86 | Antisemitismus: Das Gerücht über die Juden

„Einmal sagte er, dass es ihm nie im Leben eingefallen wäre, sich für einen Juden zu halten, wenn es keine Antisemiten gäbe.“

(Jurek Becker über seinen Vater)

Dieser Tage erinnerte ich mich an einen Text von Jurek Becker, der „Mein Vater, die Deutschen und ich“ überschrieben ist. Er beginnt damit, dass Jurek Becker davon erzählt, dass er seinen Vater immer wieder mit der Frage behelligt habe, warum er, den die Nazis ins Ghetto und verschiedene Konzentrationslager gesperrt hatten, nach dem Krieg ausgerechnet nach Deutschland gegangen war, statt zum Beispiel nach Brooklyn, zurück nach Polen oder nach Tel Aviv. Der Vater schwieg sich aus, verdrehte die Augen und ließ ihn stehen. Erst in einem Moment der Schwäche – er lag wegen eines Magengeschwürs im Bett – ließ er sich zu einer Art Antwort herab, wenn auch zu einer ziemlich dürren. „Er sah mich unglücklich an, wie man Quälgeister ansieht, vor denen es kein Entrinnen gibt. Dann sagte er leise: ‚Das kannst du dir wirklich nicht selbst beantworten?‘ Ich schüttelte den Kopf. Und er seufzte über so viel Unverstand und sagte: ‚Haben die polnischen Antisemiten den Krieg verloren oder die deutschen?‘ Dann drehte er sich auf den Rücken, als wäre alles gesagt, und schloss die Augen, als hätte ihn die Auskunft bis zum Äußersten erschöpft.“ Jureks Vater war offenbar der Ansicht, man könne als Jude einigermaßen beruhigt nach Deutschland gehen, allerdings in dessen östlichen Teil, weil die Deutschen es hinter sich hatten und so schnell keine Wiederholung drohte. Als wäre der Antisemitismus ein Virus, gegen das man, wenn man es mal gehabt hat, zumindest eine Zeit lang immun ist. Inzwischen scheint diese Immunisierung, wenn es sie je gegeben hat, abgelaufen zu sein. Jüdisches Leben in Deutschland ist wieder bedroht. Seit dem 7. Oktober werden Häuser, in denen Juden leben, mit dem Davidstern markiert, jüdische Kinder auf dem Schulhof drangsaliert, es fliegen wieder Brandsätze auf Synagogen. Antisemitische Straftaten haben seit dem 7. Oktober noch einmal stark zugenommen. Auf einer Israel-Solidaritätsdemonstration, die dieser Tage in Frankfurt stattfand, wurde von verschiedenen Rednern betont, dass Juden in Deutschland frei von Angst leben und auch Zeichen ihres Glaubens tragen und zeigen könnten. Am Ende entließ die Moderatorin der Veranstaltung die Teilnehmer mit der Warnung: „Gehen Sie nicht allein, sondern nur in Gruppen von hier, meiden Sie die Hauptwache und den Rathenauplatz! Rollen sie Ihre Fahnen ein!“ Laut FAZ vom 29. Oktober erkannte man die Mitglieder der jüdischen Gemeinde am ironischen Gelächter, mit dem sie diesen Warnhinweis quittierten.

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„Was ist das für ein Phänomen / Fast kaum zu hören kaum zu sehn
Ganz früh schon fängt es in uns an / Das ist das Raffinierte dran“

(Hanns Dieter Hüsch: Das Phänomen)

Heute, am 9. November, jährt sich zum 85. Mal der Tag oder die Nacht der Novemberpogrome von 1938. Am Nachmittag werde ich, wie jedes Jahr, zu einer Gedenkveranstaltung gehen, die vor dem Rathaus stattfindet. Es spricht ein Vertreter der jüdischen Gemeinde, der Oberbürgermeister, ein Vertreter der evangelischen oder der katholischen Kirche, Schüler eines örtlichen Gymnasiums rezitieren Gedichte. Der Ablauf ist seit Jahrzehnten gleich, ein sich jährlich wiederholendes Ritual. Ungefähr hundert Gießener stehen fröstelnd im Halbkreis um die Vortragenden herum, treten von einem Bein aufs andere. Kurzum: Man entledigt sich einer demokratischen Pflicht. Heute könnte es im Bann der Ereignisse nach dem 7. Oktober etwas anders werden. Die jüngsten Entwicklungen haben die Möglichkeit einer Wiederholung des Pogroms aus der Abstraktion unserer Faschismustheorien gerissen.

