127 | Neoliberale Brutalisierungsmaschinen

„Aber ich weiß natürlich, dass mein Herz höher schlägt, wo das Utopische mal für einen Augenblick Funken schlägt, wo etwas Positives sich zu entwickeln scheint. Aber man wird doch immer wieder enttäuscht. Schau dir doch die Welt jetzt an! Sag mir, wo soll man eigentlich seine politischen Sympathien und Hoffnungen einpflanzen?“

(Leo Löwenthal: Mitmachen wollte ich nie)

Ein Sonntagmorgen, Mitte August. Die Hitze lässt mich seit Tagen schlecht schlafen und treibt mich früh aus dem Bett. Zunächst hatte ich die Idee, schwimmen zu fahren, habe dann aber auf dem Balkon gemerkt, wie frisch es ist, und den Gedanken verworfen oder seine Umsetzung vertagt, genauer gesagt: verstundet. Es ist regelrecht kalt geworden über Nacht. Nachdem ich Türen und Fenster geöffnet habe, fließt die kühle Morgenluft in die Wohnung und vertreibt langsam die Hitze, die sich in der Wohnung gestaut hat. Ich setze meinen morgendlichen Expresso auf. Mit Pullover kann ich das Frühstück dann vielleicht doch auf dem Balkon einnehmen, denke ich. Gerade steigt die Sonne übers Nachbarhaus und alles wird in helles Licht getaucht. Meine Gedanken wandern zu U, die seit zwei Wochen am Bodensee weilt. Morgen geht ihre Zeit dort zu Ende und sie wird im Anschluss noch ein paar Tage in Freiburg verbringen, wo sie in ihrem Stammgasthaus logieren wird. So eine befristete Trennung hat auch ihr Gutes. Sie lässt eine Sehnsucht entstehen, die bei ständigem Zusammensein gar keine Chance hat, sich zu entfalten.

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In letzter Zeit denke ich öfter darüber nach, was aus den Zielen geworden ist, die ich mal verfolgt habe. Ich gehöre ja zu denen, die mal geglaubt haben, dass wir die Revolution machen und die Welt wirklich verändern können, und zwar noch zu unseren Lebzeiten. Die Ziele schrumpften im Laufe der Jahre, wurden bescheidener, schließlich drohen sie zu verdorren und abzusterben. Wenn es so weitergeht, werde ich bald keine mehr haben. Solche Ziele bedürfen, um sich am Leben halten zu können, eines Milieus, das sie stützt. „Gegenmilieu“ haben wir das früher genannt. Wo gibt es so etwas noch? Mit vielen gegenwärtigen politischen Milieus habe ich nichts zu tun und will ich auch nichts zu tun haben. Aber was dann? Im Zustand der Passivität und Isolation droht die Dialektik von Affirmation und Emanzipation zu zerreißen und die Anpassung den Sieg davonzutragen. Politische Identität ist ohne Kontakt und Austausch mit Anderen auf Dauer schwer aufrechtzuerhalten. Aber mit welchen Anderen? Wo haben sie sich verborgen, die Anderen? Sie sind fortgegangen, „jeder zu seinen eigenen Fehlern“, wie W.H. Auden es in einem Gedicht ausgedrückt hat. Ich sehe mich ein wenig in der Position jenes Offiziers der Titanic, der vor Gericht gefragt wurde, wann er das sinkende Schiff verlassen habe. Er antwortete: „Euer Ehren, nicht ich habe das Schiff verlassen, das Schiff hat mich verlassen.“ Leo Löwenthal hat im Gespräch mit Helmut Dubiel die Aussage des Titanic-Offiziers folgendermaßen abgeändert: „Im Grunde, wenn ich das arrogant ausdrücken darf, habe nicht ich die Politik und die Revolution verlassen, die Revolution hat mich verlassen.“ Das könnte ich zu meinen Gunsten vielleicht auch geltend machen. Aber das macht meine Lage nicht angenehmer.

