„… das war zu einer Zeit, als die Menschen noch Dinge machten und Maschinen benutzten statt umgekehrt …“
(Richard Ford)
Heute Abend tritt der Philosoph Richard David Precht zusammen mit der Schlagersängerin Helene Fischer in der Unterhaltungssendung „Klein gegen Groß“ auf. Ist es ein gutes Zeichen, wenn so etwas passiert? Oder ist es lediglich ein Symptom der allgemeinen Assimilation? Alles wird integriert und von der gefräßigen Konsumgesellschaft und ihrer Kulturindustrie vereinnahmt. Ein relativ weiter Weg führte von einer kommunistischen Kindheit und Jugend in Lüdenscheid zu einem Auftritt zur besten Sendezeit in einer Unterhaltungs-Show im Ersten Deutschen Fernsehen. Eine Etappe auf diesem Weg waren die zahlreichen Auftritte in Talk-Shows wie „Lanz“, in der Precht ein gern gesehener und gehörter Gast ist. Oder hatte die Philosophie des Richard David Precht schon immer etwas von jener „realitätsgerechten Empörung“, von der Horkheimer und Adorno in der „Dialektik der Aufklärung“ sprechen: „Realitätsgerechte Empörung wird zur Warenmarke dessen, der dem Betrieb eine neue Idee zuzuführen hat. Die Öffentlichkeit der gegenwärtigen Gesellschaft lässt es zu keiner vernehmbare Anklage kommen, an deren Ton die Hellhörigen nicht schon die Prominenz witterten, in deren Zeichen der Empörte sich mit ihnen aussöhnt.“ Vielleicht hat mein Befremden auch etwas vom Verhalten des Fuchses, der die Trauben, die ihm zu hoch hängen, für sauer erklärt. Mich lädt halt niemand ins Fernsehen ein und meine Bücher landen nicht auf der Spiegel-Bestsellerliste.
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Auch die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“, die zwar noch so heißt, aber seit einiger Zeit keine Sonntagszeitung mehr ist, scheint sparen zu müssen. War man bei der FAZ früher einmal stolz auf nahezu druckfehlerfreie Ausgaben, so stößt man in der aktuellen Ausgabe in der Anmoderation eines Gesprächs mit Didier Eribon auf folgenden Satz: In seinem Buch „Rückkehr nach Reims“ beschreibt Eribon „seinen Bildungsaufstieg vom Arbeiterkind in der Provinz zum geeierten Pariser Soziologen.“ Da steht tatsächlich „geeierten“, das habe ich mir nicht ausgedacht. So etwas kann man sich nicht ausdenken. Man muss kein überspannter Freudianer sein, um auf den Gedanken zu kommen, dass hier der Meister mit an der Tastatur saß. Einen bekennenden Schwulen zu „eiern“, das lässt tief ins Unbewusste der Redakteurin blicken. Oder interpretiere ich hier zu viel in einen hundsgewöhnlichen Druckfehler hinein? Dass mir dieser Druckfehler als besonderer auffiel, spricht für die Richtigkeit meiner Annahme. An der Psychoanalyse sei nichts wahr als ihr Übertreibungen, hat Adorno in der „Mimima Moralia“ behauptet, und so möchte ich diese Übertreibung verstanden wissen. Im Sinne des Prinzips der freien Assoziation habe ich wiedergegeben, was mir spontan durch den Kopf ging und in den Sinn kam.
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„Wir sahen, dass entgegen eine verbreiteten Meinung nicht der jüdische Charakter den Antisemitismus provoziert, sondern im Gegenteil der Antisemit den Juden schafft.“
(Jean-Paul Sartre: Überlegungen zur Judenfrage)
Chronik der Gewalt: Am Sonntag, dem 14.12.2025, haben zwei Männer – es sollen Vater und Sohn gewesen sein – auf Teilnehmer einer Chanukka-Feier, dem jüdischen Lichterfest, am Bondi Beach in Sydney geschossen: Es gab 15 Tote und zahlreiche Verletzte. Auch der 50-jährige Vater wurde von Einsatzkräften am Tatort erschossen, der 24-jährige Sohn wurde wenig später gefasst und mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert. Nach Auffassung der Behörden war das Massaker ein antisemitischer Anschlag. Das Motiv: islamistischer Hass auf Juden. Mein Archiv des Schreckens verzeichnet für Australien nur eine Tat mit hoher Opferzahl: 1996 erschoss Martin Bryant in Port Arthur 35 Menschen. Diese Tat wurde als Amoklauf eingestuft, weil die Opfer zufällig gewählt wurden. Das Massaker von Port Arthur steht am Anfang von Ines Geipels Buch „Der Amok Komplex“, das 2012 bei Klett-Cotta erschienen ist. Auch in Australien wurde, wie überall auf der Welt, nach dem 7. Oktober 2023 eine Zunahme antisemitischer Straftaten verzeichnet.