Es wurde dann auch deutlich anders, zunächst einmal von der Teilnehmerzahl her. Circa 300 statt er sonst üblichen fünfzig Menschen versammelten sich in der Dämmerung. Dann aber auch von den Abläufen: Der Kantor der jüdischen Gemeinde sprach dieses Jahr das Totengebet für zwei Pogrome: das vom November 1938 und das vom 7. Oktober 2023. Passend schien mir ein Gedicht von Hanns Dieter Hüsch, das Schülerinnen der Ricarda-Huch-Schule vortrugen. Es heißt „Das Phänomen“ und erzählt davon, wie früh Vorurteile ins Leben von Kindern eindringen und sich in ihnen festsetzen. Unbemerkt und beiläufig bildet sich ein Code aus, der festlegt, wer als gleichartig und darum gleichberechtigt anerkannt wird und wer nicht; in wen man sich einfühlt, mit wem man sich identifiziert, wem unser Mitgefühl gilt und wem Einfühlung straflos und mit Zustimmung der Mehrheit verweigert werden kann. Der Rassismus sitzt also im Kinderkörper und in uralten Schichten unserer Psyche. Von dort steigt er manchmal an unerwarteten Stellen wie durch ein Steigrohr auf und kann sogar noch dem liberalen Erwachsenenbewusstsein zu schaffen machen.

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Vorn im Park werden Bäume gefällt. Das Jaulen der Motorsägen dringt bis zu mir herüber. Irgendwelche Gründe für das Fällen der Bäume werden sie haben, denke ich, und wenn es nur die vage Befürchtung ist, ein Ast könnte abbrechen und ein Passant dadurch zu Schaden kommen. An den Eingängen in den Kellerwald hat man Schilder aufgestellt, die Spaziergänger vor den Gefahren warnen, die im Wald drohen. Dabei drohen dem Wald von den Menschen viel mehr Gefahren als umgekehrt. Man sollte also eigentlich den Wald vor den Menschen warnen. Für die Menschen würde der Hinweis ausreichen: „Der Natur bis du egal!“

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„Kein Franzose wird frei sein, solange die Juden nicht im Besitz ihrer vollen Rechte sind. Kein Franzose wird in Sicherheit sein, solange noch ein Jude in Frankreich und in der ganzen Welt um sein Leben fürchten muss.“

(Jean-Paul Sartre)

Sartre wurde nicht müde zu betonen, dass der Schlüssel zum Verständnis des Antisemitismus der Antisemit ist, nicht der Jude. „Die Erfahrung ist also weit davon entfernt, den Begriff des Juden hervorzubringen, vielmehr ist es dieser, der die Erfahrung beleuchtet; existierte der Jude nicht, der Antisemit würde ihn erfinden“, heißt es in den „Überlegungen zur Judenfrage“. Für die meisten Antisemiten ist „der Jude“ ein unbekanntes Objekt, die Aversionen gegen ihn beruhen auf bloßem Hörensagen. Der Judenhass ist ein Glaube, der für Argumente und Erfahrungen unzugänglich ist. Er leitet seine Begründung von der Vorstellung ab, die der Antisemit von Juden hat. „Der Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden“, heißt es in Adornos „Minima Moralia“.

Mir ist dieses Phänomen wieder begegnet, als ich mich vor zehn Jahren mit „Pegida“ in Dresden beschäftigt habe, wo das Objekt des Hasses vom Juden zum Muslim und Ausländer gewechselt hat: Der Ausländerhass war und ist dort am größten, wo es keine oder kaum Ausländer gab und gibt. Imre Kertész sprach in diesem Zusammenhang von „platonischem Judenhass“, der auch dort existiere, wo es praktisch keine Juden mehr gibt. Juden, Zigeuner, Muslime, Kanaken, Homosexuelle und so weiter sind die äußeren Repräsentanten des verfemten Teils der eigenen Person. Sie liefern einem diffusen Hass ein imaginäres Objekt. Es ist das Fremde – oder fremd Gewordene – in der eigenen Person, das im Fremden gehasst und verfolgt wird. Der Hass auf Minderheiten ist also letztlich projizierter Selbsthass. Für klassengespaltene Gesellschaften besitzt der Antisemitismus außerdem den unschätzbaren Vorteil, den von den Verhältnissen erzeugten Hass umzulenken und ihm ein Ventil zu verschaffen, das die bestehende Eigentums- und Gesellschaftsordnung nicht gefährdet.