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Gestern war ich schon auf dem Rückweg von der Lahn, da bekam ich Lust auf eine Pizza und einen Besuch bei da Franco. Also drehte ich um. Es war ein sonniger, warmer Abend und ich fand einen wunderbaren Platz unter den Bäumen im Garten. Franco übertraf sich selbst, und seine Tochter servierte mir eine leckere Pizza-Margeritha: knuspriger Boden, nicht zu viel Käse, kaum Fett, frische Tomaten und frisches Basilikum drüber, dazu ein alkoholfreies Weizenbier. Was will man mehr? Von der Badestelle hatten mich zuvor vier Studi-Deppen vertrieben, die sich mit „Hey, Digger, was geht“ begrüßten und sich dann lautstark darüber unterhielten, wer von ihnen am Vorabend auf dem Stadtfest am betrunkensten war.

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Heute Morgen habe ich zwanzig Minuten darauf verwandt, zwei Wespen den Weg aus der Küche zu weisen. Früher wäre man da nicht so zimperlich gewesen, hätte eine Fliegenklatsche herbeigeholt und kurzen Prozess gemacht. Heute versuche ich, das anders anzugehen und die Tierchen geduldig in Richtung des geöffneten Fensters zu dirigieren. Mein Vater zerschlug aufdringliche Wespen zwischen seinen Handflächen. Dabei kam es darauf an, sie durch Nach-Hinten-Biegen der Finger ganz hart zumachen und blitzschnell zusammenzuschlagen und sofort wieder aufzumachen. Er beherrschte diese Technik perfekt, bei uns Kindern missglückten die Versuche häufig und führten zu schmerzhaften Stichen in die Handflächen. Im Unterschied zu den Bienen, die uns mit köstlichem Honig versorgen, sah mein Vater in Wespen nichts als lästiges Ungeziefer, das man bedenkenlos verfolgen und vernichten kann. Die Art und Weise, in der er über Wespen sprach, ähnelte seiner Rede über „die Juden“, an deren Vernichtung er vor unserer Geburt mitgewirkt hatte. Das Einzige, was er daran bedauerte, war, dass man sie nicht mit der nötigen Gründlichkeit durchgeführt und zu Ende gebracht hatte.

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Dieser Tage widmete der Sender Arte Wim Wenders zum 80. Geburtstag einen Schwerpunkt. Zunächst wurde der Film „Paris, Texas“ aus dem Jahr 1984 gezeigt. Als ich ihn damals zum ersten Mal sah, fand ich ihn langweilig, diesmal großartig. Harry Dean Stanton in der Rolle des autistisch wirkenden Travis und Nastassja Kinski als seine Frau gefielen mir extrem gut. Die beiden suchen und fliehen sich zugleich. Im Anschluss an diesen Film präsentierte der Sender unter der Überschrift „Wim Wenders – Der ewig Suchende“ ein gelungenes und spannendes Portrait des Mannes, der ein großes Werk und unvergessliche Filme geschaffen hat. U und ich sahen zuletzt im Licher Kino „Traumstern“ seinen Film „Perfect Days“, der vom Leben eines Japaners erzählt, der in Tokio mit Hingabe öffentliche Toiletten putzt. Ich habe in Folge 89 der DHP von diesem grandiosen Film geschwärmt. Ich freue mich auf hoffentlich noch einige neue Filme von Wenders.

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Dem Schwanenpaar auf der Lahn ist von ursprünglich vier Jungen nur eins geblieben. Den einzig überlebenden Jungschwan, der noch graues Gefieder hat, lassen sie keinen Moment aus den Augen und nehmen ihn stets in ihre Mitte. Sie ziehen in dieser Formation jeden Tag mehrfach an meiner Badestelle vorüber. Manchmal kommen sie extra vom gegenüberliegenden Ufer zu mir herüber und begrüßen mich mit einem kleinen freundlichen Fauchen. Sie kreisen ein paar Minuten um meine Füße, dann schwimmen sie ihrer Wege. Heute scheint der vorerst letzte Sommertag zu sein und ich werde im Laufe des Vormittags nochmal zur Lahn aufbrechen, um eine Runde zu schwimmen. Seit langer Zeit sah ich mal wieder den Wanderfalken, zu dessen Revier dieser Abschnitt der Lahn und die umliegenden Felder und Wiesen gehören. Er schraubte sich im Aufwind in die Höhe und schoss dann über die Lahnauen davon.

