.

Einer meiner Vorfahren war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts protestantischer Pfarrer im nordhessischen Reinhardswald. Damals mussten Pfarrer der lutherischen Kirche, die sich geweigert hatte, sich nach der Annexion Kurhessens durch Preußen der preußischen Staatskirche unterzuordnen, von den Gemeindemitgliedern bezahlt werden. Da die Gemeinde meines Vorfahren arm war, war es auch der Pfarrer, und es reichte hinten und vorne nicht. Ein Dutzend Kinder musste satt gemacht werden, und so versuchte er, den kargen Speiseplan der Familie gelegentlich durch selbst erlegtes Wild ein wenig aufzubessern. Gegen Ende des Jahrhunderts wurde er beim Wildern erschossen. Alle paar Jahre ging diese Geschichte durch die regionale Presse. In der Familie wurde dieser Fall schamhaft verschwiegen. In einer Familie voller Pastoren war er das schwarze Schaf. Ich gebe zu, dass ich ein wenig stolz auf diesen Vorfahren bin. Ich fühle mich ihm jedenfalls näher als jenen Pfarrern aus der Eisenberg-Familie, die sich noch in den 1960er Jahren damit brüsteten, unter dem Talar die SA-Uniform getragen und ein NSDAP-Parteibuch mit einer niedrigen Mitgliedsnummer besessen zu haben, also nicht zu denen gehört zu haben, die erst nach den Wahlen vom März 1933 der Partei beigetreten waren. Diese in meinem Elternhaus zu gewissen Anlässen versammelten Gottesmänner waren die überzeugendsten Argumente zur Rechtfertigung des Atheismus, der damals in mir zu keimen begann.

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Das Blitzeis, das sich in der Nacht gebildet hat, lässt die Leute auf der Straße und den Bürgersteigen groteske Tänze vollführen. Die Pflicht der Hausbesitzer und -bewohner, zu streuen, wird immer weniger wahrgenommen. Das Verantwortungsgefühl den anderen gegenüber erodiert. Jeder muss selber sehen, wie er klarkommt. Heute werden es die ohnehin überlasteten Kliniken zusätzlich mit etlichen Oberschenkelhalsbrüchen zu tun bekommen.

»Mer brauche noch ebbes für den Opa«, brüllte eben jemand in sein Handy hinein. Es wird auf ein Duschgel hinauslaufen oder ein Jahreslos der Fernsehlotterie oder eine lange Unterhose, was noch das Sinnvollste wäre. Das beliebteste Geschenk sei Geld, hörte ich dieser Tage im Radio. Das markiert den Tiefpunkt des Schenkens. Niemand braucht sich über nichts Gedanken zu machen. Richtiges Schenken ist gar nicht so einfach und setzt ein gewisses Maß an Einfühlungsvermögen voraus. Nicht nur Vermögen. Wie sagte der alte Marx bereits vor über 150 Jahren: Die Bourgeoisie „hat kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen, als … die gefühllose ‚bare Zahlung‘.“ Inzwischen sind wir tatsächlich ins „Nirwana des Geldes“ eingegangen, einen Zustand der Geschichts- und Qualitätslosigkeit. Die Gebrauchswerte sind abgestorben, der Tauschwert dominiert alles und macht sogar noch als Leitwährung der Intimität Karriere.

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»Ein Hass verraucht nicht nach einem Ausbruch, sondern wächst und versteift sich, frisst sich ein und verzehrt unser Wesen.«

Martin Heidegger

In Paris hat ein Mann am Freitag, den 23. Dezember 2022, um sich geschossen und drei Menschen tödlich verletzt und drei weitere verwundet. Die tödlichen Schüsse wurden unter anderem in einem kurdischen Gemeindezentrum abgefeuert. Bei dem mutmaßlichen Täter handelt es sich um einen 69 Jahre alten Franzosen, der bereits zuvor wegen rassistisch motivierter Straftaten aufgefallen war. Der Verdächtige war laut Staatsanwaltschaft erst vor Kurzem unter Justizaufsicht aus der Haft gekommen. Im vergangenen Jahr habe er ein Zeltlager von Migranten angegriffen und mehrere Menschen mit einem Säbel verletzt. 2016 soll er einen Menschen mit einem Messer attackiert haben. Und ich wette, dass auch dieser Mensch ein sogenannter Ausländer mit dunklen Haaren und dunklem Teint war. Kurden verkörpern für diesen Mann offenbar all das, was er fürchtet, ablehnt und hasst. Sie sind seine Juden: heimatlos, verfolgt und dennoch ungebrochen und widerständig. Sartre wurde nicht müde zu betonen, dass der Schlüssel zum Antisemitismus der Antisemit ist, nicht der Jude.