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Georg Stefan Troller erzählt folgende Episode aus dem Wien seiner Kindheit. Er will bei Herrn Rosenbaum, einem Textiltrödler, einen Gürtel erstehen. Dieser hat jede Menge Zeit und verwickelt ihn in ein ausuferndes Gespräch. „Und was sagen Sie zu diesem Herrn Hitler, der draußen im Reich die Macht ergriffen hat? Zerspringen soll er, der Schlag soll ihn treffen! Und apropos: Wer glauben Sie, dass da kürzlich aufgetaucht ist bei mir im Geschäft? Kein anderer als der Doktor Freud aus der Berggasse persönlich, der, was sich um die Meschuggenen kümmert. Er sammelt jetzt Lozelach, sagt er, ich mein: jüdische Witze. Emes, so wahr ich hier steh. Weit gebrengt, nebbich, für an Professor. No, erzähl ich ihm gleich einen Witz über ihm selber. Da kommt doch zu ihm diese Schickse aus Linz, mit ihrem kleinen Sohn: ‚Herr Doktor, der Bub tritt jeden Hund und jede Katz mit dem Fuß, der reißt den Schmetterlingen die Flügel aus, der wirft Ihnen die Rollstühle um von Kriegskrüppeln! Ich weiß nicht, ist das noch normal?‘ ‚Und wie alt ist Ihr Sohn?‘ ‚Im April wird er vier.‘ ‚Machen Sie sich keine Sorgen, gute Frau. Er wird das auswachsen. Der wird Ihnen noch sanft wie ein Lamm.‘ ‚Dann dank ich Ihnen, Herr Professor, Sie haben mich beruhigt.‘ ‚Nichts zu danken und auf Wiedersehen, Frau Hitler.‘“

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Am Donnerstag, den 9. November hat ein 15-jähriger Schüler in Offenburg einen gleichaltrigen Mitschüler mit zwei Schüssen in den Kopf getötet. Als Motiv werden private Gründe vermutet. Es könnte sich um Eifersucht oder Mobbing gehandelt haben. Der Täter soll von einem zufällig in der Schule anwesenden Erwachsenen gestoppt worden sein, der ihn aufforderte, die Waffe niederzulegen und anschließend bis zum Eintreffen der Polizei festhielt. Die Waffe soll aus dem privaten Umfeld des Jugendlichen stammen. Die Tat ereignete sich an einer Schule für lernschwache Kinder, wie man Sonderschulen inzwischen nennt. Der mutmaßliche Täter wurde in Untersuchungshaft genommen.

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Hier und da wird den Israelis mangelndes Mitgefühl für die Leiden der Zivilbevölkerung von Gaza vorgeworfen. Die eigene Not und das Entsetzen über die 1400 Opfer des Hamas-Terrors vom 7. Oktober verengt das Bewusstsein und lässt das anderen Menschen zugefügte Leid und das Gefühl der Schuld hinter dem eigenen beklagenswerten Zustand zurücktreten. „Wenn ich in tödlicher Lungenentzündung liege und man meldet mir, dass mein Nachbar gestorben sei, und zwar durch mein Verschulden, mag sein, ich werde es hören, ich werde die Bilder sehen, die man mir vor die Augen hält; aber es erreicht mich nicht“, hat Max Frisch diesen Mechanismus am Beispiel der Nachkriegsdeutschen in seinem frühen Tagebuch beschrieben. Das Trümmerelend der zerbombten Städte ermöglichte es den Deutschen, sich in den Wiederaufbau zu stürzen und zu vergessen, dass sie noch kurz zuvor hab Europa in Schutt und Asche gelegt und Millionen von Menschen systematisch ermordet hatten. So habe ich Herbert Achternbuschs Stoßseufzer verstanden: „Wäre doch das offenkundige Elend am Kriegsende länger erhalten geblieben, statt sich erneut in die verdammte Tüchtigkeit zu verkriechen, in der erneut Mordgedanken entstehen …“

