119 | Psychopathenproduktion

„Die Globalisierung der Gleichgültigkeit hat uns die Fähigkeit genommen zu weinen!“

(Papst Franziskus)

Dieser Satz von Franziskus wurde in einem der zahlreichen Nachrufe erwähnt. Er hat mich überrascht und berührt, weil ich ihn so aus dem Mund eines Papstes nicht erwartet hätte. Er trifft auch auf uns Linke zu, die wir oft mit dem Begreifen zu schnell sind und uns dem Schrecken gar nicht erst aussetzen. Unsere unter Umständen aufsteigenden Tränen werden allzu schnell mit Begriffen erstickt und ausgetrocknet. Emotionales Berührtsein galt und gilt als unangemessen. Als in den frühen 1970er Jahren eine Genossin unter Tränen vorbrachte, sie habe zum Flugblattverteilen nicht erscheinen können, da sie unter Liebeskummer gelitten habe, wurde sie von einem männlichen Obergenossen mit der Bemerkung abgefertigt: „In der Resistance hätte man dich erschossen!“ Das lässt die Fähigkeit zum Mitleid verkümmern und macht hart und unempfindlich. Auf diese Weise wurden linke Stahlgestalten produziert. Wer weiche Regungen zeigte, wurde betrachtet wie jemand, der den Raum mit geöffnetem Hosenstall betreten hatte.

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Der Flieder blüht – trotz und alledem.

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„Wofür macht man denn die Revolution, wenn nicht, um glücklich zu sein?“

(Pier Paolo Pasolini)

Hier nicht zum ersten Mal in der DHP der Versuch, etwas Grundsätzliches in eigener Sache, also zum Zustand und zur Krise der Linken, zu sagen. Bei seinem Vorhaben, Hegel vom Kopf auf die Füße zu stellen, war Marx auf der Suche nach einem innerweltlichen Praxispartner der Philosophie, der an die Stelle des Weltgeistes treten und die Geschichte praktisch vollenden könnte. Auf dem Weg zu einer Revolution, die nicht neuerlich einer partikularen Klasse zum Sieg verhelfen, sondern den allgemeinen Menschheitsinteressen zur Durchsetzung verhelfen sollte, entdeckten Marx und Engels das Proletariat. „Die deutsche Arbeiterbewegung ist die Erbin der deutschen klassischen Philosophie“, schrieb Engels in seiner Auseinandersetzung mit Ludwig Feuerbach. Der mit der KPD verbundene deutsche Historiker Arthur Rosenberg beschrieb diese Marxsche Entdeckung so: „Diese letzte entscheidende Revolution kann aber nur von einer Klasse gemacht werden, die das Schicksal von allen Ideologien, Hemmungen und Autoritäten der feudalen wie der bürgerlichen Gesellschaft loslöste, nämlich vom Proletariat. So erhält die Arbeiterklasse in dem System von Marx eine ebenso eigenartige wie großartige Aufgabe. Sie soll die Philosophie vollenden. Sie soll den Argumenten der kritischen Köpfe zu Wirklichkeit verhelfen. Der bürgerliche Geist in seinen letzten und kühnsten Folgerungen hebt seine eigene Klasse auf. Er mobilisiert die soziale Unterwelt, um die Richtigkeit seines Denkens zu beweisen. So besteht für Marx eine untrennbare Verbindung zwischen Theorie und Revolution. Ohne die Revolution ist die Theorie ein leeres Spiel. Der Marxismus ist wie ein grundgelehrtes Buch, dessen Schlusskapitel der Aufstand ist.“