Der Hass ist ein Glaube, der für Argumente und Erfahrungen unzugänglich ist. Meist kennt der Antisemit gar keine Juden und auch der Täter von Paris wird garantiert keine Erfahrungen mit Kurden gemacht haben. Er wusste, dass sie für ihn der Inbegriff alles Schrecklichen sind und wo sie ihren Treffpunkt in Paris haben.
Der Hass ist ein Glaube, der für Argumente und Erfahrungen unzugänglich ist Wie ein Amputierter unter Phantomschmerzen leidet, so können Ressentiments und Aversionen im luft- und erfahrungsleeren Raum entstehen. Wer einen solchen Menschen, der seinen Hass und seinen Rassismus bereits mehrfach unter Beweis gestellt hat und der sich dazu bekennt, freilässt, ohne ihn unter Aufsicht zu stellen und im Auge zu behalten, macht sich mitschuldig. Der Mann scheint nicht einfach nur ein Ausländerfeind zu sein, was ja schon schlimm genug wäre. Er scheint von einem Vernichtungswillen getrieben: Er kann es nicht ertragen, dass solche Leute in derselben Stadt leben wie er und seine Nachbarn sind. Er muss gegen sie vorgehen, will sie vernichten und die Übriggebliebenen in die Flucht schlagen. Handelte es sich um einen sogenannten Kinderschänder, der nach seiner Haftentlassung rasch rückfällig geworden ist, wäre der Aufschrei laut und die Empörung einhellig. So aber verprügelt die Polizei aufgebrachte Kurdinnen und Kurden, die ihres Lebens nicht sicher sind und sich vom französischen Staat nicht geschützt fühlen. Präsident Erdogan wird dem Täter eine Kiste Granatäpfel ins Untersuchungsgefängnis schicken und ihm Asyl anbieten.

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Ich hatte schon davon berichtet, dass über den Dächern der Nachbarschaft eine Tauben-Gang ihre Kreise zieht. Jeden Vormittag treffen sie sich dort und veranstalten eine Flugshow. Alle paar Runden lassen sie sich auf dem Dach des Nachbarhauses nieder und erholen sich eine Weile. Dann brechen sie auf ein geheimes Zeichen hin wieder zu neuen akrobatischen Schauflügen auf. Es ist ein Schwarm, der aus circa 25 Vögeln besteht. Ob es stets dieselben Vögel sind, vermag ich natürlich nicht zu sagen, ebenso wenig weiß ich, wie sich die Gang zusammensetzt und wie man in sie aufgenommen wird. Heute beobachtete ich, dass sie sich vom Dach fallen lassen und erst kurz vor dem Boden den freien Fall stoppen und gerade noch die Kurve zum Balkon des Rechtsanwalts gegenüber kriegen. Aus lauter Jux und Dollerei betreiben sie eine Art von Bungee Jumping. Dann setzen sie ihre Flugshow fort. Die blitzartige Gleichzeitigkeit in der Steuerung und Reaktion der Vögel bleibt ein fantastisches Rätsel. Es gibt ja Starenschwärme, die aus zigtausend, ja Millionen von Vögeln bestehen und deren einzelne Teilnehmer sich vollkommen synchron bewegen. Ihr Flug hat keinen Sinn und dient keinem Zweck. Es ist Ausdruck der Lust am gemeinsamen Fliegen und purer Lebensfreude.