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Dieser Tage ist der Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius mit der Forderung hervorgetreten: „Wir müssen kriegstüchtig werden“. Wir müssten die Bundeswehr und die Gesellschaft „dafür aufstellen“, wie es im zeitgenössischen Neusprech heißt. Ich bin über diese Sätze eines SPD-Politikers erschrocken, weil ich in der Geschichte der Bundesrepublik immer gehört habe, die Zielsetzung der Bundeswehr bestehe darin, den demokratischen Rechtsstaat gegen Angriff zu verteidigen und den Frieden zu sichern. Die Bundeswehr sei eine Friedensarmee. Die Aufforderung, wir müssten „kriegstüchtig“ werden, schließt an dunkle Traditionen an, ist zutiefst undemokratisch und furchteinflößend. Der Rede von der Friedensarmee haben wir Linken zu Recht stets misstraut. Der Krieg wurzelt in der Grundstruktur einer Gesellschaft, die auf Privateigentum und dem Kampf aller gegen alle basiert. Die in der Grundstruktur der kapitalistischen Gesellschaft verankerten Tendenzen zu Aggression, Feindseligkeit und zwischenmenschlicher Gleichgültigkeit ist organisierte Friedlosigkeit. Die Individuen werden genötigt, ihre psychischen und kognitiven Energien im Kampf um ihre Existenz, ihren Status und ihre privaten Standortvorteile zu verausgaben und in einem Universum permanenter Verteidigung und Aggression zu leben. Wahrer Frieden weist über den gegenwärtigen Zustand hinaus auf eine Gesellschaft jenseits von Ware und Geld. Wahre Demokratie dürfte vor der Eigentumsfrage nicht halt machen und hätte die Produktion in eine genossenschaftlich-gesellschaftliche zu überführen. Erst dann wäre Demokratie vollendet – und nicht halbiert, das heißt auf die politische Sphäre beschränkt. In marxistischen Termini formuliert: Demokratie ist in der westlichen Welt etwas für den politischen Überbau, die ökonomische Basis unterliegt ganz anderen Gesetzmäßigkeiten. Sprecher der westdeutschen Industrie hatten in der Anfangszeit der Bundesrepublik immer wieder darauf bestanden, es gebe gesellschaftliche Bereiche, die ließen „sich nun mal nicht demokratisieren“ (Götz Briefs). Anders gesagt: An den Werks- und Kasernentoren ist Schluss mit Demokratie. In Schönwetterperioden findet sich der Kapitalismus mit der Demokratie ab oder freundet sich gar mit ihr an, weil er entdeckt, dass sie eigentlich die der Geldmacherei günstigste Regierungsform ist. Gegenwärtig bereiten sich die kapitalistischen Gesellschaften weltweit auf die Auseinandersetzungen der Zukunft vor, das heißt: sie rüsten auf. Olaf Scholz mit seiner Rede von der „Bazooka“ und dem „Doppelwumms“ und Boris Pistorius mit seiner Forderung, Deutschland müsse „kriegstüchtig“ werden, liefern die semantische Begleitmusik zur Kriegsvorbereitung. Heribert Prantl hat in einem Kommentar angemerkt, Pistorius solle nicht für Kriegstüchtigkeit werben, sondern „für Friedenstüchtigkeit“. Die dazu passende Musik weht, während ich schreibe, von der Küche zu mir herüber: ein wunderbares Klavierkonzert von Beethoven.