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„Anpassung ist der Preis, den Individuen und Vereine zahlen müssen, um im Kapitalismus aufzublühen.“

(Max Horkheimer: Autoritärer Staat)

Heute Abend sprechen Georg Fülberth und Bodo Ramelow im Gießener Alten Schloss über Wilhelm Liebknecht, der dreihundert Meter von dort im Jahr 1826 zur Welt gekommen und vor 125 Jahren in Berlin gestorben ist. Ich bin gespannt, was die beiden Altgenossen zu Liebknechts Wilhelm zu sagen haben. Interessant finde ich, dass nich t „Die Linke“ sich des Themas annimmt und nicht die Sozialdemokratie, deren Mitbegründer Liebknecht immerhin gewesen ist. Ich werde ja nicht müde zu betonen: Die linken Parteien in Deutschland sind alle auf demselben sozialdemokratischen Holz gewachsen und kranken bis heute daran. Die Linken und die Grünen, als die letzten noch existierenden Ableger, liefern den Beleg, dass die schmähliche Soziologie des Parteiwesens am Ende recht behält und auch heute noch so funktioniert, wie Robert Michels sie in seinem Klassiker „Soziologie des Parteiwesens“ 1911 beschrieben und analysiert hat. Der Rätekommunist Otto Rühle hielt es deshalb für sinnlos, reaktionäre Parteien durch revolutionäre zu ersetzen, die Parteiform selber sei obsolet, ja sogar gefährlich geworden. Schon 1920 erklärte er: „Die soziale Revolution ist keine Parteisache!“ und verlangte die Auflösung aller Parteien zugunsten der Rätebewegung. Daraus wurde, wie wir wissen, leider nichts. Rühle musste unterm Nationalsozialismus emigrieren und wurde in Mexiko Nachbar und Freund von Leo Trotzki, für dessen Rehabilitierung er sich einsetzte. Rühle starb am 24. Juni 1943 im Alter von 68 Jahren an Herzversagen. Seine Frau Alice Rühle-Gerstel nahm sich am selben Tag das Leben. Von ihr stammen auch heute noch lesenswerte Texte zur Verbindung von Marxismus und Psychoanalyse, der sie in ihrer Adler‘schen Variante anhing. Beide Rühles sind zu Unrecht in Vergessenheit geraten. Mir schaut Otto Rühle, ein wenig grimmig dreinblickend, täglich beim Schreiben zu.

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„Trübsal ward nicht geblasen.“

(Wilhelm Liebknecht)

Der Abend mit Fülberth und Ramelow war sehr gelungen. Vor allem war er gut besucht, was uns alle überrascht hat. Der Netanya-Saal im Alten Schloss war proppenvoll, es mussten sogar noch zusätzliche Stühle aufgestellt werden. Ich habe Georg Fülberth sehr bewundert, der mit seinen 85 Lebensjahren einen tollen Vortrag zu Leben und Werk von Wilhelm Liebknecht gehalten hat. Der etliche Jahre jüngere Ramelow hatte den Part übernommen, Liebknecht im Lichte der Gegenwart zu betrachten und zu fragen, was von ihm und seinem Werk für uns Heutige noch bedeutsam ist und was vor allem die Linke von ihm lernen könnte. Da sei besonders seine frühe Wendung gegen den preußischen Militarismus und die Hochrüstung zu nennen, von denen Liebknecht ahnte, dass sie schließlich zum Krieg führen würden. Das ist ja eine Gefahr, die ja auch heute nicht von der Hand zu weisen ist. Die Katastrophen des 20. Jahrhunderte kündigten sich Ende des 19. bereits an und Wilhelm Liebknecht sah ihre Heraufkunft voraus. Auch die Ur-Enkelin Liebknechts, Marianne Liebknecht, war anwesend und wurde gebührend gefeiert. Sie ist die Tochter von Robert Liebknecht, der wiederum der Sohn von Karl Liebknecht und ein ausgezeichneter Maler war, der sich keiner bestimmten Stilrichtung oder Schule zuordnen lässt, sondern ein freier Geist war, wie alle Liebknechts. Bei all dem Rummel um seinen 125.Todestag frage ich mich, was wir nächstes Jahr machen sollen, wenn Liebknechts 200. Geburtstag ansteht?