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Seit der groß in Szene gesetzten Razzia im Milieu der „Reichsbürger“ wird viel über sie gesprochen. Einer der ersten „Reichsbürger“ war Manfred Roeder. Ich bin ihm in den 1980er Jahren während meiner Arbeit im Gefängnis begegnet. Roeder hatte zum ersten Mal Aufsehen erregt, als er während einer documenta vor dem Fridericianum in Kassel eine Fuhre Mist ablud. Ich erinnere mich daran, dass diese Aktion den Beifall meines Vaters fand. Als ich ihm in Butzbach begegnete, verbüßte Roeder eine längere Freiheitsstrafe wegen Anstiftung und Beihilfe zum Mord. Auf sein Geheiß hin hatten irgendwelche Leute 1980 in Hamburg ein Heim für Asylbewerber angezündet. Zwei Vietnamesen kamen bei diesem Anschlag ums Leben. Die Resozialisierung von Roeder gelang nicht, denn kontinuierlich geriet er weiter wegen Volksverhetzung und anderer Delikte mit dem Gesetz in Konflikt. Er verübte zum Beispiel Attacken auf die Wehrmachtsausstellung von Jan Philipp Reemtsma und wurde erneut verurteilt. Das alles hinderte die Bundeswehr nicht, ihn als Referent in die „Führungsakademie der Bundeswehr“ einzuladen und ihm für seine „Volkstumsarbeit“ im Baltikum Material und ausgemusterte Fahrzeuge zu überlassen.
Ich war neugierig auf Roeder und redete in den 80er Jahren länger mit ihm und manchmal auch mit seiner ganzen Familie. Roeder hatte sechs Kinder, die mit seiner Frau im hessischen Schwarzenborn lebten, wo er ein Anwesen besaß, das er „Reichshof“ nannte. Beim Besuch brachten ihm Frau und Kinder ein Ständchen und sangen vor dem Besuchsraum „Die Wacht am Rhein“. Zunächst verhielt er sich mir gegenüber etwas zurückhaltend, weil er Eisenberg für einen jüdischen Namen hielt. Ich hatte mir angewöhnt, diesen Verdacht nicht zu dementieren oder zu bestätigen. Gefangene, die mich fragten, ob ich Jude sein, fragte ich: Warum ist das von Bedeutung? Wir kamen dann aber auch so ins Gespräch und er erzählte mir, dass er in den 1970er Jahren einen Briefwechsel mit dem ehemaligen Reichspräsidenten und Hitler-Nachfolger Karl Dönitz geführt habe. Aus einer Dönitz-Antwort leitete Roeder seine Autorität als „Reichsverweser“ ab. Dieses Schreiben könne er mir zeigen, es sei bei seiner Habe in der Kleiderkammer des Gefängnisses. Seit dem Tod von Dönitz im Jahr 1980 sei das Amt des Reichspräsidenten vakant und es existiere ein Art Interregnum ohne wirkliche Legitimität. Dieses werde von „den Amerikaners und dem internationalen Judentum“ gestützt und gesteuert. Er, Roeder, sehe sich berufen und befugt, diesem unwürdigen Zustand ein Ende zu setzen und Deutschlands Wiedergeburt einzuleiten. Dazu kam es nicht mehr, weil Roeder im Jahr 2014 starb. Wie wir jüngst gesehen haben, halten andere an dem Projekt fest und lassen offenbar nicht davon ab, von der Machteroberung durch eine völkische Rechte zu träumen. Leider steht diesem Vorhaben keine schlagkräftige Linke im Weg.

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Die Mitteilung, dass das Gewerkschaftsmagazin der GEW seinen überregionalen Betrieb Anfang 2023 einstellt, die mich heute erreichte, hat mir erst mal den Boden unter den Füßen weggezogen. Wer die Durchhalteprosa verfolgt hat, wird ermessen können, was diese Form des Schreibens und Veröffentlichens für mich bedeutet hat. Es war, habe ich irgendwo geschrieben, die endlich gefundene mir gemäße Form des Schreibens. In den letzten Stunden wurde mir klar: Irgendwie und irgendwo muss es weitergehen. Als digitaler Analphabet stehe ich natürlich zunächst vor einem Rätsel und wüsste gar nicht, wie man so etwas in Angriff nimmt. Dass Günther Schmidt-Falck mir die Arbeit des Redigierens und Gestaltens der Texte jahrelang abgenommen hat, wofür ich ihm unendlich dankbar bin, hat mich in die komfortable Lage versetzt, einfach drauflosschreiben zu können und mich um nichts weiter kümmern zu müssen. Günther hat mir heute im Anschluss an die Hiobsbotschaft, ein paar Tipps gegeben, wie man sich eine eigene Homepage einrichten kann, aber das sind für mich wieder mal Woodoo-Worte, die mir nichts sagen. Kurzum, ich werde Hilfe benötigen. Wolfgang, der Verleger meiner letzten Bücher, hat sie mir angeboten. Es könnte also weitergehen. Ich hoffe, dass meine Leserinnen und Leser mir treu bleiben und zu der neuen Adresse folgen.