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„Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“
(Bertolt Brecht: Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui)
Der Wahlsieg des ultrarechten José Antonio Kast in Chile zeigt noch einmal, dass man mit Parolen gegen Migration und Kriminalität und vor allem der Verknüpfung beider Phänomene, heutzutage überall auf der Welt Wahlen gewinnen kann. Von der Trump-Regierung trafen umgehend Glückwünsche und Lob ein. Nun könne man die Handelsbeziehungen ausbauen und vertrauensvoll zusammenarbeiten. Kast ist Sohn eines NSDAP-Mitglieds, neunfacher Vater und strenggläubiger Katholik.
Wo sind die Ereignisse, auf die unsereiner setzen kann und die Hoffnung machen? Vor ein paar Tagen ging ich mit einer alten Freundin, die ich zufällig in einem Drogeriemarkt getroffen hatte, einige Runden durch den Park. Schnell kam die Sprache auf unsere Lage, die wir ähnlich als trost- und hoffnungslos wahrnehmen. Als wir an dem seit einiger Zeit leer stehenden ehemaligen Blumengeschäft vorübergingen, entwickelten wir Ideen, was man mit diesem Gebäude, das sich im Besitz der Stadt befindet, anfangen könnte. Unsere Idee: Ein Kulturcafé einrichten, in dem auch Veranstaltungen wie Lesungen, kleine Konzerte und ähnliches stattfinden könnten. Ein neuer Büchner-Club, nur ohne Altstalinisten und Putin-Schönredner. Es wäre ein gutes und hoffnungsvolles Zeichen für die Stadt, wenn der Zerfall dieses schönen Gebäudes aufgehalten und seine Wiederbelebung gelingen könnte. Man müsste mal mit dem OB und dem Leiter des Kulturamtes darüber sprechen. Wir trennten uns mit einem Funken Hoffnung, dass mal wieder etwas gelingen könnte. Es wäre ein kleiner Schritt zur Rückeroberung von „kultureller Hegemonie“, um es mit einem Terminus von Antonio Gramsci auszudrücken. Wir dürfen dieses Feld nicht den Rechten überlassen, die sich seit einiger Zeit als gelehrige Gramsci-Schüler präsentieren und sich auf einem Gelände breitmachen, das einst unsere Domäne gewesen ist. Sie besetzen Begriffe, prägen Diskurse und bestimmen, worüber in welchen Termini gesprochen wird. Wir beiden spürten auf unseren Rundgängen durch den Park, dass unter der fast schon erkalteten Asche unseres Engagements noch ein Funken Hoffnung glomm, aus dem sich schnell ein zartes Flämmchen entfachen ließ. Schon ging es uns ein klein wenig besser.
Schon am nächsten Tag wurde das zarte Flämmchen wieder erstickt. Die Räumlichkeiten sind für die nächsten Jahre bereits anderweitig vergeben. Irgendwelche Künstler haben die Nutzungsrechte ergattert und können dort ihre Werke ausstellen. „Ökologie der Geister“ nennt sich das Projekt in Anlehnung an den Titel eines Buches von Gregory Bateson, der den Begriff „double bind“ in den therapeutischen Diskurs und die Geisteswissenschaften eingeführt hat. So geht es mit den Hoffnungen: Kaum entstanden, werden sie auch schon wieder zuschanden.