Diese Ineinssetzung von revolutionärem Subjekt und Arbeiterklasse hatte zu Marx‘ Zeiten eine hohe Plausibilität und war gewissermaßen empirisch gedeckt. Das entstehende Industrieproletariat blieb aus der bürgerlichen Gesellschaft ausgeschlossen und verkörperte deren lebende Negation. Eines nicht mehr allzu fernen Tages würden die Arbeiter „gegen die Schlange ihrer Qualen ihre Köpfe zusammenrotten“ (Marx) und die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlagen lassen. Mit der im 20. Jahrhundert einsetzenden Integration des Proletariats in die bürgerliche Gesellschaft verlor die marxistische Theorie ihr designiertes revolutionäres Subjekt, und die Hoffnung auf eine revolutionäre Veränderung wurde abstrakt und ortlos, eine bloße vage objektive Möglichkeit, die durch kein virulentes Interesse, das Arbeiter zur Leidenschaft des geschichtlichen Kampfes treibt, mehr vermittelt werden konnte. Von der integrierten Arbeiterklasse kann man nicht behaupten, dass sie in ihrer partikularen Praxis das Allgemeine repräsentiert. Von den drei Eigenschaften, die nach der Marxschen Theorie die Arbeiterklasse zum potentiellen revolutionären Subjekt machen: Sie allein kann den Produktionsprozess zum Stillstand bringen; sie bildet die Mehrheit der Bevölkerung und stellt in ihrer ganzen Existenz die Negation des Bestehenden dar, trifft in den westlichen Metropolen keine mehr so richtig zu. Als die Arbeiterbewegung den Aufstieg des Faschismus nicht verhinderte und offenkundig wurde, dass Teile des Proletariats den Faschismus sogar herbeisehnten, kam die sozialistische Theorie nicht umhin zu konstatieren, dass das Band zwischen der Arbeiterklasse und der Revolution gar nicht so eng und natürlich ist, wie man unter dem Einfluss der Marxschen Annahmen geglaubt hatte. Zudem hatte die Linke ein Bild vom Arbeiter, das absolut rationalistisch ausgerichtet war und ihn als ein Wesen begriff, dass sich seinen objektiven Interessen gemäß verhielt. Theoretiker wie Erich Fromm und Wilhelm Reich begannen der Frage nachzugehen, wie und auf welchem Weg Ökonomisches in den menschlichen Kopf und die Seele gelangen. Es geht seither um die komplizierende Rolle der psychischen Zwischenglieder, die zwischen objektiver Lage und subjektivem Bewusstsein vermitteln. Psychologie wurde, wie Max Horkheimer formulierte, zur – freilich unentbehrlichen – Hilfswissenschaft des historischen Materialismus, einer materialistisch gedeuteten Geschichte. Der ehemalige Partisanenarzt und linke Psychoanalytiker Paul Parin stellte fest, dass für Marxisten der Mensch als soziales Wesen geboren wird, „wenn er die erste Lohntüte in Empfang nimmt“. Dabei existiert er natürlich schon lange vorher. Er war der Sohn eines autoritären Vaters; er musste zr Schule gehen und dort lernen, still zu sitzen und pünktlich zu sein; war Schüler eines prügelnden Lehrers, der ihn „zur Sau machte“; er war Konfirmand und geriet unter den Einfluss von Pfaffen und Kirche; er war Soldat und wurde auf blinden Gehorsam und Pflichterfüllung gedrillt; er las und liest bürgerliche Zeitungen, die den Nebel, der über den Verhältnissen liegt, verdichten statt zu lichten; er liest schlechte Literatur, schaut fern und ist auch ansonsten mannigfachen Indoktrinationen und ideologischen Manipulationen ausgesetzt; er führt eine kleinbürgerliche und trostlose Ehe mit einer frustrierenden Sexualität und gibt das Gelernte und Erlittene an seine Kinder weiter; er spielt Lotto und putzt am Samstag vor der Sportschau seinen Mittelklassewagen. Kurzum: er ist ein Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft und reproduziert deren Normen und Werte. In Jean-Paul Sartres Schrift „Marxismus und Existentialismus“ stieß ich auf folgende Passage, die Parins These stützt: „Die Marxisten von heute kümmern sich nur um die Erwachsenen: wenn man sie liest, könnte man glauben, wir kämen an dem Tag zur Welt, an dem wir unser erstes eigenes Geld verdienen; sie haben ihre eigene Kindheit vergessen, und alles geschieht bei ihnen, als verspürten die Menschen ihre Selbstentfremdung und Verdinglichung erstmalig bei ihrer eigenen Berufsarbeit, während sie doch jeder schon als Kind in der Arbeit der Eltern erlebt.“ Es die Funktion der Familie als Agentur des Kapitals, Menschen lebensgeschichtlich so herzurichten, dass sie zur Lohnarbeit fähig sind, also zum Ableisten entfremdeter Arbeit, und sich die Produkte ihrer Arbeit widerstandslos wegnehmen lassen. Der Arbeiter ist ja auch Marktteilnehmer, und der dort herrschende „freie Vertrag“ vernebelt den Zwang und die Gewalt, deren Opfer er in der Sphäre der Produktion ist. Erlebt er hier Ansätze von Solidarität und Klassenbewusstsein, verwandelt der Konsum ihn in ein serielles, vereinzeltes Wesen. So wird die Innerlichkeit der Arbeiter als Insgesamt ihrer Wünsche, Sehnsüchte und Bedürfnisse zum „libidinösen Kitt“ einer Gesellschaft, deren Totengräber sie der Theorie nach eigentlich hätten werden sollen. Mit diesen Arbeitern war nur noch Staat, aber keine Revolution mehr zu machen.