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Gegen Ende des Jahres erreichen mich Briefe und Mails, die vor Optimismus nur so strotzen. Unter Linken beruft man sich dabei gern auf Ernst Bloch und sein „Prinzip Hoffnung“. Hoffnungslosigkeit, sagt Bloch dort, ist für den Mensch das ganz und gar Unaushaltbare. Wenn man sich auf Ernst Bloch beruft, muss Hoffnung auf benennbaren objektiven Tendenzen beruhen. Bloch hat nie gesagt: Man soll einfach so drauflos hoffen. „Docta spes“ nannte er das, was wir brauchen: Hoffnung, die ihre Gründe nennen kann, die auf etwas fußt. Alles andere ist bloßes „Wolkenkuckucksheim“ und nutzt niemandem. Was wir tun können, ist, durch eine radikale Kritik des Bestehenden die Hoffnung wachzuhalten, dass es einmal anders werden kann, dass die herrschende Gestalt der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht das letzte Wort hat. In diesem Sinn müssen wir „weitermachen“, wie es auf Marcuses Berliner Grabstein steht.
Das soll auch mein Schlusswort für dieses Jahr sein und vielleicht überhaupt in der Durchhalteprosa, wenn sich keine Möglichkeit der Fortführung auftut. Darauf setze ich meine Hoffnung. Und ich werde im Sinne Blochs alles dafür tun, dass diese Hoffnung eingelöst wird.

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Eine schlaflose Nacht im Kellerwald. Durch das gekippte Fenster dringen die klagenden Rufe eines Käuzchens, das im nahegelegenen Wald hockt und auf die Antwort einen Weibchens hofft. Gibt es etwas Einsameres als ein Liebeswerben, das ins Leere geht?

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Olaf Scholz forderte in seiner Neujahrsansprache die Deutschen auf, zuversichtlich zu sein. Das erinnert mich an den Direktor einer Waldorfschule, der die auf dem Schulhof versammelten Kinder, in die Hände klatschend, auffordert: „Seid ungezwungen, Kinder!“

Aus vielen Großstädten werden aus der Neujahrsnacht massive Angriffe auf Ordnungs- und Rettungskräfte gemeldet. Für mich ist das des Pudels Kern und vom Silvesterböllern nicht zu trennen. Ich hatte an Silvester immer schon das Gefühl, im Krieg zu sein. Krieg ist nun mal die Sache junger Männer, und es scheint hierzulande eine Gruppe unter ihnen zu geben, die sich nach einem Krieg sehnt und ihn bei gewissen Gelegenheiten simuliert. Ihrem Habitus nach kommen mir diese Jungmänner mit ihren ausrasierten Nacken und Bärten wie Krieger vor, wie eine Kreuzung von Dschingis Khan, Kadyrow und Bushido. Ich habe in Teil 50 der DHP von einem jungen russischen Autor berichtet, der sich DJ Stalingrad nennt und der die Stimmungs- und Gefühlslage unter diesen jungen Männern zum Ausdruck bringt. „Bald gibt es Krieg“, verkündete DJ Stalingrad sehnsuchtsvoll in einem seiner Texte – und lag damit offenbar nicht falsch. In Emmanuel Carréres Buch über den „Nationalbolschewik“ Eduard Limonow wird ein ähnlicher Männertyp beschrieben. Man konnte ihn auch vor einem Jahr beim Sturm auf das Kapitol sehen. Er scheint weit verbreitet. Es sind Wiedergänger von Ernst Jüngers „Stahlgestalten“, die die Schützengräben des Ersten Weltkriegs hervorgebracht hatten und die dann in SA- und SS-Uniformen ihre grausige Auferstehung feierten. Wer wissen will, sie diese Typen ticken und was sie antreibt, wird nicht umhinkommen, Klaus Theweleits Männerphantasien zu lesen, die im Jahr 2019 im Berliner Verlag Matthes & Seitz, ergänzt durch ein aktuelles Nachwort, noch einmal erschienen sind. „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“, befürchtete schon Bertolt Brecht. Dieser Satz hat leider nichts an Aktualität eingebüßt. Es lässt mich frösteln, und ich habe Angst, diesen Leuten eines Tages in die Hände zu fallen.