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„Er war ein Mann, der keine Veränderungen mochte, er mochte keine neuen Dinge, er wusste nicht, was er mit neuen Dingen anfangen sollte, ihm gefiel, was üblich war und sich wiederholte, er mochte Kleinbuchstaben und den Alltag.“
(Frode Grytten: Der letzte Tag des Fährmanns)
Ich möchte von meiner jüngsten Leseerfahrung berichten. Ich las den Roman des Norwegers Frode Grytten: Der letzte Tag des Fährmanns. Nils Vik hat sein Leben lang Menschen mit seinem Boot über den Fjord befördert. Nun ist eine Brücke gebaut worden und seine Dienste werden nicht mehr benötigt. Seine Frau Marta ist an einem Schlaganfall gestorben, sein Bruder Ivar hat sich das Leben genommen. Und nun werden auch noch das Boot und sein Steuermann nicht mehr gebraucht. Nils liegt wie ein Fisch auf dem Sand. Auf seiner letzten Fahrt über den Fjord lässt er die Stationen seines Lebens und seine wichtigsten Passagiere noch einmal Revue passieren. Dann treibt Nils aufs Meer hinaus und verschwindet. Ein melancholisches Buch, das in einer klaren, eindringlichen Sprache vom Verschwinden erzählt, von dem wir alle betroffen sind. Ich auf jeden Fall. „Der letzte Tag des Fährmanns“ ist auch eine Allegorie auf unsere Selbstabschaffung: künstliche Intelligenz, Roboter und Algorithmen rauben den Menschen die Arbeit, machen sie tendenziell überflüssig. Nils ist in gewisser Weise einer der letzten Menschen, ein Überbleibsel einer vergangenen Zeit. Auch ein Mensch mit aussterbenden Eigenschaften wie Solidarität und Mitgefühl. Im Prozess der Anpassung an die Verhältnisse unter den Bedingungen des losgelassenen Marktes büßen die Menschen all jene Eigenschaften ein, die wir bisher für die eigentlich menschlichen gehalten haben, und entwickeln teibhausmäßig jene, die ihnen das Fortkommen unter den herrschenden Bedingungen erleichtern: Härte, Indifferenz und Kälte. Alles, was ihnen die Anpassung an die gesellschaftliche Riesenmaschine schwermachen könnte, wird wie Ballast über Bord geworfen. Das alles transportiert das Boot des Nils Vik, ohne dass es explizit thematisiert würde. Auch das ist eine Stärke des Romans.
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„Unserem Glück auszuweichen haben wir alles unternommen.“
(Vlado Kristl)
Kürzlich (DHP 127: Neoliberale Brutalisierungsmaschinen) habe ich mich bereits einmal zum Bedeutungswandel des Begriffs „Reform“ geäußert. Ein Beispiel für diese Wandlung zu einem Abbruchunternehmen ist die gestern vom Bundeskabinett beschlossene Ablösung des Bürgergelds durch eine Grundsicherung. Auf die rund 5,5 Millionen Menschen, die Bürgergeld beziehen, kommen damit deutlich verschärfte Regeln zu. Das soll der Bundesregierung die Sympathien des „kleinen Mannes“ und der „kleinen Frau“ einbringen und diese der AfD abspenstig machen. Der „kleine Mann“ (sensu Wilhelm Reich) ist immer dann begeistert, wenn es den Ärmsten der Armen an den Kragen geht. „No Pity for the Poor“ hat die Kritische Theorie diesen Mechanismus genannt und als einen Wesenszug des „autoritären Charakters“ ausgemacht, der sich gegenüber den Armen und Erfolglosen als außerordentlich verhärtet erweist.
„Früh in der Kindheit“, berichtet Theodor W. Adorno in seinem Buch „Minima Moralia“, „sah ich die ersten Schneeschaufler in dünnen schäbigen Kleidern. Auf meine Frage wurde mir geantwortet, das seien Männer ohne Arbeit, denen man diese Beschäftigung gäbe, damit sie sich ihr Brot verdienten. Recht geschieht ihnen, dass sie Schnee schaufeln müssen, rief ich wütend aus, um sogleich fassungslos zu weinen.“ Der kleine Theodor reagiert zunächst ganz im Sinne der Erwachsenenwelt, deren Urteile und Vorurteile er sich zu eigen gemacht hat. Die Schneeschaufler trifft seine mitleidlose Wut. Dann aber kriegt er die Kurve und er beginnt zu weinen – aus Scham wegen seiner Anpassung und aus Mitleid mit den frierenden Menschen. Der kleine Junge schlägt sich auf die Seite der gequälten Männer, in deren Leiden er sich wiedererkennt.