Wie eine fixe Idee schleppt die Linke die alte Vorstellung vom Proletariat als Subjekt der Veränderung und einer neuen Gesellschaft bis heute mit sich. Ich kann an dieser Stelle nur wiederholen, was Herbert Marcuse uns zeitig ins Stammbuch geschrieben hat: „Eine Theorie, welche die Praxis des Kapitalismus nicht eingeholt hat, kann schwerlich eine Praxis anleiten, die darauf abzielt, den Kapitalismus aufzuheben.“ Und es muss natürlich unser Ziel bleiben, diese menschenfeindliche Produktionsweise zu beseitigen und durch eine Ökonomie des Glücks zu ersetzen. Man macht die Revolution nicht, weil die Akkumulation des Kapitals ins Stocken gerät und der Kapitalismus Krisen produziert, sondern weil man wie ein Mensch leben und glücklich sein will. „Das, was wirklich zählt – ist das etwa nicht das Glück? Wofür macht man denn die Revolution, wenn nicht, um glücklich zu sein?“, schrieb der italienische Filmemacher, Schriftsteller und Kommunist Pasolini in seinen „Freibeuterschriften“. Wenn wir uns instand setzen wollen, das Leiden der Menschen am kapitalistischen Fortschritt aufzugreifen und es nicht den Rechten zu überlassen, müssen wir die Bindung des Sozialismus an das Leistungsprinzips und seine Werte kritisch hinterfragen und den Fetischismus der Produktion und der Technik überwinden. Das niedergedrückte und an der Entfaltung gehinderte Leben bildet noch immer Schattenräume, in denen Träume, Wünsche und Sehnsüchte entstehen, die die Linke nicht als irrational abtun und ignorieren darf. Es sind Wünsche nach Glück, Solidarität, aufrechtem Gang, menschlichen Zeitmaßen und Stille; Träume von Heimat, aufgehobener Entfremdung und einem Leben ohne stupide Plackerei und versklavenden Konsum. Die aktive Mitwirkung an einer immer noch möglichen Menschheitsrevolution ist nicht an einen bestimmten sozialen Status gebunden und ist nicht das Privileg einer besonderen Klasse. Um die Dialektik von Mitteln und Ziel wissend, hätten wir uns schon lange fragen sollen: Wie kann aus dem Klassenkampf eine klassenlose Gesellschaft hervorgehen? Das Subjekt, das sich im Kampf konstituiert, muss also klassenlos sein, wenn es die angestrebte neue Gesellschaft ebenfalls sein soll. Die Teilnahme am Kampf für sie basiert nicht auf der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse oder der Stellung im Produktionsprozess, sondern auf der existenziellen Entscheidung, sich für die Erzeugung des Menschlichen und die Entfaltung des Lebendigen einzusetzen – statt, wie unterm Kapitalismus – dem Tod und der Destruktivität die Dominanz über das Lebendige einzuräumen. Die kapitalistische Kultur ist, freudianisch gesprochen, vom Todestrieb beherrscht, eine freie Gesellschaft müsste ihre Energien aus den Lebenstrieben beziehen. Herbert Marcuse wurde nicht müde, diese grundlegende Differenz zu betonen. Bei Max Horkheimer heißt es: „Zwischen Achtung und Verachtung des Lebendigen verläuft die Trennungslinie, nicht zwischen dem sogenannten Links und Rechts, dem schon veralteten bürgerlichen Gegensatz.“