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„ … – als würde nur die Tür bleiben müssen, woran der Spuk Hitlers jederzeit klopfen könnte.“

(Deborah Feldman)

In der Süddeutschen Zeitung vom 11./12. November 2023 findet sich ein Essay von Durs Grünbein zur Reaktion Deutschlands und der Deutschen auf das Massaker der Hamas und den auch in diesem Land vermehrt aufflackernden Judenhass. Und über Kälte und Indifferenz, von denen die Reaktion der deutschen Öffentlichkeit und auch der Intellektuellen gekennzeichnet ist. Zur Solidaritätsveranstaltung mit dem angegriffenen Israel am Brandenburger Tor kamen gerade mal 10.000 Leute, zum Karnevalsauftakt am 11.11. waren es in Köln und andernorts deutlich mehr. Dass sich die Fratze des Antisemitismus in Deutschland noch einmal so unverstellt zeigen würde, hat auch Grünbein überrascht. „Wie so oft sind die Juden wieder allein mit ihrem Leid. Ungeheuerlich ist die Kälte, die ihnen entgegenschlägt. Auch sie schon von Kafka beschrieben: ‚der Himmel ein silberner Schild gegen den, der von ihm Hilfe will.‘ Was vor vier Wochen an einem strahlenden Oktobertag in Israel geschah, geht mich persönlich an. Es ist der allgemeine Mangel an Empathie für die jüdische Sache, die mir zu schaffen macht. Ich kann mich der Stimme nicht enthalten. Die deutsche Geschichte gebietet mir, zu entscheiden, an wessen Seite ich stehe, bis dieser Konflikt ein Ende hat.“

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„Vor Antisemitismus aber ist man nur noch auf dem Monde sicher.“

(Hannah Arendt)

Heute habe ich die jüdische Abteilung des Alten Friedhofs besucht. „Hier ruht Moses Stein‘s Ehefrau“, stand auf einem Grabstein, dessen Inschrift noch nicht vollkommen verwittert ist. Auf manchen sind nur hebräische Schriftzeichen zu erkennen. Der jüdische Teil des Alten Friedhofs besteht aus zwei Abteilungen – einer größeren liberalen und einer kleineren orthodoxen Abteilung. Ich glaube, ich war im liberalen Teil. Man hat das Gefühl, die Juden drängen sich aus Gründen des Schutzes sogar auf dem Friedhof noch eng zusammen. Die Abstände zwischen den Grabsteinen sind hier jedenfalls deutlich geringer als auf dem Rest des Friedhofs.

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Der Hinweis des israelischen Militärs, im Keller einer Kinderklinik im Gazastreifen hätten Soldaten zahlreiche Waffen palästinensischer Extremisten gefunden, rechtfertigt die Bombardierung der Klinik nicht. Kinder, kranke Menschen und Zivilisten sind keine Späne, die beim Hobeln nun einmal fallen. Was immer irgendwo geschehen sein mag, die Bewohner der betreffenden Region sind und bleiben Menschen, deren Leben geschützt werden muss. Kein Leben ist weniger wert als ein anderes. Das Massaker an israelischen Zivilisten und die Zerstörung Israels „als Staat gewordener Überlebensstrategie“ (Durs Grünbein) ist tragisch und für viele traumatisierend, sie rechtfertigt auch eine massive Gegenwehr, diese darf aber nicht maßlos sein und das Leben vieler Unbeteiligter in Mitleidenschaft ziehen. Sonst gebiert sie nur immer erneutes Leid und Terror. Was man Terrorismus nennt, ist zunächst einmal eine bestimmte Art der Verzweiflung. Wem es darum zu tun ist, den Nährboden des Terrors auszutrocknen, sollte den Gründen für die Verzweiflung auf den Grund gehen und diese, soweit möglich, aus der Welt schaffen. Die Israelis sind gerade dabei, eine ganze Weltregion gegen sich aufzubringen und dem Terrorismus neue Bataillone wütender junger Männer zuzuführen. Aus der Spirale von Hass und Gewalt führt dieses Vorgehen jedenfalls nicht heraus. Aufmerksame Leserinnen und Leser meiner Texte zum Thema Israel und Hamas werden bemerken, dass ich in der Bewertung dessen, was im Nahen Osten geschieht, unsicher bin und schwanke. Das liegt in der Natur der Sache und ist einstweilen nicht zu ändern. Man kann nur gewaltförmig Klarheit und Eindeutigkeit herstellen. An meiner grundlegenden Sympathie für Israel und seine Bewohner ändert das nichts. Diese Sympathie hat geschichtliche und autobiographische Gründe, von denen ich in letzter Zeit berichtet habe.