Reif und erwachsen werden bedeutet für die meisten Kinder und Jugendlichen, sich die beschädigte Existenz des durchschnittlichen Erwachsenen zu eigen zu machen. Unter dem Druck elterlicher Strafandrohungen und Strafen identifiziert sich das Kind mit den Normen und Werten der Erwachsenen. Ein Kind kann ohne das Wohlwollen und die Zuwendung der Erwachsenen nicht existieren, zu groß ist seine Angst vor Liebesverlust und Verlassenheit. Arno Gruen beschreibt diesen Vorgang in seinem Buch „Wider den Gehorsam“ so: „Wenn ein Kind von demjenigen, der es schützen sollte, körperlich und/oder seelisch überwältigt wird und das Kind zu niemandem fliehen kann, wird es von Angst überwältigt. Eine Todesangst sucht das Kind heim. Es kann nicht damit leben, dass die Eltern sich von ihm zurückziehen. Ohne Echo für seine ihm eigene Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit kann ein Kind nicht überleben. Es übernimmt, um seine Verbindung aufrechtzuerhalten, die Erwartungen der Eltern. Auf diese Weise wird das seelische Sein eines Kindes in seiner autonomen Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit geradezu ausgelöscht.“ Das Kind unterwirft sich den elterlichen Erwartungen und wird – brav. Es lässt die Erwachsenen in sich wachsen, statt seines eigenen Selbst. Es kann nun ein Leben lang nicht aufhören, die Gefühle seiner Eltern anstelle seiner eigenen zu haben. Sein Körper wird ihm zum Fremd-Körper, die eigenen Impulse werden ihm fremd, bis es sie schließlich als bedrohlich erlebt und abwehrt. Es entwickelt notgedrungen das, was der englische Psychoanalytiker D. W. Winnicott und nach ihm Alice Miller als „falsches Selbst“ bezeichnet haben. Zu viele Bestandteile des Ich erweisen sich als Nicht-Ich, als fremd-entfremdende Introjekte, so dass der auf diese Weise herangewachsene Mensch zu keinem gelassenen Umgang mit dem Anderen finden kann und sich die Einfühlung in fremdes Elend versagt. Er verschließt sein Herz gegen Mitleid und andere weiche Regungen und macht sich zum Anwalt seiner Zerstörung. Der Konformismus, der sich auf der Basis einer „Identifikation mit dem Aggressor“ entwickelt, ist mit Feindseligkeit und Bösartigkeit kontaminiert. Wo Ich-Einschränkung und Wunschvernichtung in früher Kindheit, in Schule und Beruf Verletzungen zufügten und Narben hinterließen, entwickelt sich panikartige Angst vor dem Anspruch auf Glück, auf Formen von Unabhängigkeit, den man in sich selbst unter Schmerzen begraben musste. Alles, was in der Außenwelt und bei anderen an aufgegebene eigene Glücksansprüche und Hoffnungen erinnert, wird abgelehnt, im Extremfall gehasst und verfolgt. Für einen Moment ist es in der Schwebe, auf welche Seite sich ein Mensch in seiner Entwicklung schlägt. Der privilegiert aufwachsende Adorno entscheidet sich schließlich für die eigenen Glücksansprüche und das Lebendige, die meisten anderen wählen unter äußerem Druck den Weg der Anpassung und der Assimilation ans Tote. “Der Weg des Faschismus ist der Weg des Maschinellen, Toten, Erstarrten, Hoffnungslosen. Der Weg des Lebendigen ist grundsätzlich anders, schwieriger, gefährlicher, ehrlicher und hoffnungsvoller”, schrieb Wilhelm Reich in seiner „Massenpsychologie des Faschismus“. All diese Mechanismen sind bis heute in der Weise wirksam, wie sie von Wilhelm Reich und der frühen Kritischen Theorie beschrieben worden sind. Jeder Mensch muss sich auch heute entscheiden, ob er sich auf die Seite des Lebendigen oder des Toten schlägt.
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„Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt.“
(Titel eines Films von Rosa von Praunheim)
Der Filmemacher Rosa von Praunheim ist tot. Er starb im Alter von 83 Jahren. Von Praunheim war eine prägende Figur der Schwulenbewegung in Deutschland. Im Laufe seiner Karriere drehte der Regisseur rund 150 Filme, darunter „Die Bettwurst“ und „Rex Gildo – Der letzte Tanz“. Von Praunheim malte auch und schrieb Theaterstücke und Bücher. Wie er erst im fortgeschrittenen Alter erfuhr, kam er im Zentralgefängnis von Riga zur Welt und verbrachte das erste Jahr in einem Waisenhaus. Im Dokumentarfilm „Meine Mütter – Spurensuche in Riga“ begab er sich 2007 auf die Suche nach seinen Wurzeln. Seine Adoptivfamilie floh in den Westen und siedelte sich in Frankfurt an, wo er an der Offenbacher Werkkunstschule Malerei studierte und bald zum experimentellen Film fand. Zuletzt lebte und arbeitete er in Berlin, wo er nun auch gestorben ist.