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Als ich auf dem Balkon stand und nach U Ausschau hielt, die heute aus ihrem Urlaub zurückkehrt, trudelte eine weiße Taubenfeder vom Dach herab. Keine große von einem Flügel, sondern eine kleine, wahrscheinlich von der Brust, ganz weiß und flauschig. Sie schwebte am Balkon vorbei, wurde vom Wind wieder ein Stück nach oben geweht und drehte sich dabei wie ein Kreisel um sich selbst. Irgendwann entschwand sie meinen Blicken.

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An der Lahn beobachtete ich dieser Tage, wie Krähen sich über Pizzakartons hermachten, die auf einer Wiese am Ufer zurückgelassen worden waren. Eine Krähe stand da, hielt mit einem Fuß den Karton fest und öffnete mit dem Schnabel den Deckel. Dann pickte sie prüfend an den Pizza-Resten herum und flog schließlich mit einer Kruste im Schnabel davon, um sie woanders in Ruhe und vor allem ungestört zu verzehren. Ihre Kolleginnen stolzierten mit angelegten Flügeln um die restlichen Kartons herum und versuchten, es der erfolgreichen Krähe nachzutun. Manchmal erinnern mich herumstolzierende Krähen an katholische Priester, die mit auf dem Rücken ineinandergelegten Händen spazieren gehen.

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Neben dem Eingang zum Bambuslabyrinth im Botanischen Garten stehen Erwachsene und sehen und hören zu, wie ihre vielleicht achtjährigen Früchtchen drinnen wüten und Bambushalme zertreten. Es kracht aus dem Inneren, dass es nur so seine Bewandtnis hat. Niemand schreitet ein und unterbindet das Zerstörungswerk. Stattdessen wartet man geduldig, bis die süßen Kleinen keine Lust mehr haben und ihr berserkerhaftes Wüten beenden. Auch so lernt man fürs Leben.

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„Das Fahrrad ist der perfekte Apparat, der die metabolische Energie des Menschen befähigt, den Bewegungswiderstand zu überwinden.“

(Ivan Illich: „Narrenlob“ des Fahrrads)

Die Süddeutsche Zeitung bringt in ihrer Ausgabe vom 23./24. August 2025 einen großen Artikel über die Verbreitung von Rennrädern. Der Umsatz ist zwischen 2015 und 2025 um mehr als zwei Drittel gestiegen. Darüber ist nicht jeder erfreut. Es häufen sich Klagen über die rücksichtslose Fahrweise vieler Rennradler. Sie verwandeln das Rad aus einem im Prinzip friedlichen, „konvivialen“ (Ivan Illich) Fortbewegungsmittel in ein Mittel im alltäglichen sozialdarwinistischen Kampf aller gegen alle. Sie tragen ein hohes Maß an Aggressivität in den Radverkehr, überholen einen mit affenartiger Geschwindigkeit auf allen Seiten. Sie klingeln, was sie stört, aus dem Weg, und wenn sie keine Klingel haben, brüllen sie sich den Weg frei. Es ist auf beiden Seiten eine Menge Wut im Spiel. Über diese Konflikte unter Radlern und Radlern und Fußgängern sollte aber nicht vergessen werden, dass es meist Autofahrer sind, die Radfahrer im Straßenverkehr töten. Im Jahr 2024 sind in Deutschland 441 Radfahrer bei Verkehrsunfällen tödlich verunglückt. In knapp 60 Prozent der Fälle war ein Autofahrer schuld. Aber Radfahrer sind nicht per se bessere Menschen, was viele von ihnen anzunehmen scheinen.