Nachmittags traf ich mich mit einem alten Freund und Genossen. Die Berührungspunkte werden immer spärlicher, der Gedankenaustausch trocknet aus. Es war schwer, uns einen Trost und Hoffnungsschimmer zu erfinden. Auch der fundamentale Zweifel verbindet uns, und die Einsicht, dass die Verbannung des Zweifels eine Wurzel des Fanatismus ist.

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Seit mittlerweile fünf Jahrzehnten lässt die Evangelische Kirche in Deutschland die Einstellungen in der Bevölkerung zu Religion und Kirche untersuchen. Das Ergebnis: Religiosität und das Vertrauen in die Kirche nehmen weiter ab. Das Meinungsforschungsinstitut Forsa fragte aktuell 5.282 Personen aus allen Bevölkerungsschichten und Glaubensrichtungen. Nur noch jeder Fünfte ist religiös, 56 Prozent der Befragten bezeichneten sich als nicht religiös. Selbst unter den Kirchenmitgliedern gab ein Drittel an, nicht religiös zu sein. Diese Zahlen wären nicht weiter schlimm, wenn etwas Vernünftiges an die Stelle der traditionellen Gläubigkeit träte. Umberto Eco hat darauf hingewiesen, dass die irreligösen Menschen ja nicht etwa an nichts glauben, sondern tendenziell an alles. Alle möglichen Formen von Aberglaube blühen auf den Ruinen der Kirchen, kein Verschwörungsmythos, mag er noch so abstrus sein, der nicht fanatische Anhänger fände. Jeder Aberwitz wird gegen den benachbarten Aberwitz wütend verteidigt, Ketzer der jeweiligen Zivilreligion werden verfolgt und in den sogenannten sozialen Medien auf den Scheiterhaufen geworfen. Der Nährboden dieser Formen von Gläubigkeit sind die „metaphysische Obdachlosigkeit“, von der bei Georg Lukács dir Rede ist, und die in den zeitgenössischen Gesellschaften des entfesselten Marktes grassierende Einsamkeit. Laut FAZ vom 12. November 2023 gibt mittlerweile ein Viertel der Menschen in Deutschland an, „sehr einsam“ zu sein und „Menschen um sich herum“ zu vermissen. Diese Formen alltäglichen Leids vergessen wir über all dem großen Elend, das unsere Aufmerksamkeit bildmächtig beansprucht. Im dritten Band meiner „Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus“ ist ab Seite 414 ein längerer Essay zum Thema Einsamkeit enthalten, in dem ich auch deren soziostrukturellen Ursachen herauszuarbeiten versuche. Nicht nur miteinander haben immer mehr Menschen nichts mehr zu tun, auch mit dem Ganzen der Gesellschaft sind sie nicht mehr wirklich verbunden. Das, was Oskar Negt „mittlere Gefäße“ genannt hat, in denen Distanz und Nähe ausbalanciert und das Individuell-Besondere mit dem Gesellschaftlich-Allgemeinen spür- und fühlbar vermittelt ist, erodiert. Menschliche Bindungen untereinander und ans Gemeinwesen werden brüchig und sterben ab. Dann ist Gesellschaften letztlich nicht mehr zu helfen, sie gehen in Zerfall und Agonie über und sterben über kurz oder lang. Was ich tagtäglich um mich herum beobachte, stützt diese These. Der soziale Kitt war entweder nie vorhanden oder er bröckelt. Und es ist kein Glaser in Sicht, der die Schäden reparieren könnte.