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„Zumindest muss man zu zweien sein, um Mensch zu sein.“
(Georg Friedrich Wilhelm Hegel)
Mein Wohnungsnachbar wird gerade wieder mal vom Rettungsdienst mit einem großen Aufgebot aufgesucht. Hoffentlich nehmen sie ihn mit, und er bleibt nun wenigstens über Weihnachten in der Obhut von Ärzten und Betreuern und wird mit dem Nötigsten versorgt. Er kann offenbar seinen Harnfluss nicht mehr regulieren, und es stinkt, sobald seine Wohnungstür geöffnet ist, im Treppenhaus penetrant nach Urin. Weil er die ganzen letzten Jahre ein an allem und allen desinteressierter Zeitgenosse gewesen ist, kann ich auch kein richtiges Mitleid empfinden. Ich versuche, dagegen anzukämpfen, aber es gelingt mir nicht wirklich. Es gibt offenbar einen verschwiegenen Code, der festlegt, mit wem wir mitfühlen und wem wir unser Mitgefühl verweigern. Mein Nachbar hat sämtliche Verbindungen zur Mitwelt abgebrochen, so dass nun keine oder kaum noch Brücken zu den anderen mehr existieren. Er lebte wie ein Grottenolm im Verborgenen, zeigte sich selten und öffnete, wenn man bei ihm klingelte, die Tür entweder gar nicht oder nur einen Spalt breit. Wenn er gelegentlich doch mal das Haus verließ, dann mit hochgezogener Kapuze und Sonnenbrille, also incognito. Manchmal bat mich der Briefträger, ihm etwas auszuhändigen, was gar nicht so einfach war. Am Beispiel meines Nachbarn kann man verfolgen, die der Sturz aus der Welt vonstattengehen kann. Als ich er hier einzog, war er ein relativ gefragter DJ. An den Wochenenden wurde er regelmäßig von irgendwelchen Veranstaltern abgeholt, verließ das Haus mit einem schweren Plattenkoffer, kehrte gegen Morgen stark alkoholisiert zurück und verschlief den Rest des Tages. Daneben zeichnete er an die Simpsons angelehnte Comics. Seine Freundin, mit der er zusammenwohnte, ertrug seine Existenzweise in stoischer Geduld. Sie war eine ein wenig schwermütige, sanfte junge Frau, die als Verkäuferin arbeitete. Weil sie nicht die flotteste war, verlor sie ihre Jobs in unerbittlicher Regelmäßigkeit. Im Laufe der Zeit entwickelte sie eine ausgeprägte Scheu vor der Welt und verließ immer seltener die Wohnung. Sie besorgte sich eine Katze, die ihr zum Lebensinhalt wurde. Auch sein Stern begann zu sinken. Seine Dienste als DJ wurden kaum noch nachgefragt, und auch für seine Zeichnungen fand er keine zahlenden Abnehmer. Das Arbeitsamt schickte ihn zu verschiedenen Adressen, aber nirgends hielt er es länger aus oder die jeweiligen Arbeitgeber ertrugen es nicht mit ihm. Er schloss sich einer harten Trinkerszene an, was seine Zuverlässigkeit weiter ruinierte. Immer öfter traf ich ihn, wenn ich morgens das Haus verließ, um zur Arbeit zu fahren, torkelnd im Treppenhaus. Gelegentlich hatte er sich im Hausflur erbrochen. Halb ausgetrunkene oder leere Bierflaschen säumten seinen Weg. Einmal sah ich ihn im Winter bei Minusgraden vorn im Park auf einer Bank liegen, hundertfünfzig Meter von seiner Wohnung entfernt, die er nicht mehr erreicht hatte. Ich sagte seiner Freundin Bescheid, die ihn dann nach Hause holte und vor dem Erfrieren bewahrte. Ich fragte mich oft, wie sie das mit ihm und seinem Suff ertrug. Menschen, die etwas nicht mehr aushalten, ertragen es oft noch lang, hat Alexander Kluge einmal irgendwo gesagt. Irgendwann war es dann aber selbst ihr mit ihrer schier unendlichen Leidensfähigkeit zu viel, sie zog aus und trennte sich von ihm. Als dann auch noch seine hochbetagte Mutter starb, verlor er vollends den Boden unter den Füßen. Seither, so ist zumindest meine Wahrnehmung, befindet er sich im freien Fall. Wer so, aus welchen Gründen auch immer, vom gesellschaftlichen Wesen ausgeschlossen wird oder sich selbst ausgeschlossen hat, kann leicht fallen – und wohin fällt einer dann? Diese Frage stellt sich früher oder später uns allen, und wir alle müssen ein Antwort darauf finden. Die Netze, von denen wir früher einmal gehofft haben, dass sie uns auffangen, sind zerrissen. Wir waren ja so kühn, nicht auf Verwandtschafts- und Familienverhältnisse zu setzen, sondern auf freiwillig eingegangene solidarische Bindungen und Verpflichtungen. Jetzt ist beides ruiniert und verschlissen, und auf uns warten Einsamkeit, Heime und Hospize.