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Gestern Abend sah ich auf Arte eine Reportage über den Axolotl. Sein Lebensraum ist bedroht und seine Fortexistenz ist extrem unsicher. Der Axolotl ist eine Art Lurch, der in Mexiko beheimatet ist und dessen Besonderheit darin besteht, dass er nie richtig erwachsen wird, sondern sein ganzes Leben in einem Zwischen- und Schwebezustand verbringt. Er erreicht die Geschlechtsreife, ohne seine Larvengestalt zu verändern. Axolotl verfügen außerdem über die Fähigkeit, verlorene Organe, Gliedmaßen und sogar Teile des Gehirns und Herzens wiederherzustellen, was dazu führt, dass die Wissenschaft hinter ihm her ist, um ihm das Geheimnis dieser Fähigkeit zu entlocken und sie für Elon Musk nutzbar zu machen. Vor rund einem Jahrzehnt hat mich dieser Lurch schon einmal beschäftigt. Es schien mir damals, als sei der Axolotl ein Symbol für die Sozialpsychologie des neoliberalen Zeitalters. Wir leben in einer permanenten Gegenwart, die Jung-Sein nicht nur zum höchsten Wert, sondern zur Verpflichtung für alle erhebt. Der Konsument darf nie erwachsen werden. Die Folge ist eine fortschreitende Infantilisierung der Erwachsenen und die Geburt eines Wesens, das Neil Postman als das „adult-child“, das Erwachsenen-Kind, bezeichnet hat. Dieses bleibt offen für ständig wechselnde Anforderungen, definiert sich über das demonstrative Vorzeigen von Konsumgütern und vermag sich wechselnden Lebensstilen anzupassen. Wie aber soll man erwachsen werden in einer Gesellschaft, deren Erwachsene sich immer infantiler gebärden? In Kleidung, Unterhaltungsformen, Ernährung und Sprache nähern Erwachsene und Jugendliche sich an und werden tendenziell ununterscheidbar. Die Opas tragen dieselben albernen Kappen und Sonnenbrillen wie ihre Enkel. In der Stadt trifft man auf erwachsene Männer auf Tretrollern. Alle führen Flaschen mit sich, aus denen permanent genuckelt wird. Der Axolotl als neuer Sozialcharakter und Lebensform. Es existiert, wie Pascal Bruckner gesagt hat, eine allgemeine Regression zu Wiege und Rassel. Zwischen dem Säugling, für den eine Lebensversicherung abgeschlossen wird, und dem Greis, der sie einlöst, bestehen nur noch graduelle Unterschiede. Die Konsumgesellschaft bringt einen gefräßigen, ungeduldigen, auf seinen Spaß bedachten ewigen Säugling hervor, der sich genüsslich die Flasche geben lässt und für den die kleinste Verzichtsleistung zur Quelle eines tiefen Unbehagens oder einer immensen Wut werden kann. Die kollektive Infantilisierung war auch für Amos Oz, der leider vor sieben Jahren gestorben ist, einer der schlimmsten Aspekte der Globalisierung: „Ein globaler Kindergarten, voller Spielzeug und technischen Spielereien, Bonbons und Lutschern.“ Auf ein infantiles Stadium fixierte Menschen lassen sich leichter manipulieren und beherrschen. Man muss sich nur eine Wahlveranstaltung von Donald Trump und den wie ein Derwisch um ihn herum tanzenden Elon Musk anschauen. Ich fände es schlimm, wenn man diese beiden zur Trauerfeier für Papst Franziskus in den Petersdom hinein ließe. Schlimm genug, dass sie nicht selber merken, dass sie dort nichts verloren haben. Denken wir nur daran, wie Trump auf die Kritik von Bischöfin Budde reagierte: Sie sei eine „linksradikale Trump-Hasserin“, ließ er nach ihren kritischen Bemerkungen zu seinem Umgang mit Außenseiters und Migranten verlauten. Besäßen diese beiden auch nur einen Funken Anstand, würden sie der Beisetzung von Franziskus fernbleiben.

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Zu meiner Schulzeit, als viele Lehrer noch gewaltbereit waren und ihre Schüler züchtigten, waren Übergriffe von Schülern auf Lehrer extrem selten. Ich habe keinen erlebt, dafür aber jede Menge Gewalt von Lehrern, begangen an uns, gelegentlich auch an mir. Verinnerlichte Hemmungen sorgten dafür, dass sie vor Gegengewalt geschützt waren. Unsere Wut wurde in der inneren Watte von „Sitte und Anstand“ stumpf. Heute, entnehme ich einer Meldung unserer Tageszeitung, kam es allein in Hessen im vergangenen Jahr zu 26 Fällen von physischer Gewalt gegen Lehrkräfte. Das teilte das Kultusministerium auf eine kleine Anfrage der Fraktion der Grünen im Hessischen Landtag mit. Wir sollten uns hüten, das vorschnell als Form des Widerstands gegen Erziehungsgewalt zu registrieren und zu begrüßen. Es scheint mir eher eine Facette einer allgemeinen Verrohungstendenz zu sein, die auch auf den zwischenmenschlichen Umgang in Schulen durchschlägt.