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Seit beinahe einer Woche habe ich keine Zeile geschrieben. Das ist seit ewigen Zeiten nicht mehr vorgekommen. Aber mir ging es in den letzten Tagen richtig elend und ich war zu nichts in der Lage. Nachdem Ursula mich mehrfach nach Stürzen am Boden liegend und in jämmerlicher Verfassung angetroffen hat, rief sie am Wochenende den ärztlichen Notdienst, der relativ schnell eintraf und nach einem Check dazu riet, am nächsten Morgen den Hausarzt aufzusuchen. Ich hatte erhöhte Temperatur und der Hausarzt sollte prüfen, ob ein Infekt die Ursache meiner akuten Beschwerden und Schwächezustände sein könnte. Der Hausarzt überwies mich in die Uniklinik, wo ich wieder einmal in der Notaufnahme stundenlang warten durfte. Ursula war sehr geduldig und blieb bei mir. Dann geriet ich an einen freundlichen jungen Neurologen, der sich viel Zeit für mich nahm, allerlei Messungen und Untersuchungen durchführte und mich dann mit letztlich unklarer Diagnose nach Hause entließ. Es könne dies sein, aber auch jenes, oder nichts von alledem. Ursula wäre es lieber gewesen, man hätte mich wegen der vielen Stürze mal für eine Weile stationär aufgenommen und aus dem Verkehr gezogen. Sie fühlt eine enorme Verantwortung auf sich lasten. So aber traten wir den Heimweg an und trafen unter uns Regelungen, wie ich mir gegebenenfalls auch nachts Gehör verschaffen könnte. Ich hatte nach meinen Stürzen ein paar Mal nach Ursula gerufen, was sie aber oft im Schlaf zunächst nicht wahrnahm. Erst als meine Hilferufe zu Schreien anschwollen, drangen die durch die Decke zu ihr durch. Das versetzte sie nun erst recht in einen fortwährenden Alarmzustand, und sie konnte auch nicht mehr richtig schlafen, weil sie ständig lauschte, ob Hilferufe durch die Decke drangen. Sie musste ständig mit dem Schlimmsten rechnen. Sie litt unter diesem Zutand sichtlich und spürbar. In den letzten Tagen hinderten mich höllische Halsschmerzen am Schlafen, was alles nicht besser machte. Seite heute geht es ein wenig besser und ich falle auf das normale Mittelelend zurück, in dem ich mich seit einiger Zeit notgedrungen eingerichtet habe. Auch das Schreiben fällt mir im Moment schwer, bei jeden zweiten Wort verschreibe ich mich und ich muss ständig Korrekturen durchführen. Das ist extrem lästig und vermiest mir die Freude am Schreiben. Das Schreiben verliert jede Leichtigkeit. Den Kopf oberhalb der Wasserfläche der Realität zu behalten, strengt mich ungeheuer an. Alles dauert doppelt so lang wie gewöhnlich. Mir schwindelt, ich habe weiche Knie und lag ein paar mal wie Gregor Samsa hilflos auf dem Rücken. Keine schönen Erfahrungen, wenn einen die Beine nicht mehr tragen. Noch hoffe ich, dass sich mit dem Abklingen des Infekts manches wieder bessert. Der Infekt hat sich auf meine Grundstörungen draufgesetzt und die Lage akut drastisch verschlechtert. Wenn er sich zurückbildet, bleibt mir doch die Summe irreparabler Störungen, mit denen ich leben und klarkommen muss. Das ist die bittere Erkenntnis nach einer inzwischen fast zwei Jahre währenden und bislang vergeblichen medizinischen Ursachensuche. Die akute Erfahrung des Kontrollverlusts war extrem bitter, weil sie mir einen Vorgeschmack vermittelte von dem, was möglicherweise auf mich zukommt. Auf dem Boden zu liegen und ohne fremde Hilfe nicht mehr hochzukommen, ist eine schlimme Erfahrung und lässt für die Zukunft nichts Gutes erhoffen. Mich in eine Pflegeheim zu begeben, kommt für mich nicht in Frage. Allein das Denken an diese Möglichkeit macht mich ganz plümerant. Was aber dann? Sándor Márai und Wolfgang Herrndorf besorgten sich, als sie an diesem oder ähnlichen Punkten angelangt waren, eine Schusswaffe, von der sie wenig später dann auch Gebrauch machten. Das sagt oder schreibt sich so leicht. Außerdem sind meine Kontakte ins kriminelle Milieu seit dem Ende meiner Arbeit im Gefängnis weitgehend eingeschlafen, so dass ich im Augenblick nicht wüsste, wie ich an eine Waffe kommen könnte. Welche anderen halbwegs realistischen und Erfolg versprechenden Exitstrategien existieren für mich? Man muss handeln, ich muss handeln, solange ich noch dazu in der Lage bin. Wie sagte Max Frisch: „Eines Tages kommt der Punkt, an dem man nicht mehr die Vitalität hat, sich umzubringen.“ Wieder einmal bleibt ein beunruhigender Gedankengang als loses Ende zurück und kommt zu den übrigen losen Ende noch hinzu, die sich zu keinem Muster mehr fügen und vernähen lassen. Ich hoffe, dass dieses Tagebuch sich nicht zu einer Zumutung für die Leserinnen und Leser entwickelt. Und wenn schon?