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„Welches Kind hätte nicht Grund, über seine Eltern zu weinen?“
(Friedrich Nietzsche)
Als Nietzsche am 3. Januar 1889 seine Wohnung in Turin verließ, beobachtete er einen Kutscher, der sein Pferd brutal schlug. Unter Tränen, so wird berichtet, habe sich Nietzsche, der bis dahin im Mitleid eine Form der Dekadenz und Schwäche erblickt hatte, dem misshandelten Tier um den Hals geworfen und sei danach nicht mehr ansprechbar gewesen. Diese Szene gilt als Beginn seiner sogenannten Umnachtung. Nietzsche war zu diesem Zeitpunkt 45 Jahre alt. Sein Freund Overbeck brachte ihn in eine Nervenklinik in Basel. Mitte Januar wurde Nietzsche zu Otto Binswanger nach Jena überstellt. Im März des darauffolgenden Jahres entließ man ihn in die häusliche Pflege seiner Mutter. Man kann am Beispiel Nietzsches sehen, was geschehen kann, wenn ein Gedankengebäude, in dem sich ein Menschen eingerichtet und das ihm Halt gegeben hatte, durch ein unerwartetes Ereignis Risse bekommt und zusammenstürzt. Auch wenn es nicht immer so dramatisch zugeht wie im Fall von Nietzsche, ist es nie ganz einfach, das Geländer loszulassen, an dem entlang man sich durchs Leben gehangelt hat. Neue Sinnhorizonte und Gewohnheiten müssen sich erst neu ausbilden, damit die verstreuten Einzelheiten sich wieder einer ordnenden Logik fügen und sich ein Gefühl der Kohärenz einstellt.
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„Die Zeit läuft los, wenn man zur Welt kommt, allmählich wird man stärker, größer, schneller, artikulierter, dann beginnt der langsame Abstieg. Man wird schwächer, langsamer, anfälliger, hat weniger Lust, Dinge auszuprobieren. Das weiß er jetzt. Es beginnt langsam und endet langsam.“
(Frode Grytten: Der letzte Tag des Fährmanns)
Blaise Pascal vermutete Mitte des 17. Jahrhunderts, alles Unglück der Menschen rühre von einer einzigen Ursache her: nicht ruhig und unbeschäftigt in einem Zimmer sitzen zu können. Jean-Paul Sartre benannte Mitte des 20. Jahrhunderts eine weitere Quelle unseres Unglücks: Das Unbehagen beginne dann, wenn kaum oder schlecht geliebte Kinder, das heißt die Mehrzahl, verblüfft feststellten, dass sie ohne Grund und festen Verwendungszweck existieren. Marx machte als Ursprung unserer Entfremdung die Präponderanz des Tauschwerts über den Gebrauchswert aus, die das Besondere und Individuelle zum Verschwinden bringe. Alle drei hatten recht, und ihre verschiedenen Perspektiven ergänzen sich. Tolstoi ein wenig abwandelnd könnte man sagen: Jeder ist auf seine eigene Weise unglücklich. Aber in bestimmten Punkten ähnelt sich das Unglück dann doch und hat insofern etwas Allgemeines.
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„Doch die ursprüngliche Kraft des Mitfühlens verbrauchte sich immer mehr mit jeder Wiederholung.“
(Stefan Zweig: Die Kunst, ohne Sorgen zu leben)
Als ich gestern am späten Nachmittag aus der Stadt nach Hause zurückkehrte, sah ich an der Johanneskirche ein Meer aus Blaulicht. Rettungswagen, Polizei- und Feuerwehrfahrzeuge in großer Zahl waren im Einsatz. Irgendetwas hatte sich ereignet, aber selbst die Polizisten schienen ratlos zu sein und nicht zu wissen, was genau sich ereignet hatte. Ich hörte einen Polizisten in sein Handy sagen: „Wir gehen momentan von einem Worstcase-Szenario aus.“ In den letzten Tagen war noch einmal intensiv über die Amokfahrt des syrischen Arztes Taleb A. Berichtet worden, der am 20. Dezember 2024 mit seinem SUV über den Magdeburger Weihnachtsmarkt gerast war und dabei sechs Menschen getötet und mehr als 300 weitere verletzt hatte. Am Donnerstag war das Urteil gegen den Amokfahrer von Mannheim ergangen, der dort im März 2025 in der Fußgängerzone in die Menschenmenge gefahren war und zwei Menschen getötet und 14 weitere verletzt hatte. Wie auf einem mehrfach belichteten Foto schoben sich die Bilder dieser länger zurückliegenden Ereignisse über die aktuellen Bilder an der Johanneskirche und ergaben anfangs eine heillose Gemengelage. Solche Fernsehbilder betreiben, entgegen den Intentionen derer, die sie zusammenschneiden und senden, immer auch Werbung für diese Straftaten. Latent tatgestimmte Menschen lassen sich von ihnen anregen und und bekommen Skripte geliefert, wie man solche Taten begehen kann. George Devereux hat das in seinem Buch „Normal und anormal“ am Beispiel des Amoklaufs beschrieben. Wenn Abend für Abend über Amokfahrten auf Weihnachtsmärkten berichtet wird, darf man sich nicht wundern, wenn irgendein einsamer und verzweifelter Menschen sich von diesen Bildern zu einer eigenen Tat anregen lässt. Genau aus diesem Grund raten Kriminologen seit vielen Jahren zur Zurückhaltung bei der Berichterstattung über solche Schreckenstaten.