Dazu passt eine andere Meldung von gleichen Tag. Jedes sechste Todesopfer im Straßenverkehr ist ein Radfahrer oder eine Radfahrerin. Im vergangenen Jahr gab es 441 tödliche Unfälle mit Radfahrern als Opfer. Als Begründung wird auf die gestiegene Zahl vom E-Bikes und deren größere Geschwindigkeit verwiesen, die gerade von älteren Benutzern dieser Gefährte oft nicht gehandhabt werden könne. Ich deute diese Zahl aufgrund meiner eigenen Empirie als Radfahrer als Ausdruck mangelnder Rücksichtnahme auf die Schwächeren Teilnehmer des Straßenverkehrs. Fußgänger und Radfahrer gelten den in ihres SUVs thronenden Autofahrern als „Ungeziefer der Straße“, wie Adorno zeitig bemerkte. Dass er damit nicht ganz Unrecht hatte, bekommt man zu spüren, wenn man in unseren Städten zu Fuß oder auf dem Rad unterwegs ist.

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„… das nackte, warme, lebendige Leben, das man liebhaben kann und das einen lieb hat, das einem Wärme gibt, die man woanders nicht findet!“

(Werner Steinberg: Der Tag ist in die Nacht verliebt)

Nachdem der junge Heinrich Heine als Lehrling in der Bank seines Onkels Erfahrungen mit dem Geldwesen gemacht und die Welt der Bankkontore und Ärmelschoner kennengelernt hatte, wandte er sich dem Leben in seiner ganzen saftigen Fülle, in seiner gärenden und keimenden Unruhe zu und entdeckte sie als etwas Ungeheures, das ihn nie wieder los ließ. Ich bin dem jungen Heine gerade in dem 1959 erschienenen Roman „Der Tag ist in die Nacht verliebt“ von Werner Steinberg begegnet.

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Mitten im städtischen Verkehr hockt auf einem Verteilerkasten ein Spatz und schaut der menschlichen Betriebsamkeit zu. Mein Wohlwollen gilt den Spatzen seit Langem und hat sich verstärkt, seit ich weiß, dass man sie auch als „Gassenjungen unter den Vögeln“ bezeichnet. Unlängst habe ich erfahren, dass Mao in ihnen „gefiederte Volksfeinde“ sah und nach 1958 zwei Milliarden Spatzen töten ließ, damit diese nicht mehr das Getreide wegfräßen. Es war der Anfang einer ökologischen und menschlichen Katastrophe, die Millionen Tote kostete.

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Als ich heute Morgen zum Einkaufen in die Stadt ging, stellte ich fest, dass die Vermüllung auch in unserer Straße voranschreitet. Letzte Nacht hat jemand vor dem Nachbarhaus einen verranzten Teppichboden abgelegt. In der alten Wohnung rausgerissen und vor einem fremden Haus auf den Gehweg gelegt. Vielleicht hatte derjenige die Hoffnung, die Müllleute würden den Teppich mitnehmen, was sie natürlich nicht taten. Außerdem wird es demjenigen scheißegal gewesen sein. Hauptsache weg damit! Angefangen hat die Vermüllung mit Kisten voller Krimskram, auf denen ein Zettel liegt, auf dem steht: „Zu verschenken.“ Das ist eine bequeme und vor allem kostengünstige Form der Entsorgung, die sich als Großzügigkeit und Altruismus tarnt.

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Erwin Strittmatters Großtante Maika ernährte sich von Quark und Leinöl. Das ist auch mein Grundnahrungsmittel seit Jahrzehnten, mit dem Unterschied, dass Großtante Maika den Quark aus Dickmilch selber herstellte, was ich nur höchst selten tue. Auch weil es keine gescheite Milch mehr gibt, aus der im Sommer über Nacht eine gescheite saure Milch werden kann. Mein Vater schöpfte den Rahm, der sich oben absetzte, ab und gab ihn sich in den Kaffee. Im Ziegenstall am Edersee, der uns als Sommerquartier diente, gab es keinen Strom, also auch keinen Kühlschrank und deswegen jede Menge saure Milch. Meist aßen wir diese mit im Wald gesammelten Blaubeeren und braunem Zucker. Das Heidelbeersammeln war ein mühsames Unterfangen und wurde mir als Kind mit einem Riegel Schokolade pro gefüllt abgeliefertem Emaillie-Becher versüßt. Abends versuchten wir die Zecken zu finden, bevor sie sich festgebissen hatten.

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„Nichts ist teurer, als überholte Verhältnisse am Leben zu halten, nichts ist kostspieliger als Nicht-Reform.“

(Oskar Negt)

Die neue Bundesregierung wirft ihren Schatten voraus: In einigen neuen Umfragen liegt die AfD bereits vor der CDU oder gleichauf mit ihr. Diese Koalition wird sich als Sponsoring-Projekt für die Rechtsradikalen erweisen. Nichts ist schlimmer und letztlich auch kostspieliger als halbherzige Reformen, die als Ruinen den Weg der letzten Regierungen säumen. In diesen Ruinen sammelt sich brauner Unrat an und es bilden sich Sümpfe, aus denen giftige Dämpfe blubbern.