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„Hatte ich nicht auch einen Knall, als ich im Jahr 1970 den Roten Stern gründete?“

(KD Wolff)

Ich habe, im Bett liegend, begonnen, KD Wolffs Autobiographie „Bin ich nicht ein Hans im Glück?“ zu lesen, und bin nach der Lektüre von etwa der Hälfte des Buches wirklich sehr angetan. Das Buch spricht mich auch deswegen an, weil es ab einem gewissen Punkt auch meine Geschichte erzählt. Unsere Familiengeschichten weisen gewisse Parallelen auf. Es fehlte an der Luft zum Atmen, und Feigen waren, wie es bei Heine heißt, nur als Ohrfeigen bekannt. KD stammt aus einem kleinen Ort im Hessischen „Hinterland“, von dort, wo „wo Fuchs und Hase sich gute Nacht sagen“ und die Posträuber aus der Subach herstammen. Durch meine Mitarbeit in einem kleinen linken Verlag und Vertrieb hatte ich mit den Anfängen des linken Buchwesens eine ganze Menge zu tun und kannte dadurch auch einige Menschen, die im Buch von KD vorkommen. Ihn selbst sah ich zum ersten Mal zusammen mit seinem Bruder Frank auf dem Podium bei irgendeinem Teach-in im legendären Hörsaal VI der Frankfurter Universität. Zum letzten Mal bin ich ihm vor ein paar Jahren in Staufenberg begegnet, als wir bei einem Rundgang auf Peter Kurzecks Spuren ein paar Schritte zusammen gingen und einige Worte wechselten.

Bin gerade durch mit der Lektüre von KD’s Buch „Bin ich nicht ein Hans im Glück?“ Der erste Teil, der von seiner und der Geschichte der Revolte erzählt, hat mich sehr gefesselt, der zweite nicht mehr ganz so. Da geht es über weite Strecken um die editorische Praxis des Verlags „Roter Stern/Stroemfeld“, um Hölderlin, Kafka, Kleist und so weiter. Das ist auf die Dauer und in den Details ein wenig ermüdend. Alles in allem aber ein sehr lesenswertes und spannendes Buch.