Im Laufe des Abends stellte sich heraus, dass ein 32-jähriger Mann aus Aserbaidschan mit seinem Automobil gegen die Fahrtrichtung über die Südanlage gefahren war, an einer Bushaltestelle mit einem dort abgestellten Fahrzeug kollidierte und in schlingernder Fahrt auch mehrere Fußgänger erfasst hat. Mindestens eine Frau soll dabei schwer verletzt worden sein. Er bog dann an der Johanneskirche in die Goethestraße und nach wenigen Metern in die Johannesstraße ein, konnte dort gestoppt und leicht verletzt festgenommen werden. Über seine Motive ist bislang nichts bekannt. Die Polizei hält politische Motive allerdings für unwahrscheinlich. Man hat ihn vorläufig in die Kategorie „psychisch gestörter Einzeltäter“ eingeordnet und in die Psychiatrie eingewiesen. Was mich erstaunte, war, dass während all dieser Turbulenzen und des unablässigen Sirenengeheuls hundert Meter weiter der Weihnachtsmarkt weiterlief. Von dort drang Musik bis zur Unfallstelle. Hier floss Blut, dort der Glühwein. Idyll und Grauen liegen oft dicht beieinander, bilden Vor- und Rückseite ein und derselben Realität. Ein paar hundert Kilometer ostwärts tobt seit Jahren ein mörderischer Krieg, mit dem wir uns ebenfalls abgefunden haben. Herbert Marcuse nannte das die „Normalisierung des Grauens“. Am Morgen nach dem Unfall wird die beschädigte Ampelanlage repariert. Die Normalität, aus der die Gewalt hervorgebrochen ist, wird wieder hergestellt. Bald werden alle Spuren getilgt sein und alles wird weitergehen wie bisher.
Später am Abend erreichte mich der Anruf eines Freundes, der weiß, dass ich die Unfallstelle täglich mehrfach passiere. Er erkundigte sich besorgt, ob ich in den Unfall hineingeraten sei. „Glück ist“, zitierte ich ihm die alten Griechen, „wenn der Pfeil den Nebenmann trifft.“
Jeden Abend fallen Krähenschwärme in die Stadt ein, große schwarze Vögel, die wie Boten der Apokalypse wirken. Ihr Krächzen erfüllt für eine Weile die Luft. Ich wüsste gern, über was sie sich unterhalten und was sie von uns Menschen halten. Wenn es dunkel wird, ziehen sie sich auf ihre Schlafbäume zurück.
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Wie in den letzten Jahren, besuchten wir auch dieses Jahr am Heiligen Abend den Alten Friedhof. Jugendliche aus Gießener Kirchengemeinden führten an verschiedenen Stationen die Weihnachtsgeschichte auf. U, die ja unter anderem Theaterpädagogin ist, wunderte sich, wie gelangweilt die Jugendlichen ihre Texte runterleierten und dass man die nicht sorgfältiger mit ihnen einstudiert hatte. In der Kapelle sang eine junge Frau sehr gekonnt weihnachtliche Lieder, wobei sie von einem Gitarristen begleitet wurde, der ebenfalls sein Instrument beherrschte. In der Kapelle war es angenehm warm, während draußen ein eisiger Wind über den Friedhof fegte. Das hielten wir nicht allzu lang aus und wandten uns zum Gehen. Als wir zu Hause angelangt waren, lag vor unserem Haus auf dem Gehsteig eine Spielkarte, mit der gemusterten Rückseite nach oben, so dass man den Wert der Karte nicht erkennen konnte. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, sie umzudrehen. Es war das Kreuz-Ass. Ich gebe zu, dass ich ein wenig enttäuscht gewesen wäre, wenn es die Karo-Neun oder die Herz-Sieben gewesen wäre. Ein Kreuz-Ass ist schon etwas Besonderes, und ich sehe darin ein gutes Omen, dass es doch noch Hoffnung auf Besserung gibt. Ein kleiner Rest Aberglauben hat die Zeiten der Aufklärung überstanden und sich gehalten. Das Kreuz-Ass liegt jetzt neben dem Laptop auf dem Schreibtisch. Bei uns gibt es heute ganz klassisch Kartoffelsalat mit Würstchen.