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Die Frage der Süddeutschen Zeitung, ob Donald Trump ein Faschist sei, bejaht Timothy Snider unumwunden: „Ja, er ist ein Faschist.“ Er kenne keine Definition von Faschismus, die Trump ausschließen würde. Er stelle den Willen über die Vernunft, er schwelge in Verschwörungstheorien, verachte das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, er regiere durch die Zufügung von Schmerz, um nur einige Kriterien zu nennen. Was ihn in Sniders Augen zum Faschisten mache, sei nicht unbedingt der Umstand, dass er Menschen abschiebe, was Biden auch getan habe, sondern dass er die Abzuschiebenden demütige und aus ihrer Deportation „ein Spektakel des Schmerzes“ mache. Ein Beispiel für die Politik des Sadismus, die im Weißen Haus tonangebend sei, erblickt Snyder in der Art und Weise, wie man unlängst den ukrainischen Präsidenten Selenskij im Oval Office vorgeführt und erniedrigt habe. Die faschistische Politik setzte darauf, dass sich die Leute mit dem Aggressor identifizierten, statt mit dem Angegriffenen und Gedemütigten. Snyder beobachtet, dass sich eine „internationale oligarchische Front“ herausbildet, und setzt als Gegenpol große Hoffnungen auf Deutschland, das „im Moment vielleicht die wichtigste funktionierende Demokratie der Welt“ sei. Snyders Wort in Gottes Ohr! Umberto Eco hat gesagt, dass es für Faschisierung nur eines Kristalls bedarf, um den herum er sich bilden kann. Es gibt in diesem Feld nichts Harmloses, alles Mögliche kann zu diesem Kritsall werden. (Umberto Eco: Der ewige Faschismus, München 2020)

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Am Sonntag Mittag radele ich zum Botanischen Garten und setze ich nach einer Weile auf eine Bank unter alten, hohen Bäumen. Es sind etliche Leute unterwegs und beugen sich über irgendwelche Pflanzen. Viele haben eine App auf ihrem Smartphone, die es ihnen erlaubt, Pflanzen zu bestimmen. Ich begnüge mich mit den kleinen Schildchen aus Blech, die neben den Pflanzen im Boden stecken und ihren deutschen und lateinischen Namen verraten. Eine hoch aufgeschossene junge Frau geht vorüber und lächelt mir zu. Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Manchmal kann so ein Lächeln mir den Tag gut machen. Nahe des Ausgangs versucht ein kleines Mädchen, den Samen eines Löwenzahns vom Stängel zu pusten. Die Mutter filmt das Ganze mit dem Handy. Obwohl es dem Kind nicht gelingt, wird es für seinen Versuch überschwänglich gelobt. Es wird beim Kind die Illusion von Omnipotenz und Grandiosität erzeugt, die später beim Zusammenprall mit den Widrigkeiten des Lebens wie eine Pusteblume verwehen wird. Zurück bleiben dann Enttäuschung und namenlose Wut.

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Die weltweiten Militärausgaben sind im letzten Jahr auf ein neues Rekordhoch gestiegen. Laut dem Friedensforschungsinstitut SIPRI investierten die Staaten mehr als 2,7 Billionen US-Dollar und damit 9,4 Prozent mehr als im Vorjahr – Tendenz weiter steigend. Deutschland rückt in der Rangliste der Länder weltweit von Platz 7 auf Platz 4 vor. Nur die USA, China und Russland tätigen noch höhere Ausgaben. Grund dafür ist das sogenannte Sondervermögen für die Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro. Die Aktie von Rheinmetall erklimmt ungeahnte Höhen. Was könnte das Geld bewirken, wenn man es zur Rettung des Globus einsetzen würde? Aber die steht schon seit geraumer Zeit nicht mehr auf der Agenda.