Wer über die zeitgenössischen Formen des Feierns nicht reden möchte, sollte auch von der dazu gehörigen Gewalt schweigen. Jede Gesellschaft bringt die ihr gemäßen Formen des Feierns hervor. Die zeitgenössische Party- und Feierszene ist Teil der Konsumkultur, die ihrem Wesen nach nihilistisch ist, das heißt, die hat keine Werte und Ideale. Es ist kein Zufall, dass Randalierer und Krawallanten ihre Nähe suchen. Sie wissen, dass die Partyszene über keine Abstoßungskräfte verfügt. Das Feiern hat keinen Sinn, und aus dieser Entleerung und Sinnlosigkeit steigt die Gewalt auf. Außerdem: Diese Gesellschaft hat die permanente Kriegsdrohung und die Gewalt zu ihrem verborgenen Kern, der in solchen Situationen zur Kenntlichkeit gebracht wird.
Es wird übereinstimmend von einem hohen Anteil migrantischer Jungmänner bei diesen Gewaltausbrüchen berichtet. Die politische Rechte bemächtigt sich des Themas und versucht auf der aufflackernden und medial nach Kräften geschürten Panik ihr trübes Süppchen zu kochen. Der „kriminelle Ausländer“ ist seit jeher ein Lieblingstopos rechter Propaganda und eine Projektionsfigur für allerhand diffuse Ängste und Bedrohtheitsgefühle, die aus ganz anderen sozialen Erfahrungen und gesellschaftlichen Feldern stammen. Dass der Anteil von jungen männlichen Migranten an den Silvesterereignissen hoch ist, ist kein Wunder und nicht schwer zu erklären. Die soziale Lage migrantischer junger Männer bündelt nahezu alle „kriminogenen Faktoren“, die die Kriminologie auf der Suche nach den Ursachen von „abweichendem Verhalten“ ausgemacht hat: Randständigkeit, fehlende soziale Bindungen, niedriges Bildungsniveau, soziale Desintegration, Arbeits- und Perspektivlosigkeit, keine verinnerlichten Normen und also keine stabile Verhaltenssteuerung. Verstärkt wird diese ohnehin brisante Mischung durch eine spezielle Gruppendynamik und Alkoholkonsum. Beides nimmt Hemmungen von einem und vermindert ein sonst womöglich vorhandenes Unrechtsbewusstsein. Das Über-Ich, hat irgendein kluger Psychologe einmal gesagt, ist in Alkohol löslich. Diese Mechanismen sind durch zahlreiche sozialpsychologische Experimente nachgewiesen, man kann aber auch durch einfaches Nachdenken darauf kommen. Fest steht: Das wirksamste Gegenmittel gegen die Gewalt sind soziale und emotionale Bindungen – an Menschen, Gemeinschaften und Quartiere. Man zerstört nicht, woran man sich gebunden fühlt und dessen Teil man ist. Da, wo soziale Desintegration anzutreffen ist, ist auch die Gewaltbereitschaft hoch. Die Krux ist: Bindungen lassen nicht dekretieren und synthetisch produzieren. Sie werden von einem bestimmten sozialen Klima erzeugt und begünstigt, von einem anderen eher an der Entfaltung gehindert. Und wir leben nun mal in einer über Markt und Geld vermittelten Gesellschaft, die ein Klima entstehen lässt, in dem menschliche Haltungen wie Solidarität und Mitgefühl eher verdorren.

Mein Fazit lautet: Eine freie Gesellschaft mit Freundlichkeit als vorherrschenden Kommunikationsstil wird auch neue und qualitativ andere Formen des Feierns hervorbringen, die immun sind gegen das Eindringen von Gewalt und ihr keinen günstigen Nährboden bieten.