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„Ich glaube, dass etwas weniger mehr wäre. Wir leben, um mit Lévi-Strauss zu sprechen, in einer zu ‚heißen‘ Kultur, wir leben zu schnell, zu aufwendig, zu brutal, zu spitz, zu metallen … Das gilt auch für unsere Wissenschaft, die in ihrer Maßlosigkeit und Aufdringlichkeit alles das totschlägt, was eine etwas sanftere Stimme hat und sich vor Laboratoriumsbeleuchtung und verkrampften Fragestellungen zurückzieht.“
(Hans Peter Duerr: Satyricon)
Spät am heiligen Abend sah ich auf Arte einen wunderbaren Film über den Fotografen Vincent Munier und den Reiseschriftsteller Sylvain Tessoneinen, die sich im Hochland von Tibet auf die Suche nach dem Schneeleoparden machen – einem geisterhaften und extrem scheuen Wesen, das kaum je ein Mensch zu Gesicht bekommen hat. Ihre Ausdauer wird schließlich belohnt, und sie können einen Schneeleoparden aus großer Nähe beobachten. Zwischendrin üben sie sich in der Kunst der Tarnung, des Spurenlesens, des geduldigen Ausharrens und führen beinahe philosophisch zu nennende Gespräche über die Rolle des Menschen unter den Lebewesen. Der Film lehrt den Betrachter Demut gegenüber der atemberaubenden Schönheit einer noch weitgehend vom Menschen verschont gebliebenen Natur. Eine schöne Szene des Films zeigt, wie ein paar kleine Hirtenjungen zu den beiden Fremden kommen und sich staunend über die ihnen fremden Gegenstände wie Fotoapparate beugen. Man wundert sich, dass es in entlegenen Weltgegenden noch richtige Kinder gibt, die noch die Chance haben, sich zu wirklichen Menschen zu entwickeln und nicht zu diesen „von Angst besoffenen Allerweltsmenschenungeheuern“ (Herbert Achternbusch) zu werden.
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Am ersten Weihnachtstag ging U mit einer Freundin in einen Gottesdienst. Als sie nach eineinhalb Stunden noch nicht wieder zurück war und ich befürchtete, den sonnigen Wintertag zu versäumen, bestieg ich mein Auto und fuhr in meine Lieblingsgegend bei Hohensolms. Ich stellte das Auto unterhalb der Burg ab und ging über die Felder ins Tal. Es blies auch heute wieder ein eisiger Wind, und meine Hände, mit denen ich die Walkingstöcke umklammerte, waren binnen Kurzem eiskalt. Unten bei den Fischteichen setzte ich mich auf eine Bank und steckte meine Hände in die Hosentaschen. Der Weiher war zugefroren, und die tief stehende Sonne spiegelte sich im Eis. Enten machten sich einen Spaß daraus, auf dem Eis zu landen und auf ihren Füßen meterweit übers Eis zu rutschen – wie wir als Kinder trotz strengen Verbots auf dem Schulhof. In Kassel nannten wir diese mit viel Mühe angelegten Rutschbahnen „Glieden“. Die sich im kräftigen Wind schnell drehenden Windräder warfen bewegliche Schatten auf das Eis, die Wiesen und die Bäume des angrenzenden Waldes. Das Rauschen der Rotorblätter erfüllte die Luft. Ein Bussard ließ seine durchdringenden Pfiffe erklingen, Reiher kreischten. Ein paar Spaziergänger gingen vorüber und grüßten in weihnachtlicher Stimmung freundlich zu mir herüber. Nach einer halben Stunde kehrte das Gefühl in meine Finger zurück. Ich zog die Handschuhe an, ergriff die Stöcke und begann mit dem Aufstieg nach Hohensolms. Nach drei Stunden war ich wieder zu Hause.
Jetzt steht ein Rehgulasch auf dem Herd, das ja seine Zeit braucht. Es duftet köstlich nach angebratenem Fleisch, Rotwein, Lorbeerblättern und Wacholderbeeren. Es war bisher ein sehr schöner erster Weihnachtstag. Vor dem nach Westen gehenden Fenster leuchtet ein Abendrot, das den halben Himmel ausfüllt. Das gibt es so nur an eisigen Wintertagen wie diesem.
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