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Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Umgehung der Schuldenbremse durch die Ampel-Koalition bringt diese schwer in die Bredouille. Der von ihr geplante klimagerechte Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft, zu dem sie nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts verpflichtet ist und der unter anderem mit den per Nachtragshaushalt umgewidmeten Corona-Milliarden finanziert werden sollte, ist gefährdet, die Klimaziele sind ohne dieses Geld schwerlich erreichbar. Das Gericht hat die Tricksereien zur Umgehung der Schuldenbremse nicht durchgehen lassen, sondern deren Gültigkeit noch einmal betont. Der Stern der sogenannten Fortschrittskoalition war spätestens seit dem missglückten Gebäudeenergiegesetz im Sinken begriffen, nun geht sie in den freien Fall über. Den Mut und die Kraft, gegen den Fetisch der „schwarzen Null“ und der Schuldenbremse anzugehen, wird sie nicht aufbringen. Man hat sie vor beinahe fünfzehn Jahren ins Grundgesetz aufgenommen und könnte sie mit einer Zweidrittelmehrheit auch wieder daraus entfernen. Dazu befindet sich die Ampel-Regierung zu sehr in der Defensive und ist ja zu großen Teil selbst vom Neoliberalismus durchdrungen. Das wäre mit der unsäglichen FDP auf keinen Fall zu machen. Und mit der CDU, deren Stimmen man für eine Grundgesetzänderung benötigte, schon gar nicht. Diese hatte die Klage gegen den Nachtragshaushalt in Karlsruhe eingereicht und triumphiert nun. Sie sieht sich als Regierungspartei im Wartestand. Bei Umfragen bringt sie es aktuell in der Tat allein annähernd auf soviel Stimmen wie die drei Ampel-Parteien zusammen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Olaf Scholz sich von den Grünen trennt und die CDU zu Hilfe ruft. Mit der AfD gemeinsam brächte es die CDU auf eine satte rechte Mehrheit, aber da ziert man sich einstweilen noch.

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Gestern ging ich seit Langem mal wieder an der Lahn entlang. Der stets freundliche Apfelmann war in seinem Garten und rechte Laub zusammen. Ich bin immer wieder erstaunt, was er in seinem Alter alles noch hinbekommt. Als ich an seinem Garten vorbeiging, hatte er sich gerade zum Verschnaufen auf einen Stuhl sinken lassen. Er erzählte mir mit sichtlichem Vergnügen einen lehrer- und beamtenfeindlichen Witz. Der ging so: Zwei Kannibalen treffen sich. Sagt der eine zum anderen: „Ich hab meine Ernährung umgestellt. Ich bevorzuge jetzt Lehrer. Die haben wenig Rückgrat und viel Sitzfleisch.“ Ich versprach, diesen Witz an U weiterzureichen, die ja täglich mit Lehrerinnen zu tun hat, und ging dann weiter. Ich zuzelte ein paar Hagebutten, deren Mark ausgesprochen süß und lecker war. Die Lahn führte ein leichtes Hochwasser und floss etwas schneller als gewöhnlich dahin. Aus dem Schornstein eines Hüttchens kräuselte sich Rauch, der angenehm nach Holzfeuer roch. Ich war eigentlich zur Lahn gegangen, um nach den Eisvögeln zu schauen. Ich hörte einen, bekam aber leider keinen zu Gesicht. Dennoch genoss ich meinen Ausflug an den Fluss. Als ich mich der Stadt zuwandte, spannte sich über den Fluss ein wundervoller Regenbogen.

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In Deutschlandfunk Kultur, den ich vormittags oft höre, läuft ein Gespräch mit der Schriftstellerin Inger-Maria Mahlke über ihren Lübeck-Roman „Unsereins“. Als ich in die Küche komme, sagt sie gerade: „Wir sind heute ja alle total empowert.“ Da wusste ich, dass ich ihr Buch nicht lesen würde. Gegen solche ehemals kritischen, aber unterdessen in die Sprache des Managements und der Herrschaft eingewanderten Begriffe, bin ich allergisch. Ich lasse die Zunge davon. In der Süddeutschen Zeitung lese ich am selben Morgen, dass die Führungsriege der in letzter Zeit arg gebeutelten Linkspartei den Mitgliedern zur Beginn des am Wochenende in Augsburg stattfindenden Parteitags ein neues Logo präsentieren wird. Man hofft, damit das Zeichen für einen Neubeginn zu setzen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass der kleine Keil über dem „I“, der bislang rot war und nach links wies, nun weiß ist und nach rechts oben zeigt. Wenn das die einzige Neuerung bleibt, wird es weiter nach links unten, in Richtung Abgrund gehen. Auch die Schubkraft der Rackete Carola wird diesen Niedergang nicht aufhalten können.