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Wo wir gerade dabei sind: Der wachsende Handykonsum gehört sicher nicht zu den Faktoren, die der Ausbreitung von Gewalt entgegenarbeiten. Die Süddeutsche Zeitung berichtete in ihrer Ausgabe vom 31. Dezember und 1. Januar, dass die Hälfte der in einer repräsentativen Umfrage befragten Eltern angaben, sie planten, ihre sechs- bis elfjährigen Kinder mir einem eigenen Handy auszustatten. In der Folge werden sie im Schnitt drei Stunden am Tag online unterwegs sein. Die Eltern nehmen daran keinen Anstoß, weil sie es selbst so machen und weil es einfacher ist, die Kinder gewähren zu lassen, als sich auf Auseinandersetzungen einzulassen. Beiläufig erwähnt die Süddeutsche Zeitung, dass der Dauerpunk und Digitalisierungs-Influencer Sascha Lobo gerade auf Instagram bekannt gegeben hat, dass er seinem eineinhalbjährigen Sohn zu Weihnachten ein Smartphone geschenkt hat. Und ich fürchte, dass das kein Scherz gewesen ist.

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Am 30. Dezember ist im Alter von 78 Jahren Peter Zingler gestorben. Wir kennen uns aus dem Knast, in dem er Jahre seines Lebens als Insasse und ich als Gefängnispsychologe verbracht haben. Er begann – gegen eine knasttypische Entlohnung – für Mitgefangene Liebesbriefe zu verfassen und wurde durch diese Vorübungen, wie er selbst einmal gesagt hat, peu à peu zum Schriftsteller. Er ist einer der gar nicht so seltenen Fälle von Verbrechern, die sich im Gefängnis zu Schriftstellern verpuppen. Als wäre das Schreiben nur eine andere Gestalt des Verbrechens oder der Entäußerung von Energien, die zuvor in
Straftaten geflossen sind. „Jedes Kunstwerk ist eine abgedungene Untat“, heißt es in Adornos Buch Minima Moralia. Es hat in Butzbach etliche Gefangene gegeben, die in der Haft zu schreiben begannen oder weiterschrieben. Die bekanntesten sind neben Peter Zingler wohl Ludwig Lugmeier, Peter Kuper und Wolfgang Graetz, dessen Hörspiel „Urlaub aus Burstadt“ wir im Jahr 2012 unter der Regie von Christian Lugerth mit Gefangenen inszeniert und aufgeführt haben. Ich habe in meinem zweiteiligen Text Mit Sokrates im Gefängnis von unseren Bemühungen berichtet, in der kulturellen Wüste des Gefängnisses eine winzige Oase zum Blühen zu bringen. Peter Zingler war mehrfach unser Gast und las aus seinen Büchern. Er schrieb Kriminalromane, Kurzgeschichten und Drehbücher. Das letzte Mal war er im Februar 2011 in Butzbach zu Gast und stellte uns sein Buch über das berühmte Frankfurter Bordell Sudfass vor. Unvergessen ein Kurzauftritt in einem Tatort, zu dem er das Drehbuch geschrieben hatte, wo er dem Kommissar seinen Platz an der Theke einer Kneipe mit den Worten überlässt: „Ich habe lange genug gesessen.“ Ich mochte ihn gern, den alten Gauner und Charmeur.

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»Auch bei meinem Vater weiß ich nie, was in ihm vorgeht. Er hütet seine Gefühle wie Gefangene in einem Verlies. Später errate ich manches in seinen Augen, kurze Momente der Nacktheit, welche die Söhne nicht sehen dürfen.«

Michael Rooes

Zum Schluss möchte ich noch eine Leseempfehlung loswerden. Es geht um ein Buch von Michael Roes, das Zeithain heißt. Zeithain ist ein Ort in Sachsen, von dem im 18. Jahrhundert ein Drama seinen Ausgang nahm, von dem ich in Teil 48 der DHP schon berichtet habe. Kronprinz Friedrich von Preußen leidet unter der Despotie seines Vaters und beschließt 1730 zu fliehen. Die Fluchtpläne werden dank einer perfekten Überwachung und Bespitzelung verraten, Friedrich und seine Fluchthelfer aufgegriffen und in Haft genommen. Friedrichs Freund und Mitflüchtling, der junge Leutnant Katte, wird vom König zum Tode verurteilt, und man zwingt Friedrich, seiner Hinrichtung, die in der Festung Küstrin stattfand, beizuwohnen.