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„Mit fast tödlicher Sicherheit bewegen wir uns auf ein Zeitalter totalitärer Diktaturen zu, ein Zeitalter, in dem Gedankenfreiheit zunächst eine Todsünde und später ein leerer, abstrakter Begriff sein wird. Das selbstständig denkende und handelnde Individuum wird ausgelöscht werden.“

(George Orwell: Im Innern des Wals)

Unten auf der Straßen geht eine junge Mutter vorüber und singt ihrem im Kinderwagen sitzenden Kind ein Lied. Sie wird aus der Ukraine und einer anderen Zeitzone stammen, dachte ich. Wo sieht man hierzulande noch Mütter, die mit ihren Kleinkindern singen oder plappern? Wozu mit dem Kind reden, wo es die Erwachsenen noch nicht verstehen kann? Da telefoniert man lieber mit einer Freundin oder hört über Kopfhörer Musik, während das Kind im Kinderwagen vor sich her geschoben wird. Kopfhörer symbolisieren am besten die völlige Abschottung gegenüber dem Kind und die Kommunikationslosigkeit. Dass von Kommunikation so viel geredet wird, verdeckt das fortschreitende Absterben der Sache selbst. Wo gibt es noch Eltern, die in die Hocke gehen, um Kindern geduldig etwas in der Welt zu zeigen oder die Dinge am Weg bei ihrem Namen zu nennen? Die Dinge gewinnen für das Kind ja nur dadurch Bedeutung, dass der Blick ihrer Erwachsenen auf sie fällt und sie von ihnen mit einem Namen ausgestattet werden. Wo sind die Erwachsenen, die mit ihrem Kind am Ufer eines Teiches sitzen, um dem Quaken der Enten und Frösche zu lauschen? Kleine Kinder erfahren und sehen die Welt mit und durch die Augen ihrer Erwachsenen. Ihre Welt erschließt sich von der grundlegenden Beziehung zur Mutter: Sie leiht dem Kind ihre Augen, das Kind sieht nicht die Dinge, sondern sie spiegeln ihm den mütterlichen Blick wieder. Und die Kinder spiegeln sich im liebendem Glanz in den Augen der Mutter (von mir aus auch: der Beziehungspersonen), an dem sich ihr gerade erwachendes Selbst erwärmt. Oder aber erkältet, wenn die Augen hinter Sonnenbrillen verschwunden oder stumpf und gleichgültig sind. Heutige Kinder schreien sich die Seele aus dem Leib vor lauter Einsamkeit und Bindungslosigkeit. Sie sind umfangen von einer berührungslosen und blicklosen Leere. Bereits im Kindergarten und auf Schulhöfen von Grundschulen fallen Kinder wegen ihrer richtungslosen Aggressivität auf. Darauf angesprochene Mütter deuten die Verhaltensauffälligkeiten ihrer Früchtchen als Anzeichen künftiger Führungsqualitäten: „Er ist eben ein zukünftiger Elon Musk.“ In der Tat erleben wir den Übergang zur systematischen Produktion von Autisten und Psychopathen, die in der Welt den Ton angeben und die den neuen Gesellschaftscharakter prägen. Was unsereinem wie ein Verlust vorkommt, ist vielleicht in Wahrheit die Ausformung eines neuen Kindheitsmusters. Wo wir noch Symptome und Krankheitszeichen erkennen, bildet sich in Wahrheit der gut angepasste Sozialcharakter der Zukunft aus. Vielleicht ist Elon Musk – mit seinem Käsehut – der Prophet eines neuen Zeitalters, wenn er verkündet: „Die grundlegende Schwäche der westlichen Zivilisation ist Empathie.“ Im Jahr 2011 ist unter der Überschrift „Die Psychopathen kommen“ in der „Neuen Rheinischen Zeitung“ ein Artikel von mir erschienen, in dem ich mich sehr früh schon mit diesen sozialpsychologischen Verschiebungen und tektonischen Beben befasst habe und vor allem auch erläutere, warum der „funktionale Psychopath“ der vollendete kapitalistische Mensch ist, der sich ganz auf der Höhe der Zeit befindet: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=16991

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„Es gibt keine freie Gesellschaft ohne Stille, ohne einen inneren und äußeren Bereich der Einsamkeit, in dem sich die individuelle Freiheit entfalten kann.“

(Herbert Marcuse)

Der „Tag gegen Lärm“, der heute zum 28. Mal begangen wird, begann damit, dass gegen sechs Uhr eine Kehrmaschine durchs Viertel fuhr. Rund eine Viertelstunde lang fuhr sie mit einem durchdringenden, pfeifenden Motorengeräusch auf und ab und hin und her. An Schlaf und Ruhe war nicht mehr zu denken, zumal kurz darauf in der Nachbarschaft auch noch ein sogenannter Rasentrimmer zu jaulen begann. Als im Jahr 2019 zum 22. Mal derTag gegen Lärm“stattfand, nahm ich das zum Anlass, mir einen älteren Text von mir über Lärm noch einmal vorzunehmen und auf den neuesten Stand zu bringen. Es wird von Jahr zu Jahr lauter, der Lärmpegel steigt und steigt, so dass dieser Text nie zu einem Ende kommt. Den Text aus dem Jahr 2029 findet man im Wiener Magazin Streifzüge unter folgender Adresse: https://www.streifzuege.org/2019/vom-recht-auf-stille/