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Bei Georg Stefan Troller habe ich gerade gelesen, dass über dem Eingang zum Filminstitut der Universität von Südkalifornien die Inschrift steht: „Die Realität endet hier.“

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„Der Tod wird erst wirklich, wenn er allmählich durch die Ritzen des Alters in den Menschen eindringt“

(Milan Kundera)

Milan Kunderas Roman „Das Leben ist anderswo“ bringt meine Hirnantilope mächtig auf Trab. Die Identitätsnöte und sexuellen Obsessionen des pubertierenden Jaromil katapultieren mich fortwährend in meine eigene Geschichte. Wie er zum Beispiel tagelang um das Haus eines Mädchens schlich, in das er verliebt war, erinnerte mich an eigene Verliebtheitsqualen und stundenlange Belagerungen. Zum ersten Mal habe ich dieses Buch, das im Titel Bezug nimmt auf einen berühmten Satz von Rimbaud, gelesen, als Kunderas Nichte Helena auf ihrer Flucht aus der CSSR hier auftauchte und uns von ihrem Onkel Milan erzählte. Inzwischen ist im Hanser-Verlag eine neue Übersetzung von Susanna Roth erschienen, die ich zum Anlass genommen habe, nach Kunderas Tod diesen Roman – vierzig Jahre später – noch einmal zu lesen. Jaromil versucht, sein Gesicht, das ihm unbestimmt und konturlos vorkommt, ausdrucksvoller zu machen. Auch das kommt mir bekannt vor. Er möchte verwegen und kaltblütig aussehen und übt vor dem Spiegel gewisse Mienen von Männern ein, die er bewundert. „Er versucht, sein einstudiertes hartes Lächeln aufzusetzen, spürt jedoch, dass es ihm nicht gelingt“ Vage ahnt er, dass die Unbestimmtheit seines Gesichts von dem Umstand bedingt ist, dass sein Leben arm an Ereignissen ist. Es ist ja das gelebte oder ungelebte Leben, das einem Gesicht markante Züge verleiht oder es verwaschen und ausdruckslos erscheinen lässt. Ich denke, dieser Umstand veranlasste Sartre dazu zu sagen, dass jeder ab einem gewissen Alter für sein Gesicht verantwortlich ist.

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Wie können die Argentinier und Argentinierinnen in ihrer Mehrheit bloß einen Rechtsradikalen und Populisten wie Javier Milei wählen? Und vor allem junge Leute sollen ihm ihre Stimmen gegeben haben. Sein Programm: Vollständige Schleifung des Sozialstaats, Schließung der Zentralbank, Einführung des Dollars als Landeswährung, Auflösung der meisten Ministerien, Einsatz des Militärs bei sozialen Konflikten im Inneren. Neoliberalismus in Reinkultur, Abschaffung des Staates. Kahlschlag bei allen öffentlichen Einrichtungen. Als Symbol für seine Verachtung staatlicher Institutionen und des „Establishments“ führt er bei seinen öffentlichen Auftritten eine Motorsäge mit sich: „Alles weg- und zurückschneiden“, soll das zum Ausdruck bringen. Er bezeichnet sich selbst als „Anarcho-Kapitalist“, was mich an einen ironischen Text von Fernando Pessoa erinnert. Der portugiesische Schriftsteller Fernando Pessoa hat in seiner 1922 entstandenen Erzählung Ein anarchistischer Bankier das Portrait eines erfolgreichen Geschäftsmannes und Bankiers gezeichnet. Am Ende eines gemeinsamen Abendessens fragt ihn sein Gast, ob es stimme, dass er früher Anarchist gewesen sei. Er antwortet: „Ich bin es nicht nur gewesen, ich bin es noch immer. In dieser Hinsicht habe ich mich nicht geändert. Ich bin Anarchist.“ Den Rest der Kurzgeschichte solltet ihr lesen. Wir erleben den Bankier als Staats- und Gesellschaftszerstörer, demgegenüber die anarchistischen Bombenleger als kleine Fische und harmlose Stümper erscheinen. Mit Pessoa und Brecht könnte man fragen: Was sind Flugblätter gegen Derivate, was ist eine Bombe gegen einen Hedgefonds, was sind die Selbstmord-Attentäter von alQaida gegen die finanziellen Massenvernichtungswaffen von Goldman Sachs?

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