Die Besonderheit des Buches von Michael Roes besteht darin, dass er die Geschichte aus der Perspektive des Hans Hermann von Katte und eines seiner späten Nachfahren erzählt, der sich drei Jahrhunderte später auf Spurensuche nach seinem Vorfahren begibt. Das ist spannend, gut recherchiert und ein Stück Archäologie der „deutschen Seele“, die verinnerlichter preußischer Staat ist. Sage niemand, Preußen und Friedrich der Große seien lange her und nicht mehr von Belang. Die Geschichte des Aufenthalts des jungen von Katte in der Erziehungsanstalt des August Hermann Francke im sächsischen Glauchau ist erschütternd und hat mich, der die „Segnungen“ der preußischen Erziehung noch zu spüren bekommen hat, sehr mitgenommen. Das diesem Abschnitt vorangestellte Zitat, das Kattes Vater beschreibt, trifft auch auf meinen Vater zu. Unglaublich, dass heute noch Schulen nach Francke benannt sind und er weithin einen guten Ruf genießt. Auch hier in Gießen gibt es eine christliche Privatschule, die Franckes Namen trägt. Zeithain ist ein Buch von 800 Seiten, man sollte sich davon aber nicht abschrecken lassen. Die Lektüre lohnt sich für jeden, der sich für Geschichte, Pädagogik und gute Literatur interessiert. Selten habe ich einfühlsamere und präzisere Beschreibungen des Alltagslebens im 18. Jahrhundert gefunden, und bis in die Sprache hinein gelingt es Roes, sich in diese Zeit einzufühlen und sich ihren Repräsentanten anzuschmiegen. Ich las einmal irgendwo, Goethe sei „gut vernetzt“ gewesen. So ein Fauxpas würde Roes nicht unterlaufen. Wie er eine Reise durch deutsche Lande in einer Kalesche, also in einer leichten Kutsche, beschreibt, ist brillant und mitreißend. So als säße man neben den beiden Reisegefährten auf dem Kutschbock. Roes thematisiert und beschreibt auch die verschwülte und mit latenter Homosexualität aufgeladenen Atmosphäre in den militärischen und paramilitärischen Männerbünden, in denen der adlige Nachwuchs Preußens aufwächst. Ein verschwiegenes Motiv für die Hinrichtung Kattes ist der Verdacht des Königs, dass sich zwischen seinem Sohn und Katte unschickliche Dinge ereigneten. Die Gewalttätigkeit, vor der das Milieu des militärischen Nachwuchses nur so strotzte, diente der Abwehr der Homoerotik, die es treibhausmäßig züchtete. Salopp gesagt: Durch ihre Gewalttätigkeit wollten die jungen Männern beweisen, dass sie keine Schwuchteln waren.

Ich sehe mit Schrecken, dass ich mich dem Ende des Buches nähere und versuche, die Lektüre zu dehnen. Das ist das größte Kompliment, das ich einem Buch machen kann. Ich stieß mitten im Buch auf einen Satz, der mir mit Blick auf das Chaos um mich herum zu pass kam: „Unordnung legt offen, was die Ordnung zu verbergen sucht …“

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Kaum hatte ich die letzte Lieferung der Durchhalteprosa an die Redaktion abgeschickt, sprang meine Hirnantilope noch einmal nach Zeithain. Kurz nach der sogenannten Wende, also Anfang der 1990er Jahre, hatte man mich gefragt, ob ich als Gefängnispsychologe in der Justizvollzugsanstalt Zeithain, einem sächsischen Jugendgefängnis, arbeiten wolle. Bayern war Sachsen als westlicher Partnerstaat zugeteilt worden, um den Sachsen zu zeigen, wie Demokratie geht. Ausgerechnet die Bayern als Vorbild in Sachen Demokratie! Wie auch immer. Irgendjemand hatte meinen Namen ins Gespräch gebracht und mich
gebeten, mich im Justizministerium in Dresden vorzustellen. Ich übernachtete bei einer Freundin, die in der Nähe Pfarrerin war. Morgens fuhr ich nach Dresden und meldete mich beim Pförtner im Ministerium. Ein freundlicher älterer Herr, ein pensionierter Jurist aus Bayern, empfing mich und sprach mit mir über die Aufgabe, die da auf mich zukäme. Er hatte sich bei meinem Chef in Butzbach nach mir erkundigt. Dieser hatte mich offenbar empfohlen und so war die Sache eigentlich bereits entschieden. Wenn ich wollen würde, könnte ich zum nächst möglichen Zeitpunkt dort anfangen. Ich solle einfach mal nach Zeithain fahren und mir die dortige Anstalt anschauen. Der provisorische Anstaltsleiter werde mich empfangen und mir alles zeigen. Zu DDR-Zeiten hatten die Häftlinge in einer Fabrik gearbeitet, die direkt neben dem Knast lag. Genauer gesagt: Das Gefängnis hing wie ein Wespennest an dieser Fabrik dran und war ihr Zulieferer an menschlicher Arbeitskraft. Diese Fabrik war abgewickelt worden, und die circa 100 Häftlinge lagen nun wie Fische auf dem Trockenen. Es gab zwei Tischtennisplatten mit maroden Netzen und auf dem Hof ein Volleyball-Feld, das war alles. Von den 100 Gefangenen waren 90 Glatzen. Es war die Hochzeit der Glatzen im Beitrittsgebiet, alle waren Nazis oder taten so, als wären sie Nazis. Sie lungerten auf den Gängen herum, und man hatte das Gefühl, sie lauerten auf irgendetwas. Ich spürte Indifferenz und Feindseligkeit. Ich kam mit niemandem ins Gespräch. Als mir der junge Jurist, der als Anstaltsleiter fungierte, dann auch noch sagte, er schliefe auf einem Feldbett im Büro, weil er in der Stadt keine Wohnung gefunden habe, stand für mich fest, dass ich das Angebot ausschlagen würde. Die ganze Situation schien mir trost- und aussichtslos. Abends erzählte ich Renate, der Pfarrerin, von meinen Eindrücken, und auch sie riet mir, unter diesen Umständen lieber in Hessen zu bleiben. Am nächsten Morgen bestieg ich nach dem Frühstück mein Auto und fuhr zurück.