Das dritte Jahr in Folge ohne Wachstum wäre eigentlich zu begrüßen, und wird nur deswegen als Krisensymptom und Alarmzeichen betrachtet, weil die kapitalistische Ökonomie vom Wachstum und gedankenloser und inhaltsleerer Expansion lebt. Im Grunde verhält sich der Kapitalismus wie ein Krebsgeschwür. Der Kapitalismus nistet sich um das Jahr 1800 herum im Gesellschaftskörper ein und zehrt ihn auf und aus. Dass er mit diesem Körper zusammen sterben wird, nimmt er billigend in Kauf. Für das Online-Magazin „Telepolis“ habe ich über die Analogie von „Krebs und Kapital“ und einen Essay geschrieben, den man dort finden kann: https://www.telepolis.de/features/Krebs-und-Kapital-6158646.html Dort heißt es unter anderem: „Die prometheische Wut, mit der die Menschheit gegen die Natur zu Felde zieht, ist also nicht nur ein Ausdruck der Akkumulationstendenz des Kapitals, sondern wurzelt in der Feindschaft des bürgerlichen Menschen gegen sich selbst, seine eigene innere Triebnatur. Selbst- und Fremdbeherrschung sind wie zu einem Zopf verflochten, oder anders gesagt: Das, was man in sich selbst verbissen niederhält, wird auch draußen bekämpft und niedergehalten.“

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Im Botanischen Garten müssen bereits Ende April viele Pflanzen mit dem Schlauch gewässert werden. Alles ist staubtrocken.

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Auch einhundertfünfzig Jahre nach ihrer Entstehung sind die SPD-Mitglieder in ihrer Mehrheit immer noch brave Parteisoldaten, die ihrer Führung gehorchen und dem Koalitionsvertrag mit der CDU zustimmen. Selberdenken gehört nicht zu den von Parteien, auch den Arbeiterparteien, geförderten Tugenden. Es bleibt vor allem das Verdienst der SPD, an ihren linken Rändern immer wieder kleine Dissidentengruppen hervorgebracht zu haben, die gelegentlich auch zu Embryonen neuer Parteien wurden. Derzeit bevölkern drei von ihnen unsere politische Landschaft: die Grünen, die Linke und das BSW. Zusammen könnten sie eine Mehrheit bilden, aber das sind sie schon lange nicht mehr. Der „Narzissmus der kleinen Differenzen“ (S. Freud) sorgt dafür, dass ein solches Zusammengehen nicht zustande kommt und man untereinander spinnefeind ist.

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Ich besuche mit U die Veranstaltung des DGB zum 1. Mai, dem Kampftag der Arbeiterklasse. Von der Arbeiterklasse ist weit und breit nichts zu sehen. Überhaupt findet der 1. Mai dieses Jahr im engsten Familienkreis und in bescheidenem Rahmen statt. Linke Subkulturen oder Sekten brüllen ihre Parolen, alle durcheinander, es entsteht eine irre Kakophonie, die einfach nur unerträglich laut ist. Immer wieder stoppt der Demonstrationszug, es werden irgendwo weiter vorn Reden gehalten, die aber viel zu leise sind und nicht bis zu uns durchdringen. An einer Kreuzung schlage ich mich mit R, den ich im Zug getroffen habe, seitwärts in die Büsche. U hat eine Freundin getroffen und bleibt bei ihr und ihren Kindern. R und ich setzen uns an der Wieseck in ein Café und tauschen unsere Eindrücke aus. „Wir sind alt geworden“, versuche ich meine Stimmung auszudrücken, „und gehören nicht mehr dazu.“ R ist seit ewigen Zeiten in der inzwischen wieder zu neuem Leben erwachten Linkspartei und von daher noch in eine politische Gruppierung eingebunden. Aber er ist ein Methusalem unter all den jungen Leuten, die seit einiger Zeit die Partei stürmen, und also dort auch nicht wirklich heimisch. Er erledigt all das, was die jungen Laute nicht können oder worauf sie keinen Bock haben.

Nach der Demo nimmt U das erste Bad des Jahres in der Lahn. Sie durchquert den Fluss komplett und ist glücklich. Ich traue mich nicht hinein und bin unglücklich.

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