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Ich finde es bezeichnend, dass seit einiger Zeit die Zeitungen am Samstag nicht mehr so früh ausgetragen werden, dass sie um acht Uhr zum Frühstück im Briefkasten liegen. Hegel hatte die tägliche Zeitungslektüre als das „Morgengebet des Bürgers“ bezeichnet, das ihm Halt und Orientierung bot, wie ehedem dem Gläubigen das Gebet. Wenn das pünktliche Zustellen der Zeitungen nicht mehr funktioniert und damit das „Morgengebet des Bürgers“ nicht mehr stattfinden kann, ist etwas Elementares verloren gegangen. Es zerbricht oder schwindet zur Zeit vieles, was einmal zum Grundbestand der bürgerlichen Gesellschaft gehörte. Ist diese Gesellschaft noch bürgerlich? Ich hätte mir früher nicht vorstellen können, dass ich den Verlust von Bürgerlichkeit einmal betrauern würde. Die Bedeutung von Manchem wird einem erst im Augenblick des Verschwindens bewusst. Dann ist es meist bereits zu spät und man kann den Schwund nur noch registrieren. Ein Motiv meines Schreibens besteht seit einiger Zeit darin, all das Schwindende oder bereits Verlorene schreibend festzuhalten.

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Seit Tagen schlafe ich kaum. Ich wälze mich ruhelos im Bett herum. Ich schwitze und höre meinen Pulsschlag. Die Gedanken fliehen mich, entfliehen mir, ich kann sie immer weniger fixieren. Beim Schreiben unterlaufen mir gehäuft Fehler, es wird immer mühseliger. Noch hoffe ich, dass diese Symptome wieder verschwinden, wenn die Grippe und meine Schwächezustände ausgestanden sind und mir nicht allzu viele Fehler unterlaufen. Die Suizidgedanken gehen mir nach. Der Gedanke, im Fluss beim Schwimmen zu versinken, scheint mir verlockend. Aber: Kann man sich, wenn man schwimmen kann, willentlich ertränken? Würde ich einen Henkerknoten hinbekommen? Ein Haken ist auf dem Scheitelpunkt des romanischen Bogens meiner Loggia schon vorhanden. Aber würde der auch halten? Es gibt nichts Lächerlicheres, als ein beim Versuch, sich zu suizidieren, reißender Strick.

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In der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 30./31. August stieß ich auf einen erschütternden Bericht über den Suizid eines 13-jährigen Jungen aus Bayern, der von Mitschülern systematisch gedemütigt und gemobbt wurde. Nach einem Streit aus läppischem Anlass wird er brutal zusammengeschlagen. Zwei Jungen und ein Mädchen schauen dabei zu und filmen die Tat. Der Film, der seine Demütigung und Misshandlung zeigt, geht unter den Gleichaltrigen in der Folgezeit „viral“. Drei Monate später, im Januar 2023, ist der Junge tot. Die Eltern entdecken erst nach seinem Tod, in welcher Mobbing-Hölle ihr Sohn seine letzten Tage und Wochen verbracht hat. Der Artikel von Thorsten Schmitz „Dani wäre jetzt siebzehn“ sollte Pflichtlektüre an allen Schulen werden und eine Debatte darüber anstoßen, ob man die digitalen Hassmaschinen nicht endlich von den Schulen und aus der Gesellschaft insgesamt verbannen sollte. Algorithmen priorisieren nach dem, was die stärksten Reaktionen auslöst und die Leute online festnagelt. Das sind in erster Linie Wut, Häme und Hass. Nicht von ungefähr hat die bürgerliche Gesellschaft ein solches Medium hervorgebracht. In ihm kommt sie zu sich selbst, sie enthüllt sich vollends als eine Gesellschaft, die basal auf Kälte, Gleichgültigkeit und Feindseligkeit gestimmt ist. Insofern ist es natürlich illusorisch anzunehmen, sie könnte auf solche Medien verzichten.

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Rechtspopulistische Politiker lassen sich die Chance nicht entgehen, Kapital zu schlagen aus den Ängsten, die der anhaltende Zustrom der Fremden auslöst. Der Fremdenhass lebt von der Täuschung, dass die Gesellschaft gesund und krisenfrei gemacht sei, wenn der letzte Ausländer das Land verlassen hat. An die Adresse von Politikern wie Alexander Dobrindt gerichtet kann man nur daran erinnern, dass man eine Spinnenphobie nicht dadurch bekämpfen kann, dass man alle Spinnen vernichtet. Statt die Spinnenphobie blind auszuagieren, käme es darauf an herauszufinden, welche Ängste der Phobiker auf Spinnen beziehungsweise Ausländer verschiebt und diese, wenn möglich, durch eine behutsame Annäherung an den wahren Angstgrund aufzuheben. Es ist natürlich unendlich viel einfacher, existierende Ängste zu manipulieren und in den Dienst irgendwelcher Sonderinteressen zu bringen, als sich an die mühsame Arbeit zu begeben, sie über sich aufzuklären und ihre wahren Inhalte ins Bewusstsein zu heben. Leo Löwenthal hat die populistische Praxis der Indienstnahme existierender Ängste deshalb treffend als „umgekehrte Psychoanalyse“ bezeichnet.