Hätte ich die Stelle angetreten, hätte ich wenig später Clemens Meyer dort begegnen können. Die wilde und anarchische Nachwendezeit in Leipzig hatte ihn verschiedentlich mit dem Gesetz in Konflikt gebracht, und irgendwann musste er sich in Zeithain zum Strafantritt stellen. Er berichtet darüber in seinem großen Romanerstling Als wir träumten, der im Jahr 2006 erschienen ist und ihm den Preis der Leipziger Buchmesse eintrug: „Mitten auf dem Feld war der Knast. Groß und viereckig. Und dunkel. Nur ein paar Scheinwerfer strahlten gelb gegen die Mauern. Ich war noch ein ganzes Stück entfernt. Ich stolperte durch den Schnee und blickte ihn an, den Knast. Oft hatte ich nachts von ihm geträumt, und jede Menge Typen hatten mir von ihm erzählt.“ Dann fiel die Tür hinter ihm zu. Damals war Clemens Meyer noch kein Schriftsteller, sondern ein verwegener junger Mann auf der Suche danach, wie Leben geht. Ein Leben außerhalb des staatssozialistischen Geheges der DDR, auf freier marktwirtschaftlicher Wildbahn. Ob wir uns unter diesen Bedingungen wirklich kennengelernt hätten, weiß ich nicht. Es gehörte damals zum guten Ton unter den Insassen, mit den „Psychos und Sozialheinis“ nicht oder nur das Nötigste zu sprechen. Da war die Situation in Butzbach wesentlich entspannter. Wer weiß, wie mein weiterer Lebensweg verlaufen wäre, hätte ich damals den Abzweig nach Zeithain genommen. Man fragt sich mit fortschreitendem Alter ja oft nach den verpassten Gelegenheiten und ungenutzten Chancen, aus denen im Rückblick das Leben zu bestehen scheint. Jetzt sitze ich hier an meiner Gießener Schreibtischplatte, die aus der Schreinerei der JVA Butzbach stammt, und schaue in den grauen Himmel, aus dem es seit Tagen nieselt. Unten jaulen und klappern die Wagen der Müllabfuhr. Die Tauben drehen unermüdlich ihre Runden über den Dächern. Vielleicht ist Melancholie ja die dem Menschen gemäße Haltung. Erst heute, im Zeitalter des „unendlichen Spaßes“ und der masmassenhaft konsumierten pharmazeutischen Stimmungsaufheller gilt sie als pathologisch. Im September diesen Jahres wird es fünfzehn Jahre her sein, dass David Foster Wallace, von dem der Roman Unendlicher Spaß stammt, sich das Leben nahm. Manche tragen schwer am Gewicht der Welt, und es ist ihnen „auf Erden wohl nicht zu helfen“, wie Kleist sagte.