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Seit dem Stadtfest stehen im ganzen Stadtgebiet ausgesetzte, herren- und frauenlose Fahrräder herum. Mir ist rätselhaft, wie man sein Rad einfach so aufgeben kann und wie wenig Wertschätzung selbst relativ wertvolle Gegenstände genießen. Dass das einmal anders war, davon zeugt der wunderbare Film „Fahrraddiebe“ von Vittorio De Sica aus dem Jahr 1948. Heute werden Dinge (wie Menschen) achtlos weggeworfen und ausgetauscht: „Scheiß drauf, hol ich mir halt ein neues Rad.“ Wie sorgsam bin ich mit meinem ersten eigenen Rad umgegangen, das ich von meinem Cousin Ulrich geerbt hatte. Es war ein weinrotes NSU-Fahrrad und ich fuhr es vom Ende der Volksschule bis zum Abitur. Einmal bin ich auf ihm in den Sommerferien sogar nach Holland gefahren. Unzählige Mal haben ich die Reifen geflickt, das Bremsgummi ausgetauscht, die Kette gespannt und geölt. Dann bekam ich ein neues Rad, das alte ging in den Besitz eines meiner jüngeren Brüder über und ich verlor es aus den Augen. Hege und Pflege lasse ich nun meinem von Gerda geerbten Holland-Rad angedeihen, das inzwischen mindestens seine vierzig Jahre auf dem Buckel hat und mir nach wie vor gute Dienste leistet. Niemals würde ich es achtlos irgendwo stehen lassen. Aber ich bin, was die Treue zum einmal erworbenen Besitz angeht, ein Auslaufmodell. Mit Leuten wie mir und meiner Mentalität würde der Spätkapitalismus nicht funktionieren.

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Der Begriff „Reform“ hat in den neoliberalen Jahrzehnten einen enormen Bedeutungswandel durchgemacht. Er wurde von einem Begriff, der den Index wirklicher, qualitativer Verbesserung der Lebensqualität der Menschen trug, zu einem Abbaubegriff, einem Abbruchunternehmen. „Reformen“ sind spätestens seit der Kohl-Ära im wesentlichen Deregulierungsmaßnahmen, die den Sozialstaat abschmelzen, Risiken reprivatisieren und die Gesetze des Marktes auf alle Bereiche staatlichen Handelns ausdehnen wollen. Der Reformbegriff muss, wenn wir ihn weiter verwenden wollen, wieder mit gesellschaftlichem Inhalt gefüllt werden und vor der Pervertierung durch Abbruchunternehmen gerettet werden. Die Bereitschaft, mitzuleiden, die Fähigkeit, barmherzig zu sein, ein Herz für den Anderen zu haben: Das hat die Reformära auf der Subjektseite getragen. Wer, wie Friedrich Merz sagt, Reformen seien nicht länger bezahlbar, muss sich fragen lassen: Können wir uns Nicht-Reform leisten? Im Sinne einer „Ökonomie des ganzen Hauses“ (Oskar Negt) ist nichts teurer als Nicht-Reform. Eine volkswirtschaftliche Gesamtrechnung hätte die Kosten aus Massenarbeitslosigkeit, Krankheiten, Drogenkonsum, Alkoholismus, Selbstmorden, Gewalt und steigender Kriminalität mit einzubeziehen. Dann sieht die Gesamtbilanz gleich vollkommen anders aus.

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